Die Handlung und alle handelnden Personen sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder realen Personen ist rein zufällig.

Widmung

Für ein spannendes und erotisches Lesevergnügen.

Martina Stubenschrott

family secrets

Familiengeheimnisse

Band 1

© 2018 Martina Stubenschrott

Autorin: Martina Stubenschrott

Titelbild: Andrea Stubenschrott

Lektorat, Korrektorat: Sandra Lang

Verlag: myMorawa von Morawa Lesezirkel

ISBN: 978-3-99070-697-8 (Paperback)

ISBN: 978-3-99070-698-5 (Hardcover)

ISBN: 978-3-99070-888-0 (e-Book)

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

zéro

Sie war ganz in schwarz gekleidet: enganliegende schwarze Lederhose, schwarze Schnürstiefel, schwarzes Mieder. Ihre schönen kleinen Brüste wurden hochgequetscht, so dass es aussah, als verfüge sie über ein üppiges Dekolletee. Ihr dunkles, lockiges Haar hatte sie streng aus dem Gesicht gekämmt. Die laute Musik und der Bass ließen ihren ganzen Körper vibrieren. Um ihre Ohren zu schützen, trug sie kleine Ohrstoppel. Es reichte, wenn sie die Musik gedämpft wahrnahm. So blieb sie fokussiert und aufmerksam. Das war in dieser Gegend, in diesem Club, überlebenswichtig. Den Leuten gefiel die Show, die sie abzog. Sie verstand es, ihren Arsch einzusetzen und den Typen das Gefühl zu geben, direkt angesprochen zu sein.

Der Club war gut besucht – obwohl, es gab auch schon bessere Tage. Aber Jerome, der Chef, war taub für ihre Vorschläge, Veränderungen vorzunehmen, die dem Geschäft zuträglich sein würden. Gerade als sie am Ende ihrer Tanzshow ankam, kletterte ein angetrunkener Typ zu ihr hinauf auf die Bühne und fasste ihr an den Hintern. Alicia griff zur Peitsche, schlug ihm auf die Hand und hielt Ausschau nach Henri, der für die Security zuständig war. Er hätte eigentlich in der Nähe der Bühne bleiben sollen, um die Lage im Auge zu behalten. Aber wie so häufig, war er wieder mal irgendwo. Alicia brachte den angetrunkenen Mann sanft zu Fall, indem sie ihm ein Bein stellte, ihn auffing und sachte ablegte. Zum Glück war er schlank und eher von kleinerer Statur. Sie tat so, als sei das Teil der Show. Die Leute klatschten und lachten. Zuerst war der ungebetene Gast irritiert, doch als sie ihm den Finger unters Kinn legte, streng den Kopf schüttelte, ihn seitlich rollte und ihm einmal fest auf den Hintern klopfte, war er zufrieden. Endlich tauchte Henri doch auf und zerrte den lästigen Kerl wieder runter. Auf der Bühne hatte niemand etwas verloren, außer den Tänzerinnen. Das konnte sonst sehr schnell ins Auge gehen.

Alicia beendete ihre Show und ging sich umziehen. Sie war wütend. Es war immer das Gleiche in diesem Sauladen. Als sie wieder in ihre Jeans und ihr weißes Shirt geschlüpft war, öffnete sie ihr Haar und fuhr sich durch die dunklen Locken. Sie schminkte sich ab, trank ein paar Schluck Wasser und atmete tief durch. Mit festem Schritt ging sie zu Jeromes Büro, klopfte heftig und öffnete die Tür ruckartig, ohne auf eine Antwort zu warten.

Jerome!“ fuhr sie ihn vorwurfsvoll an. „Henri war schon wieder nicht dort, wo er sein sollte. Wir brauchen mehr Security, noch dazu, wo Karim auch noch ausgefallen ist.“ Der war am Vorabend bei einer Schlägerei verletzt worden.

Jerome erhob sich hinter seinem Schreibtisch. Alicia brachte ihm viel Geld ein. Trotzdem ließ er es sich nicht bieten, dass sie ihm sagen wollte, wie er seinen Club zu führen hatte. „Ist etwas passiert?“ fragte er genervt. „Aucun.“ „Dann hör auf, hier so ein Theater zu machen. Ich habe zu tun.“ Er quetschte sich an ihr vorbei und ließ sie stehen. Sie roch sein aufdringliches Aftershave und sein Bauchansatz streifte sie.

Alicia schnaubte. Sie überlegte ernsthaft, den Job hier hinzuschmeißen. Das Tanzen machte unter solchen Bedingungen keinen Spaß. Und dabei liebte sie tanzen. Es lag ihr im Blut. Für die anderen nicht ganz legalen Geschäfte besaß sie ebenfalls ein Händchen. Und sie hatte drei Jahre an Arbeit investiert. Sie wollte das alles nicht einfach so aufgeben. Jerome hatte keinen blassen Schimmer, wie viel sie für ihn im Hintergrund abfing. Dabei redete sie gar nicht von den kleinen Deals mit weed. Aus denen wollte sie langsam raus. Sie hielt die Leute bei Laune und Ohren und Augen offen. Sie war so etwas wie sein Schutzengel. Wenn sie nicht dort und da jemanden schmieren oder rechtzeitig mit einer kleinen Aufmerksamkeit aufwarten würde, dann wären ihnen längst einige Geschäftspartner abgesprungen. Und sie hätten die Bullen im Haus.

Jerome, dieses arrogante Arschloch. Er tat immer so fein, aber da war nicht viel dahinter. Im Grunde war er nur ein gieriger kleiner Schmierfink, der den Hals nicht vollkriegen konnte. Er war der Boss. Wie er das geschafft hatte, war ihr schleierhaft. Obwohl er bald auf die 50 zuging, schien er nicht viel aus seinem Leben gelernt zu haben. Und sein Bild von Frauen – das kannte sie. Die waren für ihn nur zum Ausbeuten da. Das stank ihr mittlerweile gewaltig.

Alicia hatte keine Lust mehr, heute irgendeinen Finger für ihn krumm zu machen. Sie joggte bis zu ihrer Wohnung, um etwas von ihrer Wut abzubauen. Irgendwie musste sie zu Geld kommen. Sie wollte endlich ihren eigenen Club aufbauen, gemeinsam mit Zoe. Auf keinen Fall würde sie ihre Freundin allein bei dem Pisser lassen. Sie hatte schon immer auf Zoes Arsch aufgepasst. Sie lächelte. Wären sie ein Pärchen, wäre sie die Dominante. Ganz stimmte das jedoch nicht. Zoe war in anderen Bereichen dominant. Sie half ihr, wieder runter zu kommen, wenn ihr Temperament mit ihr durchging. Zoe war klug und mitfühlend. Zoe war ihre Familie, ihr Kompass, der sie darin unterstützte, auf sich selbst zu schauen. Wer weiß, wo sie ohne ihre Freundin gelandet wäre. Im Abgrund wahrscheinlich. Sie ergänzten sich gut. Und sie verstanden einander aus tiefster Seele. Teilten sie doch das gleiche Schicksal.

Putain de merde! Sie verfügte nur über einen Notgroschen von 7000 Euro. Das war lächerlich. Damit konnte sie ihren Traum vom eigenen Club nicht starten. Und bei der Bank würde sie mit Sicherheit keinen Kredit bekommen, bei ihrer Vorgeschichte. Die 20 Stunden, die sie bei Jerome angemeldet war, sahen auf dem Papier kohlemäßig ziemlich mickrig aus. Dabei arbeitete sie das Doppelte bis Dreifache und bekam das meiste Geld bar auf die Hand. Sie betrat ihre 40 Quadratmeter-Wohnung, die sie sich gemeinsam mit Zoe teilte – Paris war ein teurer Fleck – warf ihre Lederjacke auf die Couch und stellte sich unter die heiße Dusche.

Damné! So konnte es nicht weitergehen. Das hielt sie nicht mehr lange aus.

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„Fasten your seatbelts!“ ertönte es aus dem Lautsprecher. Alicia schloss ihren Gurt und das Flugzeug setzte sich in Bewegung. Als es abhob, lehnte sie sich in ihrem Sitz zurück und atmete tief durch. In etwa zwei Wochen würde sie mit 100.000 Euro mehr in der Tasche nach Frankreich zurückkehren. Und dann könnte sie ihren Traum vom eigenen Nachtclub verwirklichen. Zumindest einen Anfang machen. Sie würde eines der leerstehenden Gebäude in einem Pariser Vorort mieten, dieses mit einfachen Requisiten umfunktionieren und mit einer Tanzbühne ausstatten. Wer weiß, vielleicht würde sie mit etwas Eigenkapital sogar einen kleinen Kredit bekommen. Zoe hatte auch noch ein paar Tausender auf der Kante. Wenn sie ein Businesskonzept vorlegten und gemeinsam um einen Kredit ansuchten, vielleicht hätten sie eine Chance. Sie würde es auf jeden Fall versuchen. Und Leute konnte sie jederzeit von Jerome abwerben.

Um ihren Plan umzusetzen, musste sie lediglich diese kleine OP überstehen. Sie war vor einem Jahr wegen einer Verletzung in einem öffentlichen Krankenhaus gewesen und dabei wurde ihre dritte Niere zufällig bei einem Röntgen entdeckt. Genauer gesagt, hatte sie eine Doppelniere links mit vollständiger Duplikatur. Infolgedessen waren ihre Personendaten und ihre Nierenwerte elektronisch erfasst worden.

Und dann, vor ein paar Wochen, war plötzlich ein Ami-Typ vor ihrer Wohnungstür gestanden und hatte ihr dieses Angebot gemacht. Sie war Nichtraucherin, young, healthy and willing, ein perfect match.

Der Typ wirkte vollkommen ruhig, als ob er sich sicher sei, dass sie auf sein Geschäft eingehen würde. Das natürlich illegal war. Organspende gegen Geld war unter Freiheitsstrafe verboten. Zuerst dachte sie, er sei wegen der funktionsfähigen Doppelniere aufgekreuzt, aber diese konnte sie nicht spenden. Die Doppelniere bestand sozusagen aus einer verlängerten Niere mit zwei Nierenkelchsystemen und zwei Harnleitern, die in die Blase führten. Aber die andere Niere, die konnte sie entbehren. Sie hatte die seltene Blutgruppe 0, die mit allen anderen Blutgruppen kompatibel war. Anscheinend war sie die ideale Lebendspenderin für den reichen Schnösel aus Kalifornien. Wie die Leute ausgerechnet auf sie gekommen waren, war ihr rätselhaft. Der Typ war gut informiert, klärte sie über die Risiken der OP auf und nahm ihr Blut ab, für weitere Checks zum Gesundheitszustand ihrer Nieren.

Alicia fackelte nicht lange und entschloss sich, sich von einer ihrer Nieren zu trennen. In diesen Dingen war sie impulsiv. Sie würde nach der Schlüssellochtechnik operiert werden, die weniger invasiv war, als der 20 cm lange Schnitt unter dem Rippenbogen zum Rücken hin. In den Tagen nach der OP würde sie Schmerzmittel erhalten. Die ersten sieben Tage würde sie in der Privatklinik bleiben und dann würde sie wieder zurück nach Frankreich fliegen. Abgesehen von einem jährlichen Routinecheck ihrer Nierenfunktion, wäre der Eingriff für sie damit Geschichte. Bis auf die Risiken, die bei jeder Operation durch die Narkose entstanden, war es eine kleine OP. Einzig die Wahrscheinlichkeit an Bluthochdruck zu erkranken, würde sich geringfügig erhöhen. Nach zwei bis drei Stunden würde die Entnahme-OP erledigt sein und parallel zur Organentnahme die OP beim Empfänger starten.

Alicia hatte recherchiert, dass die Nieren über 70 Prozent der weltweit illegal gehandelten Organe ausmachteni. Und trotzdem war der Bedarf um sehr vieles höher. In Ländern wie China wurden Organe gar von zu Tode Verurteilten entnommen! Das fand sie ziemlich krank. Es wirkte wie aus einem Science-Fiction Film, in dem die Armen organisch ausgeschlachtet wurden, damit die Reichen ihr reiches Leben verlängerten.

In den ersten Wochen nach der OP würde sie nichts Schweres heben dürfen, bis die Vernarbung stabil war. Aber das hinderte sie nicht daran, sofort mit ihrem Plan loszulegen. Sie war eine begnadete Tänzerin und hatte es satt, für irgendwelche schmierigen trous du cul – Arschlöcher – für das bisschen Kohle am Wochenende zu tanzen.

An der Schule hatte es sie nicht so lange gehalten. Oder eigentlich – länger als sie gedacht hätte. Nach dem vierjährigen College, das auf die fünfjährige Grundschule folgte, schaffte sie es gerade noch so, das dreijährige Lycée d’enseignement général hinzubiegen. Ihre Französischlehrerin setzte sich besonders für sie und ihre beste Freundin Zoe ein, damit sie beide bis zum Schluss durchhielten. Einige andere Lehrende drückten ob ihrer vielen Fehlstunden ein Auge zu. An ihrer intelligence lag es nicht. Die Prüfungen absolvierte sie mit links und dann machte sie sich aus dem Staub. Sobald sie ihre Volljährigkeit erreicht hatte, war sie untergetaucht. Raus aus dem staatlichem Fürsorgewesen. Für einen Bürojob war sie nicht gemacht – dafür war sie einfach zu têtu – ein Sturschädl und zu sehr im Untergrund aufgewachsen.

Nach der Schule arbeitete sie abends als Barkeeperin oder als Kellnerin. Das brachte ihr zwar nur wenig ein, aber sie fühlte sich frei, ihre Tage mit Chillen, Lesen, Tanzen und Sport zu leben. Sie wollte nicht die Zeit totschlagen, sondern ihr Leben genießen.

Seit einer geraumen Weile versuchte sie jedoch, Geld auf die Seite zu schaffen für ihren Traum vom eigenen Club. Dafür reduzierte sie sogar ihre freie Zeit und ließ sich nicht von Männergeschichten ablenken. Am meisten Geld verdiente sie mit ihren kleinen Deals. Es bereitete ihr Freude sich auf gefährliches Terrain zu begeben und Herausforderungen anzunehmen.

Sie war eine Überlebenskünstlerin.

That’s how she grew up.

Ihr gefiel das secret business deshalb, weil es darauf ankam, Leute richtig einzuschätzen, ihr wahres Wesen zu sehen und gut zu beobachten. Das lag ihr. Alicia sprach drei Sprachen fließend: Französisch, da sie in Frankreich aufgewachsen war, Englisch war eigentlich ihre Muttersprache und Spanisch konnte sie sehr gut aufgrund von Zoe, die spanische Wurzeln hatte und natürlich wegen des Schulunterrichts. Das war ein Vorteil für ihre Jobs. Die meisten sahen in ihr irgendeine „Kleine“ und unterschätzten sie. Ihr vorteilhaftes Äußeres verhalf ihr, in Kontakt mit Leuten zu treten, wenn sie es wollte. Und Schauspielern hatte sie im wahren Leben gelernt.

In knapp 12 Stunden würde sie in Los Angeles landen und von einem Lakaien der Familie Coleman in einer Limousine abgeholt werden. Dann ging es direkt in die Privatklinik zu den Vorabchecks und in zwei Tagen würde sie eine ihrer Nieren los sein und die 100.000 Euro in bar in der Tasche haben. Sie wusste nur von einer Allergie gegen Penicillin, das in vielen Antibiotika enthalten war, ansonsten war sie en pleine forme – kerngesund. Alicia fiel in einen unruhigen Schlaf. Trotz des Erste-Klasse-Tickets, das ihr die Colemans bezahlt hatten, waren 12 Stunden ein sehr langer Flug.

Endlich, das Flugzeug setzte zur Landung an. Sie konnte es gar nicht erwarten, den Gurt zu öffnen und ihre Beine zu bewegen. Trotzdem blieb sie geduldig sitzen, streckte sich und wartete, bis die anderen Passagiere an ihr vorbei waren, um dann in Ruhe aufzustehen, ihr Handgepäck zu holen und den Gateway zu beschreiten. Sie ging auf die Flughafentoilette, wusch ihr Gesicht und ließ eiskaltes Wasser über die Handgelenke rinnen, um wieder wach zu werden. Als sie durch die Schiebetür des riesigen Flughafenareals schritt, sah sie sogleich einen stämmigen Mann mit schwarzem Haar und etwas dunklerer Hautfarbe. Vermutlich ein Mexikaner. Er hielt ein Schild in der Hand, auf dem Alicia Leroy stand. Der Handlanger der Colemans begrüßte sie freundlich, nahm ihr die Tasche ab und fragte, wie ihr Flug gewesen sei. Höfliche Floskeln. Dafür war sie heute die Falsche. Alicia antwortete ihm einsilbig: „Merci – très bien“, setzte demonstrativ die große, dunkle Sonnenbrille auf und begleitete ihn schweigend zur Limousine.

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Ethan Coleman schritt den Gang des Krankenhauses leicht nervös auf und ab. Die Organentnahme war problemlos verlaufen. Ihm wurde mitgeteilt, dass Ms. Leroy bereits im Aufwachraum lag. Sein Sohn Tyler wurde noch operiert und es schien alles gut auszusehen. Gerade kam die Ärztin auf ihn zu: „Mr. Coleman! Es geht ihrem Sohn gut, die Operation verläuft planmäßig. War auch nicht anders zu erwarten, bei der Blutsverwandtschaft.“

Was?“ fragte Ethan irritiert. „Nun – den Bluttests nach sind Ms. Leroy und ihr Sohn Verwandte, zumindest dritten oder vierten Grades. Ich dachte, das wissen Sie?“, wiederholte die Ärztin langsam und sah ihn fragend an. Ethan nickte geistesgegenwärtig und erkundigte sich nach dem Aufwachraum, in dem Ms. Leroy lag.

Eine weiße, junge Frau mit dunkelbraunem, lockigem Haar und bleichem Gesicht, lag ruhig schlafend im weißen Krankenhausbett. An ihrem Hals hing eine Kanüle. Ethan betrachtete die Schlafende lange. Irgendetwas löste sie in ihm aus, eine Erinnerung an… – es war da, irgendetwas in ihm reagierte, aber er konnte es nicht mit dem Verstand fassen. Ethan spürte ein ungutes Gefühl in der Magengegend und rief nach Felipe, um ihn zu beauftragen, die Personaldaten von Ms. Leroy zu bringen – in Papierform und mit Fotos der Eltern. Bis dato hatten sie nur die Frau und ihre gesundheitlichen Werte überprüft, nicht jedoch ihre Herkunft.

Felipe kam kurze Zeit später mit einer schmalen, braunen Akte zurück und übergab diese an Ethan. Er überflog nochmals die Personaldaten von Ms. Leroy, konnte dabei aber nichts Auffälliges erkennen. Wie Felipe ihm berichtet hatte, war der Vater unbekannt, die Mutter vor langer Zeit gestorben. Ethan blätterte zur nächsten Seite und starrte plötzlich auf ein Foto, das ihm wohlbekannt war. Er hörte auf zu atmen und fixierte gebannt dieses Bild an. Dieses schöne Bild. Seine Schwester. Beatrice!

Ethan las, dass Beatrice vor 24 Jahren ihren Wohnort in Paris gemeldet hatte. Wie er bereits aus Felipes Bericht wusste, war sie vor 18 Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Aber er hatte gedacht, es handle sich um irgendeine Fremde. Ein Klumpen bildete sich in seinem Hals und er schluckte schwer. Seine Hände begannen zu zittern. Er hatte stets gehofft, dass Beatrice irgendwo auf der Welt ein gutes Leben führte. Sie war also tot. Er konnte es nicht glauben. Irgendwie hatte er jahrelang die Vorstellung gehegt, dass sie sich eines Tages wiedersehen würden.

In diesem Moment begann die Frau, die vor ihm lag, sich zu bewegen. Sie öffnete die Augen. Die Krankenpflegerin, die gerade im Zimmer war, fragte nach ihrem Befinden. Sie schien Schmerzen zu haben und ihr wurde ein painkiller verabreicht. Ethan starrte sie an. Plötzlich wurde die junge Patientin unruhig, ihre Wangen färbten sich rot und sie begann schwer zu atmen. Das Gerät zu ihrer Seite piepte unaufhörlich. Der Herzschlag spielte verrückt. Ethan schrie laut auf:

Sie hat einen anaphylaktischen Schock!

Es war ihm, als erlebte er ein Flashback und Beatrice läge plötzlich wieder vor ihm. Er war kalkweiß vor Schreck und fühlte sich wie gelähmt. In einem Albtraum gefangen.

Die Krankenpflegerin drückte den Alarmknopf, holte blitzschnell ein Notfallset hervor, riss die Bettdecke zurück und stieß ihr einen Adrenalin Autoinjektor in ihren Oberschenkel. Ethan musste das Zimmer verlassen, da eine Ärztin und ein weiterer Arzt ins Zimmer stürzten und ihn regelrecht hinausdrängten. Sein Gesicht war kreidebleich. Es fiel ihm immer noch schwer zu atmen. Er wusste, der Schock käme wieder in Ordnung durch die Verabreichung eines Antihistaminikums.

Aber was nicht in seinen Kopf wollte, war, dass diese junge Frau in diesem Bett, die sie gerade um eine Niere erleichtert hatten, offensichtlich seine Nichte war!

Und dass er seine Schwester nie mehr wiedersehen würde. Seine geliebte Schwester. Er wollte auf keinen Fall ihre Tochter auf dem Gewissen haben. Er wartete vor ihrem Zimmer, bis er mitbekam, dass ihr Gesundheitszustand wieder stabil war.

Zacchary Coleman – his dadappeared on the scene. Ethan richtete sich auf, atmete tief durch, nickte seinem Vater kurz zu und meinte, dass alles gut verlaufe. Seine unglaubliche Entdeckung wollte er erstmal für sich behalten, um sie zu verdauen. Er konnte jetzt nicht auch noch damit dealen, was sein alter Herr dazu sagen würde. Es wunderte ihn, dass der überhaupt persönlich hier auftauchte. Schließlich hegte der Alte keine besonderen Sympathien für seinen Enkelsohn Tyler. Wahrscheinlich ging es ihm ums business, wie immer.

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Alicia erwachte mit trockenem Hals und Schmerzen auf ihrer rechten Seite. Verschwommen konnte sie sich erinnern, dass ein fremder, dunkelhaariger Mann mittleren Alters in ihrem Zimmer gewesen war. His gaze – sein Blick hatte auf ihr geruht. Gerade als sie ihn fragen wollte, warum er sie anstarrte, war ihr ganz komisch geworden und sie hatte keine Luft mehr bekommen. Dann war sie in die Dunkelheit geglitten, ohne zu wissen, was eigentlich los war.

Eine freundliche Krankenpflegerin erschien, informierte sie über ihren Gesundheitszustand und half ihr beim Trinken, Essen und auf die Toilette.

Einen Tag später wurde sie von der Intensivstation in ein normales Zimmer gebracht. Ein Einzelzimmer. First-Class. Alicia wunderte sich, wieso die Colemans bereit waren, immer noch Geld für sie auszugeben. Schließlich hatten sie, was sie wollten, und so ein First-Class-Zimmer musste schweineteuer sein. Sobald sie sich wieder einigermaßen bewegen konnte, wollte sie weg von hier. Zurück in ihr Heimatland.

Am nächsten Morgen nach der Visite, bekam sie wieder Besuch. Der fremde, dunkelhaarige Mann stellte sich als Ethan Coleman vor und bedankte sich, dass sie seinem Sohn durch die Nierentransplantation ein gutes Leben ermöglichte. Alicia nickte und wartete. Sie hätte nicht gedacht, dass jemand von den reichen Säcken persönlich bei ihr vorbeikäme. Irgendetwas wollte er ihr noch sagen, das spürte sie instinktiv. „How are you? Do you need anything?“ fragte Mr. Coleman eindringlich. Alicia erwiderte: „Everything is fine, thanks.“

Was wollte der Typ von ihr? Irgendetwas stimmte hier nicht. Wieso war denn der plötzlich an ihrem Wohlergehen interessiert? Er hinterließ ihr eine Adresse, dort sollte sie auf Kosten der Colemans wohnen, wenn sie das Krankenhaus verließ. So konnten sie das Geschäftliche ungestört abwickeln. Das Bargeld. Weswegen sie auf diesen Deal eingegangen war.

Am Tag ihres Checkouts bekam Alicia nochmals unerwartet Besuch von einem jungen dunkelhaarigen Lockenkopf. „Thanks!“ murmelte er unwirsch und wollte sich wieder umdrehen und verschwinden. „So, you are the asshole to whom I gave my kidney?“ fragte Alicia in ernstem Tonfall. „Yeah, that‘s me, Tyler“, antwortete er irritiert. Alicia lachte und verzog sogleich das Gesicht, weil die Wunde noch schmerzte. Dann streckte sie Tyler die Hand entgegen. Er zögerte kurz, kam ein paar Schritte auf sie zu und erwiderte ihren festen Händedruck. „Hey, get lost!“ meinte Alicia und blickte ihn dabei freundlich an. Tyler sagte nochmals: „Thanks!“ Und diesmal kam es tatsächlich von Herzen.

Am Nachmittag, gerade als Alicia ihre wenigen Habseligkeiten packte, stand plötzlich ein anderer Typ in der Tür. „Ms. Leroy, Mr. Coleman sends me, I‘ll help you with your luggage. Soy Felipe.“

„Muchas gracias, eso no es necesario“, erwiderte Alicia bestimmt. „Ich habe kaum Gepäck, ich nehme mir ein Taxi.“

Mit einem „perdón“ wollte sie an dem Mann vorbeigehen, doch der muskulöse Typ bestand darauf, ihre kleine Tasche zu nehmen, sie persönlich in ihr Hotel zu chauffieren und sie bis zu ihrem Zimmer zu begleiten. Alicia war noch nicht so fit, als dass sie ihre Energie wegen eines unnötigen Konflikts verschwenden wollte und gab es auf, Widerstand zu leisten. Das Hotelzimmer entpuppte sich als schönes Appartement mit Küche, Dusche und Badewanne, sowie einem Wohn- und einem Schlafzimmer. Es war hell und geräumig und Alicia konnte aufs Meer blicken. Felipe gab ihr eine Kreditkarte und meinte, sie könne ihre „gastos“ – die Unkosten, auf die Karte buchen. Die Kosten des Hotelaufenthalts übernehme Familie Coleman.

Alicia schaute ihn groß an, nahm die Kreditkarte und bedankte sich. Als der unerwartete Begleiter weg war, ging sie hinaus auf den Balkon und genoss den schönen Blick auf die Stadt. Sie hörte das Rauschen des pazifischen Ozeans und konnte das Meer sehen und riechen. In Richtung Osten fiel eine imposante Gebirgskette in ihr Blickfeld. Die zweitgrößte Stadt der Estados Unidos de América hatte erstaunlich wenige Wolkenkratzer. Sie konnte den schönen Anblick jedoch nicht so recht genießen.

Sie war unruhig. Was wollten diese Typen von ihr? Noch mehr Organe? Warum wurde sie nach der OP immer noch so umgarnt? Wenn sie ihr Geld hatte, würde sie verschwinden. Das war fix. Alicia beschloss, zum Strand zu gehen und ihre Füße vom Meerwasser umspülen zu lassen. Um 14 Uhr würde sie Mr. Coleman zur Geldübergabe im Hotelzimmer treffen – und dann nichts wie weg von hier.

Es klopfte an der Tür. „Come in!“, antwortete Alicia knapp und genehmigte sich ein kühles Bier aus dem gut gefüllten Kühlschrank des Appartements. Mr. Coleman trat ein und reichte Alicia förmlich die Hand. Seine dunklen Augen starrten sie dabei wieder eindringlich an. Alicia erhaschte einen Blick nach draußen und bemerkte, dass Felipe vor der Tür Stellung bezogen hatte. Es wäre klüger gewesen, zuerst das Geld zu verlangen und dann die OP durchzuziehen. Das war untypisch für sie.

Careless – unvorsichtig.

Die Colemans hatten gedrängt, dass alles schnell gehen müsse und sie hatte auf das Wort der reichen Säcke vertraut. Natürlich hatten sie eine Vereinbarung, aber die würde ihr vor Gericht nichts helfen, da sie sich beide auf illegalem Terrain bewegten. Abgesehen davon würde sie niemals vor Gericht gehen. Das war nicht ihre Art. Sie erledigte lieber selbst, was zu erledigen war.

„Would you like a beer?“ fragte Alicia und war erstaunt, als Coleman das kühle Flaschenbier, das sie ihm entgegenhielt, annahm. Der teure Businessanzug und das Bier aus der Flasche wollten nicht so recht zusammenpassen. Mr. Coleman legte einen kleinen schwarzen Koffer auf den Tisch und öffnete ihn. „100.000 Euro in Dollars – as agreed“, sagte er und setzte sich auf einen Stuhl. Alicia zählte kurz nach, es waren etwa 120.000 Dollar, klappte den Koffer zu und schob ihn beiseite. Was wollte der feine Pinkel von ihr? Jetzt wäre es an der Zeit, sich die Hände zu schütteln und auf Nimmerwiedersehen zu verduften. Sie setzte sich ihm gegenüber und wartete.

Coleman drehte die Flasche in der Hand, trank einen großen Schluck und sah ihr wieder in die Augen. Alicia wartete. „The point is…“, startete Coleman, „…we compared the blood samples… when we did the tests.“ Dann schob er ein Foto zu ihr hin. Darauf waren drei junge Menschen zu sehen. Offensichtlich Coleman in jüngeren Jahren auf der linken Seite, ein junger Typ auf der rechten Seite, der eine gewisse Ähnlichkeit mit Coleman aufwies und in der Mitte lachte ihr eine junge Frau entgegen, deren Bild sich tief in ihr Innerstes eingebrannt hatte. Sie kannte es aus ihren Träumen, aus ihren Erinnerungen. Alicias Herz zog sich zusammen. Ihr Griff schloss sich fest um die kühle Bierflasche, währenddessen sie auf das Bild starrte.

Nach dem völlig unerwarteten Tod ihrer Mutter, war sie in ein Waisenhaus gekommen. Der spärliche Nachlass ihrer „maman“ wurde verkauft und die kleine Summe Geld war auf ein Bankkonto gekommen und ihr ausgehändigt worden, als sie 18 war. Ihr waren keine Erinnerungsstücke von ihrer Mutter geblieben, bis auf eine Kette mit einem goldenen Amulett, auf dem ein winziger grüner Smaragd angebracht war. Keine Fotos, nichts. In das Amulett waren zwei Namen graviert. Alica schwieg, nahm das Foto in die Hand und sah sich das Bild genau an. „Do you mean, what I believe you mean?“, fragte sie nach einer Weile. Coleman nickte und antwortete langsam und bewegt: „Beatrice was my sister!“ Nun sah Alicia ihm aufmerksam ins Gesicht, in seine Augen. Er hielt ihrem Blick stand. Sie nahm wieder einen Schluck von ihrer Bierflasche. Was sollte sie sagen? In ihrem Kopf herrschte gerade Stille und Tumult in einem. Sie war überzeugt davon gewesen, der einzige Mensch auf der Welt zu sein. Abgesehen von ihrem Vater. Den sie jedoch nicht finden konnte, da sie keinerlei Anhaltspunkte hatte, bis auf das Amulett. Sie nahm an, dass der andere Name der ihres Vaters oder der einer anderen Person war, die ihrer Mutter nahe gestanden hatte. Warum sonst sollte ihre Mutter das Amulett aufbewahrt haben?

Alicia hatte ihren Frieden damit geschlossen, allein auf der Welt zu sein und sie kam gut damit klar. Sie sorgte für sich selbst. Das hatte sie schon sehr früh gelernt und das beherrschte sie perfekt. Darin kannte sie sich aus. Und jetzt – dieser Typ ihr gegenüber, sollte ihr Onkel sein? Und was hieß das? Tyler – sie hatte ihrem Cousin ihre Niere gespendet? Waren da noch mehr Leute, die behaupteten, ihre – sie wollte das Wort nicht in den Mund nehmen: „Famille“ zu sein? Es war da, dieses Wort, von dem sie dachte, dass es für ihr Leben keine Bedeutung hätte. Und wie aufs Stichwort sagte Coleman unvermittelt: „Ich möchte dich gerne deiner Familie vorstellen!“ Pause. „Wenn du die Informationen verdaut hast. Es wissen bisher nur du und ich, dass du die Tochter von…“, er brach ab, „…von Beatrice bist.“ Er spürte jedes Mal diesen Klumpen im Hals, wenn er ihren Namen aussprach.

Dann kehrte wieder Stille ein. Beide tranken einen Schluck Bier. Alicia stand auf, um noch zwei Flaschen aus dem Kühlschrank zu holen. Jetzt wäre etwas Stärkeres angebracht. Noch dazu schmeckte das amerikanische Bier ohnehin verwässert. Aufgrund der OP sollte sie eigentlich vorsichtig mit ihrem Alkoholkonsum umgehen, aber verdammte Scheiße, tout de même, que diable!

Alicia fragte angespannt: „Warum ist sie gegangen?“ Coleman blickte aus dem Fenster. Er schwieg lange und sagte schließlich: „Secrets. Family secrets.“

Dann trat wieder eine schwere Stille ein.

„Wir haben sie gesucht – jahrelang. Aber wir hatten keine Ahnung, wohin sie verschwunden war oder dass sie überhaupt schwanger war.“

Coleman sah ihr direkt in die Augen. „Du kannst hier bleiben bei uns. Wir regeln die Formalitäten – wir werden eine amerikanische Staatsbürgerschaft anstreben. Wir kümmern uns um dich.“ Er sah, wie sie abwehrend zurückwich und fügte rasch hinzu: „Du musst mir jetzt nicht sofort antworten. Überleg es dir.“ Alicia sagte nichts. Was sollte sie sagen? Wo sollte sie bleiben? Hier?