Die Autorin

CONSTANZE NEUMANN, geboren in Leipzig, studierte Anglistik, Romanistik und Germanistik. Sie lebte mehrere Jahre in Palermo und arbeitete dort als Übersetzerin. Heute leitet sie einen Berliner Literaturverlag. Ihren ersten Roman Der Himmel über Palermo (2017) zählte die Frankfurter Allgemeine Zeitung zu den schönsten Romanen der Saison.

Das Buch

Als ihr Sohn Heinrich 1881 zur Welt kommt, setzt Anna Reichenheim große Hoffungen auf diesen Erstgeborenen. Doch Heinrich schert sich nicht um die Konventionen seiner großbürgerlichen jüdischen Familie. Er erliegt den Verlockungen des Berliner Nachtlebens und verliebt sich in die ganz gewöhnliche Marie, die seine Mutter nicht akzeptieren kann.
Gemeinsam suchen Heinrich und Marie in den USA ihr Glück, bis der Erste Weltkrieg sie zurück nach Deutschland holt. Sie bleiben ausgeschlossen aus der Familie, auch als die Schatten der Weltwirtschaftskrise und des aufkommenden Nationalsozialismus sich über das Land legen. Während seine Geschwister fliehen oder vertrieben werden, bleibt Heinrich in Deutschland zurück. Wieder ist es Marie, die ihm Halt gibt, als sie ums Überleben kämpfen.
Constanze Neumann erzählt von Anna und Marie, von zwei Leben reich an Liebe und Verlust in einem Jahrhundert voller Extreme.

Constanze Neumann

Wellenflug

Roman

Deutschsprachige Literatur, Roman

Ullstein

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ISBN: 978-3-8437-2622-1

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Widmung

Für Antonia

Später

»Das Leben geht weiter«, sagte mein Großvater und rieb sich die Hände, auf die er stolz war. Lange, schmale Finger mit elegant gewölbten Nägeln. Hände, wie sie alle Männer in seiner Familie hatten.

Ich war zwölf Jahre alt, er saß in seinem Sessel und sah aus dem Fenster. Dann sagte er: »In Mathematik war ich immer gut, Zahlen sind wichtig. Am 26. März 1943 haben sie meinen Vater, deinen Urgroßvater, abgeholt. Und fast auf den Tag genau dreißig Jahre später bist du zur Welt gekommen. Das Leben geht weiter.«

Er war in Gedanken weit weg, und ich konnte ihm nicht folgen, konnte nicht nach dem fragen, was die Zahlen verbargen. Das Gespräch hatte sich zufällig ergeben. Er hatte das Buch gesehen, das ich gerade las: Als Hitler das rosa Kaninchen stahl von Judith Kerr. Darin wird die Geschichte des Mädchens erzählt, das Judith Kerr einmal war. Es floh mit seiner Familie vor den Nationalsozialisten erst in die Schweiz, dann nach Frankreich und später nach England.

»Judith«, sagte er unvermittelt und blätterte in dem Buch, »die Tochter meiner Cousine Julia.« Ich schaute ihn erstaunt an. Mein Großvater hatte keine Geschwister, Onkel, Tanten, Cousinen oder Cousins. Die Männer aus seiner Familie mit den schönen Händen hatte ich nie kennengelernt.

Dann stand er auf und ging aus dem Zimmer, schwankend wie immer, er zog die Füße auf eine seltsame, mir vertraute Art nach. »Er hat damals seinen Gleichgewichtssinn verloren«, sagten meine Mutter und Großmutter manchmal, »als sie ihn zusammengeschlagen haben, auf dem Heimweg aus dem Lager.« Es waren jedes Mal dieselben Worte, es gab sie schon immer, sie waren Teil meiner Welt wie die Zahlen meines Großvaters.

Später begegneten mir im Studium die Schriften Alfred Kerrs, des Vaters jener Judith, über die wir damals sprachen, und mir fiel die Cousine meines Großvaters wieder ein, Julia Weismann, Alfred Kerrs zweite Ehefrau. Inzwischen wusste ich, dass mein Großvater aus einer großen Familie stammte und dass alle Onkel und Tanten, alle Cousins und Cousinen Deutschland verlassen hatten. Sie waren nicht zurückgekehrt, ihr Leben ging anderswo weiter. Geblieben waren ein paar Gräber auf deutschen Friedhöfen und Dokumente, die ich im Internet fand – Geburtsurkunden, Heiratsurkunden und Passagierlisten von Schiffen nach Großbritannien, in die USA, nach Brasilien, Indien und Afrika. Ihre Spuren hatten sich verloren, und ich wusste wenig von ihnen.

Auch von Heinrich Reichenheim, meinem Urgroßvater, der Deutschland nicht verlassen hatte, wusste ich wenig.

Dann kam eine Zeit, in der mein Großvater mir manchmal von seiner Kindheit und seiner Familie erzählte. Es waren Bruchstücke, die aus der Vergangenheit auftauchten, Erinnerungen an Kinderjahre in Dresden, die glücklich gewesen waren, bis sich Schatten über sie legten. Er erzählte von seiner Mutter, die die Familie seines Vaters nicht akzeptieren wollte, weil sie nicht in ihre Welt passte. Von dem einzigen Besuch bei seiner Großmutter, der Mutter seines Vaters, die ihn nicht hatte sehen wollen. Von einer Cousine, die nach Brasilien emigriert war und ihn nach dem Krieg hatte nachholen wollen.

Als mein Großvater starb, kamen ein paar Dinge zu den Erinnerungen: Ein silberner Kaffeelöffel, auf dem die Initialen seines Großvaters eingraviert waren. Das Foto eines Ölgemäldes von 1881, das die Großmutter, die ihn nicht hatte sehen wollen, als junge Frau im weißen Ballkleid zeigt.

Ein Foto seines Vaters mit seinem geliebten Dackel, aufgenommen in einer Zeit, in der er mit dem Hund schon nicht mehr auf die Straße gehen durfte.

Die Kopie einer Familienchronik von 1936, aufgeschrieben gegen die drohende Auslöschung.

All diese Dinge lagen vor mir und wollten sich nicht zusammenfügen, sie erzählten mir die Geschichte nicht, nach der ich suchte. Immer wieder las ich in der Familienchronik von Fabriken in Schlesien und England, von Stoffhandlungen in Leipzig und Berlin, von Bankiers, Politikern und Kunstsammlern. Welche Schicksale verbargen sich hinter den Fakten?

Es waren Zahlen und Daten, so wie die, an denen sich mein Großvater sein Leben lang festgehalten hatte.

Aber ich hatte weder seine Hände noch seine Begabung für Mathematik geerbt. Die Zahlen sprachen nicht zu mir, ich brauchte Geschichten, auch dort, wo es keine mehr gab.

Teil I
Anna

1864–1905

1

»Es war einmal ein armes Waisenmädchen, das lebte am Rande eines großen Waldes bei einem Köhler und seiner Frau. Sie waren hartherzig zu ihm, und es musste den ganzen Tag für sie arbeiten. Einmal schalt es die Köhlersfrau, als sie in der Küche Spinnweben entdeckte. Sie wollte die Spinne, die darin saß, mit dem Schuh totschlagen, aber das Mädchen trug sie schnell nach draußen.

Eines Tages zerbrach ihm ein Krug, und die Köhlerfrau jagte es aus dem Haus. Das Mädchen lief weinend in den Wald, durch Dickicht, über Stock und Stein, dorthin, wo er dunkel und undurchdringlich wurde.

Am Abend gelangte das Mädchen auf eine kleine moosbedeckte Lichtung und sank erschöpft zu Boden. Es dämmerte schon, und das Moos war dunkelgrün und so weich, dass es sofort einschlief. Als es erwachte, schien der Mond hell auf die Lichtung, und das Mädchen sah einen silbernen Faden, an dem eine Spinne hing.

›Greif zu und klettere in den Himmel, kleines Mädchen‹, sagte die Spinne.

Und das Waisenmädchen nahm den Faden, der weich und fest war wie feinstes Garn. Es kletterte schnell hinauf, bis es zu den Himmelswiesen kam. Als es sich umsah, entdeckte es die Spinne, die sprach: ›So wie du mir geholfen hast, helfe ich dir. Du hast ein gütiges Herz und sollst dir einen Bräutigam aussuchen. Aber wähle mit Bedacht zwischen zwei Brüdern: dem Sonnen- und dem Mondjüngling.‹

Da traten zwei junge Männer vor das Mädchen. Es musste die Augen abwenden von dem Sonnenjüngling, so blendete sein strahlender Blick. Der Mondjüngling war blass und freundlich, und ohne Furcht konnte das Mädchen in sein liebes Antlitz sehen.

Da sprach das Mädchen zu der Spinne: ›Mit dem Sonnenjüngling kann ich nicht gehen – zu viel Glut liegt in seinem Blick. Ich gehe mit dem Mondjüngling.‹

Kaum hatte es diese Worte ausgesprochen, trat der Mondjüngling zu ihm und trug es hoch empor in den Himmel. Bis heute wandert das Waisenmädchen mit seinem Bräutigam, dem Mond, über den Himmel.«


»Und was ist aus dem Sonnenjüngling geworden, Vater?«

»Glänzte er nicht wie Gold? War er nicht wunderschön?«

»Sind die Sterne die Kinder des Waisenmädchens?«

»Hast du es gesehen, sag schon, hast du es je gesehen?«

Anna schmiegte sich an ihren Vater und schaute zu ihm hoch, während Margarethe und Marie, ihre beiden jüngeren Schwestern, nicht aufhörten zu fragen.

Anna hätte keinen der Brüder genommen, weder den Mond- noch den Sonnenjüngling, sie wollte den Vater heiraten. Im Januar war sie acht Jahre alt geworden, und ihr Entschluss stand fest: Es konnte keinen schöneren und klügeren Mann geben als ihren Vater.

»Isidor, bitte, seid ein wenig leiser! Das Kindermädchen hat Henriette gerade zu Bett gebracht, sie braucht Ruhe. Und setz den Kleinen keine Flausen in den Kopf, diese seltsame Geschichte von der Spinne, von Sonne und Mond! Gott der Herr stiftet Ehen, keine silbernen Spinnen! So war es bei uns, und so sagt es auch der Rabbi.«

Ihre Mutter regte sich immer auf, wenn der Vater das Märchen erzählte, das sie und ihre Schwestern so liebten. Er hatte ihnen nie verraten, wo er es gehört oder wer es ihm erzählt hatte. Auch die Mutter wusste es nicht. Sie widersprach dem Vater selten, aber wenn er diese Geschichte erzählte, bekam sie rote Flecken im Gesicht und am Hals, ein untrügliches Zeichen, dass sie sich ärgerte. Zwar blieb ihre Stimme leise, und wie so oft hielt sie den Blick gesenkt, aber immer beendete sie unter diesem oder jenem Vorwand die Erzählstunde. Und der Vater brauste dann nicht auf, obwohl er Widerworte nicht mochte und schnell zornig wurde. Er lächelte nur, und sein Blick war irgendwo in die Ferne gerichtet. Ob er von all den Orten träumte, an denen er gewesen war? Die Namen klangen exotisch und großartig in Annas Ohren: Berlin, London, Bradford, sogar in Paris war er gewesen.

Ob es ihm jemand in Paris oder London erzählt hatte? Oder ein Seemann in London, der um die Welt gesegelt war und das Märchen in irgendeinem Hafen gehört hatte, auf einer Insel voller exotischer Pflanzen und Bäume? Nein, der Wald war der Wald seiner schlesischen Heimat, manchmal schmückte er das Märchen aus und erzählte von Nadelbäumen und Eichen, von Farnen, Pilzen und Beeren. Und während die Mutter sich nach dem Dorf, wie der Vater es nannte, sehnte, sprach er nur verächtlich von engen Gassen, Gestank, neugierigen Nachbarn und dem schmutzigen Klassenzimmer, in dem er als Junge zur Schule gegangen war.

Aber der Wald und die sanften Hügel seiner Heimat, das helle Grün im Frühling, davon sprach er voller Sehnsucht, auch mit dem Großvater, wenn der aus Schlesien zu Besuch kam.

»Wenn du noch ins Kontor fahren willst, dann beeil dich, der Sabbat beginnt bald!«

Da war er, der Vorwand. Anna schaute zu ihrem Vater hoch, der den Arm um ihre Schulter gelegt hatte und sie an sich drückte.

»Ja, schon gut, ich fahre los, die Kutsche wartet. Und du kommst mit, Anna.«

Anna sah der Mutter an, dass sie etwas erwidern wollte, sich aber zurückhielt. Sie hatte bereits die Märchenstunde unterbrochen, jetzt nicht auch noch diesen Ausflug untersagen und sich damit nicht nur den Zorn des Vaters, sondern auch den der Tochter zuziehen. Was hat ein Mädchen im Kontor zu suchen, murmelte sie oft, wagte aber nicht, es offen auszusprechen. Anna liebte diese Fahrten, sie liebte die Lagerhalle mit den Stoffballen, all die Farben und wie unterschiedlich sich die Stoffe anfühlten. Sie liebte auch die großen Bücher der Handelsdiener, in denen alle Warenein- und -ausgänge verzeichnet waren. Sie wusste, wo die Stoffe herkamen und wo sie hingingen, in Gedanken sagte sie Städte und Länder auf, die dort erwähnt wurden. Der Vater nahm sich Zeit und erklärte ihr alles, er freute sich, wenn sie erriet, um welchen Stoff es sich handelte und wohin er ihn verkaufte. Hugo und Georg, ihre älteren Brüder, mussten sich zusammen mit dem Vater über die Geschäftsbücher beugen, und sie stöhnten oft, vor allem Georg. Sie interessierten sich nicht für die Stoffe und die Bücher, in die die Geschäftsdiener Tag für Tag Zahlenkolonnen eintrugen. Der Vater nahm sie trotzdem mit und wollte Hugo bereits nach Berlin schicken, in die Firma, in der auch er gelernt hatte. Nur mit viel Mühe hatte die Mutter Aufschub erwirkt, und der Vater war zornig geworden.

»Was für Söhne habe ich nur! Wozu die Mühe und all die Arbeit! Dann muss dein Mann das Geschäft weiterführen, Anna, du bist die Einzige, die mich versteht!«

Nach diesem Streit hatten Vater und Mutter nicht miteinander gesprochen, und der Vater war abends nicht mehr zu Hause gewesen. Anna hatte gehört, wie eins der Dienstmädchen etwas vom Italien-Keller geflüstert hatte, und die Mutter hatte ihm eine Ohrfeige gegeben. In den Italien-Keller gingen keine anständigen Männer, und man durfte nicht einmal den Namen dieses Ortes aussprechen.

Sara, die alte Köchin, die mitgekommen war aus Gleiwitz, der Heimat der Mutter, hatte sie in der Küche getröstet. Chanele, wie die Mutter sie nannte, wenn der Vater es nicht hörte, war ihre Vertraute, mit ihr sprach die Mutter Jiddisch, was Anna kaum verstand und der Vater ablehnte.

»Das sind wir nicht«, hatte er einmal gebrüllt, als die Mutter schüchtern eingewandt hatte, es sei die Sprache ihrer Heimat.

»Vergiss Gleiwitz, vergiss Schlesien! Dafür habe ich nicht gekämpft, dafür reise ich nicht durch ganz Europa, dafür habe ich nicht das Niederlassungsgesuch gestellt und gekämpft, um hier in Leipzig sein zu können mit meiner Familie und meinem Geschäft. Wir können alles erreichen, wenn wir mit der neuen Zeit gehen. Und da hat diese Sprache aus dem Osten nichts zu suchen.« In seiner Stimme hatte eine Verachtung mitgeschwungen, die die Mutter verletzt hatte, das hatte Anna deutlich sehen können.

»Gadles ligt ojfn mist«, hatte die Mutter leise gesagt, sodass es der Vater nicht hören konnte. Anna hatte es aber gehört und abends Henriette gefragt, als sie bei ihr am Bett saß, um ihr vorzulesen.

»Gadles ligt ojfn mist – was heißt das, Hennilein?«

Die dunklen Augen der Schwester in dem zu schmalen, blassen Gesicht hatten geblitzt, sie hatte gelacht.

»Gadles heißt Hochmut. Hochmut liegt auf dem Mist.« Sie hatte gekichert. »Wo hast du das aufgeschnappt, Annele?«

»In der Küche, ach, ich weiß nicht.« Sie hatte versucht, sich wieder auf den Roman zu konzentrieren, aus dem sie der Schwester langsam und mit Mühe vorlas.


Jetzt holte Anna schnell ihren Umhang und zog die neuen Stiefel aus glattem, weichem Leder an, bevor die Mutter es sich doch noch überlegte und die Fahrt verbot.

»Aber kommt nicht zu spät …«, sagte diese nur leise. Wenig später saßen sie in der Kutsche, die über die Pflastersteine holperte.

»Und der Faden, Vater, der Wollfaden, an dem das Mädchen in den Himmel geklettert ist?«

»Feinstes Kammgarn …«, sagte der Vater, in Gedanken versunken. »Wir müssen schauen, ob die Lieferung aus England eingetroffen ist. In der kommenden Woche beginnt bereits die Messe. Halbwollenes Jacquardgewebe in Rot, Blau und Gelb wollen alle, Anna, und nirgendwo weben sie so wie in Bradford.«

Seine Finger trommelten nervös auf die Bank, und Anna folgte seinem Blick aus dem Fenster. Die Kutsche fuhr über den Brühl, sie sah die Magazine der Pelzhändler, das geschäftige Treiben. Ware kam nun täglich an und wurde ausgeladen. Die Ersten hatten bereits ihre Pelze über die Fensterbänke gelegt als Zeichen, dass die Messe bald beginnen würde. Anna liebte die Messetage, sie liebte die Geschäftigkeit in Vaters Kontor, all die Fremden, die kamen, die Gäste, die bei ihnen wohnten: Geschäftsleute, mit denen der Vater enge Verbindungen pflegte, die Geschenke mitbrachten und Geschichten erzählten. Und sie liebte die Gaukler und Jahrmärkte und den Großboseschen Garten vor dem Grim­maischen Tor, der zur Messe geöffnet wurde. Sie dachte an die Kräppel und Spritzkuchen, die an den Buden verkauft wurden, an Feuerspeier und Schwertschlucker.

Als die Kutsche vor dem Kontor hielt, riss der Vater die Tür auf, stieg aus – nicht ohne darauf zu achten, sich die polierten Schuhe nicht schmutzig zu machen – und hob sie aus der Kutsche.

Callmann & Eisner, englische Manufakturwaren, stand auf dem Messingschild an dem Haus in der Katharinenstraße, und sie sah, dass der Vater wie jedes Mal den Blick für den Bruchteil einer Sekunde darauf ruhen ließ.

Im Kontor herrschte reges Treiben, die Kommis und die Bureaudiener liefen durcheinander, das Stimmengewirr war so laut, dass einer der Diener, der an einem Stehpult stand und ein Schriftstück verfasste, alle zur Ruhe rief, weil er sich nicht konzentrieren konnte.

»Keine Lieferung heute«, und sie folgte dem Vater in die Lagerhalle, wo hohe Ballen der unterschiedlichsten Stoffe lagerten, in allen Farben, dickere und feinere, Panama, Alpaka und Orleans. Bei einem grauen Wollstoff mit dünnen hellen Streifen blieb der Vater stehen.

»Baumwollene Kette, wollener Schuss … Und für den Schuss englisches Kammgarn aus Yorkshire, Mohair … schön fest und mit Glanz, daraus kann alles geschneidert werden, Schürzen- und Futterstoffe, Staubmäntel, Oberröcke … Komm her, Anna, fühl nur. So einen festen halbwollenen Stoff findest du nirgends in der Stadt. Gewebt in England, dort können sie fester und feiner weben als die Schlesier. Dieser Stoff nutzt sich nicht ab, er reißt nicht und bleibt dir ein Leben lang.«

Vorsichtig strich Anna darüber.

»Mohair, Crossbred, Cheviot«, murmelte sie – wie schön das klang. Sie erinnerte sich an die Namen der anderen Kammgarne und sah, dass der Vater zufrieden lächelte. Wann immer sie konnte, versuchte sie, mehr darüber zu erfahren. Wenn sie Glück hatte, begann der Vater zu erzählen. Bis ihn jemand unterbrach, der fand, dass er nur seine Zeit verschwendete.

»Vater, erzähl mir von Bradford«, bettelte sie.

»Jetzt nicht, Anna, keine Zeit. Übermorgen treffen die Reichenheims ein; der Geheime Kommerzienrat hat telegrafiert, er bringt Julius mit. Und Adolph, seinen jüngsten Sohn, er ist nicht viel älter als du. Julius war gerade in Bradford und weiß besser davon zu berichten als ich …«

Anna freute sich über die Gäste, gleichzeitig fürchtete sie sich ein wenig vor dem strengen Louis Reichenheim, den der Vater immer noch mit »Herr Kommerzienrat« ansprach, obwohl er als junger Mann in der Firma Reichenheim in Berlin gelernt hatte und ihn und seine Brüder lange kannte.

Die Reichenheims waren dem Vater Vorbild, und ihre Firma beschrieb er in leuchtenden Farben. »Große Werke in Bradford und Schlesien«, sagte er, »ganz modern.« Ihre Stoffe »beste Ware«. Ihnen eiferte er nach, und ihre Messebesuche bei ihm, dem ehemaligen Handelsdiener, machten ihn stolz.

Der Herr Kommerzienrat kam allein oder mit seinen Brüdern, und solange sie sich erinnern konnte, war immer sein ältester Sohn Julius dabei. Dünn war er und »schwach«, das hörte sie den Vater manchmal der Mutter erzählen, der Herr Julius sei krank und besuche immer wieder ein Sanatorium. Ein Brustleiden habe er, deshalb könne er wohl nicht heiraten, obwohl er bald dreißig Jahre alt sei.

»Anna, kommst du?«, rief der Vater, und während sie noch einmal gedankenverloren über den Stoffballen strich, sah sie Julius aufrecht an Bord eines Schiffes nach England stehen. Ihn umwehte ein dunkler Staubmantel, den er bei seinem letzten Besuch in Leipzig getragen hatte, sein Gesichtsausdruck war ernst, und er schaute aus hellen blauen Augen auf die weite See.

2

Die letzte Woche vor der Messe war wie im Flug vergangen. Es war keine Zeit mehr geblieben, den Vater ins Kontor zu begleiten, denn Anna musste der Mutter helfen, das Haus herzurichten und alles für den Besuch vorzubereiten.

Margarethe mit ihren sieben Jahren spielte lieber mit der kleinen Marie. Und Henriette musste sich so oft ausruhen, dass sie ihr keine Konkurrenz machen konnte, obwohl sie schon dreizehn war.

Nur wenn der Vater die großen Brüder mit in die Firma nahm, versetzte es Anna einen Stich. Denn noch lieber als bei den Vorbereitungen zu helfen, wäre sie mit in die Katharinenstraße gefahren und hätte dort an den Messevorbereitungen teilgenommen. Gestern waren die ersten Kaufleute eingetroffen, und der Vater hatte zwei von ihnen gemeinsam mit Georg und Hugo in der Sanderschen Wirtschaft getroffen. Aufgeräumt waren die drei abends wiedergekommen, und sogar Georg hatte gute Laune gehabt. Später hatte er Anna und Margarethe erzählt, dass ein Kaufmann aus Galizien ihm einen Gebetsschal gezeigt hatte, wie er ihn noch nie gesehen hatte – aufwendig bestickt, in leuchtenden Farben. Anna hatte sich ausgeschlossen gefühlt, enttäuscht hatte sie zugehört und die Stickarbeit beiseitegelegt, die ihr sonst Freude machte. Dann war der Vater zu ihr gekommen, hatte den Stickrahmen genommen und die Blumen gelobt, die sie gestickt hatte.

»Stickst du mir eine Spinne neben die Blüte?«, hatte er ihr ins Ohr geflüstert, und die trüben Gedanken waren wie weggeblasen.

Wie immer waren die letzten Tage schnell vergangen, und kaum war alles bereit, trafen die Gäste ein: Louis Reichenheim, der schweigsame Julius und der dreizehnjährige Adolph. Julius kümmerte sich um den lebhaften Jungen, der seinem strengen Vater überhaupt nicht ähnlich sah. Er hatte dunkelbraune Locken, die nicht zu bändigen waren, dunkle Augen unter dunklen, geraden Augenbrauen, ein schmales Gesicht und auf der Nase ein paar Sommersprossen.

Durch die offene Tür des Gästezimmers beobachtete Anna, wie Julius einen der schweren Koffer auspackte und alle seine Sachen und die des Bruders in den Schrank hängte. Adolph schoss derweil am geöffneten Fenster mit einer kleinen Zwille Steinchen auf die Straße, bis Julius ihn ermahnte, es zu unterlassen.

Dann holte Julius aus den Tiefen des großen Schrankkoffers eine große Puppe hervor, die er Anna, Margarethe und Marie später beim gemeinsamen Abendessen überreichte.

»Aus Frankreich«, sagte er, sie sei mechanisch und könne sprechen und laufen. Der Vater zog sie vorsichtig auf, sie sang ein Lied, klappte mit den blauen Augen und lief ein paar Schritte im Kreis. Anna wollte sie in den Arm nehmen und über das seidig glänzende blonde Haar streichen, aber die Mutter nahm ihr die Puppe weg, sie solle vorsichtig sein, die Mechanik sei empfindlich, und schloss sie in den Schrank.

Dann wurden die Speisen aufgetragen, und Louis Reichenheim ermahnte seinen jüngeren Sohn, nicht zu schnell zu essen. Er nahm Adolph das Messer aus der Hand, das dieser wie einen Säbel in den Himmel richtete, legte es auf den Tisch und stand auf. »Nun ist es genug, wir sind satt. Kommt, wir haben viel zu bereden.«

Julius nahm den kleinen Bruder, der protestieren wollte, an der Hand und ging mit ihm in die Küche.

»Der Herr Julius weiß besser als sein Vater, dass Jungen in diesem Alter immer Hunger haben«, sagte die Mutter später.

»Hugo und Georg essen auch nicht so viel und so hastig«, wandte Anna ein. Ihre Brüder hatten mit großen Augen das Schauspiel verfolgt, das Adolph bei Tisch geboten hatte.

»Darauf habe ich ein Auge«, sagte die Mutter. »Der Herr Reichenheim und seine Frau sind in einem Alter, in dem man sich über Enkel freut. Herr Julius sollte besser selber heiraten, als sich um seinen Bruder zu kümmern.«


Die Messetage waren lang und aufregend, auch für Anna und ihre Schwestern, die daheimblieben und auf die Rückkehr der Männer warteten, auf Berichte oder wenigstens Gesprächsfetzen, hier und da aufgeschnappt, über den Fortgang der Geschäfte, über Merkwürdigkeiten und Sensationen. Denn es wurde nicht nur gehandelt: mit den Kaufleuten trafen Nachrichten aus allen Ecken der Welt in Leipzig ein. Die Zeit verging wie im Flug, und Anna fieberte dem letzten Tag entgegen, dem Ausflug am letzten Messenachmittag in die Großboseschen Gärten.

Anna hatte befürchtet, dass sie diesmal bei Henriette bleiben müsste, weil es der Schwester nicht gut ging. Sie hatte sich geschämt, dass sie an diesem Nachmittag nicht an ihrem Bett sitzen und ihr vorlesen wollte, und ängstlich gewartet, ob die Mutter sie bat, auf die Fahrt zu verzichten.

Aber die Mutter hatte das Dienstmädchen angewiesen, bei Henriette zu bleiben, und nun saß Anna in ihrem schönsten Kleid – hellgrüner Taft, Spitzenkragen, dazu hellgrüne Schleifen im dunklen Haar – neben Margarethe und Marie in der Kutsche. Der Vater saß in der zweiten Kutsche mit den Reichenheim-Söhnen. Der Herr Kommerzienrat hatte nicht mitkommen wollen, es gab noch Geschäfte, denen er sich widmen musste.

Es war ein strahlender Septembertag, die Luft war klar und warm, der Geruch des Herbstes lag darin, von Laub und Pilzen, würzig und schwer. Der Himmel war tiefblau und das Laub bereits gelb und rot verfärbt.

Je näher sie den Großboseschen Gärten kamen, desto langsamer kamen sie voran. Kutschen, »weiße Elefanten« – Wagen mit weißen Planen, auf denen Messeware geladen war – und Scharen von Menschen zu Fuß strömten ihnen entgegen, dichter und dichter wurden das Gedränge und das Stimmengewirr. Anna hörte fremde Sprachen, Lachen und Schreien und schaute sehnsüchtig in Richtung der Gärten. Die Kutschen hielten vor dem schmiedeeisernen Gitter, schnell sprang sie heraus, gefolgt von den kleinen Schwestern. »Bleibt hier«, rief die Mutter ihnen nach, und sie warteten brav am weit geöffneten Tor, bis auch der Vater und die beiden Reichenheim-Söhne bei ihnen waren.

»Die Kräppel, wo gibt es die?« Adolph war ungeduldig, und seine Augen blitzten fröhlich. »Alle schwärmen von den Kräppeln, die es bei uns in Berlin nicht gibt!«

Anna tat Adolph leid, der in einer Stadt leben musste, wo es so etwas nicht gab. Sie könnten ab und zu welche schicken, überlegte sie, während der Junge gierig das klebrige Gebäck verschlang. Nur der Vater aß nichts davon. »Er sorgt sich, dass Zucker auf seinem Gehrock klebt«, lachte Georg, und der Vater lächelte auf eine Art, der Anna ansah, dass das genau der Grund war, er aber nicht darüber sprechen oder gar scherzen wollte. Der Vater hasste nichts mehr als Flecken auf der Kleidung oder Schmutz an den Schuhen. Alles musste ordentlich und sauber sein und der neusten Mode entsprechen. Und das Schlimmste waren billige, schlechte Stoffe, die rau wurden oder aus der Form gerieten.

Sie bestaunten einen Schwertschlucker und eine Dame, deren Glieder aus Gummi zu sein schienen. Anna war mit offenem Mund vor der Frau stehen geblieben, die Arme und Beine so um den Körper geschlungen hatte, als hätte sie keine festen Knochen im Leib. Als sie aus ihrer Trance erwachte und sich umsah, waren die anderen im Gedränge verschwunden. Sie meinte, den Hut des Vaters zu erkennen, und lief hinterher, aber die Menge war wie ein großer Körper, es wurde geschoben und gedrückt, und sie hatte schon bald den Hut des Vaters aus den Augen verloren.

Immer dichter schien die Menge zu werden, und plötzlich sah sie die Rauchschwaden. Der Duft von gerösteten Maronen und gebrannten Mandeln hatte über dem Garten gehangen, jetzt wurde er beißend und schwer, und sie begann zu husten. Das waren nicht mehr die Rauchwolken der Maroniröster, diese waren dichter und dunkler. Die ersten Schreie ertönten, Feuer, Feuer!

Plötzlich war überall Rauch, und Anna konnte kaum noch ein paar Meter weit sehen. Wo war der Eingang, hinter ihr oder schräg vor ihr? Es gab ein einziges Tor in dem hohen schmiedeeisernen Zaun um die Großboseschen Gärten, das Tor, das nur zur Messe geöffnet wurde und sonst verschlossen blieb. Während sie noch überlegte, wurde sie fortgerissen von der Menge, die drängte und stieß. Frauen schrien und weinten, Hunde bellten, in der Ferne hörte sie Pferde wiehern. Panik brach aus. Der Rauch stach in der Kehle, Anna sah neben sich die Frau mit den Gummiknochen, die ebenso schob und schrie wie die anderen, dann loderten ganz in der Nähe Flammen: Eine der hölzernen Buden, vor denen ein Maronenverkäufer gestanden hatte, musste Feuer gefangen haben.

Sie kam kaum voran, sie hustete und würgte, ihre Augen tränten, dann wurde ihr schwindelig. Plötzlich spürte sie, wie eine Hand nach ihr griff.

Ihr Vater stieß die Menschen beiseite, er legte die Arme um sie und schob sich gemeinsam mit ihr durch die Menge. Inzwischen war die Hitze unerträglich, und sie konnte nicht mehr die Hand vor Augen sehen, so dicht war der Rauch geworden. Der Vater schrie, sie verstand nicht, was er sagte, aber sie kamen vorwärts und hatten schließlich das Tor erreicht. In ihrem Kopf drehte es sich, und als sie endlich stehen bleiben konnten, um Luft zu holen, wurde Anna ohnmächtig.

Als sie zu sich kam, hatte man sie in die Kutsche gelegt, und die Mutter tupfte ihr mit einem feuchten Taschentuch die Stirn ab.

»Ajele poppejele«, sang sie leise, und das alte Lied beruhigte Anna. Gierig sog sie die frische Luft ein.

»Du hast mir einen Schreck eingejagt«, schimpfte die Mutter, »wo warst du denn?«

Ihr Vater gab ihr einen Kuss auf die Stirn. Sein Mantel war staubig und am Saum zerrissen, und sein Gesicht war rußverschmiert.

Auch Julius und Adolph sahen nicht viel besser aus. Adolphs Jacke war am Ärmel zerrissen, und Julius’ Kragen hatte sich gelöst. Noch ganz benommen hielt Anna sich den Kopf. Da trat Julius zu ihr an die Kutsche. Erst erkannte sie nicht, was er in der Hand hielt.

»Ihre Schleifen, Fräulein Anna«, sagte er. Sein Gesicht sah wie eine schwarze Maske aus, in der hell die Augen standen.

Sie fragte sich, wo er sie in dem Gedränge gefunden hatte.

»Danke«, sagte sie schüchtern und griff nach den schmutzigen grünen Bändern.


Der Ausflug hatte die euphorische Messestimmung jäh beendet. Überrascht schaute der Geheime Kommerzienrat auf Adolphs zerrissene Jacke und die rußverschmierten Gesichter.

Anna merkte ihrem Vater an, dass er sich am meisten über den zerrissenen Saum seines eleganten Jacketts ärgerte, aber auch darüber, dass der von ihm lange und sorgfältig geplante Ablauf gestört war: Sie mussten sich waschen und umziehen, unaufhörlich schleppte das Mädchen Schüsseln und Krüge voller Wasser in die Zimmer, damit sie sich den Ruß aus dem Gesicht und von den Händen waschen konnten. Als Anna ihr Kleid auszog, sah sie, dass auch die Unterkleider bräunlich verfärbt waren, und sie nahm den beißenden Geruch wahr, der nicht nur aus den Kleidern, sondern auch aus ihrer Haut und ihren Haaren aufzusteigen schien. Sie schrubbte lange, bis ihr die Hände wehtaten, hatte aber nicht das Gefühl, sauber zu sein.

Das große, für den Abend geplante Essen konnte erst viel später beginnen, der Vater war nervös, und Anna – die wie ihre Mutter nicht dabei war und nur ab und zu einen Blick durch die Tür in das Esszimmer werfen konnte – sah den Geheimen Kommerzienrat sowie Julius und Adolph mit ernsten Gesichtern am prächtig gedeckten Tisch sitzen. Obwohl Chanele und die Mutter ihr mehrmals befahlen, in die Küche zu kommen, blieb sie neben der Tür stehen und versuchte der Unterhaltung zu folgen, von der sie nur Bruchstücke hörte: der Geheime Kommerzienrat sprach über das Werk in Wüstegiersdorf und die Faulheit der Arbeiter in Bradford, über einen großen Verkauf von dunkler Tuche an einen Kaufmann aus Odessa, von dem er noch nie gehört hatte, und von den Baumwollpreisen, die langsam wieder sanken nach der Krise der vergangenen Jahre in den USA. Anna beugte sich vor, um besser zu verstehen.

Sie sah, dass Adolph sich langweilte und aus dem Fenster schaute. Er spielte mit einem kleinen silbernen Löffel, er drehte ihn schnell zwischen Daumen und Zeigefinger. Die Erwachsenen beachteten ihn nicht, sie waren in ihre Diskussion vertieft, die immer lauter wurde. Dann fiel Adolphs Blick auf den Türspalt, sie trat einen Schritt zurück, aber er hatte sie schon gesehen, und der Löffel glitt ihm aus der Hand und fiel klirrend zu Boden.

3

Die Messen gaben den Jahren ihren Rhythmus, sie teilten das Jahr in drei Teile und waren wichtiger als Geburtstage oder Feiertage.

Mit den Messen kamen die Reichenheims, dreimal im Jahr. Manchmal kamen sie zu fünft oder sechst, immer war Julius dabei und immer öfter auch Adolph.

Beide Söhne »kränkelten«, wie der Vater sagte, er erzählte von Sanatorien und Kurorten, die Julius und sein Bruder besuchen mussten. Wenn sie in Leipzig waren, schienen sie gesund zu sein, sie waren nicht so blass wie Henriette oder mussten sich nachmittags hinlegen.

Anna lebte von Messe zu Messe. Der Vater nahm sie immer seltener mit ins Kontor, und der Besuch aus Berlin, die lauten Tischgespräche, der Austausch über gute oder schlechte Geschäfte unterbrachen die Eintönigkeit des Alltags. Immer öfter sagte der Vater ihr nun, dass sie sich zu Henriette ans Bett setzen oder wie Margarethe sticken und Klavier üben oder der Mutter helfen solle.

Er engagierte ein neues Kindermädchen aus Paris, das mit den Schwestern nur Französisch sprechen durfte. Chanele, der alten Köchin, verbat er, ein Wort Jiddisch zu sprechen, und schwor, sie zurück nach Gleiwitz zu schicken, wenn er es noch ein einziges Mal höre.

Jiddisch durfte nur gesprochen werden, wenn der Großvater aus Gleiwitz zu Besuch kam.

»As men hot chaßene mitn schwer, schloft man mit dem ber«, hörte Anna Chanele einmal in der Küche sagen. Später versuchte sie, den Spruch Henriette aufzusagen, aber sie brachte ihn nicht mehr zusammen.

»Chaßene mitn schwer«, sagte sie der Schwester, »an mehr erinnere ich mich nicht«

»Den Schwiegervater heiraten. Hm …« Sie überlegte und runzelte die hohe blasse Stirn.

»Das wäre, wenn Vater den Großvater heiratet«, sagte Henriette.

»Hat er aber nicht«, sagte Anna empört. Sie war neun Jahre alt und wusste, dass sie den Vater nicht heiraten konnte, er war mit der Mutter verheiratet. Sie würde einen anderen Mann heiraten, den die Eltern aussuchten, so wie der Großvater ihren Vater für die Mutter ausgewählt hatte.

»Wer heiratet den Schwiegervater?«

Anna und Henriette hatten nicht bemerkt, dass die Mutter ins Zimmer getreten war.

»As men hot chaßene mitn schwer … hat sie das gesagt? Das Chanele kann es sich einfach nicht verkneifen!«

Die Mutter war wütend geworden, und Anna hatte bemerkt, dass sie zwei Tage lang nicht mit der Köchin sprach.

Henriette sagte Anna den Spruch ein paar Tage später auf: »As men hot chaßene mitn schwer schloft man mit dem ber.« Abends saß Chanele oft bei ihr und redete mit ihr in jener Sprache, die fremd klang und heimelig – dunkle, weiche Laute, in denen man sich verkriechen konnte. Henriette hatte Chanele leicht dazu bringen können, ihr den Spruch zu verraten.

»Heiratet man den Schwiegervater, schläft man mit dem Bären«, übersetzte ihr Henriette. Dann setzte sie sich in ihrem Bett auf und erklärte Anna, dass die Menschen so etwas sagten, wenn man den Großvater so lieb hatte wie sie den ihren. Und dass das dann kein böser Bär war, sondern ein lieber. Wie bei Schneeweißchen und Rosenrot.

»Aber warum war die Mutter dann so böse?«

Das wusste Henriette nicht, wechselte das Thema und erzählte Anna eine ihrer Geschichten – Märchen, die sie von den Hausmädchen gehört hatte, von der Wasserlisse, der Spilahulla oder der Mohra, Hexen und Zauberern, die den Menschen halfen oder sie erschreckten, verzauberten oder in ihre Welt entführten.

Der Großvater war klein und hatte einen runden Bauch, er aß und trank gern und verbrachte viel Zeit mit Anna und ihren Schwestern. Henriette brachte er immer besonders viele Geschenke mit, Ketten und Armbänder, ein Stickkissen und bunte Garne. Nachmittags fuhr er mit dem Vater und den Brüdern ins Kontor, und Anna setzte sich schweigend aufs Sofa, um zu sticken. In Gedanken war sie nicht bei der Sache, oft stach sie sich, oder die Blütenblätter wurden schief.

Der Großvater blieb zwei Wochen, dann fuhr er wieder. Zurück nach Hause, sagte er, und die Mutter hatte zwei Tage lang verweinte Augen. Der Vater wurde wütend, die Ader an seinem Hals schwoll an, ein Zeichen, ihm besser aus dem Weg zu gehen. Manchmal stand er dann auf, nahm Mantel und Hut und lief aus dem Haus. Die Mädchen starrten ihm hinterher, das taten sie immer. Einmal hörte Anna, wie eines der Mädchen seufzte und sagte, was für ein schöner Mann.

Nach ein paar Tagen war die Abreise des Großvaters vergessen, die Mutter hatte im Haus zu viel zu tun, der Vater ging auf eine seiner Reisen, der Arzt kam zu Henriette, und Anna und Margarethe stritten sich über Kleinigkeiten.

Und Anna wartete auf die nächste Messe.

1866, in dem Jahr, in dem sie zehn Jahre alt wurde, fiel die Herbstmesse aus. In der Stadt war die Cholera ausgebrochen, man blieb in den Häusern, und über die Stadt legte sich ein schweres Tuch aus Angst, Krankheit und Tod. Es war ein strahlender Augusttag mit blauem Himmel und warmer Sommerluft, als die Nachricht von den ersten Cholera-Fällen wie ein Lauffeuer durch die Straßen ging.

Die Mutter verbot Anna und ihren Geschwistern, das Haus zu verlassen. Der Vater musste die Klavierlehrerin abbestellen, und wenn Anna versuchte, sich aus dem Haus zu schleichen, und dabei erwischt wurde, wurde die Mutter böse.

Dann sollte auch der Vater zu Hause bleiben.

»Was soll ich machen? Ich muss nach dem Rechten sehen«, rief er wütend, und als die Mutter in Tränen ausbrach und darum bat, die Firma zu schließen, wenigstens für ein paar Tage, stand der Vater vom Tisch auf und schlug die Tür hinter sich zu.

Anna und Margarethe nutzten die Unruhe, um unbemerkt nach draußen zu gelangen. Es war zu langweilig, den ganzen Tag eingesperrt zu Hause zu bleiben. Anna fragte sich, was diese Cholera überhaupt sei. Sie hatte eine alte Frau vor Augen, eine der Hexen aus den Märchen, die an die Tür klopfte und das Fieber brachte, vor dem sich alle fürchteten. Halb erwartete sie, diese Cholera auf der Straße zu treffen, der sonst so belebten und geschäftigen Querstraße, auf der es viele Läden gab, Druckereien und Buchhandelsgeschäfte. Jetzt waren nur wenige Menschen auf der Straße, sie gingen schnell mit gesenktem Kopf an ihnen vorbei. Zögernd taten sie ein paar Schritte. Margarethes Hand war feucht – oder war es Annas eigene? Sie sahen sich unsicher an.

»Vielleicht gehen wir zurück, bevor die Mutter etwas merkt«, sagte Margarethe leise. Anna wollte ihr etwas entgegnen, sich über ihre Feigheit lustig machen. Aber auch ihr kam die stille Straße gespenstisch vor, ein seltsamer Kontrast zu Sonnenschein und singenden Vögeln. Beinahe rannten sie zurück und sahen sich um, bevor sie sich ins Haus zurückschlichen.

Am Tag danach erkrankte erst Hugo und dann Henriette. Um vier Uhr in der Frühe hörte Anna den Bruder stöhnen und nach der Mutter rufen. Am nächsten Morgen sah sie die Mutter mit Tee und Wickeln zu ihm gehen. Der Arzt kam, das Zimmer wurde verdunkelt, die Wäsche gewechselt. Alle gingen auf Zehenspitzen und flüsterten. Als Anna abends bei Henriette saß, bemerkte sie den Schweiß auf der Stirn der Schwester. Sie schien noch blasser als sonst, noch schmaler in ihrem Bett. Unter den Augen zeichneten sich dunkle Ringe ab.

»Willst du morgen nicht einmal aufstehen? Ich helfe dir – nur eine Stunde«, schlug Anna vor.

»Ich würde gern«, flüsterte Henriette. Ihr Lächeln sah gequält aus. »Aber gerade heute geht es mir nicht gut, es ist so warm, findest du nicht? Ich bekomme kaum Luft, und mir ist flau im Magen. Machst du das Fenster auf?’

Sie versuchte sich aufzurichten und presste plötzlich die Hand vor den Mund. Als sie sich krümmte und sich übergab, stand die Mutter neben dem Bett und zog Anna weg.

»Geh!«, rief sie, und die Entschiedenheit in ihrer Stimme duldete keinen Widerspruch. Anna stand auf, und die Mutter schob sie aus dem Raum. Bevor die Tür sich schloss, sah Anna, wie ihre Schwester hustete und ein weiterer Schwall aus ihrem Mund brach.

Danach schien es im Haus noch stiller zu werden. Selbst Chanele klapperte in der Küche nicht mehr mit den Töpfen, schweigend trug sie Fleisch- und Eibrühe oder Kamillentee in die beiden Krankenstuben und half den Mädchen, die Wäsche auszukochen.

Anna sah in diesen Tagen weder Hugo noch Henriette, auch die Mutter sah sie kaum, die den gemeinsamen Mahlzeiten fern- und bei den Kranken blieb.

Der Vater war einsilbig, nur kurz setzte er sich zu ihnen an den Tisch und verschwand wortlos, nachdem er drei Bissen genommen hatte.

Anna und Margarethe versuchten sich die Zeit mit ihren Puppen zu vertreiben, aber wie so häufig begannen sie schnell zu streiten. Sonst schlichtete die Mutter, oder das Mädchen griff ein. Oder Henriettes müder Blick ließ sie verstummen.

Jetzt aber reichte eine Kleinigkeit, dass die Schwester und sie sich endlos Widerworte gaben und die eine der anderen das Spielzeug wegnahm. Marie fing dann an zu weinen, sie hasste es, wenn ihre älteren Schwestern sich zankten, aber da sie im Spielzimmer nun meistens sich selbst überlassen waren, beachteten sie sie nicht. Wie in Trance rissen sie an den Spielsachen, manchmal auch an den Haaren, bis eine der anderen wehtat und auch zu weinen begann. Dann steckte meistens doch eins der Mädchen den Kopf ins Zimmer und rief »Schluss« oder »Schämt ihr euch nicht!«.

Zu den Mahlzeiten durften sie nun häufig nicht einmal ihr Zimmer verlassen, Chanele kam mit Brot und etwas Brühe oder Fleisch zu ihnen.

»Wann können wir wieder zu Henny?«, fragte Anna eines Abends. Es war ein kühler Septembertag, das erste Laub war von den Bäumen gefallen, und als sie am Nachmittag das Fenster geöffnet hatte, roch die Luft schon rauchig und zog kalt in das Zimmer. Die Straßen waren immer noch verlassen, die Cholera trieb die Menschen in die Häuser. Die Kutsche des Arztes hielt fast jeden Tag vor ihrem Haus, und an diesem Tag hatte Anna sie schon morgens gesehen.

Chanele, die ihnen bereits den dritten Tag hintereinander Klöße mit brauner Sauce gebracht hatte, antwortete ausweichend auf die Frage nach Henriette.

»Jetzt nicht, sie muss erst gesund werden.« Dann ging sie schnell aus dem Zimmer. Missmutig hatte Anna die Klöße gegessen, die halb kalt waren.

In der Nacht konnte Anna nicht schlafen. Sie lauschte Margarethes gleichmäßigem Atem im Bett neben sich und dem etwas flacheren von Marie im Nachbarbett. Das silberne Mondlicht fiel ins Zimmer, es war kalt, und Anna schauderte. Sie dachte an das milde Antlitz des Mondjünglings im Märchen. Ihr kam das Gesicht des Mondes nicht lieb vor, es war das eines Nachtmahrs, und sie wünschte sich eine tiefe Dunkelheit, in der sie sich verkriechen konnte. Plötzlich hörte sie Lärm und Stimmen, dann Poltern, als wäre ein Stuhl umgefallen. Sie stieg aus dem Bett und öffnete vorsichtig die Tür. Die Stimme des Vaters vermischte sich mit der des Arztes, er rief »schnell, schnell«, dann Worte, die sie nicht verstand, Worte in jener Sprache, die der Vater nicht mochte. Langsam ging sie die Treppe hinunter, sie hatte das Gefühl, ihre nackten Füße klebten an der Holztreppe, und sie zitterte vor Kälte. Die Tür zu Henriettes Zimmer war offen, der Arzt und die Eltern standen an ihrem Bett.

»Was machst du hier, schnell zurück ins Bett!«

Sie schob sie ins Zimmer, stolperte über einen Schuh, der im Weg lag, kümmerte sich nicht um den Lärm, den sie machte, und darum, dass nun auch Margarethe wach wurde, sie drückte Anna zurück ins Bett und herrschte sie an, dort zu bleiben und zu schlafen, bevor sie den Raum verließ und die Tür hinter sich zuzog.


Vorsichtig öffnete sie die Tür einen Spaltbreit. Sie traute sich nicht, aus dem Zimmer zu treten. Die Stille war kaum auszuhalten, es war ihr, als wäre sie allein in einem Geisterhaus. Sie wusste nicht, was sie tun sollte. Also ging sie zurück in ihr Bett und schloss die Augen. Warum hatte Henriette so merkwürdig geschaut?

»Zieht euch an, schnell, euer Vater will euch sprechen, er ist im Salon und erwartet euch«, sagte es, zog hastig die Kleider aus dem Schrank und half Mariechen beim Anziehen.

Anna sah ihn ungläubig an.

»Sie ist tot«, wiederholte der Vater, »und jetzt geht ihr zurück in euer Zimmer und bleibt dort. Wir müssen eure Schwester begraben.« Er schaute aus dem Fenster, und Anna kam es so vor, als spräche er nicht länger zu ihnen, sondern zu sich selbst. »Wir müssen sie begraben, sie ist tot …« Er wandte sich ihr so abrupt zu, dass sie zusammenfuhr.

Ohne Vorwarnung schlug er mit der Faust auf den Tisch, er sah wütend aus, und Anna wusste nicht wieso. Als er aus dem Raum ging, stiegen ihr die Tränen in die Augen. Aus dem Fenster sah sie später die Kutsche des Arztes, dann eine andere Kutsche mit einem Sarg. Mariechen stellte sich neben sie ans Fenster.

»Es gibt keine Wasserlisse, keine Mohra und auch kein Waisenmädchen, das den Mondjüngling heiratet«, sagte Anna bestimmt. Sie wusste nicht, woher sie die Gewissheit nahm. Henny, ihre Schwester, die ihr so viele Geschichten erzählt und der sie vorgelesen hatte, seit sie buchstabieren und die ersten Wörter zusammensetzen konnte, die ihr all die Dinge erklärt hatte, die sie nicht verstand, Henny war nicht bei der Wasserlisse in ihrem Königreich auf dem Grund des Sees, sie schwebte nicht mit dem Mond- oder Sonnenjüngling über die Himmelswiesen, und weder die Spilhahulla noch die Mohra hatte sie geholt. Sie war tot. Tot und weg wie die anderen Leute, die in den Holzkisten abgeholt wurden. Die Gewissheit breitete sich immer mehr in ihr aus, und sie griff nach Maries Hand und hielt sie fest in ihrer.