Der Autor

STEFAN AHNHEM ist einer der erfolgreichsten Krimiautoren Schwedens. Seine Bücher sind allesamt Bestseller und preisgekrönt. Bevor Ahnhem begann, selbst Krimis zu schreiben, verfasste er Drehbücher, unter anderem für die Filme der Wallander-Reihe. Er lebt
mit seiner Familie in Kopenhagen.

Das Buch

RISK GEGEN SLEIZNER – DER COUNTDOWN LÄUFT.

Er hat erpresst. Er hat misshandelt. Er ist über Leichen gegangen, um ganz nach oben zu kommen. Er heißt Kim Sleizner und ist der Polizeichef von Kopenhagen. Der unbestechliche Kommissar Fabian Risk setzt alles auf eine Karte, um ihn endlich aus dem Spiel zu nehmen. Gemeinsam mit seiner früheren Kollegin Dunja Hougard, die untergetaucht ist und verdeckt gegen Sleizner ermittelt, sucht er nach Beweisen. Da wird ein Auto mit zwei Toten auf dem Meeresgrund gefunden, einer der Männer ist ein hochrangiger Beamter. Fabian Risk verdächtigt Sleizner. Nun könnte die Falle endlich zuschnappen. Die Frage ist nur, wer sitzt drin?

Stefan Ahnhem

Meeressarg

Kriminalroman

Aus dem Schwedischen
von Katrin Frey

Ullstein

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www.ullstein.de

ISBN 978-3-8437-2629-0

© Stefan Ahnhem 2021

Published by agreement with Salomonsson Agency

© der deutschsprachigen Ausgabe Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2021

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In Erinnerung an Theodor Risk
* 25. März 1996
† 31. Juli 2012

Prolog

3. August 2012

Erica Andersson hatte nie viel für Wasser übriggehabt. Duschen war kein Problem. Und es machte ihr auch nichts aus, mit einem guten Buch in der Badewanne zu liegen. Im Gegenteil. Aber was sie nicht mochte, war Baden. Also Planschen, Schwimmen oder was immer man im Wasser so machte, wenn man weder schmutzig war noch schwitzte.

Nicht, dass sie überhaupt nicht hätte schwimmen können, aber eine sichere Schwimmerin war sie nicht. Dafür hätte man in der Lage sein müssen, zweihundert Meter zurückzulegen, ohne allzu viel Wasser zu schlucken, und das hätte sie niemals geschafft. Schon gar nicht auf dem offenen Meer mit all den Wellen, Quallen und ekligen Fischen.

Trotzdem hatte sie sich überreden lassen, ihre Kilos in ein kleines Kajak zu zwängen, so schmal und wacklig, dass es nur durch ein Wunder noch nicht umgekippt war. Sie saß buchstäblich im Wasser. Diesem kalten dunklen Wasser, das mit seinen ungestümen Wellen von allen Seiten nach ihr griff.

Laut Mikkel wurde man beim Kajakpaddeln fast nie nass. Er hatte ihr treuherzig in die Augen geblickt und allen Ernstes behauptet, allerhöchstens ihre Unterarme würden ein paar Spritzer abbekommen.

Natürlich war diese Aussage in keiner Weise zutreffend, was allerdings Mikkels Charakter recht treffend beschrieb, vor allem, wenn er sich eine Idee in den Kopf gesetzt hatte, die er selbst für glänzend hielt. Seit einem Monat hat er nichts anderes getan, als davon zu schwärmen, den Sonnenaufgang von den Kopenhagener Kanälen aus zu begrüßen und eins mit dem Wasser zu werden.

Eins mit dem Wasser. Jesus

Doch was tat man nicht alles für die Liebe. Es war ja nicht so, dass sie von interessierten Männern belagert wurde, und um ehrlich zu sein, war Mikkels Marktwert viel höher als ihrer. Er sah nicht nur gut aus, sondern hatte auch als Programmierer eine richtige Karriere gemacht und bekam ein Gehalt, von dem die meisten nur träumen konnten.

Der einzige Haken war, dass er Däne war und sie seinetwegen Helsingborg hatte verlassen müssen. Wobei das eigentlich einfacher gewesen war, als dieses Kajak im Gleichgewicht zu halten.

Beim kleinsten bisschen Seegang kippte es, und ihr taten bereits die Pomuskeln weh. An Arme und Schultern mochte sie gar nicht denken. Wenn sie diesen Höllenritt überstanden hatte, würde sie zu nichts mehr zu gebrauchen sein.

»Siehst du denn nicht, wie schön es hier ist?«, rief er von vorn.

Sie nickte. Natürlich war es schön hier. Kopenhagen zeigte sich tatsächlich von einer ganz anderen Seite. Aber genießen konnte sie den Anblick nicht. Vor allem, seit sie den beschaulichen und pittoresken Wilderskanal hinter sich gelassen und das Hafengebiet erreicht hatten, wo viel mehr Verkehr herrschte und das Wasser noch unruhiger war.

Sie konnte nicht verstehen, warum er sie gezwungen hatte, aufs offene Wasser hinauszufahren. Wahrscheinlich wollte er ihr jetzt, wo sie ihn endlich einmal begleitete, alles zeigen. Oder hatte er etwas anderes im Sinn?

Diesem Gedanken wollte sie lieber nicht nachgehen, aber offensichtlich hatte sie das nicht selbst zu entscheiden. Er führte ein Eigenleben, und es verzweigte sich bereits in alle möglichen Richtungen.

Mikkel war in letzter Zeit ungewöhnlich reizbar gewesen, und miteinander geschlafen hatten sie schon fast seit einem Monat nicht mehr. Anfangs hatte sie geglaubt, diese kleine Krise würde von selbst verfliegen. Doch es war eher schlimmer geworden. Und jetzt hatten sie Urlaub, und die Luft war dicker denn je.

Hatte er genug von ihr? War das der Grund? Hatte er sie deswegen zu diesem Höllentrip überredet? Damit sie von sich aus Schluss machte? Weil er nicht die Eier hatte? Gott, wie feige.

Andererseits war das Ganze auch zu schön gewesen, um wahr zu sein. Wie merkwürdig, dass er sich ausgerechnet für sie entschieden hatte.

Sie war manchmal anstrengend. Das war ihr durchaus bewusst. Vor allem, wenn sie ihre fixen Ideen hatte. Die ließen sie einfach nicht los. Bis es zu spät war. Wie dieses eine Mal, als sie sich sicher gewesen war, er hätte eine andere, und bei der erstbesten Gelegenheit seinen Computer und sein Smartphone durchforstet hatte. Ohne etwas Verdächtiges zu finden.

Hätte sie in dem Moment lockergelassen, wäre alles okay gewesen. Aber sie musste ihm ja unbedingt zwei Abende später wie in einem grobkörnigen Spionagefilm heimlich hinterherschleichen, um zu kontrollieren, ob er wirklich mit diesem Kumpel einen trinken ging. Und natürlich hatte er sie bemerkt und war stinksauer geworden. Nein, rasend. Wie damals, als sie einmal zu oft nach dieser Ex-Freundin gefragt hatte, die bei einem Autounfall ums Leben gekommen war.

»Und dort siehst du das neue Opernhaus!« Er zeigte mit dem Paddel auf das grandiose Gebäude.

»Toll!«, rief sie. »Können wir jetzt bitte umkehren?«

»Nein! Merkst du denn nicht, dass das Wasser ganz ruhig ist?«

»Doch, aber ich glaube, es reicht mir für heute. Ich habe langsam keine Kraft mehr in den Armen.«

»Na, dann trainierst du sie jetzt eben ein bisschen.«

»Aber Mikkel, ich fühle mich nicht sicher. Kannst du das denn nicht verstehen? Ich habe Angst und will jetzt nicht mehr. Ich will nur noch an Land.«

»Es gibt hier nichts, wovor du Angst haben müsstest, Erica. Das schwöre ich dir.«

Und dann setzte er dieses Lächeln auf, von dem ihr die Knie weich wurden und gegen das sie vollkommen wehrlos war. Wenn er sie so ansah, war sie bereit, alles für ihn zu tun. Seufzend paddelte sie an der Oper vorbei und weiter hinaus in den Hafen.

Genauso hatte er sie angesehen, als er damals auf sie zugekommen war und sie gefragt hatte, ob er ihr einen Drink spendieren dürfe. Sie war mit ein paar Freundinnen in Kopenhagen unterwegs gewesen und auf Anhieb so verliebt, dass sie zwei Wochen später ihren Job gekündigt hatte und in die dänische Hauptstadt gezogen war.

Den Einwand ihrer Mutter, dass das Ganze vielleicht ein bisschen zu schnell gehen und sie diesen Mann doch kaum kennen würde, hatte sie überhört. Zumindest am Anfang.

»Wir paddeln nur bis zum Reffenmarkt, und dann drehen wir um!«, rief er ein paar Hundert Meter weiter. »Okay?«

»Ich will aber nicht mehr, glaube ich«, sagte sie. »Echt jetzt, Mikkel. Das Kajak kippt fast um, und …«

»Es kippt nicht um. Entspann dich einfach und paddle ganz ruhig weiter.«

Warum machte er nicht einfach Schluss und setzte sie vor die Tür, wenn er das unbedingt wollte? Klar würde sie traurig und bestimmt auch wütend werden. Sie würde rumschreien und ihm Vorwürfe machen. Vielleicht würde sie sogar Sachen an die Wand werfen.

Aber irgendwann würde sie sich damit abfinden und zurück nach Helsingborg ziehen, auch wenn sie ihn mit Sicherheit noch ein paarmal anrufen würde, bevor sie endgültig aufgab. Schlimmer würde es nicht werden. Wenn er sie einfach nur loswerden wollte, konnte er das haben.

Er traute sich bloß nicht. Das war die einzige Erklärung. Und natürlich war sie ein wenig cholerisch, das stritt sie gar nicht ab. Aber verglichen mit ihm war sie ein Lamm.

Mitunter hatte sie richtig Angst vor ihm bekommen. Vor allem dieses eine Mal, als sie ihm gedroht hatte, ihn wegen Vergewaltigung anzuzeigen, wenn er sie nicht schlafen ließe. Da hatte er mit der Faust direkt über ihrem Kopf so fest an die Wand geschlagen, dass dort ein Abdruck zurückgeblieben war.

Doch diese Zeiten waren vorbei. Mittlerweile wollte er gar nicht mehr mit ihr schlafen.

Als sie ein paar Minuten später in der Ferne den Kreuzfahrtdampfer in den Hafen einfahren sah, wusste sie plötzlich ganz genau, was er vorhatte.

Und sie wurde panisch.

»Schau mal da!«, rief er, während sie verzweifelt nach einem Ausweg aus diesem Albtraum suchte. Er zeigte auf einige weiße Skulpturen, die auf dem Kai aufgereiht waren.

Selbstverständlich hatte er sie durchschaut und versuchte jetzt mit aller Macht, sie abzulenken. Die Skulpturen, die dort in all ihrer Pracht Wind und Wetter trotzten, waren bestimmt schön, aber sie konnte nur einen kurzen Blick darauf werfen, während sie sich voll und ganz auf das Kreuzfahrtschiff konzentrierte.

Es würde wahrscheinlich nicht noch weiter in den Hafen hineinfahren, sondern am Langeliniekai anlegen, aber die Wellen, die der Dampfer aufwarf, setzten sich bis ins Innere des Hafens fort, und auch wenn sie sie noch nicht sehen konnte, fühlte sie sie bereits auf sich zukommen.

Sie würde kentern, das wusste sie, und wenn sie erst einmal gekentert war, hatte sie keine Chance mehr. Und er wusste es natürlich auch. Mit was für einem Psychopathen war sie eigentlich zusammen? Machte er es immer so, wenn er die Nase voll von seinen Partnerinnen hatte? Beseitigte er sie mithilfe eines obskuren Unfalls?

Natürlich hatte er sie deswegen aufs mehr oder weniger offene Meer hinausgelockt, wo es weit und breit keine Zeugen gab. Es würde wie ein ganz normaler Tod durch Ertrinken aussehen. Wieder einer mehr in der Statistik der ungeübten Schwimmer, die das Risiko nicht bedacht hatten.

»Hilfe!«, schrie sie und paddelte in Richtung Ufer. »Hilfe!«

»Was machst du da, Erica?«

Ohne mit dem Paddeln innezuhalten, warf sie einen Blick über ihre Schulter und sah die erste Welle. Oder vielmehr die Wellen. Drei im Abstand von je zehn Metern konnte sie erkennen. Aus dieser Entfernung wirkten sie nicht so bedrohlich, aber die Geschwindigkeit, mit der sie übers Wasser rollten, war beängstigend.

»Erica!«

Sie paddelte, was das Zeug hielt, aber das Kajak ließ sich davon nicht beeindrucken. Anstatt sich vorwärts zu bewegen, drehte es sich nach rechts und links. Verdammt, verdammt, verdammt! Warum hatte sie nicht auf ihre Mutter gehört? Wieso hatte sie die Alarmsignale ignoriert? Wie hatte sie nur so naiv sein können!

Und dann war sie da.

Genauso hatte sie es sich vorgestellt.

Sie spürte sie jetzt und merkte, wie groß sie in Wirklichkeit war, als sie mit dem hinteren Teil des Kajaks absank und ein paar Sekunden später wieder hochgehoben wurde. Ach du Scheiße, war ihr letzter Gedanke, bevor sich alles drehte.

Sie kniff die Augen zusammen. Als ob nichts passieren konnte, solange sie es nicht sah. Doch sie konnte die Augen so fest schließen, wie sie wollte, es änderte nichts an der Tatsache, dass sie sich unter Wasser befand, und zwar kopfüber. Ihr Unterleib hing im Kajak fest. Sie hatte gehört, dass man sich mit einer Eskimorolle wieder aufrichten konnte, aber sie brauchte nur einen einzigen Versuch zu unternehmen, um zu wissen, dass das blanke Theorie war. Es war unmöglich. Und außerdem hatte sie sich die Knie eingeklemmt.

So sollte es also enden. Kopfüber unter Wasser hängend. Überraschenderweise war sie ziemlich ruhig. Die Panik, die sie bis eben verspürt hatte, schien verflogen zu sein. Vielleicht weil sie alle Hoffnung fahren lassen und ihr Schicksal akzeptiert hatte.

Sie wusste nicht, wie lange sie sich schon unter Wasser befand, aber es konnte sich höchstens um Sekunden handeln, denn Atemnot verspürte sie nicht. Vielleicht war das normal, kurz vor dem Ende. Dass die Sekunden langsamer verstrichen und die Zeit sich ausdehnte.

Zum ersten Mal im Leben machte sie unter Wasser die Augen auf. Das hatte sie sich noch nie getraut, aber nun hatte sie nichts mehr zu verlieren. In wenigen Minuten würde sie sterben, und das konnte sie genauso gut mit offenen Augen tun.

Es tat längst nicht so weh, wie sie vermutet hatte. Sie spürte es kaum. Übermäßig dunkel war es auch nicht. Eher ziemlich hell. Hellgrün. Und unscharf.

Dann kam die Atemnot. In dem Moment, als sie den Kopf in den Nacken legte, um nach unten zu schauen, bemerkte sie einige Meter unter sich ein Auto, und die Panik kehrte zurück.

Das Heck des Wagens stand auf einem großen Betonklotz, während der vordere Teil einen halben Meter über dem Grund schwebte. Die Fenster waren offen, und auf der Rückbank schwebte eine nackte Frau, deren langes schwarzes Haar sich im Wasser sanft hin und her bewegte. Das Ganze hätte wie ein Werbespot ausgesehen, wären da nicht der geöffnete Mund und die weit aufgerissenen Augen gewesen.

Als die Sonne hinter einer Wolke hervorlugte, verbesserte sich schlagartig die Sicht und sie sah auch den Mann im Smoking, der vornübergebeugt hinter dem Lenkrad saß.

Viel mehr hatte sie nicht sehen können, bevor sie an die Oberfläche gerissen wurde. Abgesehen vom Hinterkopf des Mannes, der aus einem einzigen blutig-schwarz vermanschten Krater zu bestehen schien.

Teil I
3. – 5. August 2012

Viele von uns hoffen darauf, dass das Gute am Ende siegt. Und wünschen sich nichts sehnlicher als einen Beweis dafür, dass wir gemeinsam am stärksten sind. Dass wir trotz unterschiedlicher Hautfarben, Kulturen und Religionen zusammengehören und mit vereinten Kräften die großen Ungerechtigkeiten bekämpfen, das Klima retten und letztendlich sogar Frieden auf Erden schaffen können.

Leider ist das eine Utopie. Die Welt, so wie wir sie kennen, basiert nicht auf der Idee vom Happy End. Die Hand auszustrecken und den Schwachen zu helfen, ist ein schöner Gedanke. In der Theorie.

In der Realität sind ganz andere Kräfte am Werk. Sobald wir etwas Wertvolles besitzen, kommt jemand, der es uns wegnehmen will. Sobald etwas gesund ist, will etwas anderes es krank machen. Dieses Prinzip findet sich überall wieder, angefangen bei den menschlichen Körperzellen bis hin zu Sternen, die kollabieren und als schwarze Löcher enden.

Laut einer chinesischen Forschungsgruppe ist das destruktive Verhalten des Menschen in der Größe seines Gehirns begründet. Grob gesagt, ist es zwar groß genug, um eine Atombombe zu erfinden, aber zu klein, um die Folgen zu überblicken.

Eine andere Theorie besagt, dass das Gute mitnichten die Existenz sichert. Es ist nicht das Gute, das die natürliche Auslese begünstigt, die permanente Weiterentwicklung und die Veredelung, die sowohl das Überleben des Löwen in der Savanne sichert als auch dafür sorgt, dass sich ein Baum noch ein wenig höher hinauf zur Sonne reckt.

Wir haben es, mit anderen Worten, nicht unserer Güte zu verdanken, dass wir uns vom Plankton zu Fischen und schließlich zum Menschen weiterentwickelt haben.

Sondern dem Bösen.

Ihm haben wir all das zu verdanken.

Dem Bösen in absoluter Reinform.

1

Das baufällige Backsteinhaus am westlichen Ufer des Sankt-Jørgens-Sees mitten in Kopenhagen steckte voller Widersprüche. Auf der einen Seite war es so unansehnlich, dass es nur den wenigsten Spaziergängern in dieser Gegend überhaupt auffiel. Auf der anderen Seite war es trotz seiner bescheidenen Größe auf ganz eigene Weise großartig und rang geradezu um Aufmerksamkeit.

Unter anderem brüstete es sich nach Süden hin mit einem schwarz gestrichenen Giebel, auf dem eine große weiße Schachfigur prangte. Und mit einem Blechdach, das ebenfalls an allen vier Ecken mit einem Bauern geschmückt war, wobei die vier Schachfiguren auf dem Dach schwarz waren. Was genau das zu bedeuten hatte, wusste niemand. Einen Schachklub hatte es in diesem Haus nie gegeben. Es hatte sich auch keiner der Vorbesitzer des Hauses für Schach interessiert. Vielleicht sollten die Bauern symbolisieren, dass auch die Schwächsten allen Widrigkeiten zum Trotz stark genug werden können, um eines Tages ein König oder eine Dame zu sein.

Auch im Inneren des Hauses verbargen sich jede Menge Widersprüche. Abgesehen von einigen versteckten Winkeln, einem Badezimmer und einer kleinen Küche bestand es aus einem einzigen Raum. Einem Raum, der mit seinem weiß lackierten Holzfußboden, seiner Luftigkeit, der beeindruckenden Deckenhöhe und den großen Atelierfenstern in seinen besten Momenten sehr viel größer wirkte als das Gebäude selbst.

Doch seit ungefähr einem Monat veränderte sich die Atmosphäre ins Klaustrophobische, weil der ganze Raum mit technischer Ausrüstung vollgestopft war und eher an ein notdürftig in einem Cockpit untergebrachtes Tonstudio erinnerte als an ein helles Künstlerrefugium.

An der vorderen Wand standen unter dem Atelierfenster in der Dachschräge mehrere Schreibtische aufgereiht, auf denen diverse Computer, Monitore, Rackmodule voller blinkender Leuchtdioden und nackter Platinen standen, die ihrerseits mithilfe von verschiedenfarbigen dünnen Kabeln mit anderen Einheiten verbunden waren.

Die seitlichen Wände waren mit großen Whiteboards bedeckt. Auf einer davon stand in großen Lettern Kim Sleizner. Darunter war eine Sammlung von Fotos befestigt, alle aus der Entfernung aufgenommen und stark vergrößert, im Fokus immer derselbe Mann, auf dem Weg zur oder von der Polizeistation, auf der Straße stehend und mit dem Handy telefonierend oder an der roten Ampel im Auto sitzend.

Auf einem anderen Whiteboard waren verschiedene Diagramme, darunter sowohl Kurven- als auch Balkendiagramme, und unendlich viele Telefonnummern zu sehen, hinter denen jeweils ein Buchstabe und mehrere Zeitangaben notiert waren. Auf dem großen Stadtplan von Kopenhagen, der direkt daneben hing, waren zahlreiche Fähnchen befestigt, die ebenfalls alle mit Buchstaben markiert waren.

Auf Uneingeweihte mochte das Ganze einen chaotischen Eindruck machen. Doch es hatte System, eine sorgfältig entwickelte Struktur. Alle Notizen mit ihren Pfeilen, Abkürzungen und Symbolen hatten eine ganz bestimmte Funktion, und jede der unzähligen elektronischen Einheiten befand sich in dem komplizierten Geflecht genau an der richtigen Stelle, um größtmöglichen Überblick und Kontrolle zu erlauben.

Wie immer herrschte auch an diesem frühen Morgen eine ganz bestimmte Art von kontrollierter Ruhe. In seiner Gesamtheit erschien das Konstrukt wie ein schlafender Körper mit einem Ruhepuls, der so niedrig war, dass man ihn kaum messen konnte. Es blinkten zwar mehrere der weit über hundert Leuchtdioden, aber nicht in übermäßig hektischer Weise. Vielmehr ließen sie sich Zeit, allmählich heller zu werden und auch wieder schwächer, so als betrieben sie eine Art von elektronischer Meditation, in der sie gemeinsam mit den Bildschirmschonern ihre Träume auslebten, einer psychedelischer als der andere.

Das Ganze lief auf Sparflamme, war aber auf alles gefasst, was kommen mochte.

Was auch immer, wann auch immer.

Im selben Raum, ein paar Meter über einem Haufen von umgekippten Stühlen hing an einem über die Deckenbalken gelegten Stahlrohr Dunja Hougaard und zog sich langsam mit einem Arm hoch. Sich zu beeilen, um den einarmigen Klimmzug möglichst schnell hinter sich zu bringen, wäre sinnlos gewesen. Es ging schließlich um Ausdauer. Ohne die wäre sie schon vor Monaten verloren gewesen und hätte das Projekt längst aufgegeben. Sie hätte sich eingeredet, dass es ohnehin keinen Angriffspunkt gegeben hätte, mit dessen Hilfe sie Kim Sleizner, den Chef der Kopenhagener Polizei, endlich überführen und zur Strecke bringen konnte.

Aber aufgeben kam nicht infrage. Nicht nur, weil er das Gegenteil von allem verkörperte, was ein hochrangiger Polizist im besten Fall sein sollte. Oder weil er hartnäckig all ihre Versuche untergraben hatte, während ihrer Jahre beim Morddezernat ordentlich zu arbeiten, und zudem darauf geschissen hatte, dass seine Sabotage mehrere Menschen das Leben gekostet hatte. Dass ihr Zorn noch immer mit so heller Flamme brannte, lag nicht daran, dass er ihr seine dreckigen Wurstfinger hineingesteckt und sie nach einer versuchten Vergewaltigung in die Kälte hinausgejagt hatte, sondern an allem, was sie bislang nicht gefunden hatte. Alles, was mit Sicherheit vorhanden war und nur darauf wartete, ans Licht geholt zu werden.

Nachdem sie mit dem Kinn über das Stahlrohr gereicht hatte, ließ sie sich selbst so langsam, wie die einschießende Milchsäure es erlaubte, wieder hinunter. Es tat weh, aber genau da wollte sie hin. Zum Schmerzpunkt, an dem achtundneunzig Prozent von ihr loslassen wollten und sich die restlichen zwei Prozent an dem Wissen festhielten, dass ein Sturz auf die drei Meter unter ihr daliegenden Stühle noch weit mehr schmerzte.

Sie umfasste das Rohr mit der anderen Hand und zog sich so langsam wie möglich wieder hoch. Vier quälend in die Länge gezogene Klimmzüge musste sie noch schaffen, dann war diese zweistündige Trainingseinheit beendet.

Sie war noch nie so stark gewesen, aber dafür hatte sie auch seit dem Frühjahr täglich zwei ausgiebige Krafteinheiten und eine Stunde Yoga absolviert. Innerhalb von ein paar Monaten hatte sich ihr Körper so stark verändert, wie sie es nie für möglich gehalten hätte. Sie hatte mehrere Kilo zugenommen und war gleichzeitig schlanker geworden. Doch vor allem hatte sich ihre Ausdauer verbessert. Sie kannte die Grenzen ihres Körpers ganz genau und verschob sie jeden Tag ein kleines Stück.

Anfangs war das Training ein notwendiges Übel gewesen. Wenn sie es mit Sleizner aufnehmen wollte, musste sie sowohl stärker als auch schneller sein als ein Mann. Den Fotos nach zu urteilen, die sie von ihm gemacht hatte, war sie es längst. Ganz offensichtlich hatte er während seiner Jagd auf sie seine eigene Kondition vernachlässigt.

Inzwischen schien er morgens wieder Yoga zu machen, aber auch sonst war Sleizner nicht zu unterschätzen, und daher nahm sie gern in Kauf, dass sie mittlerweile süchtig war nach dem Krafttraining. Ohne ging sie die Wände hoch.

Bei der Überwachung sah es anders aus. Auf dem Gebiet hatten sie bisher keinen Erfolg erzielt. Sie hatten nichts Interessantes entdeckt. Jedenfalls nichts, womit sie ihm ein für alle Mal das Handwerk hätten legen können.

Und dabei überwachten sie ihn seit einigen Wochen rund um die Uhr. Jedes seiner Telefonate hatten sie abgehört. Jede SMS und jede Mail, die er verschickt oder bekommen hatte, hatten sie gelesen und analysiert. Sie hatten seine finanziellen Verhältnisse durchleuchtet und mithilfe eines GPS-Senders auf seinem Smartphone alle seine Wege verfolgt, sodass sie bis auf wenige Ausnahmen nicht nur genau wussten, was er machte, sondern auch wann und wo er es machte. Meistens konnten sie sogar alle drei Aspekte mit hoher Treffsicherheit vorhersagen.

Mit anderen Worten: Der Dreckskerl war ein offenes Buch für sie. Sie war überrascht gewesen, wie gleichförmig und langweilig sein Leben verlief. Das Abwechslungsreichste daran waren die häufigen Besuche bei Jenny Nielsen alias Jenny Wet-Pussy Nielsen im Nøjsomhedsvej 4.

Mit genau dieser Prostituierten war er vor drei Jahren auf der Rückbank seines Autos in der Lille Istedgade zusammen gewesen. Als die Medien Wind davon bekamen, gab es einen kleinen Skandal. Vor allem, als sich herausstellte, dass er wegen dieser Begegnung einen wichtigen Anruf von der schwedischen Polizei in Helsingborg verpasst hatte.

Fareed Cherukuri hatte damals aus eigenem Antrieb und ganz ohne ihr Zutun das Ekstra Bladet mit diesen Informationen versorgt, und daraufhin gab es eine Kampagne gegen Sleizner, und er wurde zur Hauptsendezeit und noch wochenlang auf jeder Titelseite des Landes öffentlich gedemütigt. Infolgedessen hatte ihn seine Frau verlassen und er wurde vom Reichspolizeichef Henrik Hammersten persönlich beurlaubt.

Man musste kein Einstein sein, um sich auszurechnen, dass das für einen mediengeilen Gockel wie Sleizner einer Vernichtung gleichkam. Aus irgendeinem Grund hatte er ausschließlich ihr die Schuld dafür gegeben und tat seitdem alles, was in seiner Macht stand, um sie zu zerstören.

Und diese Macht hatte sich noch vergrößert, seit ihm auf ebenso geheimnisvolle wie rätselhafte Weise ein Comeback in die Elite des Landes gelungen war, wo er eine Menge loyaler Freunde zu haben schien.

Dass er in seiner Freizeit regelmäßig eine in die Jahre gekommene Prostituierte aufsuchte, war in diesem Land leider weder ein Skandal noch ungewöhnlich oder gar verboten. Es galt vielleicht als armselig, aber es reichte bei Weitem nicht aus, um ihn abzusägen. Ganz im Gegenteil hätte es ihn in den Augen vieler noch menschlicher erscheinen lassen.

Wenn sie ehrlich war, hatte sie Geheimnisse eines ganz anderen Kalibers erwartet, extravagantere und dekadentere Dinge, eine Art Doppelleben, das sich nur zur Hälfte bei der Polizei abspielte und ansonsten, tja … Genau hier lag das Problem. Sie hatte keine Ahnung, wo die andere Hälfte stattfand. Alles, woran sie sich orientieren konnte, war ihr sicheres Gefühl, dass etwas nicht stimmte. Und dass sie trotz all der bereits investierten Zeit und Energie, von der teuren Technik ganz zu schweigen, noch kaum an der Oberfläche gekratzt hatten.

Allerdings bezweifelte sie nicht einen Moment, dass Kim Sleizner ein durch und durch böser Mensch war. Da konnte er noch so sehr den ehrbaren Polizisten spielen. Sie durchschaute seine polierte Fassade.

Daher blieb ihnen nichts anderes übrig, als weiter nach einer Fährte zu suchen. Sie mussten ihn weiterhin abhören, verfolgen und jede einzelne seiner Handlungen analysieren. Denn irgendwo verbarg sich ein ganzer Schrank voller Sachen, die ihm den Boden unter den Füßen wegreißen würden, sobald sie ans Licht kamen.

Doch die Zeit drängte. Sleizner lag nicht auf der faulen Haut. Er nutzte jede freie Minute, um seine Verteidigung zu optimieren und so starke Allianzen aufzubauen, dass kein Skandal der Welt ihm etwas anhaben konnte. Wenn sie nicht alles täuschte, kam er gut voran.

Während sie sich erneut hochhievte und dem rasenden Schmerz in ihren Muskeln trotzte, ahnte sie nicht, was sich einige Meter unter ihr tat. Das Ganze hatte vor wenigen Minuten mit einer einzigen Leuchtdiode angefangen. Mit einem kleinen Blinken, das sich plötzlich veränderte. Es unterschied sich noch immer nicht stark, aber doch merklich von allen anderen Lichtern. Das Blinken wirkte nervös und aggressiv. So als wäre es gerade erst aus einem sanften Schlummer erwacht, nur um festzustellen, dass es verschlafen hatte.

Und nun hatte sich das unregelmäßige Blinken wie ein ansteckendes Virus auf weitere fünfzig Dioden ausgebreitet, und kurz darauf erwachten mehrere Monitore zum Leben und wechselten vom träumerischen Bildschirmschoner-Modus zu Ansichten von Soundkurven, Reglern und Zeitleisten, die einsetzende Aufnahmen anzeigten.

Auf einem der vielen Bildschirme war ein gigantischer Kronleuchter über einem ungemachten Doppelbett zu sehen. Auf der Bettkante saß ein nackter Kim Sleizner, der am Hinterkopf bereits kahl zu werden begann, und streckte sich genüsslich.

Aus einem Lautsprecher neben dem Monitor hörte man ihn ächzen und ausgiebig seine Halswirbel knacken lassen. Anschließend stand er auf und verschwand aus dem Bild.

Als Dunja auf das Geräusch aufmerksam wurde, schwang sie sich von der Stange herunter und landete auf allen vieren neben dem Berg aus Stühlen. Auf dem Weg zu den Monitoren warf sie einen Blick auf ihre Armbanduhr. Es war erst zehn nach fünf Uhr morgens.

So früh war Sleizner noch kein einziges Mal aufgestanden, seit sie ihn überwachten. Anscheinend war endlich etwas passiert.