Das Buch

Eine starke Geschichte kann Leben retten, Wahlen entscheiden, Gesellschaften verändern. Aber sie kann auch Kriege auslösen und Menschen für immer verfeinden. Samira El Ouassil und Friedemann Karig verfolgen diese ambivalente Wirkmacht anhand wichtiger Narrative von der Antike bis zur Gegenwart: von Jesus bis Frodo, von Kassandra bis Greta. Sie zeigen, welche Erzählungen uns heute gefährden und warum wir dringend neue benötigen, um unsere Welt zu erhalten.

Die Autoren

Samira El Ouassil, geboren 1984 in München, studierte Kommunikationswissenschaft und Neuere Deutsche Literatur an der LMU München. Sie schreibt für das Onlineportal Übermedien die preisgekrönte Kolumne Wochenschau und erklärt mit Christiane Stenger im Audible-Podcast Sag niemals Nietzsche philosophische Konzepte. Seit 2020 schreibt sie für den Spiegel die Online-Kolumne Ganz meiner Meinung. Gemeinsam mit Friedemann Karig bestreitet sie den Podcast Piratensender Powerplay.


Friedemann Karig, geboren 1982 im Schwarzwald, studierte Medienwissenschaften, Politik, Soziologie und VWL. Er schrieb u.a. für die Süddeutsche Zeitung, das SZ-Magazin, Die Zeit und jetzt und moderierte das für den Grimme-Preis nominierte Format Jäger&Sammler (ARD/ZDF). Für seinen Spotify-Podcast Friedemann & traf er Persönlichkeiten wie Kevin Kühnert, Anne Will oder Luisa Neubauer. Von ihm erschien der Roman Dschungel sowie Wie wir lieben. Vom Ende der Monogamie.

Samira El Ouassil &
Friedemann Karig



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ISBN 978-3-8437-2588-0


© 2021 Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Ludger Ikas

Umschlaggestaltung: Rothfos & Gabler

Umschlagabbildung: Marinika / Adobe Stock

E-Book: LVD GmbH, Berlin

Alle Rechte vorbehalten.

Für Martin Martin!

1

Gewohnte Welt

Prolog

Lassen Sie uns mit der Geschichte einer Wette beginnen. Und zwar einer Anekdote aus dem Leben von Ernest Hemingway. Die Legende besagt, dass Hemingway mit einigen Autoren in einem Restaurant saß und wettete, er könne eine Geschichte mit sechs Worten schreiben. Er kassierte von jedem zehn Dollar und schrieb auf eine Serviette:

For sale: baby shoes, never worn.

Unser Leben ist oft nichts anderes als eine Wette auf die Zukunft. Wir erzählen einander und uns selbst, was die wahrscheinlichste und was die wünschenswerte Zukunft ist. Und wie aus der Letzteren die Erstere wird. Dann verhalten wir uns in der Gegenwart danach. Wir stehen jeden Morgen auf (jedenfalls die meisten von uns), in der Erwartung, dass jemand oder etwas – ein Mensch, eine Arbeit, ein Schicksal – auf uns wartet und es auffällt, wenn wir liegen bleiben. Aber was genau passieren wird, können wir nicht wissen. Wir gehen eine Wette ein. Und wir erzählen uns, warum wir etwas tun, damit es uns nicht sinnlos vorkommt.

Ein Großteil unserer kognitiven Kapazitäten ist genau damit beschäftigt: eine möglichst stimmige Selbsterzählung zu pflegen. Was passiert morgen, was heute schon wichtig ist? Die Ankündigung von Regen genügt, damit Millionen Menschen eine Jacke oder einen Schirm mitnehmen. Die Zukunft beeinflusst direkt die Gegenwart, was in der Physik normalerweise nicht vorkommt. Doch eine unsichtbare Kraft scheint von der einen in die andere Zeit zu wirken.

Ebenso entgegen allen physikalischen Naturgesetzen scheint es, dass ein Gegenstand durch den Weltraum von einem Planeten auf dessen Mond springt. Aber weil sich die Menschen immer schon Geschichten erzählt haben und ihnen der Mond seit jeher nicht nur ein Fleck am Himmel war, vielmehr ein Sehnsuchtsort oder gleich eine Göttin, wurde die Geschichte irgendwann wahr. Nein, sie musste irgendwann wahr werden – und der Mensch auf den Mond fliegen. Nur wegen einer Geschichte. Die nicht einmal wahr sein wollen muss. Sie muss uns nur etwas sagen. Etwas bedeuten. Unsere Sehnsucht danach, dass sie wahr werde, erledigt dann den Rest.*

* So wie die Geschichte von Hemingway und seiner Sechs-Wörter-Story. Die ist gut – fast zu gut, um wahr zu sein. Nach allem, was man weiß, ist sie tatsächlich eine Erfindung. Oder zumindest eine freie Kombination aus den sechs Wörtern, die es schon lange vor Hemingways Geburt gab, und dem von Mythen umrankten Schriftsteller, der so gerne wettete.

So haben Geschichten uns den Himmel erklärt, die Furcht vor der Dunkelheit genommen und unsere Schiffe an fremde Küsten und schließlich ins All gelenkt. Geschichten lehren uns, wie man lebt und wie man liebt. Wir wachsen mit ihnen auf und wir werden mit ihnen beerdigt. Kaum etwas lässt unsere Augen so leuchten, uns so gebannt zuhören. Und kaum etwas kann uns so tiefgreifend verändern wie eine gute Geschichte. Doch haben sie uns auch Angst eingeflößt, gegeneinander aufgehetzt, Kriege beginnen lassen und das andere immer wieder zum Feind erklärt. Die an Gewalt wie Entdeckungen reiche Geschichte der Menschheit kann auch als Summe unserer geteilten Geschichten gelesen werden. Beides, das Dunkle und das Helle, hat darin einen festen Platz.

Wenig überraschend erzählen wir uns heute, im Zeitalter demokratisierter Zugänge zu Medien durch digitale Technik, mehr Geschichten denn je. Hier könnte nun eine imposante Aufstellung unbegreiflich hoher Geldsummen folgen, die damit weltweit umgesetzt werden. Ob Facebook oder Instagram, TikTok oder Twitter, ob Hollywood, Bollywood oder Nollywood, ob der internationale Buchmarkt, der internationale Hörbuchmarkt oder (vielleicht etwas kleiner) der internationale Theatermarkt, dazu noch der oft vergessene Videospielmarkt (der inzwischen fast alle anderen überstrahlt): Stellen Sie sich einfach die lange Reihe an Nullen vor, die die Fantastilliarden der Erzählindustrie abbilden. Oder überschlagen Sie kurz, wie viele Geschichten Sie selbst heute schon gehört, gesehen oder erzählt haben. Wir wetten, es waren einige. Und versuchen Sie mal, einen Tag lang keine zu hören oder zu erzählen. Geschichten sind so etwas wie die Atemzüge des Geistes. Wir können nicht ohne sie.

In allen Geschichten liegen, wie in diesen russischen Puppen, kleinere Einheiten. Kerne des Erzählten, aus denen unzählige weitere Geschichten sprießen können. Wir nennen sie ›Narrative‹. Sie tragen unterschwellige Botschaften durch die Welt: angebliche Ursachen, Wirkungen, Verbindungen, Konflikte, die wir uns selten vergegenwärtigen und die wir doch immer und immer wieder erzählt bekommen und nacherzählen.

Ein paar Beispiele gefällig? Das erste Narrativ ist millionenfach erzählt worden, es ergibt die erfolgreichsten Hollywood-Filme, steckt in unzähligen Videospielen ebenso wie in politischen Programmen. Es ist uns in Fleisch und Blut übergegangen: Jeder ist seines Glückes Schmied. So lautet das Narrativ des neoliberalen Individualismus, das gleichsam Versprechen wie Aufforderung ist. Wenn jeder Mensch direkten Zugriff auf sein Glück hat, ist im Umkehrschluss jeder für sein ausbleibendes Glück verantwortlich – und sogar für sein Unglück. Und zwar indem er nicht genug ›geschmiedet‹, sprich, hart und gut genug gearbeitet hat. Dass die Strukturen, in denen er schmiedet, für sein Glück mitentscheidend sind, dass nicht jeder mit einem brauchbaren Amboss auf die Welt kommt, dass das Leben manchen Menschen bessere Materialien zum Schmieden mitgibt als anderen – all diese systemischen Faktoren für Glück oder Unglück spielen hierbei keine Rolle. Letztlich geht es zurück auf den frühen Individualismus der alten Griechen und hat unser Denken wie kein anderes geformt.

Noch älter: »Seid fruchtbar und mehret euch und füllet die Erde und machet sie euch untertan und herrschet über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über alles Getier, das auf Erden kriecht.«1 Sie kennen vermutlich die Quelle: dieses seltsame Buch voller Geschichten und darunter liegender Botschaften, manche heilsam, manche destruktiv. Das Narrativ von der Überlegenheit des Menschen und der Verfügbarkeit des Planeten ist so alt wie die Bibel und so gefährlich wie kaum ein anderes. Ressourcenausbeutung, Vermüllung, Vergiftung, industrielles Abschlachten von Tieren und die größte existenzielle Krise der Menschheit namens Klimakrise – das alles gründet auch in den mannigfaltigen Erzählungen vom Auftrag unserer Herrschaft über die Welt.

Und dann ist da natürlich das ewige Narrativ von der Überlegenheit der eigenen Gruppe und der Unterlegenheit der anderen, von deren Schuld an allem Schlechten und dem daraus folgenden gerechten Kampf gegen sie, notfalls bis zu ihrer Auslöschung. Es ist noch älter als die Bibel, vermutlich so alt wie die Menschheit. Es übersetzt unsere niedersten Instinkte, die dunkelsten Seiten unserer Spezies in mächtige Geschichten von gerechtem Zorn und unausweichlicher Gewalt. Es hat tausendundeine Gestalten, taucht etwa als Antisemitismus, als Faschismus, als Misogynie auf. Es wendet sich gegen andere Religionen, Hautfarben und Kulturen. Es tötet und ist selbst nicht totzukriegen, von keinem Gesetz, keinem Kodex, keiner besseren Idee. Warum? Weil uns solch ein Narrativ eine chaotische Welt erklärt. Noch genauer: weil es uns diese Welt so verlockend schlicht erzählt.

Viele dieser Geschichten, die wir einander erzählen, sind nicht nur nicht wahr – sie sind sogar zerstörerisch und gefährlich, schon in ihrer Struktur. Wir, die Autoren, glauben, dass die Schemata, die Beschaffenheit, die Ausprägung und vor allem die eingebetteten Botschaften etlicher unserer heutigen Geschichten letztlich schuld an vielen Miseren unserer Welt sind. Wie kulturelle Gene wurden sie über Jahrtausende von einer Generation, die mit ihnen im Überlebenskampf erfolgreich war, zur nächsten vererbt. Im Grunde erzählen wir uns heute in einer westlichen, fortschrittlichen Gesellschaft schematisch kaum andere Geschichten als die Menschen vor zehntausend Jahren.

Wir haben zwar in den letzten Jahrzehnten Netflix, Dolby Surround, den Kindle und das postmoderne Ende hinzugewonnen (nicht alle würden sagen, dass das echte Verbesserungen waren), doch die Wirkung und die Funktion der Geschichten blieben ähnlich: Die allermeisten von ihnen sollen uns unterhalten und begeistern, erheitern und erhellen. Die Logiken ihrer Weltdeutung haben jedoch oft genug eine unterschwellige Wirkung auf uns, indem sie uns moralisch disziplinieren und indem sie – besonders heute – Verantwortung mal individualisieren, mal bestimmten Gruppen (Frauen, Juden, den anderen) kategorisch zuweisen. Sie verschieben Verantwortung in die Zukunft, verschweigen oder legitimieren den Raubbau an unseren Lebensgrundlagen. Indem sie unseren oft einander widerstrebenden Bedürfnissen Figuren zuordnen, vereinfachen sie die Welt.

Diese Narrative sind deshalb so mächtig, weil sie nicht nur das Außen, sondern auch unser Innen bestimmen. Und das viel mehr, als den meisten von uns bewusst ist. In der Erzählung durch andere entwickeln wir überhaupt erst so etwas wie einen Geist, eine Idee von Identität. Nahezu alles, was wir heute das ›Ich‹ nennen, stellt sich uns selbst und den anderen als Summe mehr oder weniger stimmiger Erzählungen dar. Wir sind, wer wir auf der Bühne anderer Bewusstseine zu sein glauben, genauer: welche Rolle wir dort von uns erzählen dürfen. Wenn das Sein dem Bewusstsein folgt und das Bewusstsein von ebendiesen Geschichten auf gewisse Kausalitäten hintrainiert wurde, liegt der Schlüssel zu einem gerechteren Sein im Kern dieser Narrative. Beleuchten und ändern wir Form und Inhalt unseres Erzählens, so beleuchten und ändern wir die Welt – und was es heißt, in ihr Mensch zu sein.

Menschen bringen Menschen um, könnte man einwenden. Menschen schlagen zu und geben Schüsse ab, und keine Geschichte, mag sie noch so wirkungsvoll sein, kann das verhindern. Wer Gerechtigkeit sucht, sollte nicht herumtheoretisieren, sondern für sie arbeiten, könnte man fordern, und als Erstes an sich selbst. Doch läge man damit falsch.

In diesem Buch wollen wir zeigen, dass kaum etwas so mächtig ist wie eine gute Geschichte. Wir sind uns darüber im Klaren, dass unsere Welt ungerecht ist und schlichtweg langsam kaputtgeht. Wir glauben deshalb, dass wir andere Geschichten brauchen. Wenigstens wäre es einen Versuch wert, unsere narrative Programmierung zu begreifen und auszuprobieren, was sich in der Welt bewegt, wenn wir den mentalen Stoff, der sie für uns zusammenhält, verändern. Diesen Versuch wollen wir in drei Schritten wagen.

Erstens möchten wir nachzeichnen, warum für unsere Spezies die Kulturtechnik des Erzählens so überlebensnotwendig wie ermächtigend war, weshalb wir als erzählende Affen also heute von nichts stärker beeinflusst sind als von Erzählungen. Wir möchten ergründen, wieso auch das moderne Selbst sich letztlich nur eine Geschichte erzählt – und wie das heute besser gelingen kann.

Zweitens wollen wir aufzeigen, welche Felder unseres Lebens, unserer Geschichte und unserer Gesellschaften von welchen Narrativen geprägt sind und in welcher Weise – und wie sehr Milliarden Menschen deshalb unter ihnen leiden. Dabei werfen wir unseren Blick naturgemäß zuerst auf die Geschichten des sogenannten ›Westens‹. Zum einen, weil sie eben auch unsere sind, zum anderen und vor allem aber, weil der Westen mit ihrer Hilfe den Rest der Welt politisch wie kulturell unterworfen hatte. Folglich spielen sie, wohl oder übel, für fast alle Menschen eine Rolle. Wir wollen aber auch darüber nachdenken, wie wir diesen Blick weiten können.

Drittens werden wir auskundschaften, welche Narrative die wahrhaftigen, gesünderen, produktiveren und damit – im Sinne einer utopischen Zukunft – die besseren sein könnten. Ob Menschen überhaupt Utopien brauchen oder wie wir sonst am besten moralisch dazulernen.

Wir wollen also nichts anderes leisten als eine radikale (im etymologischen Sinne ›an die Wurzel gehende‹) narrative Kulturkritik, mit dem Ziel, die Hebel hinter den Geschichten zu verstehen und zu verändern. Wir betrachten dabei die Menschheitsgeschichte selbst als Heldenreise eines Wesens, das sich von sämtlichen anderen Wesen dieser Erde darin unterscheidet, dass es sich Geschichten erzählt. Unsere epische Entwicklung als Spezies stellt uns vor die größte Herausforderung unserer Geschichte: die fortschreitende Zerstörung unserer Lebensgrundlagen.

So weit die schlechte Nachricht. Die gute lautet: Wie in jeder Heldenreise ist die Lösung dieses Problems längst in uns angelegt.* Wie in jeder Heldenreise müssen wir uns grundlegend wandeln, um die Lösung in uns zu finden. Und wie in jeder Heldenreise erwartet uns, wenn wir alle Prüfungen bestehen, eine neue, bestenfalls bessere Welt. Auch von ihr soll dieses Buch handeln.

* Wenn Sie wissen wollen, wie die Menschheit sich vor dem Untergang retten kann, blättern Sie vor zu Kapitel 12. Wenn Sie lieber den ganzen spannenden Kram dazwischen lesen wollen, blättern Sie auf die nächste Seite um. Generell funktioniert dieses Buch auch als interaktives Abenteuer: Wir geben Ihnen in Fußnoten die Gelegenheit, an eine andere Stelle zu springen. Entscheiden müssen Sie selbst.

PS: Wir verwenden in diesem Buch die männliche und weibliche Form. Alle Geschlechter seien immer mit gemeint. Wir hoffen, dafür Ihre Zustimmung zu bekommen.

2

Ruf des Abenteuers

Erlöser, Dämonen, Heldinnen

Eine Reise, sie alle zu verwandeln

Als der Held aufgeben will angesichts der Übermacht des Bösen und all der Opfer, die er bringen musste, um es zu besiegen, redet sein bester Freund ihm Mut zu:

Das ist wie in den großen Geschichten. In denen, die wirklich wichtig waren. Voller Dunkelheit und Gefahren waren sie. Und manchmal wollte man das Ende gar nicht wissen. Denn wie könnte so eine Geschichte gut ausgehen? Wie könnte die Welt wieder so wie vorher werden, wenn so viel Schlimmes passiert ist? Aber letzten Endes geht auch er vorüber, dieser Schatten. Selbst die Dunkelheit muss weichen. Ein neuer Tag wird kommen, und wenn die Sonne scheint, wird sie umso heller scheinen. Das waren die Geschichten, die einem im Gedächtnis bleiben, selbst, wenn man noch zu klein war, um sie zu verstehen. […] Ich weiß jetzt: Die Leute in diesen Geschichten hatten stets die Gelegenheit umzukehren, nur taten sie’s nicht. Sie gingen weiter, weil sie an irgendetwas geglaubt haben!1

Daraufhin fragt der Held: »Woran sollen wir glauben?«, und sein bester Freund antwortet: »Es gibt etwas Gutes in dieser Welt, Herr Frodo. Und dafür lohnt es sich zu kämpfen.«2

Frodo, Alice im Wunderland, Jesus, Ellen Ripley – der tapfere Hobbit, das neugierige Mädchen, der barmherzige Erlöser, die mutige Astronautin: Was haben diese so unterschiedlichen Figuren gemeinsam? Sie alle kämpfen für etwas. Sie ziehen los und begeben sich in ungewisse Abenteuer. Sie erleben Konflikte, Widerstände, Siege und Niederlagen. Und sie alle erreichen ein Ziel. Doch was macht sie wirklich zu Helden und Heldinnen? Ihr Glaube. Sie glauben fest genug an etwas, um alles zu riskieren. Die meisten Helden müssen ihren Glauben allerdings erst entdecken, tief in sich selbst, und dazu einen Wandel vollziehen. Sie sind Protagonistinnen* einer Geschichte, weil sie sich auf eine Reise begeben, auf der sie letztendlich sich selbst finden. Frodo findet den Mut, den Ring zu tragen und ihn schließlich zu vernichten. Alice wächst aus einer kindlichen Fantasiewelt heraus, die damit ihren Schrecken – und ihren Zauber – verliert. Jesus widersteht allen Versuchungen, opfert sich für die Sünden der Menschen und wird vom Prediger zum Messias. Ellen Ripley wird dank ihrer Entschlossenheit von der gejagten Soldatin zur kosmonautischen Drachentöterin.** Ihre Abenteuer sind jeweils der steinige Pfad zu ihrem heroischen Selbst, eine Tour de Force, die gleichzeitig Wachstum ist: eine Heldenreise.

* Vom Altgriechischen prótos = »der Erste« und ágo = »ich handle, bewege, führe«.

** Die 1979 mit dem ersten Alien-Film begonnene Heldinnenreise der Astronautin Ellen Ripley war auch deshalb so speziell, weil es der Hauptdarstellerin Sigourney Weaver und dem Regisseur Ridley Scott hier gegen alle Regeln des Genres gelang, eine Frau als Heldin eines Sci-Fi-Actionfilms zu etablieren. Interessanterweise steht gleich zu Beginn des Originaldrehbuchs von Alien, dass alle Rollen von allen Geschlechtern gespielt werden könnten, wobei die Drehbuchautoren zugaben, beim Schreiben einen männlichen Protagonisten vor Augen gehabt zu haben. Scott fand dann aber einfach keinen geeigneten Schauspieler für die Rolle – bis Weaver vorsprach. Sie war der Held, nach dem man die ganze Zeit gesucht hatte.

Obwohl der Mann diesen Begriff nicht erfand, gilt er als Entdecker dieser erzählerischen Grundstruktur: Joseph Campbell. In seinem 1945 veröffentlichten Opus magnum Der Heros in tausend Gestalten*** analysierte der amerikanische Mythenforscher Tausende von Geschichten, Sagen und Legenden aus aller Welt. Dabei identifizierte er ein Muster, das er den ›Monomythos‹ nannte. In keltischen wie arabischen Mythen, bei indischen wie griechischen Halbgöttern, ja sogar in den uralten, kulturell autarken Erzählungen der Native Americans oder Aborigines findet sich das immer gleiche Schema, welches Campbell wie ein narratives Genom entschlüsselte: eine äußere Reise als physisches Abenteuer neben der inneren Verwandlung als psychische Entdeckung.****

*** Der englische Originaltitel Hero with a thousand faces ist noch näher an der zentralen Eigenschaft der Heldinnen, sich durch ihre Reise verwandeln zu können.

**** Der französische Anthropologe Claude Lévi-Strauss untersuchte die Bestandteile dieser Mythen und fand »Mytheme«, kleinste Einheiten von Gegensatzpaaren, die immer neue Geschichten ergeben. In den Messiasgeschichten zum Beispiel wäre das die Opposition von Versuchung und Widerstehen, von göttlicher Macht und einem diabolischen Antagonismus. Auch sie sind sich, ähnlich wie die Heldenreise, quer durch viele Kulturen und ihre Erzählungen sehr ähnlich. Für Lévi-Strauss sind Mythen keineswegs primitive Sinnbildungen, sondern ausgefeilte Techniken der Weltdeutung.

Campbell fragte sich nun, wie diese eine Art des Erzählens sich überall so ähnlich verbreiten konnte. Dabei griff er auf psychoanalytische Theorien der Verdrängung und Sublimierung von Trieben und Ängsten zurück: auf Sigmund Freud, Otto Rank und Carl Gustav Jung. Weil Heldenmythen seiner Ansicht nach ihren Ursprung in unseren kulturell übergreifend ähnlich gestalteten Psychen haben, glaubte Campbell, dass sie für alle Menschen universell seien und ähnlichen, wenn nicht sogar identischen Mustern folgten. In gewissem Sinne erlaubt uns diese Schablone, den Helden als Archetypen für den psychischen Reifungsprozess zu betrachten, den wir alle in unserem Leben durchlaufen. Denn Heldinnen sind keine Außerirdischen* und keine Maschinen. Sie erzählen uns etwas über uns selbst und damit über das Menschsein an sich. Sie sind Persönlichkeiten, die wir gerne wären oder die wir sein könnten – oder die wir sogar schon sind, ohne es zu wissen.

* Manchmal allerdings schon – wie Alf vom Planeten Melmac. Der ist jedoch kein Held im klassischen Sinne, denn die meisten komischen Genres zeichnet aus, dass die Helden eben keine Entwicklung durchlaufen.

Protagonistinnen erleben an unserer Statt kolossale Abenteuer und drastische Emotionen, kämpfen auf Leben und Tod, erfahren größtes Glück und Unglück. Sie erschlagen Drachen, finden Schätze, verlieben sich, retten ihre Kinder und verraten ihre Eltern. Sie riskieren oft alles, gewinnen jedoch meist noch mehr. Doch wozu genau müssen sie diese Wagnisse auf sich nehmen? Um uns zu unterhalten, gewiss. Doch die Unterhaltung ist hierbei nur das Medium einer tieferen Verbindung.

Worum es im Kern geht, fassen die Mythenforscherinnen Eva M. Thury und Margaret K. Devinney wie folgt zusammen: »Wir sind alle Helden, die darum kämpfen, unser Abenteuer zu vollenden. Als menschliche Wesen nehmen wir an einer Reihe von Kämpfen teil, um uns als Individuen zu entwickeln und unseren Platz in der Gesellschaft zu finden. Darüber hinaus sehnen wir uns nach Weisheit: Wir wollen das Universum und die Bedeutung unserer Rolle darin verstehen.«3 Die Mission des Helden ist folglich eine Metapher für eine unbewusste Sehnsucht vieler Menschen, insbesondere die nach Orientierung, nach Einsicht in die Ordnung der Dinge, nach Erkenntnis. Als Vorbilder und Vorkämpferinnen, als Champions unserer Bedürfnisse und Narzissmen personifizieren Heldinnen die Aussicht auf Wunsch- und Trieberfüllung. Auf ihrem Weg erleben sie übermenschliche Prüfungen und allzu menschliche Transformationen – wenn sie sich diesen nicht verweigern und letztlich scheitern. Damit bieten sie uns einen raren Zugang zu unserem Unbewussten. Indem wir mit Heldinnen Beziehungen eingehen, uns mit ihnen identifizieren und verbinden, loten wir immer auch unsere eigenen Fragen, Hoffnungen und Werte aus. Doch anders als die Heldinnen gehen wir dabei kontrollierbare Risiken ein. Der lustvolle Selbstverlust des Mitfieberns am Verlauf einer spannenden Erzählung ist immer zeitlich begrenzt. Die Empathie mit den Figuren einer Geschichte ist eine mit »emotionaler Rückfahrkarte«4, wie der Germanist Fritz Breithaupt es nennt, da wir selbst während der wildesten Abenteuer wissen, dass wir jederzeit das Buch weglegen oder den Fernseher ausschalten können. Und jede Geschichte ein Ende hat.

Dafür ist es egal, ob die Helden echt oder erfunden sind. Man kann bei den meisten der hier (und später) aufgeführten großen Geschichten bezweifeln, ob sie sich jemals so zugetragen haben.* Inwiefern sie Fiktionen mit einem verschütteten authentischen Kern, fiktionalisierte Dramatisierungen historischer Ereignisse oder schmissig erzählte wahre Biografien sind, ist nicht relevant für unser Buch. Denn an ihrer Funktion für und ihrer Macht über unser Leben änderte keine dieser Einschätzungen etwas, und sei sie noch so begründet. Zumal wir es hier nicht mit Problemen der Historizität, sondern der Symbolik zu tun haben. Wie Campbell es formulierte: »Ob Rip van Winkle, Kamar ez-Zamán oder Christus wirklich gelebt haben, ist nicht unsere primäre Sorge. Ihre Geschichten sind es, was uns angeht, und diese Geschichten sind so weit über die Welt verbreitet, nur in verschiedenen Ländern verschiedenen Personen zugeschrieben, daß die Frage, ob dieser oder jener Träger dieser universellen Themen eine historische Persönlichkeit, ein lebender Mensch gewesen sein mag […], nur von zweitrangigem Interesse sein kann. Sie würde die Botschaft, die aus den Bildern spricht, einfach beiseite schieben.«5

* Die Frage, was überhaupt »authentisch« oder »wahr« genannt werden kann, öffnet insbesondere im Bereich der Erzählungen ein weites Feld. Alle erkenntnistheoretischen Probleme, die damit verknüpft sind, möchten wir hier vernachlässigen. Solange eine Geschichte »wahrhaftig« ist, ist sie wahr genug, um von uns betrachtet zu werden, denn dann kann sie wirken, als wäre sie wahr. In seinem Buch Coraline paraphrasierte der Autor Neil Gaiman einen Absatz aus G. K. Chestertons Essaysammlung Tremendous Trifles folgendermaßen: »Märchen sind mehr als nur wahr: nicht deshalb, weil sie uns sagen, dass es Drachen gibt, sondern weil sie uns sagen, dass man Drachen besiegen kann.« (Neil Gaiman: Coraline. Würzburg, Arena Verlag 2003, S. 3)

Ob fiktive Person oder nicht: Für den epischen Verlauf seiner Reise in Der Herr der Ringe ist Frodo unser Alter Ego, eine freundliche Projektionsfläche, die für uns die Strapazen und Schwerthiebe einsteckt. Mit ihm betreten wir einen fiktiven Kosmos voller Herausforderungen und schwerer Prüfungen. Und damit wird der Held auch Teil der Perspektive, von der wir auf seine Wirklichkeit schauen. Wir folgen Alice ins Wunderland, das für sie ebenso neu und unwirklich ist wie für uns. Durch Harry Potters Brille blicken wir in die Zauberwelt von Hogwarts. Zusammen mit Katniss Everdeen erfahren wir in Die Tribute von Panem das dekadente Leben im Kapitol und die brutale Organisation dieser Gesellschaft. An der Hand eines Helden wagen wir uns also auf eine Reise, auf der das Individuum nach Campbell einen Sinn für seine Identität und seinen Platz in der Welt findet.

Das führt uns zu Campbells Phasen, die ein Protagonist während seiner Heldenreise belaufen muss – und wir mit ihm. Es handelt sich dabei um eine Art erzählerische Uhr, auf deren Ziffernblatt Campbell strukturell wiederkehrende Hauptereignisse chronologisch* platzierte.

* Bei Campbell sind die Etappen gegen den Uhrzeigersinn angeordnet, um die Widerstände, gegen die der Held sich behaupten muss, zum Ausdruck zu bringen. Während die gewohnte Wirklichkeit im Uhrzeigersinn voranschreitet, stemmt die Heldin sich gegen diese Routinen ihrer Realität, läuft gegen die Ordnung der Dinge an, nimmt den harten Weg. Wir haben uns dennoch entschieden, aus Gründen der Lesegewohnheit die Etappen von links nach rechts zu platzieren.