Für meine Kinder!

Möget ihr auf der spannenden Reise des Lebens nie den Weg zurück zu euren Wurzeln verlieren.

Ich liebe euch!

Prolog

Oft liege ich wach und frage mich, wer ich bin.

Was genau macht uns zu dem Menschen, der wir sind? Ist schon von Geburt an klar, wer wir einmal sein sollen, oder werden wir erst gezwungen in eine bestimmte Form zu passen? Ist unser Weg klar, noch ehe wir den ersten Schritt getan haben, oder entscheiden wir mit jedem einzelnen, wohin die Reise des Lebens uns führt?

Ist es Erziehung, die uns die Richtung unserer Entwicklung vorgibt? Die nette Erzieherin, die einen jahrelang begleitet und die schönsten Einhörner malen kann? Oder die Lehrerin, die einen quält, bis auch der letzte Buchstabe in fließenden Bögen gelingt? Welchen Einfluss haben Ballettstunden, Fußballtraining und der erste Kuss? Wenn wir es nicht selbst in der Hand haben, wer ist es dann, der uns formt? Unsere Eltern? Die Gesellschaft?

Oder ist all das vollkommener Blödsinn? Können wir sein, wer wir sein wollen? Müssen wir in keine Form passen? Ist es vollkommen egal, wer oder was uns beeinflusst, weil all das schon von Anbeginn klar ist? Aber woher weiß ich dann, wer ich bin?

Oft liege ich wach und frage mich, wer ich bin. Und ich habe Angst, mich niemals gut genug zu kennen, um mir eine Antwort geben zu können.

Kapitel 1

»Hier.«

Ich zucke leicht zusammen, als ich Adams Stimme höre und seine Gestalt einen Schatten über mich legt. Die Sonne verschwindet einfach hinter der blauen Sweatjacke, die er trägt, und blendet mich nicht länger, als ich mich ihm zuwende.

»Danke«, murmele ich und nehme ihm einen der Kaffeebecher ab. Ehrlich gesagt ist mir nicht mal aufgefallen, dass er gegangen ist, um welchen zu holen.

Außer einem knappen Nicken zeigt er keinerlei Reaktion und lehnt sich stattdessen mit den Ellbogen auf die Reling. Gedankenverloren schaut er hinunter in das schäumende Meer, während ich beobachte, wie er den Styroporbecher zwischen seinen schmalen Fingern hin und her dreht. Sie hinterlassen graue Spuren auf dem weißen Material des Bechers. Mein Blick wandert automatisch zu dem Bleistift, der hinter seinem Ohr klemmt. Ich habe ihn selten ohne gesehen.

Der Wind und die Wellen verschlucken die Geräusche der anderen Passagiere um uns herum. Ich sehe mich um und beobachte eine Mutter, die sich offensichtlich mit ihren Söhnen über den Berg Süßigkeiten streitet, der vor ihnen ausgebreitet ist. Und ein Liebespaar, das seit Stunden damit beschäftigt ist, das perfekte Selfie von sich zu schießen. All diese Menschen bewegen sich vor meinem Auge und dennoch wirken sie nicht real. Stille Schauspieler in meinem persönlichen Stummfilm.

»Immer noch knapp drei Stunden Fahrt. Willst du wirklich die ganze Zeit hier draußen stehen?« Adam ist der Einzige, der meine persönliche Stille durchbricht.

»Ja«, antworte ich knapp und stütze mich ebenfalls gegen die Reling. Ich liebe es, auf einer Fähre zu sein. Den Hafen zu beobachten, wenn er immer kleiner wird, und darauf zu warten, dass auf der anderen Seite des Schiffes neues Ufer auftaucht.

»Hm«, brummt Adam, verzieht seine vollen Lippen und sieht zurück aufs Wasser. Ich folge seinem Blick und denke zum hundertsten Mal darüber nach, warum ausgerechnet er hier bei mir ist. Die Antwort ist: Ich habe nicht die geringste Ahnung. Na ja. Eigentlich schon. Schließlich war meine Mum diejenige, die der Meinung war, die Niederlanden seien zu gefährlich für ein junges Ding wie mich. Und nein, ich bin keineswegs sechszehn. Sondern zwanzig. Offiziell volljährig. Immerhin nur drei Jahre jünger als sie bei meiner Geburt. Doch das zählt offensichtlich nicht. »Andere Zeiten, andere Menschen, Sam!«, sagt sie ständig zu meinem Dad, der, was Regeln und Grenzen angeht, wesentlich lockerer unterwegs ist.

Wie nun Adam, der Adoptivsohn meiner Patentante, das große Los gezogen hat, mein Wachhund zu werden, kann ich tatsächlich nicht mehr genau sagen. Es hat was mit seinem Studium zu tun. Tante Emily, die biologisch gesehen gar nicht meine Tante ist, meinte, es könne seinen Horizont erweitern oder so ähnlich. Alles ging relativ schnell, eins kam zum anderen und ehe ich michs versah, stand fest, dass ich auf der ersten Reise, die ich zu mir selbst machen wollte, einen Begleiter haben würde. Damit war mein Chaos perfekt. Oder vielmehr ist es perfekt. Schließlich stehen wir hier. Schulter an Schulter. Mit jeder Minute weiter von der Heimat entfernt.

Im Seitenprofil betrachte ich Adam, der für seine dreiundzwanzig Jahre verdammt groß ist. Er überragt sogar meinen Dad.

Die Sonne malt Schatten auf sein Gesicht, aber ich weiß auch ohne die Einzelheiten zu erkennen, dass seine Augen blau sind. Ungewöhnlich blau für seinen dunklen Teint.

»Was ist?« Ich habe nicht mal gemerkt, wie ich ihn angestarrt habe, bis er ungeniert zurückstarrt und ich ertappt wegsehe. Die Lippen peinlich berührt zwischen die Zähne gezogen. Es ist ja nicht so, dass ich Adam nicht mag. Trotzdem ein komisches Gefühl, das hier mit ihm zu machen. Er ist … ich weiß nicht … so was wie mein Cousin vielleicht? Wenn auch nicht genetisch betrachtet. Er ist halt da. Er ist einfach … Adam. Wir haben unsere Kindheit miteinander verbracht und doch steht in diesem Augenblick ein Fremder neben mir.

»Kriegst du eigentlich einen Sonnenbrand?«, frage ich wie immer das Erste, was mir in den Sinn kommt, als mich die Sonne über seinen geneigten Kopf hinweg blendet. Sie hat für Ende Mai enorme Kraft. Allerdings weht der Wind so kräftig, dass ich dennoch fröstele. Das schulterfreie Kleid war nicht die beste Wahl für die Schifffahrt. Gut, dass meine Mum nicht hier ist, um auf ihrem Recht zu beharren. Mal wieder.

»Dein Ernst?«

»Absolut«, zucke ich mit den Schultern und schirme mit einer Hand die Helligkeit ab, um seinen Blick zu erwidern.

»Wir sind jetzt bereits dreieinhalb Stunden auf dieser Fähre. Zu einer Reise, von der ich immer noch nicht sicher bin, was ich von ihr halten soll, und der erste vollständige Satz, den du zu mir sagst, ist eine rassistisch angehauchte Frage über meine Hautfarbe?«

Er schüttelt den Kopf und wendet sich wieder dem Wasser zu.

Ich nehme mir einen Augenblick Zeit, seine Frage zu überdenken. Dabei beobachte ich, wie die Sonne durch die kleinen Löckchen auf seinem Kopf schimmert.

»Ja«, antworte ich schließlich. »Es interessiert mich. Und das ist keinesfalls rassistisch gewesen, sondern nur eine Frage. Ich meine, werden schwarze Menschen generell noch schwärzer, wenn sie in die Sonne gehen? Weil du ja von Prinzip schon dunkler bist. Ich zum Beispiel sehe nach zu vielen UV-Strahlen aus wie ein Krebs und meist bilden sich anschließend eklige Blasen und meine Haut schält sich dann wie bei einer Schlange und …«

»Nein«, unterbricht mich Adam. Seine Stimme ist so barsch, dass ich innerlich zusammenzucke. Im Augenwinkel bemerke ich obendrein, wie der Mann, der schon seit unserer Abfahrt in Harwich Harbour versucht mit mir Blickkontakt aufzunehmen, sich aufrichtet. »Nein«, wiederholt Adam etwas sanfter, »ich kriege keinen Sonnenbrand. Ja, wenn ich lange in der Sonne bin, wird meine Haut ein paar Nuancen dunkler, aber nicht rot.«

Einen Moment sehen wir uns noch in die Augen, ehe wir beide uns wieder Richtung Wasser wenden.

»Hm«, murmele ich, »Danke. Das ist … interessant.«

Und dann schweigen wir. Das tun wir schließlich schon unser gesamtes Leben. Egal wie oft wir auch miteinander über Belangloses reden. Im Grunde genommen schweigen wir uns meistens an. Keine Ahnung, warum das so ist. Manchmal habe ich das Gefühl, je älter wir werden, desto eigenartiger wird die Stimmung zwischen uns.

So sehr ich mich auch bemühe zurück zu meiner selbstfinderischen Ruhe zu finden, ich schaffe es einfach nicht. Das stetige Kopfschütteln nebenan lenkt mich ab und mein Gehirn zwingt mich immer wieder Adam anzublicken, der dicht neben mir die Lippen fest aufeinanderpresst und so tief durch die Nase schnaubt, dass er die Nordseegeräusche übertönt. Wahrscheinlich hat er keine Lust, mit mir zu verreisen, und kann sich tausend andere Dinge vorstellen, die er in diesem Moment lieber tun würde. Meine bescheuerten Fragen machen es wahrscheinlich nicht besser.

Ich hole Luft, öffne den Mund, um etwas zu sagen. Im gleichen Moment wendet er sich mir zu und auch seine Lippen öffnen sich. Er wartet. Lässt mir den Vortritt. Ich bleibe still. Klappe die Kiefer wieder aufeinander und beiße mir innerlich beinahe die Zunge ab. Warum musste er auch mitkommen? Arrgh …

»Ich gehe ein wenig in die Lounge«, brummt er und wirft seinen anscheinend leeren Becher mit einem gekonnten Wurf in den Mülleimer, der an einem der Metallpfosten befestigt ist.

Weil ich nicht weiß, was ich sagen soll, oder vielmehr sagen sollte, nicke ich nur.

Ich hasse die Lounge. Mein Onkel Scott wollte uns einen Gefallen tun und hat unseren Tickets ein Upgrade verpasst. Die VIP-Lounges auf den Fähren sind objektiv betrachtet ja vielleicht ganz nett. Schicke Möbel, bequeme Liegesessel und das Personal reicht diese leckeren kleinen Kuchen. Die, die alle aussehen wie kleine Kunstwerke. Mit Pistazien und Marzipan verziert. Mit meinen Eltern habe ich schon ein paar Fährfahrten in einem solchen VIP-Bereich verbracht. Doch so schön das auch alles klingen mag. Das nervt. Die Leute dort sind so mega anstrengend. Ich habe keine Ahnung warum, aber jenseits der Glasscheibe, durch die man nur mit einem Code kommt, flüstern alle. Ich kapiere so einen Irrsinn einfach nicht. Warum sprechen die reichen Leute nicht genauso laut wie die mit normalen Tickets? Die Fish and Chips im unteren Deck bestellt doch auch keiner im Flüsterton. Und dann die Sessel. Ja, sie sind ultrabequem und so. Aber sobald man sich einmal zu viel auf dem quietschenden Leder bewegt, werfen die anderen Leute einem böse Blicke zu. Von wegen Ruhebereich. Ich mein, wer findet schon beim ersten Anlauf die perfekte Position, um es sich gemütlich zu machen? Mir ist die Atmosphäre einfach zu kleinkariert. Außerdem würde ich so verpassen, wie die Mutter immer noch beinahe geräuschlos ihre Kinder anschreit und das Selfie-Paar mittlerweile so wild knutscht, dass es schon peinlich ist.

Außerdem brauche ich den Wind um die Nase. Den visuellen Abschied von England. Ich muss sehen, wie ich meine Heimat hinter mir lasse. Wenn auch nur für ein paar Wochen.

Leider hat die Landesgrenze den Kloß in meinem Hals bisher noch nicht verschwinden lassen. Und langsam schwindet die Hoffnung, dass mir die Lüge, die mich seit Wochen quält, nicht mehr länger die Luft zum Atmen nimmt, wenn wir erst in Rotterdam sind. Wie bei so vielen meiner Pläne ist auch dieser offensichtlich nicht aufgegangen. Ich fühle mich fürchterlich. Wirklich, wirklich hundsmiserabel fürchterlich. Und Adam dabei zuzusehen, wie er in der Lounge das hundertste Bild von den Wellen zeichnet, wird daran auch nichts ändern.

»Geht’s Ihnen gut?«

Der Kerl, der schon seit drei Stunden neben mir lungert. Mit dem Fernglas und einer viel zu großen Regenjacke. Offenbar hat mein kurzer Schlagabtausch mit Adam ihm die letzte Zurückhaltung genommen, mich endlich anzusprechen.

»Um ehrlich zu sein, nein«, antworte ich. Es gibt keinen Grund, ihn auch noch anzulügen. Soll doch der Typ, der seit drei Stunden konstant neben mir steht und mit seinem Fernglas aufs Meer schaut, wenigstens die Wahrheit erfahren. Vollkommen egal. Ich sehe ihn nie wieder. Er ist nur ein Statist in meiner Tragödie.

Ich lasse mich auf eine der blauen Metallbänke plumpsen, die alle an den Wänden zum Inneren des Schiffs angebracht sind. Von hier aus sind es nur wenige Schritte bis zur Reling, aber der Wind weht nicht mehr ganz so stark.

Der Typ folgt mir und spielt nervös mit den Fingern an der Schnur seines Fernglases herum, nachdem er sich neben mich gesetzt hat.

»Kann …«, stottert er etwas, »ich was tun?«

Ich muss ihm definitiv Pluspunkte einräumen, weil er versucht nett zu sein. Wahrscheinlich ist er einfach ein netter Mensch und kein so notorischer Lügner wie ich in letzter Zeit.

»Ich weiß nicht«, entgegne ich und nehme einen Schluck von meinem Kaffee. Milchkaffee. Sehr süßer sogar. Genau so, wie ich ihn mag.

»Es ist so …« Ich wende mich ihm ein Stück zu und winkle ein Bein auf der Bank an. »Ich denke, ich habe einen Fehler gemacht.«

»Oookay«, erwidert er.

»Also, da gibt es diesen Professor in Rotterdam. Er bietet Sommerpraktika für Studenten an, die ab dem Herbst bei ihm studieren.«

»Du studierst in Rotterdam?«, fragt er und seine Miene hellt sich auf. Er hat ein nettes Gesicht, was noch viel attraktiver wäre, wenn die schreckliche Regenjacke nicht so viel Aufmerksamkeit auf sich ziehen würde. Ein ewiges Mysterium der Menschheit. Warum trägt man eine Regenjacke, wenn die Sonne am Himmel steht? Und warum sind alle Regenjacken grundsätzlich zu groß? Fragen, die die Welt beschäftigen, nur hier gerade wirklich nichts zur Sache tun.

»Nein. Das ist ja das Problem. Ich wollte es. Wirklich. Ich denke, Meeresbiologie wäre genau das Richtige für mich gewesen.« Ich räuspere mich und drehe mich noch ein bisschen weiter zu dem Unbekannten. Gerade ist es mir egal, dass ich ihn nicht kenne und es eigentlich auch unangenehm finde, mit einem Fremden über meine Probleme zu philosophieren. Auch die Regenjackensache blende ich aus. Ich muss mit irgendjemandem darüber reden. Und schließlich hat er mich angesprochen. Jetzt muss er auch zuhören. So verlangt es das Frage-Antwort-Gesetz.

»Also, die Sache ist die. In letzter Zeit habe ich ein paar Studiengänge ausprobiert und keiner scheint das Richtige für mich zu sein. Aber Meeresbiologin aus Rotterdam? Das klingt doch cool. Und ich habe am Meer gelebt, bis ich sechzehn gewesen bin. Warum also nicht Meeresbiologie? Das liegt doch irgendwie nahe? Oder findest du nicht?« Ich lasse ihm gar nicht die Chance, mir zu antworten. Das muss jetzt einfach aus mir raus und Adam kann ich mein Dilemma auf keinen Fall enthüllen. »O Mann. Und jetzt ist Adam da«, lasse ich meinen Gedanken freien Lauf. »Halleluja. Ich habe keinen Schimmer, wie ich erklären soll, dass ich in Rotterdam kein Praktikum mache.«

»Aber du …«, versucht er sein Glück, aber der Arme kennt leider meinen Drang zu reden noch nicht. Wenn ich erst mal angefangen habe, gibt es kein Halten mehr.

»Meine Eltern, Adam und alle, die ich kenne, denken doch immer noch, dass dieser Professor Hagedorn mir den Praktikumsplatz an der Sturmflutwehr zugesagt hat. Was er dummerweise nur leider nicht getan hat. Na ja, seine Absage klang wirklich irgendwie … gemein, so nach dem Motto ›schlechte Referenzen‹ … bla, bla … Du kennst das sicher.« Ich nippe noch mal kurz an meinem Kaffee und blicke zurück in den strahlend blauen Himmel. »Ich konnte ihnen das einfach nicht sagen. Sie haben sich so für mich gefreut. Ich habe mich geschämt und wenn man erst mal mit der Lügerei begonnen hat … Und dann haben sie Adam angeheuert, um mich zu begleiten. Weil er schon Semesterferien hat und in Rotterdam einiges an Kunst zu sehen bekommt. Er studiert Kunst, weißt du?«

»Dein Freund.«

»Nein. Doch nicht mein Freund. Adam. Mein … Adam halt.« Ich versuche gar nicht erst ein genervtes Stöhnen zu unterdrücken. »Jedenfalls denken alle, einschließlich Adam«, ich nicke mit meinem Kopf zu der schweren Metalltür, hinter der er verschwunden ist, »dass ich am Montag mit meinem Praktikum und im Herbst mit meinem Studium beginne.«

»Was du aber nicht tust.«

»Ne, natürlich nicht. Also, eher nicht. Ich meine, wer weiß schon, was im Herbst ist. Jetzt gerade habe ich keine Ahnung, was ich machen will. Immerhin müsste ich theoretisch Montagfrüh bei Hagedorn antreten. Was ich allerdings nicht kann, weil er mich nicht will, und es wird Zeit, dass mir was einfällt, weil ich schon seit vier Wochen Bauchschmerzen habe, weil Lügen einfach wehtut. Kennst du das, wenn sich ein Schmerz hier so richtig festsetzt?« Ich lege meine freie Hand auf besagte Stelle. Wir verfolgen beide meine Bewegung und sehen auf meinen Bauch, ehe sich unsere Blicke treffen. Er hat freundliche Augen. »Und da sitzt er jetzt.«

»Wer?«

»Na, der Schmerz«, knurre ich. »Weil ich meine Eltern nie belüge. Vor allem meinen Dad. Ich bin seine Prinzessin. Ich erzähle ihm alles. Okay, dass ich mit Mitchell in seinem Auto rumgemacht habe, weiß er nicht und auch die Sache mit Jackson und der heimlichen Übernachtung konnte ich ihm nicht sagen, aber eigentlich bin ich so nicht. Und jetzt sind es noch drei Stunden bis Rotterdam und ich habe keinen Schimmer, was genau ich da eigentlich machen soll. Und da wäre noch dieses winzig kleine Problem, dass Adam merken wird, dass etwas nicht stimmt. Er wird dann als Erstes seine Mum anrufen und sie wiederum meine … Und die wird ausflippen. Weil sie eben eine Mum ist. Also, sie hat zum Beispiel das mit Mitchell gewusst, da ist sie cool und so. Aber wenn sie erfährt, dass ich immer noch keine Zukunftsperspektive habe und obendrein …«

»Äh …« Mein unbekannter Freund räuspert sich. »Also«, er macht Anstalten aufzustehen, »ich will dich ungern unterbrechen … aber ich muss …« Er gibt sich nicht mal Mühe, seine Ausrede gekonnt zu verpacken.

»Mach dir keine Mühe.« Ich deute mit dem Kopf an, dass er verschwinden soll. Etwas, was man ihm nicht zweimal sagen muss. Das Wort »vergraulen« bekommt im Duden gerade einen Link zu meinem Facebook-Profil.

Ein tiefes, frustriertes Knurren löst sich aus meiner Kehle. Was soll’s. Ich bin für die anderen genauso ein Stummfilm-Statist. Und es mühevoll runterzuschlucken kann meinen Frust auch nicht mildern. Das hier ist alles eine riesengroße Katastrophe. Ich hätte niemals auf dieses Schiff steigen dürfen. Ich hätte einfach die Wahrheit sagen müssen.

London bietet ungefähr eine Million Möglichkeiten für junge Menschen. Da wird doch eine einzige dabei sein, die zu mir passt. Wie zum Teufel sollen mir ein paar Wochen in einem fremden Land, in einer Stadt, die ich nicht kenne, helfen herauszufinden, was ich will? Das ist doch vollkommen absurd. Erschwerend kommt hinzu, dass alle erfahren werden, dass ich das Praktikum nicht bekommen habe. Wie sollte ich das auch verheimlichen? Ich kann schlecht täglich acht Stunden verschwinden und so tun, als ginge ich arbeiten. Und dann mein Dad. Lieber, armer Dad. Er wird wissen wollen, was ich bei den Sturmtoren lerne. Er liebt das Meer. Und außerdem sind wir so. Wir reden viel. Er merkt, wenn irgendwas nicht stimmt. In den letzten Wochen hat er mich täglich gefragt, was los ist. Ich habe die Nervosität vorgeschoben. Er wird nicht verstehen, warum ich mich ihm nicht anvertraut, sondern stattdessen Hals über Kopf das gottverdammte Land verlassen habe. Die Bombe wird platzen. So oder so. Und Adam und ich werden mittendrin stehen in der Explosion. Nur dass er im Gegensatz zu mir keine Ahnung von dem Pulverfass hat, auf dem wir sitzen. Scheiße. Ich ziehe meine Unterlippe zwischen die Zähne und kralle mich an meinem Kaffee fest, der sicher schon eiskalt geworden ist. Noch drei Stunden, dann sind wir da und checken in unser Hostel ein. Es wird jetzt ganz dringend Zeit für einen Plan.

Kapitel 2

»Vielleicht hätten wir Scotts Angebot doch annehmen sollen«, seufze ich und lasse meinem Stöhnen freien Lauf. Nur in allerletzter Sekunde halte ich mich selbst davon ab, mich genüsslich nach hinten auf die Matratze fallen zu lassen.

»Wir könnten …«

»Nein«, unterbreche ich Adam. Ich weiß, was er sagen will. Schon klar, wer einen Millionär als Onkel hat, muss bei dem kleinsten Wunsch nur mit dem Finger schnippen. Und vor allem muss man unter keinen Umständen in einem schäbigen Hostel mitten in Rotterdam übernachten. Wobei es wahrscheinlich nicht mal schäbig ist, sondern einfach nur ein ganz normales Hostel. Die kleinen Fensterchen erlauben den letzten Sonnenstrahlen des Tages Eintritt und der Staub glitzert im Abendlicht.

Adam hebt ergeben die Arme und ich lasse mein Gesicht in meine Hände sinken.

»Wenn es wenigstens nicht so widerlich riechen würde.« Bei jedem tiefen Atemzug nehme ich mir vor erst wieder herzhaft durchzuatmen, sobald wir wieder auf der Straße sind.

»Ob das daran liegt?« Ich lasse meine Hände sinken und schaue mit Adam synchron an die Decke. Im ganzen Zimmer kleben Pumps unter dem weißen Rauputz.

»Wer kommt auf die Idee, Schuhe unter die Decke zu kleben?« Ich lege meinen Kopf ein bisschen weiter zur Seite. »Denkst du, die sind benutzt?«

»Das will ich, glaube ich, gar nicht so genau wissen«, brummt Adam und öffnet eins der Fenster, das Gott sei Dank direkt zwischen unserem und dem Nachbarbett liegt. Es ist verriegelt und lässt sich nur leicht kippen.

Er war von Anfang an dafür, Scotts Angebot anzunehmen, uns ein Hotelzimmer oder ein nettes Appartement zu zahlen. Aber nein. Ich wollte ja unbedingt eine richtige Studentin in den Niederlanden sein. Mit allen Vor- und Nachteilen. Gott, jetzt habe ich zwar die Nachteile, nur leider keinen einzigen Vorteil. Mal ganz abgesehen davon, dass ich nicht mal eine gottverdammte Studentin bin.

»Und du willst sicher unten schlafen?«

Adam steht in seiner ganzen Größe vor mir und wirft seinen riesigen Rucksack auf das Stockbett über mir. Jep, wir schlafen in Etagenbetten. Und zwar nicht irgendwelchen Betten. Sie sind aus goldenem und blauem Metall. Unseres ist golden.

»Ehrlich gesagt habe ich keine Ahnung«, seufze ich und ziehe meinen eigenen Rucksack auf meine eigene Matratze. Ich bin von meiner Mum einiges gewöhnt, was einen ausgeflippten Einrichtungsstil angeht, doch das hier übertrifft alles, was ich je gesehen habe. So stylish und vintage, dass man schon nicht mehr sagen kann, ob das Absicht ist.

»Ich bin gespannt, was uns hier erwartet.« Wir blicken beide in das Zimmer und ich muss schlucken. Die anderen sechs Betten sind zwar leer, aber es ist nicht zu übersehen, dass alle zurzeit belegt sind. Noch mal jep, nicht nur Stockbetten, sondern auch eine Schlafkammer für acht Personen. Geschlechtergemischt, versteht sich. Und der Raum ist alles in allem nicht größer als mein Zimmer zu Hause in London. Mein Highlight allerdings bleiben die Toilette und Gemeinschaftsduschen auf dem Flur. Das Leben als Pseudostudentin ist toll. Ehrlich. Was könnte es schon Schöneres geben? Und ich habe nicht mal Badelatschen dabei. O nein, Mum, Badelatschen werde ich sicherlich nicht brauchen. Ha. Scheiße.

»Ich wette ums Abendessen, dass da Männer hausen.«

Ich deute mit dem Kinn auf unsere direkten Nachbarn. Mir juckt es regelrecht in den Fingern, die Decken und Kissen, die zerwühlt zurückgelassen wurden, glatt zu streichen. Dafür müsste ich mich nur ein Stück nach vorne beugen. Mein Blick zuckt kurz zu Adam, der mich wütend anfunkelt. Also lasse ich es besser. Klamotten, Taschen und Bücher liegen ebenfalls verteilt auf den Betten.

»Ich bin so froh, dass du keine Vorurteile hast«, knurrt Adam und fischt ein paar Dinge aus seinem Rucksack, ehe er ihn wieder von der Matratze zieht und zu dem schmalen Schrank wuchtet, der für ihn vorgesehen ist. Wie im Krankenhaus haben die Betten kleine Symbole, die sich auf den Schranktüren wiederfinden. Die meisten der Aufkleber sind verblichen oder nur noch zur Hälfte vorhanden. Ich bin der schwarze Kreis. Ein Symbol wie für mich gemacht. Adam ist das gelbe Dreieck.

»Dir scheint das alles nicht wirklich was auszumachen, oder?« Ich starre auf sein breites Kreuz, während er seinen Rucksack auspackt und ein paar Jacken und Pullover auf die freien Kleiderbügel hängt. Ich werde meine Sachen auf keinen Fall in diesen Schrank räumen. Mich schaudert es bei der Vorstellung, meine Klamotten könnten den Geruch der alten Holzschränke annehmen. Das gesamte Haus riecht wie der Speicher meiner Grandma.

»Das hier war deine Idee, vergiss das nicht«, mault er mich an und sein zorniger Blick trifft mich ein zweites Mal.

»Hm«, brumme ich zurück und entsperre mein Smartphone. Meine Mum hat mit zwei Herzchen auf das Bild reagiert, das ich unterwegs gemacht habe. Eigentlich ist nur Wasser zu sehen, aber sie ist meine Mum und kommentiert alles mit Herzchen, was ich ihr schicke.

»Ich habe ein Bett, meine Klamotten, Papier und Blei. Mehr brauche ich nicht.«

Adam ist mittlerweile dabei, seine Unterwäsche in eine integrierte Schublade zu stopfen. Seit wir angekommen sind, habe ich mich nicht vom Fleck bewegt. Beobachte ihn nur, wie er alles unter die Lupe nimmt und sich einrichtet, als sei das seine neue Bleibe. Heiliger Bimbam. Das ist unsere neue Bleibe.

»Ich glaube, ich brauche heute Abend Alkohol.«

Abrupt dreht Adam sich zu mir um und starrt mich an.

»Komm schon«, stöhne ich. »Jetzt sag ja nicht so was wie ›Das würde deiner Mutter aber gar nicht gefallen‹ oder so.«

Mein Kopf fühlt sich schwer an von der langen Reise und den vielen Sorgen. Auf die Hände gestützt überlege ich, wie ich meine erste Nacht hier überstehen soll. Ein Geistesblitz lässt mich hochfahren.

»Warte«, kreische ich und richte mich etwas auf. »Jetzt sag nicht, in den Niederlanden darf man erst ab einundzwanzig trinken. O mein Gott!« Ich werde immer panischer. »Warum weiß ich so was nicht? Ich müsste das wissen. Das steht sicher in jedem Reiseführer …«

»Grace«, unterbricht mich Adam. In aller Seelenruhe schlendert er zu mir herüber und stützt sich über mir an unserem Hochbett ab. Sein Bizeps spannt sich unter dem weißen T-Shirt, während er die Unterarme an das Metall lehnt. In diesem Moment wird mir noch einmal richtig bewusst, dass wir hier sind. Gemeinsam. Und es wird ziemlich komisch werden, unter Adam zu schlafen. Vier Jahre ist unsere letzte gemeinsame Übernachtung jetzt her. Damals waren wir quasi noch Kinder. Zusammen mit unseren Dads haben wir einen Ausflug in den National Park nach Birmingham gemacht. Wir haben alle vier gemeinsam in einem riesigen Zelt übernachtet. Zwar sind dort weder Toiletten noch einen Schlafsaal zu finden gewesen, aber in der Natur zu übernachten ist etwas anderes, als sich mit Wildfremden ein Klo zu teilen.

»Jetzt bleib mal locker. Punkt eins, du solltest wirklich wissen, was du darfst und was nicht, ehe du in ein fremdes Land zum Studieren gehst.« Sein Gesicht bekommt einen harten Gesichtsausdruck. »Und zweitens darfst du hier genauso trinken wie zu Hause.«

»Und drittens?«, frage ich, als er nicht weiterspricht, jedoch nach wie vor von oben auf mich herabschaut.

»Drittens könnte es sicher nicht schaden, den ein oder anderen Drink zu nehmen. Immerhin müssen wir irgendwie die erste Nacht mit den glorreichen Sechs in einem Zimmer überstehen.«

Langsam stiehlt sich ein kleines Lächeln auf sein Gesicht. Und das steht ihm. Adam lächelt nicht oft. Seit ich ihn kenne, und das sind immerhin schon sechszehn Jahre, ist er meistens ernst. Er redet nicht viel, lacht nicht besonders häufig und wirkt immer irgendwie verschlossen. Nicht unglücklich. Nur … ruhig. Auf seine Art und Weise zufrieden mit sich selbst. Eine Eigenschaft, um die ich ihn wirklich beneide. Außerdem hat er seine Berufung im Leben gefunden. Adam malt. Immer. Schon als kleiner Junge hat er alles vollgekritzelt. Und auch jetzt sitzt er ständig irgendwo mit einem seiner Notizbücher und zeichnet. Tante Emily hat das von Anfang an gefördert und so ist schnell klar gewesen, dass er eines Tages Kunst studieren würde. Das ganze Haus der Stevens hängt mittlerweile voll mit seinen Gemälden. Er ist wirklich gut. Denke ich. Im Grunde genommen habe ich keinen Schimmer von Kunst. Ich kann nicht mal ein Pferd malen und die modernen Kunstwerke, die in Galerien hängen, sehen für mich aus wie Kinderbilder.

»Sollen wir uns die Waschräume ansehen?«

Adam tritt einen Schritt zurück, damit ich aufstehen kann.

»Ich finde, allein das Wort ›Waschräume‹ klingt schon eklig. Ich bin nicht sicher, ob ich sie wirklich sehen will«, halte ich dagegen, erhebe mich aber dennoch aus meiner Koje. Adam schmunzelt und fischt ein kleines schwarzes Buch aus seiner hinteren Hosentasche, um es unter sein Kopfkissen zu stopfen.

»Deine Gutenachtgeschichten?«, necke ich ihn.

»Das wirst du niemals erfahren«, erwidert er und zack – schon ist mein Interesse geweckt.

Während meines kurzen Psychologiestudiums habe ich gelernt, dass ein solches Verhalten vollkommen normal ist, denn der Mensch möchte grundsätzlich das, was er nicht bekommen kann. Gerade als ich ihm davon erzählen will, öffnet sich die Tür und wir bekommen Gesellschaft.

Zwei Frauen. Eine groß und dunkelhaarig mit glattem Bob, die andere genau solch ein Winzling wie ich. Beide lächeln, als sie uns sehen.

»Oh, Neuankömmlinge«, sagt die Große und wirft ihre Handtasche oben auf das zerwühlte Bett. Jetzt bin ich erleichtert sie nicht gemacht zu haben. Mein Blick wandert kurz zu Adam, der nur lächelnd mit der Schulter zuckt. Ich hätte ihm zu gern bewiesen, dass mein Spürsinn nichts mit Vorurteilen zu tun hat. Aber nun ja. 1:0 für ihn.

»Sprecht ihr Englisch?«, fragt sie, nachdem sie sich wieder zu uns umgewandt hat und wir noch keinen Pieps von uns gegeben haben.

»Äh … ja, wir kommen aus London«, stottere ich und halte ihr meine Hand hin. »Grace Handerson.«

»Hi, Grace.« Ich gluckse uncharmant, als sie meine Hand fest drückt. »Ich bin Rachel.«

»Wir kommen aus der Nähe von Edinburgh«, berichtet die Zweite erfreut und kommt einen Schritt näher. Jetzt stehen wir zu viert zwischen unseren Betten, die nicht mal zwei Meter voneinander getrennt sind. »Ich bin Marissa«, stellt sie sich lächelnd vor und ergreift meine Hand.

Marissa gehört zu der Sorte Mensch, die einfach wunderschön ist. Sie ist ungeschminkt und ihre langen braunen Haare sind in einen einfachen Dutt gesteckt, aber der Glanz in ihren Augen und die leichte Sommerbräune machen sie zum perfekten Model. Mal abgesehen davon, dass sie wie ich höchstens 1,60 Meter groß ist.

»Ich bin Adam.« Auch er reicht beiden nacheinander freundlich die Hand und ich kann mich ganz langsam entspannen. Rachel und Marissa scheinen nett zu sein. Sie sind höflich, sprechen unsere Sprache und hinterlassen einen wirklich guten ersten Eindruck. Es hätte für die direkte Bettnachbarschaft schlimmer kommen können.

»Und, was treibt euch in das wundervolle Land des Käses?«, fragt Rachel lachend und verdient sich damit sofort einen Schlag gegen die Schulter.

»Sie hasst Rotterdam. Und Käse. Ach, wartet … eigentlich hasst sie alles in den Niederlanden«, schiebt Marissa ein und lässt ein paar Einkaufstaschen auf ihr Bett fallen.

»Na ja … hassen würde ich nicht sagen. Aber es wäre nicht das Land meiner Wahl, das muss ich zugeben«, wehrt sich Rachel, die beinahe genauso groß ist wie Adam. Ihre Beine sind die längsten, schlankesten, die ich bei einer Frau je gesehen habe. Dass sie in eng geschnittenen Röhrenjeans stecken, betont das nur noch. Sie lehnt sich gegen die Fensterbank und verschränkt die Arme vor der Brust. Ihr schwarzer Bob legt sich wie ein Vorhang um ihre Wangen.

»Und ob du diese Stadt hasst.« Marissa krabbelt mit dem Kopf voran in ihr Bett und schiebt Adam dadurch ihren Hintern förmlich vor die Nase.

»Tu ich nicht. Und jetzt lass sie endlich antworten.«

»Sorry, ich neige dazu, zu viel zu reden.« Marissa ist fertig mit … keine Ahnung, was sie da eigentlich macht, und setzt sich im Schneidersitz auf ihr Bett. Sie ist klein genug, um sich dabei nicht bücken zu müssen.

Adam neben mir überspielt sein Schmunzeln mit einem Räuspern und sieht dabei zu mir.

»Hm … ich denke, da haben wir unsere erste kleine Gemeinsamkeit«, gebe ich kleinlaut zu.

Mein Beinahe-Cousin oder wie man das nennt, wenn man nicht blutsverwandt ist, hält Zeigefinger und Daumen ein Stück auseinander. Ich zeige ihm im Gegenzug den Mittelfinger, was ihn zum Lachen bringt. Blödmann.

»Also?«, fragt Rachel, die noch immer keine Antwort von uns bekommen hat. Mein Mund öffnet sich. Schließt sich jedoch genauso schnell wieder. Ich kann einfach nicht. Die beiden sind nett, wir teilen uns ab heute ein Zimmer und die Lüge will mir einfach nicht über die Lippen. Mir ist vollkommen klar, wie absurd das ist, weil ich schließlich auch keinerlei Probleme hatte, meine Eltern und Adam anzulügen, aber ich schaffe es einfach nicht, meine ersten Bekanntschaften in der neuen Stadt auf einer Lüge aufzubauen.

»Grace hat hier ein Praktikumsplatz in der Maeslantkering.«

Danke, Adam.

»O wow«, quietscht Marissa, die sich aufrichten will, den Kopf jedoch gleich wieder einzieht, weil sie sich sonst an Rachels Matratze stoßen würde. »Das klingt ja cool. Wir sind vor ein paar Tagen dort gewesen und haben uns das Sperrwerk angesehen. Das ist so krass. Wie viele Menschen dadurch gerettet werden können, wenn der Meeresspiegel steigt. Und das wird er definitiv, denn unsere Gesellschaft …«

Ein Räuspern von Rachel unterbricht sie.

»Sorry. Ich habe es schon wieder getan, oder?« Sie zuckt mit den Schultern, aber ich kann sie nur anstrahlen. Ich mag Marissa.

»Und du begleitest nur deine Freundin oder hast du eigene Pläne?«, fragt Rachel.

»O mein Gott«, rufe ich so laut dazwischen, dass alle Blicke zu mir schießen. Drei Augenpaare starren mich erwartungsvoll an. »Adam ist nicht mein Freund«, gebe ich etwas leiser zu. Die beiden Mädels schauen von Adam zu mir und wieder zurück. Ich folge ihrem Blick und sehe, wie Adams Kieferknochen zucken.

»Da wir das geklärt haben, gehe ich mir dann endlich die Waschräume ansehen. Wir treffen uns dann später«, knurrt er und streift mit der Schulter meine, als er den Raum verlässt.

»Sorry. Wir wollten euch nicht zu nahe treten.« Rachel lässt sich der Länge nach neben Marissa plumpsen und schiebt sich das Kissen unter den Kopf.

»Ist er dein Exfreund oder so?«, will diese wissen.

Ich krabbele auf mein eigenes Bett und ziehe die Knie unters Kinn. Der eklige Gestank ist kaum noch wahrzunehmen und das Zimmer wirkt schon gar nicht mehr so schlimm wie am Anfang.

»Nein«, lache ich. »Wir sind sozusagen verwandt.«

»Verwandt?« Die beiden sehen sich an und lachen synchron los.

»So hat das aber nicht ausgesehen.« Marissa zieht eine Packung Schokoriegel aus einer ihrer Einkaufstüten und macht sich an der Verpackung zu schaffen.

»Sie hat ja auch ›sozusagen verwandt‹ gesagt.« Rachel zeichnet mit den Fingern Anführungsstriche in die Luft.

»Adams Mutter ist meine Patentante«, erkläre ich und fische die Wasserflasche aus meinem Rucksack, die ich mir am Hafen gekauft habe, ehe wir mit dem Taxi auf direktem Weg hergefahren sind.

»Aber nur deine Patentante? Also nicht deine leibliche Tante?«

Marissa reicht mir einen der Riegel und ich beuge mich nach vorne, um ihn anzunehmen. Ich bin am Verhungern.

»Seine Mum und meine sind beste Freundinnen. Und sein Dad ist der beste Freund von meinem Onkel S…«, ich unterbreche mich selbst, »Steve«, schwindle ich. Diese Lüge ist unumgänglich. Darüber waren wir uns alle einig. Einen Star in der Familie zu haben hat nicht nur Vorteile. Fußballstar ist nicht das Gleiche wie Schauspieler oder so. Allerdings kennt jeder, der auch nur Augen und Ohren im Kopf hat, Scott Peterson. David Beckham kannten zu seiner Zeit schließlich auch alle.

»Aber deswegen seid ihr doch nicht verwandt, Schätzchen.«

Ich kenne diese Frauen seit fünf Minuten und schon habe ich das Gefühl, ich habe Freundinnen gefunden. Ich würde ihnen am liebsten hier und jetzt meine Lebensgeschichte erzählen.

»Ich sag dir was.« Marissa grinst über das ganze Gesicht. »Du und dieser megaheiße Kerl, der gerade nicht hören wollte, dass er nicht dein Freund ist, ihr seid so was von nicht verwandt.« Sie zwinkert Rachel zu und auch sie schmunzelt.

Ich blicke zur Tür, an der einige abgewetzte Aufkleber hängen. Adam hat sie einen Spalt breit offen gelassen.

Meine neuen Freundinnen täuschen sich. Erstens ist Adam Stevens nicht heiß. Zweitens ist ihm in der Regel völlig egal, was ich über ihn sage. Und drittens sind wir so was von auf jeden Fall verwandt, dass Punkt eins und zwei überhaupt keine Relevanz haben. Er und ich, wir sind einfach Grace und Adam. Auf einer Reise in Rotterdam, die für uns beide vollkommen ziel- und sinnlos ist. Die nächsten Wochen werden kommen, ob ich will oder nicht.

Kapitel 3

»Aber wenn ich es doch sage«, lacht Marissa und steckt eine Strähne zurück in ihren Dutt, die sich gelöst hat. Sie sitzt im Schneidersitz auf einem abgewetzten Sofa, das entweder uralt oder ein superteures Designerstück ist. Ich tippe mal auf Letzteres.

»Denkst du, du machst keine Geräusche beim Schlafen? Ich habe letzte Nacht geglaubt, die Wände stürzen ein.« Jan, ein sympathischer Franzose, liefert sich einen Schlagabtausch nach dem anderen mit meiner neuer Bettnachbarin. Sein Englisch klingt, als hätte er schon zu viel getrunken, dabei hält er sich an Wasser und Orangensaft. Wir haben ihn und seine Begleitung vor einer halben Stunde kennengelernt. Sie waren mir gleich sympathisch. Jan hat blonde, strohige Haare, die er an seinem Hinterkopf zu einem wirren Knoten gebunden hat. Ich mag sein Lächeln. Trotz seines Vollbartes strahlt sein ganzes Gesicht, wenn er die Mundwinkel hebt.

»Also, für den Fall, dass ihr keine Ohrstöpsel dabeihabt, solltet ihr auf jeden Fall genug trinken«, wendet sich Rachel an Adam und mich. Wir sind beide auffallend still. Zumindest in meinem Fall kann man von auffallend sprechen. Von Adam bin ich es nicht anders gewohnt.

Wir haben es uns leicht gemacht und sitzen schon zwei Stunden nach unserer Ankunft in der Bar des Hostels. Der bunt eingerichtete Raum ist nicht besonders hübsch, die Getränkeauswahl ist dürftig, trotzdem sehen alle zufrieden aus. Hier wird getrunken, geredet und jeder scheint irgendwie jeden zu kennen. Manche spielen Billard. Ein paar lungern auf Sitzsäcken und reichen eine Wasserpfeife herum.

Entlang der großen Fensterfront stehen mehrere Tische mit Sofas und kleinen Sessel davor. Unserer ist der direkt neben der Bar.

Wir beantworten brav die Standardfragen: »Wo kommt ihr her?«, »Wie heißt ihr?«, »Was macht ihr in Rotterdam?« und stellen dafür die passenden Gegenfragen.

Zum ersten Mal seit Wochen bin ich froh, dass meine Eltern mir Adam ans Bein gebunden haben. Eine vertraute Person dabeizuhaben macht es wesentlich leichter, zwischen all den fremden Menschen zu sitzen. Nicht dass ich scheu wäre, nur stellen sie so viele Fragen, auf die ich einfach keine Antworten habe. Möglichst unauffällig beantworte ich die Basics und greife im richtigen Moment zu meinem Glas oder den Chips, sodass Adam bei den Berufs- und Hobbyfragen einspringen muss.

»Na dann, Prost«, sage ich in die Runde und kippe meinen zweiten Shot runter. Ganz von allein verzieht sich mein Mund zu einer Grimasse. Eklig. Ich bin eigentlich kein Freund harter Sachen. Das ist eine Ausnahme, um meine blank liegenden Nerven zu beruhigen. Die ganzen neuen Eindrücke. Dieses Hostel und dann mein kleines Problem, dass ich nur noch morgen Zeit habe, um mir etwas einfallen zu lassen. Ich habe nämlich noch immer nicht die geringste Ahnung, wie ich Adam erklären soll, dass wir objektiv betrachtet umsonst hier sind.

Dieser sieht mich mit ernster Miene an, leert dann aber, ohne das Gesicht zu verziehen, sein eigenes Glas.

»Ihr werdet sehen, es ist halb so schlimm.« Diana wuschelt Jan über den Kopf. »Ich halte es jetzt schon eine ganze Weile mit ihm aus.«

Wie wir erfahren haben, sind Diana und Jan bereits seit zehn Monaten unterwegs. Er hat sie irgendwo aufgegabelt. Keine Ahnung, wo das war. Ich kann all die Informationen, mit denen hier um sich geworfen wird, nicht so schnell verarbeiten. Schon gar nicht nach zwei Shots und drei Bier. Jedenfalls reisen die beiden Franzosen seitdem gemeinsam in seinem Camper durch die Welt. Die beiden schlafen in dem Bett neben Rachel und Marissa. Unsere drei Betten füllen die Längsseite des Zimmers aus.

»Und sonst müsst ihr einfach ein Kissen werfen. Das machen die Engländer auch immer.«

»Die Engländer?«, fragt Adam, während die anderen kichern. Die drei Mädels hatten auch schon den ein oder anderen Schnaps. Bei jedem Wort von Adam kleben sie an seinen Lippen, als gäbe es nur ihn auf der Welt.

»Das vierte Bett.« Marissa schiebt sich eine Handvoll Smarties in den Mund. Kauend presst sie hervor: »Zwei Jungs aus Manchester.«

Von der Sitzgruppe neben uns dringt Gelächter herüber und übertönt für den Moment alle Geräusche in dem schummrigen Raum.

»Die gehen schon wieder steil«, motzt Rachel und schiebt sich ebenfalls Süßigkeiten zwischen die Lippen. Ihre Augen sprühen beinahe Funken, während sie die Mädels taxiert, die bei so ziemlich jedem Wort eine Oktave höher kreischen.

»Amerikanerinnen«, erklärt Jan auf meinen fragenden Blick hin. »Sie wohnen im Zimmer neben uns. Irgendeine Abschiedsfahrt.«

»Abschlussfahrt«, korrigiert Diana sein holpriges Englisch. Ihres ist beinahe akzentfrei. »Sie haben die Highschool abgeschlossen und lassen hier die Sau raus.«

»Nur weil sie in ihrem Land noch als Babys gelten, müssen sie sich hier nicht jeden Abend die Kante geben.« Rachel schüttelt den Kopf, nippt aber im selben Augenblick an ihrem eigenen Bier, was mich schmunzeln lässt. Ich weiß nicht, wie alt sie ist. Doch sie und Marissa dürften nicht älter als fünfundzwanzig sein.

»In Amerika darf man erst ab einundzwanzig«, flüstert Adam mir dicht ins Ohr. Als er ein Stück abrückt, zwinkert er mir zu, was er noch nie zuvor getan hat. Jedenfalls nicht so. Mit diesem Funkeln in den Augen. Das Bier lockt wohl den Schelm in ihm hervor. Dafür fängt er sich einen Boxer gegen die Schulter. Er zuckt nicht mal zusammen.

»Und die Jungs aus Manchester? Was machen die hier?«

Mittlerweile wissen wir, dass Rachel und Marissa einfach einen ausgedehnten Europaurlaub machen. Sie haben bereits eine Rucksacktour durch Frankreich, die Schweiz und Belgien hinter sich. Rotterdam ist ihre letzte Etappe, bevor sie in einer Woche wieder Richtung Schottland aufbrechen.

»Die sind ganz okay«, antwortet Marissa.

Jan schnaubt auffallend laut.

»Nicht?«, frage ich. Meine Wangen glühen vom Alkohol. Ganz sicher werde ich ihn heute Nacht nicht schnarchen hören.

»Wenn unter ›okay‹ fällt, dass sie nur hier sind, um legal Drogen zu nehmen und Mädchen abzuschleppen, dann sind sie wohl okay.«

Der Franzose streicht sich über den wuschigen Bart. Die drei Mädels an unserem Tisch werfen sich vielsagende Blicke zu und Marissa formt mit den Lippen das Wort »heiß«. Wie wir anschließend die Köpfe zusammenstecken und kichern, erinnert mich an frühere Klassenfahrten. An dieses Gefühl, unbekümmert ohne Aufsicht zu feiern und mit den Jungs im Schlafsaal zu übernachten. Nostalgische Erinnerungen, in denen alles noch so einfach war. Zwar ist die Geselligkeit dieselbe, aber ich schmecke meine Unzufriedenheit auf der Zunge. Denn im Grunde genommen gehöre ich nicht hierher. Alle an diesem Tisch studieren was bahnbrechend Weltveränderndes oder sind ganz einfach gewollt ziellos. Ich hingegen irre in der Welt herum und verlasse das Land, nur weil ich für die Wahrheit zu feige war.

Rachel kommt mit einer neuen Runde Shots zurück und ich greife direkt zu einem Glas. Heute Abend werde ich meine Hilflosigkeit für ein paar Stunden ausblenden. Die Realität wird mich schon früh genug einholen, so viel ist sicher.

»Und ihr seid kein Paar?«, unterbreche ich eine Unterhaltung von Jan und Adam. Der Franzose erzählt ihm gerade von seinem Frühling in Russland. Er ist mit Diana zwei Monate durchs Land gereist. Die beiden wollen die ganze Welt erkunden und haben nicht geplant so schnell wieder sesshaft zu werden.

»Nein«, schmunzelt Jan und lächelt dabei Diana an. »Nicht dass wir es nicht versucht hätten.«

»Ihn zu küssen ist, als würde ich was mit meinem Bruder haben«, gluckst Diana und verzieht ihren Mund, als müsste sie würgen.

»Aber trotzdem bleibt ihr zusammen?«, hake ich nach. Adams Stöhnen entgeht mir nicht und ich werfe ihm einen zornigen Blick zu. Dabei hebe ich die Arme, als wollte ich sagen: »Was?«

»Wir sind einfach ein gutes Team.« Jan legt einen Arm und Diana und gibt ihr einen Kuss auf die Wange. »Nur halt nicht auf diese Weise.«

Ich befürchte, mein Alkoholpegel macht es mir unmöglich, sie nicht anzustarren. Ich finde das so faszinierend, wie zielstrebig manche Menschen auch ohne Ziel leben können. Das ist beneidenswert.

»Wegen uns braucht ihr also keine Befürchtungen zu haben. Alles, was aus unserem Bett zu hören ist, ist Schnarchen.« Diana klopft Jan aufs Knie.

»Das stimmt. Wir sind nicht die Turteltauben in Zimmer 003.« Jan wirft eine Erdnuss auf Rachel und Marissa, die zusammengequetscht auf einem Sessel hocken.

»Moment mal«, sage ich und merke, dass meine Stimme schon leicht lallend klingt. Mein Blick fällt erst jetzt auf ihre Hände, die miteinander verflochten sind. »Ihr seid ein Paar?«, platzt es unkontrolliert aus mir heraus. Wie konnte mir das entgehen? Wir haben immerhin die letzten Stunden zusammen in unserem Zimmer verbracht.

»Grace«, warnt Adam neben mir. Ich sehe von einem zum anderen und merke erst jetzt, dass ich immer noch einen entsetzten Gesichtsausdruck zum Besten gebe.

»Scheiße.« Nein, das war nicht, was ich sagen wollte. »Nein. Ich meine …«, stottere ich, »das ist toll. Ehrlich.« Ich knibbele an dem Etikett meiner Flasche. Ich hasse, wenn mich alle falsch verstehen. Oder vielmehr hasse ich mich, weil ich immer so Sachen sage, die alle mich falsch verstehen lassen. »Ich freue mich für euch. Mir ist das nur irgendwie entgangen und jetzt bin ich überrascht. Weil. Hä? Hast du nicht gesagt, du findest die Engländer heiß und …« In die Gesichter der anderen zu sehen macht es irgendwie nicht einfacher, zum Punkt zu kommen. »… Also. Ich find’s toll. Ehrlich. Ich bin nicht homophob oder so.« Ich wende mich vor allem an Adam, der bei meinem Blick nur mit den Augen rollt. Sein Kopfschütteln ist mir auch vorher schon nicht entgangen. »Ehrlich nicht. Ich find’s toll. Wirklich.« Mein Dad sagt immer, wenn man zu oft behauptet an etwas zu glauben, glaubt man selbst nicht daran. Ahhh … Das sollen sie auf keinen Fall denken. »Also …« Ich räuspere mich. Warum sagt denn keiner außer mir etwas? »Um ehrlich zu sein, wollte ich auch immer mal was mit einer Frau haben.« Bevor ich die Worte zurückhalten kann, sprudeln sie auch schon heraus. Synchron mit meinen Worten spritzt das Heineken aus Adams Mund und Nase, der während meines Monologs zum Trinken angesetzt hatte.

Rachel und Marissa blicken zwischen ihm und mir hin und her und brechen dann in Gelächter aus.

»Schön, dass wir darüber gesprochen haben, Grace«, lacht Rachel und hält mir ihre Flasche hin. Ich stoße wie ferngesteuert mit meiner dagegen und nehme einen großen Schluck, der hoffentlich meine Verlegenheit mit wegspült. Ich bin eine Idiotin. Schüchtern lächle ich die Mädels an, während Adam auf Knien versucht sein Bier mit einer zerfetzten Serviette aufzuwischen. Dabei sieht er mich immer wieder kopfschüttelnd an. Allerdings entgeht mir nicht, dass seine Mundwinkel zucken, als müsste er sich ein Lachen verkneifen. Er kennt meine Unfähigkeit, auf den Punkt zu bringen, was ich denke.

»Ich sollte noch eine Runde Shots besorgen«, sagt er, als er wieder auf den Füßen ist.

»Und?«, meint Marissa, die sich neben mich plumpsen lässt. Wir sehen beide Adam nach, der mit langen Beinen an die Bar schlendert. Eine hübsche Blondine stellt sich neben ihn. Sie wechseln ein paar Worte und dann reichen sie sich die Hand. »Du bist wirklich sicher, dass ihr verwandt seid?« Sie stupst mich mit der Schulter an und lacht. Wahrscheinlich bin ich endgültig zu betrunken, um zu verstehen, was sie mir damit sagen will.

***

Zwanzig. Zwanzig platt gedrückte Kaugummis kleben an dem Gestänge, auf dem Adams Matratze liegt. Ich hasse Kaugummis. Und dass sie angedrückt nur einen Meter über mir hängen, macht meine Übelkeit nur noch unerträglicher. Ein fieser Kopfschmerz hat mich vor einer halben Stunde geweckt und die Tatsache, dass ich in dem Raum ganz und gar nicht allein bin, hat das Wiedereinschlafen unmöglich gemacht.

Sonntag. Heute ist der letzte Tag, um Adam die Wahrheit zu beichten. Er denkt nach wie vor, ich müsste morgen früh auf Professor Hagedorns Matte stehen. Wie das klebrige Kauzeug haftet mein Blick an der Unterseite von Adams Matratze. Sie hat sich noch nicht bewegt, seit ich wach bin. Auch sonst kann ich nichts und niemanden hören, traue mich aber auch nicht wirklich den Kopf zur Seite zu drehen und die anderen anzusehen. Mit fremden Menschen in einem Zimmer zu schlafen ist ein eigenartiges Gefühl. Fremd. Ich kann mich einfach nicht entspannen. Offensichtlich hatte ich letzte Nacht damit keine Schwierigkeiten. Meine Erinnerungen an die Zeit nach unserem Barbesuch sind äußerst schwammig. Ich habe ehrlich gesagt nicht die geringste Ahnung, wie ich ins Bett gekommen bin. Spüre aber noch den Stoff meiner Lieblingsjeans an den Beinen. War ich wirklich zu betrunken, um mich auszuziehen? Ob die heißen Engländer in ihrem Bett liegen? Zu der Zeit, als ich noch nüchtern genug gewesen bin, sind sie jedenfalls nicht aufgetaucht.

»Zu viel grübeln macht Falten«, flüstert eine Stimme neben mir.

Mein Kopf schießt herum, was ich sofort bereue, weil das Stechen in meinen Schläfen übermenschlich stark wird.

»Hey«, flüstere ich mit verzerrtem Gesicht und rauer Stimme. Wow. Ich weiß nicht, wann ich das letzte Mal einen derart ekligen Kater an Bord hatte. Marissa liegt zusammengekuschelt auf der Seite und lächelt mich an.

»Fieser Kater, hm?«