Helen Vreeswijk

Die Party-
Pille

Übersetzung aus dem Niederländischen
von Sandra Knuffinke und Jessika Komina

Inhalt

Cover

Titel

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1 – Eine drückende Stille …

Kapitel 2 – Ein Roller hielt …

Kapitel 3 – Freitagabend gegen halb …

Kapitel 4 – Joop hatte gerade …

Kapitel 5 – »Es ist wirklich …

Kapitel 6 – Erik hatte schon …

Kapitel 7 – »Was machst du …

Kapitel 8 – Der Fahrer manövrierte …

Kapitel 9 – Mit schleifender Kupplung …

Kapitel 10 – Der Klingelton des …

Kapitel 11 – Sanne hatte die …

Kapitel 12 – Auf den vier …

Kapitel 13 – Es hörte genau …

Kapitel 14 – »Sanne, eine Fünf …

Kapitel 15 – »Mir fehlen fünf …

Kapitel 16 – Idde hatte sich …

Kapitel 17 – Das Ecstasy wirkte …

Kapitel 18 – Gopal hatte seinen …

Kapitel 19 – Während er sein …

Kapitel 20 – Jeffrey ließ sich …

Kapitel 21 – Jeffrey lag in …

Kapitel 22 – Bart schob seine …

Kapitel 23 – Das Handy lag …

Kapitel 24 – Sie befassten sich …

Kapitel 25 – Kommissarin de Main …

Kapitel 26 – Joop hatte die …

Kapitel 27 – Am nächsten Morgen …

Kapitel 28 – Vom Badezimmer aus …

Kapitel 29 – Der Regen hatte …

Kapitel 30 – Am Samstagnachmittag fing …

Kapitel 31 – Die Zahl der …

Kapitel 32 – Die E-Gitarre kreischte …

Kapitel 33 – Man hatte sie …

Kapitel 34 – Montagmorgen saß Van …

Kapitel 35 – Dienstag, 5:37 Uhr …

Kapitel 36 – Die Männer mit …

Kapitel 37 – De Main und …

Kapitel 38 – Die Trauerfeier war …

Alle Titel von Helen Vreeswijk im Loewe Verlag

Über die Autorin

Weitere Infos

Impressum

1

Eine drückende Stille lag über dem Saal. Ganz vorne saßen die Eltern, gramgebeugt und schwer aufeinandergestützt. Vor dem Altar stand der Mahagonisarg, auf dem sich Blumen und Kränze türmten. Zwischen all den Blumen steckte das Foto, das ein fröhliches Gesicht mit strahlenden Augen zeigte.

Das Weinen der Eltern zerriss allen das Herz. Der Tod war etwas so Endgültiges, so schwer zu begreifen. Emma saß mit gesenktem Kopf in der ersten Reihe, zwischen Leuten, die sie kaum kannte. Die tröstenden Worte des Pfarrers drangen nicht zu ihr durch. Sie war zu tief versunken in ihrem Schmerz und ihren Schuldgefühlen, die von Tag zu Tag stärker wurden. Es hatte bestimmt zehn Minuten gedauert, bis … Ein Kampf ums Überleben. Vergeblich. Der Tod war etwas Schreckliches.

Jedes Mal, wenn ihr Blick das Foto streifte, kamen ihr die Tränen und sie spürte einen stechenden Schmerz in der Brust. Am liebsten hätte sie sich von ihrem Vater in den Arm nehmen und trösten lassen, aber ihr schlechtes Gewissen hielt sie zurück. Beide hatten sie ihn enttäuscht, Sanne und sie. Und dabei hätte sie Sanne doch beschützen müssen.

Ihr Blick wanderte suchend durch die Reihen. Sie fühlte sich so allein. Die Kirche war voll, aber ihre Clique war nicht da, nicht vollständig. Sie waren nur zu zweit. Zwei von fünf Leuten. Wo waren ihre angeblichen Freunde jetzt?

Emma schluckte und versuchte, die furchtbaren Bilder jenes Abends aus ihrem Kopf zu verbannen. Die Panik, die letzten Zuckungen. Die roten glasigen Augen, die sie anstarrten, aber nicht sahen. Sie waren irgendwo anders, weit weg. Wie hatten sie bloß alle so dumm sein können? Warum hatten sie nach der ersten Warnung nicht einfach aufgehört? So viel Leid … Und warum? Wozu? Das fragte sie sich immer wieder und fand doch keine Antwort darauf. Der Pfarrer hatte seine Rede beendet. Er steckte seine Notizen weg und ließ den Blick über die Trauergemeinde schweifen, während aus den Lautsprechern an der Wand Musik ertönte: You’ll never walk alone. Emma fing an zu weinen und sah erschüttert zu, wie der Sarg aus der Kirche getragen wurde. Ihr Vater legte ihr tröstend die Hand aufs Bein, als wollte er sagen, es sei nicht ihre Schuld. Aber was wusste er denn schon? Sie alle waren schuld.

2

Ein Roller hielt auf der Straße. Idde sprang vom Rücksitz und überquerte die Fahrbahn. Auf halber Strecke blieb er stehen und zog sich den Helm vom Kopf. Flüchtig sah er sich nach dem Fahrer des Rollers um, der auf der anderen Straßenseite auf ihn wartete. Bart drehte ungeduldig am Gashebel und bedeutete ihm, endlich an der Tür zu klingeln. Unschlüssig starrte Idde auf den goldenen Klingelknopf. J. Sneeks stand in schwarzen Buchstaben auf dem Namensschild.

Die Adresse war in dem Städtchen mit seinen gerade mal sechstausend Einwohnern allgemein bekannt. Jeder sprach über das »Knusperhäuschen« in der Kerkstraat, wo Joop Sneeks wohnte. Dort konnte man angeblich alles Mögliche kaufen: Pillen, Joints, Drogen in flüssiger und in Pulverform.

Und wenn das nun alles nur dummes Gerede war? Joop war bekannt für seine lockeren Fäuste. Was, wenn er gar nichts mit Drogen am Hut hatte?

Widerstrebend drückte Idde auf die Klingel des »Knusperhäuschens« und wartete nervös. Er hörte, wie hohe Absätze über einen gefliesten Boden klapperten. Die Gardine bewegte sich und ein Riegel wurde zurückgeschoben. Eine blonde Frau um die dreißig öffnete die Tür. Gelangweilt zog sie an ihrer Zigarette, hielt den Rauch ein paar Sekunden lang im Mund und fragte dann unfreundlich, was er wolle.

»Ich wollte Gras kaufen«, stammelte Idde und streckte ihr das Geld hin.

Sie blickte auf das Geld in seiner Hand, dann in sein blasses Gesicht. Die Zigarette zwischen die knallrot geschminkten Lippen geklemmt, sah sie über seinen Kopf hinweg auf die Straße, wo Bart mit seinem Roller wartete. Mit einer Kopfbewegung bedeutete sie ihm hereinzukommen und schlug dann die Tür hinter ihm zu. Verloren stand er im Flur und wartete darauf, dass sie etwas sagte.

»Füße abputzen«, befahl sie und sah zu, wie er mit den Schuhsohlen über die Kokosmatte schrubbte. »Na gut, dann komm.« Sie lief den Flur entlang und öffnete die Tür zum Wohnzimmer. Ein kleiner Junge, ungefähr sechs Jahre alt, stellte sich ihnen in den Weg. Er hatte eine Spielzeugpistole in der Hand und zielte auf sie. Grob schubste sie ihn zur Seite, woraufhin er lauthals zu weinen anfing.

Idde folgte ihr ins Wohnzimmer, blieb stehen und sah sich unsicher um. Der Raum strahlte nicht gerade viel Gemütlichkeit aus. Die Wände waren weiß getüncht und der Boden weiß gefliest. Rund um den schwarzen Esstisch standen Stühle mit weißen Baumwollhussen. Sogar die Pflanzen auf der Fensterbank waren aus weißem Plastik und standen in glänzenden schwarzen Übertöpfen. Der riesige Plasmafernseher neben der Terrassentür fiel sofort ins Auge. Er war eingeschaltet und der Lärm hallte durch das ganze Wohnzimmer. Schließlich entdeckte Idde Joop, der wie ein gestrandetes Walross auf der schwarzen Ledercouch lag und die Fernbedienung locker in der Hand hielt. Idde bemühte sich um ein Lächeln, das ihm jedoch nur leidlich gelang.

»Jetzt stell die Kiste doch mal leiser«, zeterte die Frau verärgert in Richtung Couch und griff nach dem Aschenbecher auf dem schwarzen Esstisch.

Die Wurstfinger drückten auf der Fernbedienung herum und der Lärm brach ab.

»Der will was kaufen«, sagte die Frau und verschwand mit dem vollen Aschenbecher in der Küche.

Idde sah zu, wie die Tür mit einem Knall ins Schloss fiel, und biss sich auf die Unterlippe. Da stand er nun, ganz allein in der Höhle des Löwen. Er überlegte ernsthaft, wieder abzuhauen. Dieser Koloss auf der Couch würde ihn doch nie einholen. In dem Moment kam der plumpe Körper in Bewegung und erhob sich mühevoll.

»Was gibt’s, Kleiner?«, brummte Joop.

Der Junge blinzelte. Der Oberarm dieses Mannes war so dick wie seine zwei Oberschenkel zusammen. Und unter dem T-Shirt quoll ein gewaltiger Bauch hervor, der Idde an Wackelpudding denken ließ.

»Äh … tja …« Idde versuchte, sich zusammenzureißen. »Ich möchte gern Marihuana kaufen«, brachte er mit ungewohnt heiserer Stimme hervor.

Endlich stand der Mann auf. Er zog seine Jogginghose hoch und lief zu einem schwarzlackierten Schrank.

»Wie viel?«

»Für fünfzehn Euro.« Idde streckte die Hand mit dem Geld aus und lächelte das Walross schief an. »Mehr hab ich nicht.«

Idde ließ die mittlerweile feuchten Münzen in die Hand des Mannes klimpern, der nach einem prüfenden Blick darauf die Schranktür öffnete.

»Bitte schön!« Er warf Idde drei Tütchen zu, die dieser unbeholfen auffing. Sie waren mit einem Streifen Klebefilm verschlossen und enthielten eine Art grünes verdorrt aussehendes Kraut. Idde betrachtete es zweifelnd. Das war also das Zeug, um das alle so viel Aufhebens machten? Es sah eher aus wie Unkraut und vielleicht war es auch nichts anderes. Vielleicht haute der Mann sie übers Ohr und dann hatten sie ihr Geld für nichts rausgeschmissen. Die Frau kam zurück ins Wohnzimmer, stellte den Aschenbecher wieder auf den Tisch und wischte mit einem feuchten Lappen über die Tischplatte.

»Bist du nicht eins von den Hendriks-Kindern aus der Kuiperstraat?«, wollte Joop wissen.

Idde nickte und stopfte sich die Tütchen in die Hosentasche.

Joops kleine Schweinsäuglein musterten ihn von oben bis unten. »Arbeitet dein Vater nicht als Mechaniker bei Vonk? Und du hast zwei ältere Schwestern, oder?«

Wieder nickte Idde. In der Stadt gab es nur zwei Autowerkstätten und sein Vater war schon seit dreißig Jahren bei der größeren von beiden angestellt. Fast jeder aus der Gegend brachte sein Auto dorthin. So ein Mist!

»Wie heißt du denn?«

»Idde«, antwortete er zögerlich. Jetzt wussten sie, wie er hieß. Was, wenn der Kerl jetzt überall rumposaunte, dass er Drogen bei ihm gekauft hatte? Er bereute es schon, sich überhaupt auf diese blöde Idee eingelassen zu haben. Das Risiko war zu groß, das war ihm jetzt klar.

»Hast zwei hübsche Schwestern«, sagte Joop anerkennend und bekam im nächsten Moment einen nassen Lappen ins Gesicht geworfen.

»Du bist ein Ekel, ein notgeiles Schwein und sonst nichts«, schimpfte die Frau. »Immer nur andere Weiber im Kopf! Bin ich dir nicht mehr gut genug?« Aufgebracht ordnete sie die Sofakissen.

Betont gleichgültig starrte Idde auf die Bilder im lautlos laufenden Fernseher und tat so, als hätte er das Gekeife der Frau gar nicht gehört. Er überlegte, wie er dieses Irrenhaus so schnell wie möglich verlassen konnte.

»Was stehst du da noch rum? Willst du vielleicht Wurzeln schlagen?«, fuhr die Frau ihn plötzlich an. »Hau endlich ab!« Sie wies in Richtung Tür.

Erleichtert, dass er endlich gehen konnte, stürmte Idde aus dem Haus.

3

Freitagabend gegen halb neun traf sich die Clique in der Scheune. Die Tür ihres Verstecks hatten sie von innen verriegelt und das einzige Fenster mit einem Laken verhängt. Sie standen rund um den wackligen Tisch, auf dem das Marihuana lag, und beäugten nervös die Plastiktütchen. Das war es also. Und was jetzt? Keiner aus der Clique hatte schon mal gekifft. Wie viel Gramm brauchte man denn für einen Joint? Und wie viele Joints konnte man aus drei Gramm Marihuana drehen? Sie hatten keine Ahnung.

»Und was machen wir jetzt damit?«, fragte Sanne endlich. Bart und Idde zuckten mit den Schultern und sahen erwartungsvoll zu Gopal hinüber. Das Ganze war schließlich seine Idee gewesen, aber auch er starrte unschlüssig auf die Tütchen.

»Gut«, fasste Emma zusammen. »Wir haben also keinen Schimmer, was wir jetzt damit anfangen sollen. Das haben wir ja schlau angepackt.«

»Wir könnten doch einfach jemanden fragen«, schlug Gopal vor, der sich nun auch ein bisschen blöd vorkam.

»Ja, klar«, rief Emma verächtlich. »Wen denn bitte? Wir sollten vielleicht ein bisschen vorsichtig sein, damit sich nicht überall herumspricht, was wir hier vorhaben. Wenn unsere Eltern das hören!«

Emma und Sanne waren sechzehn Jahre alt und zweieiige Zwillinge. Sanne war blond und ein kleines bisschen kräftiger gebaut als ihre Schwester. Emma hatte halblange dunkelbraune Haare und war fünf Zentimeter größer als Sanne. Sie bestimmte gern alles und war manchmal ein richtiger Hitzkopf, was Sanne ziemlich auf die Palme brachte. Nichtsdestotrotz waren sie unzertrennlich.

»Wir müssen eben jemanden finden, der auch kifft«, meinte Erik. »Und dafür geben wir ihm ein bisschen was von unserem Gras ab. So einer würde das garantiert nicht rumposaunen, damit würde er sich ja dann selbst verraten.«

»Klingt doch nach einem guten Plan. So machen wir’s«, nickte Gopal. »Also, wen könnten wir fragen?« Er sah in die Runde.

»Wie wär’s denn mit Pim?«, schlug Erik vor. »Pim Verhoeven. Ich weiß, dass er kifft, das hat er mir selbst erzählt. Außerdem ist Pim dauerpleite, wenn wir dem also was von unserem Gras anbieten …«

»Ob das so ’ne gute Idee ist?« Bart runzelte die Stirn. »In letzter Zeit hängt Pim immer mit ziemlich üblen Leuten rum. Mir kommt der irgendwie ganz schön zwielichtig vor.«

»Ach, Quatsch«, widersprach Idde. »Der würde uns auf jeden Fall nie verraten.«

»Er muss ja nicht gleich unser bester Freund werden. Kann uns doch egal sein, mit wem er rumhängt. Er soll uns doch nur einen Gefallen tun«, sagte Gopal und die anderen stimmten ihm zu.

Sie hatten sich mit Pim im Rocko’s verabredet. Inzwischen war es Viertel nach zehn und die Clique saß bereits vor ihrer zweiten Runde Getränke. Langsam wurden sie nervös von der Warterei. Idde und Bart waren davon überzeugt, dass die beiden nicht mehr auftauchen würden, und begannen schon, über einen neuen Plan nachzudenken.

»Schaut mal, da ist Feline. Die könnten wir doch fragen. Ich weiß, dass sie ab und zu kifft«, rief Bart aufgeregt.

»Dann weiß gleich der ganze Laden, dass wir Gras dabeihaben«, protestierte Emma.

Sanne nickte bekräftigend. »Der kann man nicht vertrauen, das ist so eine Tratschtante.«

»Was ist denn mit Geert?«, sagte Gopal und nickte in Richtung eines Jungen an der Bar.

»Kifft der denn überhaupt?«, fragte Erik mit gedämpfter Stimme. »Oder Mustafa?« Nein, der kiffte nicht. »Felix?«

»Da ist er!«, zischte Idde den anderen zu.

Pim stand in der Tür und strich sich mit einer lässigen Geste das Haar zurück. Er bahnte sich einen Weg durch die Menge und ein massiger Typ, der schon um die fünfundzwanzig sein musste, folgte ihm. Vor ihrem Tisch blieben sie stehen und musterten die Gruppe abschätzig.

»Das ist Stijn, ein Kumpel aus dem Sportverein«, stellte Pim seinen Freund vor. Die Gruppe nickte zur Begrüßung. »Also, habt ihr’s dabei?«, fragte Pim verschwörerisch und ließ sich auf einen freien Stuhl fallen.

Erik nickte, aber Emma kam ihm zuvor.

»Ihr seid zu spät«, bemerkte sie ärgerlich und sah demonstrativ auf ihre Uhr.

»Na und?«, erwiderte Pim amüsiert und schien kein bisschen beeindruckt von ihrem Vorwurf. »Jetzt sind wir doch da, oder? Aber wir können auch wieder gehen, wenn ihr wollt.«

Gopal warf Emma einen warnenden Blick zu. Das war nicht der richtige Moment, um Streit anzufangen.

»Ja, wir haben es dabei«, sagte Gopal schnell.

»Dann zeigt mal her.«

»Hier?« Barts Stimme überschlug sich und er sah panisch in die Runde. »Hast du sie noch alle? Die Hälfte der Leute, die hier rumlaufen, sind auf meiner Schule. Muss ja nicht gleich jeder mitkriegen.«

»Dann gehen wir halt nach draußen«, schlug Stijn vor und sprang auf.

Ohne auf die Zustimmung der anderen zu warten, marschierte er auf den Ausgang zu. Pim grinste breit und wies die Clique mit einer Kopfbewegung an, seinem Kumpel zu folgen.

Stijn wartete schon im Fahrradschuppen auf der Rückseite des Gebäudes und winkte ungeduldig. Auf dem Boden hatte er zwei saubere Servietten ausgebreitet, die im Dunkeln weiß leuchteten. Er zog ein Päckchen Tabak aus der Innentasche seiner Jacke und schüttete den Inhalt auf die Servietten. Dann streckte er ungeduldig die Hand aus und wedelte mit den Fingern. »Na los, wo bleibt denn das Gras, Jungs?«

Hastig kramte Gopal die Tütchen hervor und legte sie mit einem entschuldigenden Lächeln in Stijns Hand. Dieser riss eins nach dem anderen mit einem Ruck auf und vermischte den Inhalt mit dem Tabakhaufen. Dann stopfte er das braune Gemisch zurück in die Tabakpackung.

»Das sind ungefähr drei Gramm Gras. Damit kann Stijn vier Joints drehen«, erklärte Pim. »Stimmt doch, oder, Stijn?«

»Ich drehe jetzt drei für euch, unseren bewahre ich für später auf«, sagte Stijn und grinste in Pims Richtung.

Stijn zog extralanges Zigarettenpapier aus der Tasche und drehte rasch die drei versprochenen Joints. Den Rest des Tabaks ließ er in seiner Jackentasche verschwinden. Einen Joint behielt er in der Hand und zündete ihn mit einem Streichholz an. Die Spitze glühte auf und Stijn inhalierte tief. Nach einem zweiten Zug reichte er den Joint an Erik weiter. Der beäugte ihn etwas unsicher, spitzte aber dann die Lippen und sog den Rauch ein. Sofort wurde er von einem Hustenanfall geschüttelt. Keuchend und prustend drückte er den Joint Sanne in die Hand, die ihn mit einigem Widerwillen entgegennahm. Die Vorstellung, dass jeder an diesem Ding rumnuckeln würde, fand sie ziemlich eklig. Sie sah ihre Schwester an, während sie langsam den Rauch einatmete. Ein unangenehmes Gefühl breitete sich in ihrem Körper aus, sie verzog das Gesicht und gab den Joint weiter.

»Die Wirkung eines Joints hält so ungefähr zwei bis drei Stunden an«, dozierte Pim. »Marihuana ist eine weiche Droge, also ganz nett, um entspannt in den Abend zu starten. Wenn euch das nicht reicht, müsst ihr was Stärkeres nehmen.«

»Was denn zum Beispiel?«, wollte Erik wissen.

»Na, ’ne Pille, Speed oder GHB.«

»GHB?«, wiederholte Emma misstrauisch. »Was ist das denn?«

»Das mischst du in dein Getränk, ziemlich krasses Zeug«, antwortete Pim mit Kennermiene. »Ist aber echt heftiger Stoff, die Wirkung setzt schon nach ein paar Minuten ein.«

»Man wird extrem geil davon«, ergänzte Stijn und zwinkerte Sanne vielsagend zu.

Sanne wurde knallrot. Sie verschluckte sich und sah schnell in eine andere Richtung. Sie hatte das Verlangen in seinen Augen gesehen und fühlte sich geschmeichelt. Unauffällig musterte sie ihn: seine breiten Schultern, das kantige Gesicht und die millimeterkurz geschorenen Haare. Er war überhaupt nicht ihr Typ, aber irgendetwas faszinierte sie an ihm. Auf jeden Fall war er ganz anders als die Jungen in ihrer Klasse.

»GHB ist nichts für Milchbrötchen wie euch«, sagte Pim. »Dafür braucht man schon mehr Erfahrung mit Drogen. Die Dosierung ist ziemlich kompliziert, ein paar Milligramm können da schon zu viel sein.«

Milchbrötchen? Sanne warf Pim einen beleidigten Blick zu. Die Röte in ihrem Gesicht breitete sich nun bis zu den Ohren aus. So ein Angeber, der mit seiner ganzen Erfahrung! Wie alt war der denn bitte?

»Ihr solltet lieber mal ’ne Pille probieren«, fuhr Pim unbeirrt fort. Er schnippte die Asche von dem Joint, der ihm gereicht wurde. »Ecstasy ist einigermaßen erschwinglich. Da kriegt ihr die Pille schon für 5 Euro.«

»Ich hab auf Ecstasy mal fünf Stunden ununterbrochen Party gemacht«, prahlte Stijn.

»Fünf Stunden?« Erik stieß einen anerkennenden Pfiff aus. »Das nenne ich mal ordentlichen Stoff.«

Die drei Joints waren bald aufgeraucht und Pim schlug vor, wieder reinzugehen und noch etwas zu trinken. Die anderen waren sofort einverstanden, nur Emma hatte ihre Zweifel. Flüsternd versuchte sie, Gopal davon zu überzeugen, dass die beiden ganz üble Schnorrer waren. Schließlich hatten sie einfach ihre drei Joints mit aufgeraucht und ihren eigenen Anteil für sich behalten. Sie hatten mehr bekommen als abgesprochen. Aber Gopal winkte ab. »Sei doch nicht so kindisch.«

Sie folgten den beiden in Richtung Bar.

»Was wollt ihr trinken?«, fragte Bart. Er holte einen Zwanzigeuroschein aus der Hosentasche und blickte abwartend in die Runde.

»Ein Pils«, sagte Pim und setzte sich auf einen Barhocker an der Theke.

»Für mich auch ein Bierchen.« Stijn klopfte Bart kameradschaftlich auf die Schulter. »Bist echt in Ordnung.«

Während sie ihr Bier tranken, entbrannte eine Diskussion über den Sinn und Zweck eines Studiums. Erik fand, es sei Unsinn, nach der Mittelstufe noch weiter zur Schule zu gehen. Idde war sich nicht sicher, er wollte Automechaniker werden wie sein Vater. Sanne versuchte sie davon zu überzeugen, dass ein Studium gar keine schlechte Idee war. Sie wusste genau, was für Argumente sie bringen musste, um ihre Meinung durchzusetzen. Diesmal aber hatte sie Mühe, die richtigen Worte zu finden.

»In der Mittelstufe legt man den Grundstein für seine Ausbildung.« Das war gewöhnlich ihr Eröffnungssatz. »Dann muss man sich spezialisieren und … und … Nehmt zum Beispiel meinen Bruder Paul.« Sie dachte eine Weile nach. »Der könnte nie Architekt werden, wenn …«

»Das ist doch gar kein Vergleich«, unterbrach Erik sie ungeduldig. »Euer Vater will, dass seine Kinder etwas erreichen. Dass sie irgendwo an der Spitze landen. Ich hatte nie so eine Unterstützung. Mein Alter ist schon vor Jahren abgehauen und wir mussten sehen, wie wir klarkommen.« Er schluckte. »Du hast einfach nur Glück, dass du im richtigen Bett geboren wurdest.«

»Das ist doch totaler Quatsch!«, rief Sanne aufgebracht. »Wenn wir das nicht selbst wollten, dann könnte sich mein Vater ein Bein ausreißen und trotzdem würde nichts passieren.«

»Stimmt«, bestätigte Stijn. »Mein Vater wollte, dass ich so ein dösiger Lehrer werde, nur weil mein Cousin Lehramt studiert hat. Ich als Lehrer, was für ’ne Vorstellung!« Er lachte laut los. »Mein Vater hat mich ziemlich unter Druck gesetzt, aber das hab ich nicht mit mir machen lassen. Nicht weil das Studium zu schwer gewesen wäre oder so. Nee, ich wollte eben nicht nach seiner Pfeife tanzen. Ich bin meinen eigenen Weg gegangen und ich verdiene genug Geld. Ich war noch nie auf meinen Vater angewiesen, um irgendetwas zu erreichen in dieser Scheißwelt. Ich kann tun und lassen, was ich will, und ich bin keinem was schuldig.« Er legte Sanne die Hand auf den Rücken. »Das hast du ganz allein in der Hand, Süße.«

4

Joop hatte gerade zwei Cappuccino bestellt, als sein Handy klingelte.

»Wo treibst du dich denn schon wieder rum?«, gellte Selmas Stimme durchs Telefon. »Du wolltest doch angeblich nur den Kleinen wegbringen und jetzt bist du schon seit ’ner halben Stunde weg.«

»Ich sitze mit Jeffrey im Café, wir haben was zu besprechen. Dauert nicht mehr lange.«

»Ach, wie nett. Du gehst dich also allein vergnügen und lässt mich hier im Chaos sitzen. Schon gut, ich hab verstanden, ich bin eben nur deine Putzfrau. Herzlichen Dank auch!« Die Verbindung brach ab.

»Das war meine Freundin. Sie ist ein bisschen … äh … temperamentvoll«, erklärte Joop mit einem bitteren Lächeln. Jeffrey nickte gleichgültig und wechselte das Thema. »Um noch mal darauf zurückzukommen … Das ist eine echte Goldmine, Joop. Ecstasy kann man gerade gar nicht genug haben, das weißt du doch. Die Kids schlucken nichts anderes mehr auf ihren Partys. Heroin und Kokain sind denen viel zu heftig, das ist eher was für echte Junkies. Ecstasy ist im Moment einfach die Partydroge Nummer eins, das sollten wir ausnutzen. Was bezahlt man denn im Moment für so eine Pille?«

»Im Einkauf?«, fragte Joop und senkte die Stimme, als der Kellner die Kaffees brachte.

»Ja, wie viel kann das sein? Drei Euro?«

»Zwei fünfzig«, korrigierte Joop.

»Trotzdem viel zu viel. Wenn wir beide uns aber zusammentun … Ich könnte für wenig Geld ’ne gebrauchte Tablettiermaschine organisieren. Dann stellen wir das Zeug einfach selbst her.«

»Dafür braucht man aber einiges mehr als nur die Maschine«, wandte Joop nüchtern ein und trank einen Schluck von seinem Cappuccino. »Ecstasy ist ein totaler Chemiecocktail, davon haben wir doch gar keine Ahnung. Ich weiß noch nicht mal, wo ich bei meinem Feuerzeug das Gas nachfüllen muss, da kann ich mit Sicherheit keine synthetischen Drogen fabrizieren.«

»Kein Problem. Ich kenne da einen Typen, der sich damit auskennt und uns dabei helfen kann. Wir lassen uns einfach zeigen, wie man dieses Chemiezeugs zusammenschmeißt, und nach ein paarmal zugucken können wir das alleine. Überleg doch mal«, Jeffrey gestikulierte aufgeregt mit den Händen, »die Herstellungskosten für eine Pille liegen bei achtzig oder neunzig Cent. Wenn wir die Pillen für vier Euro das Stück verkaufen, einen Euro billiger als auf der Straße, dann sind wir die günstigsten Anbieter am Markt. Die Kunden werden uns die Bude einrennen!« Krachend ließ er seine tätowierten Arme auf den Tisch fallen und sah Joop abwartend an.

Der blickte schließlich von seiner Kaffeetasse auf, in der er achtlos herumgerührt hatte. Nicht, dass er was dagegen gehabt hätte, wieder zu dem Mann zu werden, der er früher einmal war. Im Gegenteil: Andere hatten seinen Platz eingenommen und er wollte ihn zurück. Und er wusste verdammt gut, dass er das nie allein schaffen würde, darum wäre ein Partner nicht die schlechteste Idee. Er kriegte es ja kaum auf die Reihe, seine Zeit vernünftig zwischen Selma und dem Geschäft aufzuteilen. Selma beanspruchte so viel Aufmerksamkeit, dass er sich immer weniger um die Arbeit kümmern konnte, und ohne Arbeit kam nun mal kein Geld herein.

Aber konnte er Jeffrey wirklich vertrauen? Was wusste er eigentlich über ihn? Dass er der Mann für alle möglichen krummen Dinger war: Überfälle auf Supermärkte oder Tankstellen. Gefälschte Schecks ausstellen, teure Autos stehlen.

Skeptisch musterte Joop den Mann vor sich. Es waren schon eine Menge Geschäfte in die Binsen gegangen, weil die Partner sich nicht einigen konnten und schließlich anfingen, einander zu betrügen. Aber hatte er denn überhaupt eine Wahl? Er brauchte dringend Geld, um sich Selmas teuren Lebensstil leisten zu können, und sein Erspartes war schon ziemlich geschrumpft.

Joop schrak aus seinen Grübeleien hoch, als das Handy wieder zu klingeln anfing. Nach einem Blick aufs Display hob er das Telefon seufzend ans Ohr. »Selma, Schatz, ich hab hier gerade geschäftlich zu tun und …«

»Geschäftlich? Morgens um halb zehn? Und das soll ich dir wirklich abnehmen?«, hörte er sie hysterisch kreischen. »Du liegst doch mit irgend so ’ner Schlampe im Bett! Ich warte schon seit einer Viertelstunde auf dich.«

»Selma!«, rief er gekränkt. »Das würde ich nie machen, das weißt du genau! In einer halben Stunde bin ich zu Hause.«

»In einer halben Stunde? In zehn Minuten tanzt du hier an, sonst packe ich meinen Kram und bin weg. Ich lasse mich doch von dir nicht verarschen!«

»Ach, Schatz, jetzt beruhige dich doch. Ich bin gleich wieder da«, brummte er, mittlerweile ein bisschen gereizt.

»Nichts da gleich – sofort!« Selma knallte den Hörer auf die Gabel.

Verdattert starrte Joop sein Handy an, das nur noch tutete. Eine Weile schwieg er, dann sagte Joop zu Jeffrey: »Ich bin dabei.« Mühsam erhob er sich und streckte seinem neuen Partner die Hand hin. »Komm doch morgen Abend zum Essen zu uns«, schlug er vor. »Dann unterhalten wir uns über unser neues Projekt.«

Jeffrey sah zu, wie Selma ihre Zigarette zwischen Nasi-Goreng-Resten und zerkrümelten Krabbenchips ausdrückte. Ihre Schönheit und ihr Temperament machten ihn fast verrückt. Sie schlug die wohlgeformten Beine übereinander und fixierte ihn herausfordernd. Jeffrey fragte sich, wie ein Mann wie Joop an so eine tolle Frau gekommen war. Er zwang sich, den Blick von ihren Beinen zu wenden, und beobachtete, wie Joop zufrieden seine zweite Frühlingsrolle verschlang. Die Satésoße lief ihm übers Kinn, aber niemand wies ihn darauf hin. Joop genoss die Mahlzeit sichtlich, er schmatzte wie ein Schwein und ließ hin und wieder einen kleinen Rülpser entweichen. Den ganzen Abend war noch kein intelligentes Wort über seine Lippen gekommen. Jeffrey geriet ins Zweifeln. Sollte das wirklich der geniale Geschäftsmann sein, von dem sein Kumpel Ad ihm seit Wochen vorschwärmte? Der Mann, der ihn reich machen sollte?

Laut Ad war Joop der beste Partner, den man sich denken konnte. Er hatte die richtigen Beziehungen und wusste genau, an wen er seine Drogen loswurde und an wen nicht. Er kam an die Rohstoffe heran und konnte Räumlichkeiten organisieren, wo sie die Pillen herstellen konnten. Er hatte ein paar Jungs, die für ihn dealten, und er hatte Geld. Unglaublich, dachte Jeffrey. Auf den ersten Blick wirkte der Kerl wie ein totaler Loser, aber wahrscheinlich war das alles nur Fassade.

Während Selma sich über den Tisch beugte, um die schmutzigen Teller einzusammeln, wanderte sein Blick immer wieder über ihren Körper. Er gab sich Mühe, sie nicht allzu offensichtlich anzustarren.

»Deine Fernsehsendung fängt gleich an«, sagte Selma zu Dave.

Der Junge rutschte von seinem Stuhl und lief ins Wohnzimmer.

»Im Schrank liegt noch ’ne Tüte Chips«, fügte Joop hinzu und wartete, bis Dave verschwunden war. »Zeit, dass wir zum Geschäftlichen kommen.« Er bedeutete Selma, sich zu setzen. »Hast du dir schon Gedanken darüber gemacht, wie wir’s anpacken?«, fragte er und schob Jeffrey eine Schachtel Zigarren über den Tisch zu.

Dieser lehnte dankend ab. »Ich hab gestern die Leute mit der Tablettiermaschine angerufen. Sie können sie nächste Woche liefern. Das Ding kostet dreitausend Euro.«

Joop sagte kein Wort, steckte sich eine Zigarre an und blies Rauchwölkchen in die Luft. Fasziniert sah er dem Qualm nach, der langsam auseinandertrieb und sich schließlich auflöste.

Jeffrey zog eine Einkaufsliste aus seiner Brusttasche und schob sie ihm über den Tisch zu. »Ad hat aufgeschrieben, welche Zutaten wir brauchen.«

»Wer ist denn dieser Ad?«, mischte sich Selma ein und schnappte sich den Zettel.

»Ein Bekannter, der uns dabei hilft, das Ecstasy herzustellen. Er hat früher mal in einer Apotheke gearbeitet und kennt sich mit solchen Sachen aus«, erklärte Jeffrey.

»Aceton?«, las Selma vor. »Wie in meinem Nagellackentferner? Ammoniak, Salzsäure, Abflussreiniger. Bist du sicher, dass das die richtige Liste ist? Das sind doch alles Putzmittel.«

Jeffrey lächelte gönnerhaft. »Ad weiß genau, was er tut. Die wichtigste Zutat ist sowieso das PMA und davon sind gerade mal 0,5 Prozent in einer Pille. Das ist die eigentliche Droge, der Rest sind nur Zusatzstoffe, damit man ein Pulver daraus machen kann. Die meisten Zutaten kann man überall kaufen und sie kosten fast nichts. Jetzt rechne dir mal den Gewinn aus!«

Selmas Augen fingen an zu glänzen und sie stieß Joop aufgeregt in die Rippen. »Hörst du, Schatz?«

Joop spitzte die Lippen, blies ein paar Rauchwölkchen in die Luft und nickte träge.

»Dann brauchen wir nur noch irgendwelche Räumlichkeiten, die wir uns als Labor einrichten können, und schon läuft der Laden.« Gespannt wartete Jeffrey auf eine Reaktion.

»Was kostet das denn alles? Wer soll wie viel investieren?« Joop sah ihm nun direkt in die Augen.

»Tja, mal sehen, als Startkapital brauchen wir …« Jeffrey guckte in die Luft, als rechnete er die Summe gerade im Kopf aus. Alles nur Show, denn diese Rechnung hatte er schon tausendmal gemacht. »Sagen wir mal, gut sechstausend Euro.«

»Dann bin ich mit dreitausend Euro dabei?« Joop klemmte sich die Zigarre zwischen die Zähne und wartete ab. Er wusste genau, was jetzt kam.

»Äh, jein. Das Problem ist, dass ich im Moment nicht so flüssig bin. Ich hatte eigentlich gehofft, dass du erst mal alles vorstreckst. Sobald wir dann Gewinn machen, zahle ich meinen Anteil natürlich sofort zurück.«

Joop schnaubte. »Ich soll also sechstausend Euro investieren, die Zutaten besorgen und ein Labor stellen? Findest du die Verteilung nicht ein bisschen ungerecht?«, hakte Joop nach.

»Ja, aber ich hatte doch die Idee. Und ich hab die Maschine organisiert und den Kerl, der das Zeug für uns herstellt. Wenn der Laden erst mal läuft, kümmere ich mich um den Einkauf und die Produktion und du sorgst für den Verkauf. Was hältst du davon?«

»Hmmm.« Joop lehnte sich in seinem Stuhl zurück und runzelte die Stirn.

»Du kriegst dein Geld doch sofort wieder«, beteuerte Jeffrey. »Wir machen ein paar Tausend Pillen pro Woche und in einem Jahr schwimmen wir im Geld.«

»Ich finde, wir sollten es machen«, rief Selma mit vor Aufregung geröteten Wangen und zog Joop am T-Shirt. »Das ist doch eine Riesenchance.«

»Hmm. Okay, um die sechstausend kümmere ich mich, und was das Labor angeht … Ich hab da noch so ein kleines Lagerhaus im Industriegebiet, da müssten wir nur erst mal aufräumen, das ist bis obenhin voll mit Gerümpel. Damit können wir ja morgen anfangen.«

Joop stopfte sich den Einkaufszettel in die Tasche, zwinkerte Selma zu und sagte: »Wie sieht’s denn mit ’ner schönen Tasse Kaffee aus?«

Impulsiv beugte sie sich zu ihm hinüber und gab ihm einen Kuss auf die Wange.

»Kommt sofort«, versprach sie, stand auf und lächelte Jeffrey verführerisch zu. »Für dich auch?«, fragte sie ihn und strich ihm im Vorbeigehen flüchtig über den Arm.

Am nächsten Morgen fuhren sie zu dritt in das Industriegebiet, das ein paar Kilometer vor der Stadt lag. Joops Lagerhäuschen stand in einer Einbahnstraße, zusammen mit Dutzenden anderer Lager aus Wellblech. Joop zog einen Schlüsselbund aus der Tasche und öffnete das Vorhängeschloss. Er rüttelte an den Schiebetüren, aber sie bewegten sich nicht. Mit Mühe zwang er die Finger durch den schmalen Spalt und schob die Türen auseinander. »Die müssten mal dringend geölt werden«, schnaufte Joop, quetschte sich durch die Öffnung und warf sich mit vollem Gewicht dagegen. Er tastete nach dem Lichtschalter und fünf nackte Glühbirnen leuchteten auf. Sie traten ein und betrachteten den Krempel, der sich hinter den Schiebetüren stapelte: Bretter, Kisten und Alteisen. In einer Ecke stand ein rostiger Ford ohne Reifen und eine fleckige Polstergarnitur lehnte senkrecht an der Wand. Küchenschränke, Kartons, auseinandergebaute Möbel und eine Reihe Heizungen – eine bunte Sammlung Sperrmüll.

»Was für ein Riesenhaufen Müll!«, rief Jeffrey verdattert aus. »Was machst du denn mit dem ganzen Kram?«

»Man weiß nie, wozu man’s brauchen kann. Manchmal ist etwas dabei, womit jemand anders noch etwas anfangen kann«, verteidigte Joop sein Durcheinander.

Jeffrey grinste und ließ die Augen dreist über Selmas Körper wandern. Sie sah ihn an und erwiderte seinen Blick mit einem verstohlenen Augenzwinkern. »Hast recht«, stimmte Jeffrey zu. »Ich bin überzeugt, dass ich auch noch was Nettes finde.«

Selma lachte spitzbübisch über seine doppeldeutige Bemerkung. Mit wiegenden Hüften stolzierte sie in ihrem engen Kleid durch den Schuppen.

»Während du hier ein bisschen aufräumst«, sagte Joop, »besorgen wir das Zeug auf der Einkaufsliste.«

»Joop?« Selma war Joop zum Auto gefolgt und hielt die Fahrertür fest. »Du brauchst mich doch gar nicht. Ich helfe lieber Jeffrey beim Aufräumen, und wenn wir uns nicht sicher sind, ob etwas wegkann oder nicht, rufe ich dich auf dem Handy an.« Sie beugte sich vor und gab ihm einen Kuss. »Sei vorsichtig, ja, Schatz?« Dann schloss sie die Autotür, warf ihm einen Handkuss zu und ging wieder zurück zum Schuppen. Dort blieb sie in der Tür stehen und winkte ihm hinterher.

Kaum war der Wagen außer Sicht, packte Jeffrey Selma beim Arm und zog sie in den Schuppen. Als sie den lüsternen Blick in seinen Augen sah und seinen schweren Atem hörte, verzog sie den Mund zu einem Lächeln. Langsam schlang sie die Arme um seinen Hals und küsste ihn.

5

»Es ist wirklich eine Schande. Eine Vier minus in Biologie, dabei hättest du die Fragen mit ein bisschen Lernen so leicht beantworten können. Reine Fleißarbeit, und du bringst so eine schlechte Note mit nach Hause.« Herr Terwee sah seine Tochter an und versuchte, seine Wut im Zaum zu halten. »Für so eine Arbeit ist alles, was schlechter ist als eine Drei, wirklich ein Armutszeugnis.«

»Ich hab mein Bestes gegeben. Ich hab die Fragen einfach nicht richtig kapiert«, maulte Emma, die genauso wütend war wie ihr Vater.

»Da gibt es nichts zu kapieren!«, polterte Herr Terwee und ließ die Faust vor lauter Empörung mit einem lauten Knall auf die Schreibtischplatte niedersausen. Alles darauf bebte und wackelte. »Deine Schwester hat mit links eine Zwei geschafft, und wenn sie das kann …«

»Sanne fällt Lernen nun mal leichter als mir.«

»Unsinn. Entscheidend ist, wie viel Mühe man sich gibt. In der Mittelstufe legt man den Grundstein für seine Ausbildung, danach fängt der Ernst des Lebens an. Und wenn du jetzt schon so faul bist …«

»Bin ich doch überhaupt nicht! Das ist das erste Mal in diesem Jahr, dass ich eine schlechtere Note als eine Drei habe, das hole ich im Laufe des Schuljahrs schon wieder auf.«

»Na bravo«, sagte ihr Vater ironisch. »Das ist natürlich eine wunderbare Einstellung. Du machst es gleich gut, dann musst du später auch nichts aufholen, ist das klar? Glaubst du, ich hätte es mit so einer Haltung so weit gebracht?«

Herr Terwee war jetzt seit vier Jahren Direktor einer Bank und ein geachteter Mann in der Stadt. Seine Position hatte er nur durch Fleiß und harte Arbeit erreicht. Von seinen Kindern erwartete er denselben Ehrgeiz, und wenn es sein musste, half er ihnen eben ein wenig auf die Sprünge. Schließlich war es nur zu ihrem Besten.

Emma runzelte wütend die Stirn, hielt aber wohlweislich den Mund. Egal, was sie jetzt sagte, es würde das Ganze nur noch schlimmer machen. Vollkommen ruhig ließ sie die Strafpredigt über sich ergehen. Eine Standpauke, die sie bestimmt schon tausend Mal gehört hatte und die sich im Laufe der Jahre kein bisschen verändert hatte. Manchmal träumte sie sogar wortwörtlich davon.

Früher waren es Paul und Björn gewesen, die sich ständig Vorträge anhören mussten: über den Nutzen der Schule, die düstere Zukunft ohne hinreichende Bildung und die Konsequenzen, die es nach sich ziehen würde, wenn sie sich nicht genug Mühe gaben. Mittlerweile studierten Paul und Björn in einer anderen Stadt und kamen nur noch an den Wochenenden nach Hause. Das hatte zur Folge, dass sich die gesamte Aufmerksamkeit des Vaters nun auf die beiden Mädchen richtete. Sanne hatte nur ein einziges Mal den Unmut des Vaters auf sich gezogen, als sie sich geweigert hatte, an einem Schulprojekt teilzunehmen. Emma dagegen stand bestimmt sieben oder acht Mal im Jahr vor dem Schreibtisch ihres Vaters, um sich sein Donnerwetter anzuhören.

»Nächstes Wochenende bleibst du zu Hause. Das Ausgehen kannst du dir abschminken, junge Dame.« Das war die Strafe, die Standpauke neigte sich also ihrem Ende zu. »Ich hoffe, dass du dich fortan ein bisschen mehr anstrengst.«

»Das ist total ungerecht«, beschwerte sich Emma.

»Ganz im Gegenteil. Wenn deine Noten nicht besser werden, bin ich bestimmt nicht mehr so großzügig.«

»Pfff.« Emma drehte sich um und stapfte wütend aus dem Arbeitszimmer.

»Und … War es sehr schlimm?«, fragte Sanne, die auf der Treppe gesessen und gewartet hatte. Sie folgte ihrer Schwester in die Küche, wo diese wie wild Schranktüren aufriss und wieder zuknallte.

»Was glaubst du denn?« Emma riss den Kühlschrank auf und schnappte sich eine Flasche Cola aus dem Fach in der Tür. »Der übliche Schwachsinn, und zur Strafe darf ich nächstes Wochenende zu Hause versauern.«

»So ein Mist«, schmollte Sanne. »An dem Wochenende ist doch die Party im Kornschuppen.«

»Im Kornschuppen?« Emma setzte die Flasche an den Mund, was bei Familie Terwee strengstens verboten war. »Mir doch egal«, sagte sie trotzig und wischte sich die Cola von der Oberlippe. »So ein Theater, Mensch.«

»Na ja.«

»Was, na ja? Du bist echt so eine Heuchlerin! Du tust doch alles, nur um Papa zu gefallen. Bloß immer schön schleimen.«

»Das hat doch nichts mit Schleimen zu tun. Wenn man mit ein bisschen Lernen ein paar gute Noten rausholen kann, hat man einfach mehr Luft. In der Mittelstufe legt man –«

»In der Mittelstufe legt man den Grundstein für seine Ausbildung«, äffte Emma ihre Schwester nach. »Du klingst schon genau wie Papa. Mann, wird dir nicht manchmal selbst schlecht von dem, was du da redest?«

»Ach, halt doch die Klappe«, fauchte Sanne beleidigt und stürmte aus der Küche.

»Selber Klappe«, brüllte Emma ihr hinterher. Diese Ziege ließ aber auch keine Gelegenheit aus, sich bei Papa einzuschleimen. Nie machte sie was falsch, immer war sie perfekt. Fluchend schmierte Emma sich ein Brot mit Erdnussbutter und wartete, bis ihre Wut langsam nachließ. Während die anderen sich auf der Party vergnügten, durfte sie mit Mama und Papa auf der Couch sitzen … Wenn sie das gewusst hätte, dann … Warum hatte sie eigentlich nichts von der Party gewusst? Seltsam, jetzt wo sie darüber nachdachte … Keiner aus der Clique hatte die Party erwähnt, noch nicht einmal Gopal.

Sanne lag schmollend auf ihrem Bett und las in einer Modezeitschrift, als Emma ins Zimmer kam. Sie sah kurz auf und fing dann an, geschäftig die Seiten durchzublättern.

»Was ist?«, fragte sie kurz angebunden.

Emma ließ sich aufs Bett fallen. Verstohlen zupfte sie an Sannes Strumpf. »Bist du noch böse?«

»Was soll das denn jetzt wieder?« Sanne zog ihren Fuß weg und warf die Zeitschrift neben sich aufs Bett.

»Gehst du am Wochenende in den Kornschuppen?«, fragte Emma.

»Weiß ich noch nicht. Wieso?« Die Mädchen gingen normalerweise immer zusammen aus und Emma verzog beleidigt das Gesicht.

»Mit wem willst du denn hingehen? Mit keinem aus der Clique, nehme ich mal an. Wir wussten ja noch gar nichts von der Party.«

»Kann sein«, erwiderte Sanne.

Eine Weile herrschte angespanntes Schweigen. Emma starrte Sanne unverwandt an.

»Ich hab heute Nachmittag eine SMS von Stijn bekommen«, gab Sanne schließlich widerwillig zu. »Er hat gefragt, ob ich mit ihm in den Kornschuppen gehen will.«

Seit ihrer letzten Begegnung im Rocko’s vor zwei Wochen hatte sie ihn nicht mehr gesehen. Die SMS war ziemlich überraschend gekommen und Sanne hatte sich geschmeichelt gefühlt. Er hatte sie also nicht vergessen.

»Stijn? Dieser strunzdoofe Muskelprotz?« Emma brach in Gelächter aus. »Was willst du denn von diesem Neandertaler? Der ist doch echt der letzte Vollidiot!«

»Musst du eigentlich überall deinen Senf dazugeben? Du kennst ihn doch gar nicht.«

»Ach, aber du kennst ihn, oder was?« Emmas Stimme klang vor Wut ganz schrill.

»Was hast du eigentlich für ein Problem?«, wollte Sanne wissen. »Du zickst mich doch bloß an, weil du sauer auf Papa bist.«

»Ist er nicht ein bisschen zu alt für dich?«, fragte Emma und überging die letzte Bemerkung.

»Was geht dich das an? Lass mich doch einfach in Ruhe!«

Kopfschüttelnd erhob sich Emma. »Was Papa wohl dazu sagen würde?«, stichelte sie. »Sein Augenstern hat ein Date mit einem aufgepumpten Muskelgorilla, mit einem Typen, der viel älter ist als sie?«

»Hau endlich ab!«, schrie Sanne und schob ihre Schwester mit hochrotem Kopf aus ihrer Zimmertür.

»Und, kommst du mit?«, fragte Gopal. »Im Kornschuppen ist es immer total cool. Erik, Bart und Sanne gehen auch hin.«

»Nein, ich kann nicht mit«, antwortete Idde. »Ich muss dieses Wochenende zu einem Familientreffen.«

»Ach, ist ja echt schade, Mann.«

»Ach, nicht so wild. Ich bin gerade sowieso total pleite.«

»Bist du sicher?«

»Ja, klar.«

»Na gut, dann halt die Ohren steif.« Gopal drückte das Gespräch weg. »Idde kommt nicht mit, dann muss jemand anderes bei Joop das Gras holen.«

Die drei Jungen sahen einander schweigend an.

»Ich kann morgen schnell bei ihm vorbeifahren«, erklärte sich schließlich Erik bereit. Insgeheim konnte er es kaum abwarten.

Erik wohnte mit seiner Mutter und seiner sechzehnjährigen Schwester in einer kleinen Wohnung mitten im Stadtzentrum. Vor drei Jahren war sein Vater völlig überraschend ausgezogen und hatte seither nichts mehr von sich hören lassen. Mit Mühe und Not hatte Erik seinen Schulabschluss geschafft und lag nun den größten Teil des Tages auf seinem Bett herum. Er wusste einfach nicht, was er mit seinem Leben anfangen sollte. In den letzten Monaten waren seine Gedanken nur noch um seinen Vater gekreist. Warum hatte er seine Familie von einem Tag auf den anderen im Stich gelassen? Kein Abschied, nichts! War sein Vater denn so unglücklich bei ihnen gewesen? Wie sollte es jetzt mit seiner Mutter und Jessica weitergehen? Und mit ihm selbst? Was, wenn sich seine Mutter in einen anderen Mann verliebte und beschloss, eine neue Beziehung einzugehen? Dann würde sein Vater nie mehr zurückkommen. Oder hatte sein Vater vielleicht schon eine andere gehabt, als er sie im Stich gelassen hatte? Eine Frau mit Kindern … Hatte er jetzt vielleicht andere Kinder, mit denen er lauter schöne Sachen unternahm? War er mit ihnen glücklich?

All diese Fragen, die ihm durch den Kopf spukten, trieben Erik fast in den Wahnsinn. Und das viele Alleinsein zu Hause machte alles nur noch schlimmer. Die ganze Wohnung steckte voller Erinnerungen an seinen Vater. Es hatte nur ein paar Stunden gegeben, in denen er nicht an seinen Vater gedacht hatte, und das war, als sie den Joint geraucht hatten. Es waren höchstens zwei oder drei Stunden gewesen, aber was für ein Gefühl! Kein Schmerz, keine Erinnerungen, keine Angst. Einfach gar nichts. Herrlich! Er wollte zu Joop, um auch noch ein bisschen Gras für sich selbst zu holen, damit er einfach einen Joint rauchen konnte, wenn er sich mal wieder mies fühlte.

»Also, wie viel Gras soll ich holen?«, fragte Erik. »Zwei Gramm?«

Erik war eilig mit dem Fahrrad nach Hause gefahren. Nervös leerte er sein Portemonnaie auf dem Küchentisch aus und zählte das Kleingeld: vierzehn Euro fünfzig. Vier Euro brauchte er für den Eintritt in den Kornschuppen und zwei Euro fünfzig musste er für das gemeinsame Gras beisteuern. Und dann noch ein Tütchen … Von dem Geld, das dann noch übrig blieb, konnte er sich höchstens noch zwei Bier kaufen. Er seufzte und gab sich seinem Selbstmitleid hin. Seine Mutter brauchte er gar nicht erst nach Geld zu fragen, das wusste er. Die Diskussion hatte er gerade vor ein paar Wochen mit ihr gehabt. Sie hatte gesagt, er müsse lernen, vernünftiger mit seinem Geld umzugehen. Jeden Monat bekam er fünfundsiebzig Euro, die er eigentlich immer binnen drei Wochen ausgab. Aber was waren heute noch fünfundsiebzig Euro? Nichts. Er saß den ganzen Tag zu Hause, lieh sich ab und zu mal einen Film aus und am Wochenende ging er mit seinen Freunden aus. Das war doch alles, was er hatte, aber selbst das gönnte sie ihm nicht. »Dann such dir doch endlich Arbeit!«, hatte seine Mutter ihn angeschrien.

Wut und Frustration machten sich in ihm breit. Na toll, jetzt bekam er wieder Herzrasen. Er kramte in der Küchenschublade, in der Hoffnung, dort vielleicht den ein oder anderen Euro zu finden. Vergeblich. Er durchsuchte die Jacken an der Garderobe, schnüffelte im Kleiderschrank seiner Mutter herum und fand endlich drei Euro in einer ihrer Jeans. Das reichte aber immer noch nicht und er beschloss, das Zimmer seiner Schwester zu durchsuchen.