»Du bist ein Halsabschneider«, sagte Henni und sah seinen König vorwurfsvoll an.
»Ich habe dich gewarnt«, brummte Hörg. »Wir hätten Hilmer nicht zu diesem verfluchten Vermögensberaterkurs schicken sollen. Jetzt bezahlen wir den Preis dafür!«
»Wer hätte denn ahnen können, dass er seine Kenntnisse daraus gegen uns verwendet.«
»Es ist, als würde er in die Hand beißen, die ihn füttert«, gab Hörg seinem Freund und Bruder Recht.
»Oder den Ast absägt, auf dem wir sitzen.«
»Findet ihr nicht, dass ihr ein bisschen übertreibt?«, fragte Hilmer grinsend.
»Nein«, sagten Henni und Hörg gleichzeitig.
»Ihr seid meine Berater und könnt froh sein, dass ich euch überhaupt erlaube, nebenbei euren Handel mit den Kaubonbons fortzuführen.«
»Wir verstehen, dass du daran mitverdienen willst. Trotzdem sind 50% zu viel«, beschwerte sich Henni. »Immerhin zahlst du uns keinen Lohn.«
»Die Staatskassen sind leer«, gab der König entschuldigend zurück.
»Deshalb musst du uns aber nicht in die Armut stürzen«, jammerte Hörg. »Schließlich haben wir auch Kosten bei der Herstellung der Ware.«
Seitdem es Hilmer gelungen war, mit Hilfe seiner Freunde das Komplott des verstorbenen Königs Helmut aufzuklären, und die Massenselbstmorde im Volk der Lemminge ein Ende gefunden hatten, waren zwei Wochen vergangen. Es war nicht einfach, das Volk davon zu überzeugen, dass die Lehren des furchtlosen Wonibalts falsch waren und es kein gelobtes Land gab. In Omega, der Hauptstadt ihres Reiches, hatte sich dies mittlerweile herumgesprochen und Hilmer war als neuer König weitestgehend akzeptiert, es gab aber immer noch zahlreiche Lemminge, die aus den anderen Städten kamen, um den Weg über die Klippen des Todesfelsens zu gehen. Hilmer und der neue Rat der vier Weisen waren sich einig, dass die Selbstmorde endlich aufhören mussten. Zum Rat gehörten neben Henni und Hörg noch Anton und sein Weibchen Paula. Die beiden waren die letzten Überlebenden einer Untergrundorganisation, welche die falschen Lehren des ehemaligen Königs schon immer in Frage gestellt hatte.
Die beiden Erfinder sollten nun die anderen vier Lemmingstädte besuchen und über die wahren Lehren informieren. Henni und Hörg wollten die Gelegenheit nutzen, während dieser Mission auch ihre Kaubonbons zu verkaufen, die verhinderten, dass ein Weibchen trächtig wurde. Durch dieses Verhütungsmittel würde die Bevölkerungszahl der Lemminge ganz ohne Selbstmorde stabil bleiben. Deshalb war Hilmer einverstanden, forderte aber seinen Anteil am Gewinn. Und genau den fanden Henni und Hörg zu hoch.
»Ihr solltet aufhören euch zu beschweren«, unternahm der König einen weiteren Versuch, seine Berater zu überzeugen. »Immerhin finanziere ich euch das Daxi, und ihr müsst nicht laufen.«
»Das Vieh sieht eher aus wie ein Stinktier«, warf Hörg ein und deutete auf das schwarz-weiß gestreifte Wesen, das vor den Karren mit der Ware gespannt war.
»Das täuscht«, sagte Hilmer entschieden. »Wenn Karla kein echter Dachs wäre, hätte sie wohl kaum die Daxiausbildung überstanden.«
»Hat sie die denn überhaupt?«, fragte Henni skeptisch.
»Selbstverständlich«, antwortete der König. »Und jetzt ist Schluss mit dem Diskutieren. Wenn ihr meinen Vorschlag nicht akzeptiert, schicke ich Anton und Paula auf die Mission.«
Hörg wollte gerade zu einer heftigen Erwiderung ansetzen, bekam aber von seinem Bruder einen Schubs, der ihn zum Schweigen brachte.
»Wir beugen uns deiner hoheitlichen Gewalt«, sagte Henni und senkte den Kopf.
Damit war der Streit erst einmal beendet, und die Reise der beiden Missionare konnte beginnen. Von Paula, die mittlerweile endlich trächtig war, und Anton hatten sie sich am Morgen verabschiedet. Auch die Ratte Rosa, die ihnen beim Kampf gegen Helmut eine große Hilfe gewesen war, hatte ihnen bereits viel Glück und Erfolg gewünscht. Ihr Angebot, ihre Söhne Bert und Gerd könnten die beiden Lemminge begleiten, hatten Henni und Hörg abgelehnt. Sicher war es für ihre Mission wenig förderlich, wenn sie mit zwei Ratten durchs Land zogen, auch wenn sie die idealen Beschützer gewesen wären.
»Denkt an die Briefe, die ich euch für die Statthalter mitgegeben habe«, mahnte Hilmer seine beiden Berater. »Das königliche Siegel wird ihre Echtheit beweisen und eure Argumente unterstützen. Es wird sicher nicht leicht werden, alle davon zu überzeugen, dass Helmut ein Betrüger war. Viele Lemminge in den entlegenen Gebieten haben ihren alten König verehrt. Sie haben ihn eben nicht richtig gekannt.«
»Das wissen wir Hilmer«, sagte Hörg und grinste seinen Chef an. »Mach dir nicht zu viele Gedanken um uns. Wir werden unsere Mission schon meistern.«
»Und vergesst nicht, die Briefhummeln zu füttern.
Wenn ihr eine Stadt verlasst, oder es unterwegs Probleme gibt, schickt ihr mir eine Botschaft.«
»Das haben wir doch alles schon besprochen.« Henni deutete auf die hintere Klappe des Wagens, wo die Nachrichtenübermittler des Königs in kleinen Käfigen untergebracht waren. »Deinen Hummeln geht es gut. Wir werden schon aufpassen, dass ihnen nichts passiert.«
»Dann steht der Reise jetzt nichts mehr im Weg«, sagte Hilmer und klopfte zuerst Henni und dann Hörg auf die Schulter. »Ich wünsche euch viel Erfolg.«
»Wenn wir wieder zurück sind, müssen wir unsere Position neu verhandeln«, sagte Henni zu seinem Bruder, als Hilmer außer Hörweite war.
»Darauf kannst du wetten. Wir sind mit Helmut fertig geworden, da werden wir uns auch von Hilmer nicht über den Tisch ziehen lassen. Wäre ja noch schöner.«
»Dabei bezahlt er nicht einmal die Unmengen an Kaubonbons, die er für seine eigenen Weibchen braucht«, maulte Henni weiter.
»Wenn er das täte, könnten wir beide uns zur Ruhe setzen«, stimmte Hörg zu. Beide lachten.
In Omega hatte sich sehr viel zum Guten gewendet, seit Hilmer König war. Das wussten die beiden Erfinder nur zu gut. Unter Helmut hätten sie jetzt nur noch zwei Wochen zu leben und wären danach gezwungen gewesen, den Weg über die Todesklippe zu gehen. Dieser Kelch war an ihnen und vielen anderen vorübergegangen. Zugegebenermaßen freute sich darüber nicht jeder Lemming. Aber auch die letzten Zweifler würden irgendwann noch überzeugt werden.
Ein gellender Schrei zeigte den beiden Brüdern, dass es bis dahin aber noch eine ganze Weile dauern würde.
»Und wieder einer, der sich allen Verboten zum Trotz das Leben genommen hat«, stellte Hörg überflüssigerweise fest.
»Es war klar, dass die Hinweisschilder niemanden aufhalten würden«, sagte Henni. »Wenn Hilmer keine Wachen aufstellt, werden immer wieder Lemminge zum Todesfelsen gehen und die Klippe hinunterspringen.«
»Das werden auch die Soldaten nicht verhindern können.«
»Was willst du sonst tun? Du kannst ja niemanden nach dem Selbstmord bestrafen.«
»Auch wieder wahr«, gab Hörg zu. »Wenn unsere Mission erfolgreich verläuft, kommen aber keine Lemminge mehr von außerhalb hierher. Damit wäre schon viel gewonnen. Es wird aber weiterhin einzelne Ignoranten geben, die immer noch glauben, dass das gelobte Land existiert.«
Mittlerweile hatten sich die beiden Erfinder schon so weit von der Stadt entfernt, dass diese nicht mehr zu sehen war. Lediglich der Todesfelsen ragte noch als Mahnmal für die sinnlosen Freitode hinter ihnen auf.
Henni und Hörg wollten auf dem Weg in die vier anderen Städte ihres Volkes Routen benutzen, die auch von den Lemmingen gegangen wurden, die auf dem Weg zur Stätte ihres Todes waren, um unterwegs Selbstmordkandidaten von ihrem Vorhaben abzuhalten und zur Rückkehr aufzufordern.
Die Hauptstadt Omega, mit dem Palast des Königs, wurde von vier weiteren Städten eingerahmt. Alpha im Süden, Beta im Osten, Gamma im Westen und Delta im Norden. Henni und Hörg wussten aus alten Karten, dass letztere auf der anderen Seite eines Flusses lag und die Lemminge dort einen eigenen Felsen hatten, von dem sie ihren Weg ins gelobte Land fanden. Von dort waren schon sehr lange keine Nachrichten mehr gekommen und die Missionare wussten nicht einmal, ob es die Stadt überhaupt noch gab.
Plötzlich blieb das Daxi abrupt stehen. Bevor Hörg Karla mittels der Peitsche zum Weitergehen überreden konnte, hob sie den Schwanz an und entließ eine stinkende, grüne Wolke aus ihrem Hinterteil, welche die beiden Lemminge auf dem Wagen sofort einhüllte. Während Henni einfach bewusstlos zur Seite kippte und auf den Boden fiel, hielt sich Hörg die Hand vor die Nase, sprang auf den Weg und rannte zur Wiese. Dort ging er auf die Knie und übergab sich zwischen die Halme. Die Nebelschwaden in seinem Hirn schafften es beinahe, auch ihn ins Reich der Bewusstlosigkeit zu ziehen, doch nach ein paar tiefen Atemzügen ging es Hörg zumindest wieder so gut, dass er die Umgebung vor sich klar erkennen konnte, auch wenn sich sein Magen anfühlte, als hätte er faule Pflaumen gegessen.
Der Erfinder schaute zu seinem Bruder, der regungslos neben dem Wagen lag. Weil er sich noch immer zu matt fühlte, um aufrecht zu gehen, kroch Hörg auf allen vieren zu seinem Partner und rüttelte ihn leicht an der Schulter.
»Was ist passiert?«, fragte Henni verwirrt. Dann übergab auch er sich und hatte Glück, dass er dabei weder seinen Bruder noch sich selbst beschmutzte.
»Das Stinktier hat uns eine Ladung seiner Abgase vor die Nase geschossen«, ächzte Hörg. »Offensichtlich hat uns Hilmer in Bezug auf das Daxi nicht die volle Wahrheit gesagt.«
»Dafür wird er bezahlen«, sagte Henni und setzte sich langsam auf.
»Darauf kannst du einen lassen.«
»Das hat das Daxi schon getan.«
»Wie auch immer. Damit kommt Hilmer nicht durch. Wenn wir zurück sind, führen wir neue Preisverhandlungen. Und wenn wir den König vor das Hinterteil dieses angeblichen Dachses binden müssen, bis er unsere Bedingungen akzeptiert.«
»So wird es gemacht«, stimmte Henni seinem Bruder zu. »Lass uns jetzt aber weiterfahren. Sonst kommen wir heute noch nicht einmal außer Sichtweite des Todesfelsens.«
Karla stand wie die Unschuld vom Lande vor dem Wagen und sah die beiden Lemminge aus treuen Augen an.
»Das Tier bekommt ab jetzt nur noch leicht verdauliche Kost«, schimpfte Hörg, als er auf den Wagen kletterte und die Zügel in die Hand nahm.
»Oder nur noch Wasser. Vielleicht können wir Karla ja auf einem der Rasthöfe gegen ein richtiges Daxi eintauschen. Wenn das Vieh nicht spurt, kommt es in den Schlachthof.«
Als hätte Karla Hennis Drohung verstanden, setzte sie sich ohne Aufforderung in Bewegung und fiel in einen leichten Trab. Dachse gehörten zu den dümmsten Wesen, die im Reich der Lemminge bekannt waren. Sie konnten nicht sprechen und führten normalerweise jeden Befehl ihres Herrn aus, um ausreichend Futter zu bekommen. Stinktiere standen noch eine Stufe unter den Dachsen, was Karla kurz zuvor eindrucksvoll unter Beweis gestellt hatte.
Henni und Hörg fühlten sich immer noch benommen und beide waren froh, dass sie sich nicht ein weiteres Mal übergeben mussten. Die nächsten beiden Stunden verbrachten sie schweigend.
Endlich sahen sie vor sich einen der vielen Rasthöfe, die es überall an den Straßen zwischen den Städten gab. In der Regel brachten die Lemminge hier ihre Barschaft unter die Leute, bevor sie sich auf ihren letzten Weg über den Schicksalsberg machten.
Henni und Hörg hatten Glück, dass es keine weiteren Gäste gab und sie sich ungestört in ihr Zimmer begeben konnten, nachdem sie Karla und den Wagen in den Stall gebracht hatten.
Beide schliefen sofort ein, als sie sich auf das Lager betteten. Der Beginn ihrer Reise war weit anstrengender verlaufen, als die Lemminge es sich gedacht hatten. Sie konnten nur hoffen, dass sie ab morgen besser mit ihrem Gefährt zurechtkamen und die Warnzeichen vor einer weiteren Giftgasentladung des Daxis früher erkannten.
Nach einem ausgiebigen Frühstück machten sich die beiden Lemminge am nächsten Morgen auf den Weg in Richtung Beta, die sie noch an diesem Tag erreichen wollten. Karla bekam eine Handvoll Nüsse, die hoffentlich keine unangenehmen Auswirkungen auf ihre Verdauung haben würden.
Leider funktionierte dieser Plan nicht wirklich. Während der nächsten Stunde blieb das Daxi zweimal stehen. Beide Male schafften es die Lemminge aber rechtzeitig vom Wagen herunterzukommen, bevor das Vieh seine stinkende Ladung verströmen konnte. Es dauerte danach jeweils mehrere Minuten, bis sich der Nebel so weit verzogen hatte, dass die beiden ihre Reise fortsetzen konnten. Henni und Hörg waren sich einig, dass sie lieber nicht wissen wollten, was sich im Magen und Gedärm dieses Wesens tat.
Nach Karlas zweiter Entladung gesellte sich ein Schwarm Fliegen zu den Reisenden und begleitete sie auf dem weiteren Weg. Offensichtlich machte es ihnen nichts aus, durch die Wolke zu schweben, die aus dem Hinterteil des Daxis kam. Im Gegenteil wurden sie sogar davon angezogen. Henni versuchte zunächst die fliegenden Störenfriede mit den Pfoten zu verjagen, gab aber kurze Zeit später resignierend auf.
»Das ist alles Hilmers schuld. Der Typ kann echt was erleben, wenn wir nach Hause kommen.«
»Für die Fliegen kann er nun wirklich nichts«, versuchte Hörg seinen Bruder zu beschwichtigen.
»Doch, das kann er«, widersprach Henni. »Wenn er uns ein vernünftiges Daxi und nicht so eine wandelnde Stinkbombe besorgt hätte, würden uns auch diese schwirrenden Plagegeister nicht heimsuchen.«
»Das ist ein Argument.«
»Am liebsten würde ich umkehren.«
»Du gibst zu schnell auf. Wir haben noch nicht einmal Beta erreicht. Die großen Abenteuer liegen noch vor uns. Außerdem werden wir gute Geschäfte machen. Wenn wir die Ladung Kaubonbons verkauft haben, wirst du zufrieden sein.«
»Mag sein«, gab Henni zu. »Im Moment würde ich mich allerdings lieber zu Hause mit einem Weibchen vergnügen.«
»Das kannst du später auch noch«, sagte Hörg grinsend. »Seitdem wir das Verhütungsmittel erfunden haben, können wir uns vor Angeboten kaum retten. Alle Mädels wollen ausprobieren, ob die Kaubonbons funktionieren. Am liebsten mit uns.«
»Und genau aus diesem Grund wäre ich jetzt lieber zu Hause. Wer geht schon auf die Jagd, wenn er den Braten daheim hat?«
Gegen dieses Argument konnte Hörg nichts mehr vorbringen. Auch er wusste die Vorzüge, die das Leben in Omega den beiden Erfindern bot, durchaus zu genießen. Er war aber auch froh, endlich einmal etwas anderes zu sehen. Weibchen gab es schließlich überall.
»Wenn man etwas von Karlas Ausscheidungen einfangen könnte, wäre das eine wunderbare Waffe«, sagte Henni nach einer Weile.
»Kann es sein, dass du heute eine gefährliche Grundstimmung hast?«, gab Hörg lachend zurück.
»Warum?«
»Wir unternehmen diese Mission in erster Linie, um die Selbstmorde in unserem Volk zu beenden, und du sprichst von Waffen.«
»Man muss sich ja verteidigen können. Die Wege zwischen den Städten sind gefährlich.«
»Wir werden uns schon zu wehren wissen, wenn uns jemand angreift. Ich wüsste allerdings nicht, wer das sein sollte. Bisher sind wir niemandem begegnet.«
»Das wird sich ändern. Ich bin mir sicher, dass wir unterwegs noch auf Lemminge treffen, die auf dem Weg zum Schicksalsberg sind. Immerhin werden jeden Tag ein paar aus unserem Volk fünfzehn Monate alt.«
»Soweit ich weiß, gibt es größere Gruppen, zu denen sie sich zusammenschließen. Viele Lemminge reisen ein paar Tage vor ihrem geplanten Tod nach Omega, um sicherzugehen, dass sie pünktlich am Todesfelsen sind.«
»Es wundert mich trotzdem, dass wir noch keinen getroffen haben. Nicht einmal im Gasthaus war etwas los.«
»Ich verstehe dich nicht Henni. Zuerst willst du dich gegen irgendwelche nicht vorhandenen Angreifer verteidigen und dann beschwerst du dich, dass wir niemanden treffen.«
»Ich bin eben unausgeglichen. Daran sind nur die Fliegen und dieses stinkende Daxi schuld.«
Hörg sah seinen Bruder an und fing an zu lachen. Er wusste, dass Henni in dieser Stimmung für keine vernünftigen Argumente offen war. Wenn er jammern wollte, dann tat er das. Egal, ob es einen plausiblen Grund dafür gab oder nicht. Die nächsten Minuten verbrachten die beiden Lemminge schweigend. Henni litt stumm vor sich hin und Hörg dachte mit Freuden an die Abenteuer, die sie auf ihrem weiteren Weg noch erleben würden.
Gegen Mittag, Henni versuchte gerade Hörg davon zu überzeugen, dass es nun endlich Zeit war, eine Rast einzulegen, sahen die beiden Missionare dann doch einen anderen Lemming. Er kauerte auf dem Boden und versteckte sich hinter einem Stein, sodass Reisende, die aus Beta kamen, ihn nicht sehen konnten. Hörg schätzte, dass er maximal vier Monate alt sein konnte.
»Ein Wegelagerer«, sagte Hörg und hielt das Daxi an.
»Na, der kommt mir gerade recht«, zischte Henni.
»Was hast du vor?«
»Ich werde das Bürschchen davon überzeugen, dass es sich nicht gehört, harmlosen Reisenden aufzulauern.« Entschlossen stieg Henni vom Wagen und schritt leise auf den Halbstarken zu.
Hörg wusste, dass er es nicht schaffen würde, seinen Bruder aufzuhalten. So folgte er ihm, um notfalls eingreifen zu können, sollte Henni das Kerlchen zu hart rannehmen.
Als sie näher an den Wegelagerer herankamen, erkannte Hörg, dass es sich bei dem Lemming tatsächlich um einen Halbwüchsigen handelte, der vermutlich noch nicht einmal die Geschlechtsreife erreicht hatte. Als die beiden Missionare fast bei ihm waren, drehte er sich blitzschnell um und schrie wie am Spieß.
»Sei still«, schimpfte Henni, holte aus und verpasste dem Knaben eine schallende Ohrfeige. Sofort ging das Schreien in ein leises Wimmern über.
Henni und Hörg wechselten einen stummen Blick. Beiden war klar, dass sie das Bürschchen nicht unterschätzen durften. Er musste es faustdick hinter den Ohren haben, wenn er sich traute, Reisenden allein aufzulauern.
»Seid ihr echt?«, fragte der Wegelagerer, bevor die beiden Brüder dazu kamen, ihrerseits eine Frage zu stellen.
»Was willst du?«, gab Henni böse zurück.
»Ihr kommt aus der falschen Richtung«, wimmerte der Knabe. »Noch nie ist einer vom Schicksalsberg zurückgekehrt. Seid ihr Geister?«
»Du spinnst doch«, schimpfte Henni und verpasste dem Kerlchen eine weitere Ohrfeige. »Und jetzt sag mir deinen Namen.«
»Wolfi.«
»Stimmt das auch?«, fragte Henni und holte ein weiteres Mal aus.
»Warum sollte ich euch anlügen?«
»Wir stellen hier die Fragen«, sagte Hörg und hielt Hennis Arm fest, der bereits verdächtig zuckte. Eigentlich neigte sein Bruder nicht zu Gewalttätigkeiten. Heute schien er aber in Wolfi ein passendes Opfer gefunden zu haben, an dem er seinen durch die Strapazen des Tages aufgestauten Zorn abreagieren konnte. »Was treibst du hier?«
»Nichts. Ich ruhe mich nur aus.«
Bevor Hörg reagieren konnte, traf Hennis Hand erneut Wolfis Backe. Diesmal musste er allerdings zugeben, dass der Kleine den Treffer verdient hatte.
»Soll ich die Wahrheit aus dir herausprügeln?«, schrie Hörg und sah Wolfi böse an. »Oder möchtest du, dass mein Freund dies tut?«
»Ich warte auf Reisende«, gab der Knabe leise zu.
»Damit du sie überfallen kannst«, vermutete Hörg. »Du solltest dich schämen.«
»So ist es nicht«, sagte Wolfi schnell. »Ich biete den Herrschaften meine Dienste an.«
Jetzt war es Hörg, der sich nicht beherrschen konnte. Ohne Vorwarnung versetzte er Wolfi eine Rechts-links-Kombination schallender Ohrfeigen. »Harmlose Lemminge ausrauben und ihnen ihr letztes Geld stehlen, mit dem sie sich vor ihrem Tod noch ein paar schöne Stunden machen wollten, und dann auch noch lügen.«
»Ich mache das doch nur, damit ich mir etwas zu essen kaufen kann«, heulte Wolfi.
»Hast du es einmal mit ehrlicher Arbeit versucht?«, fauchte Henni.
»Was soll ich denn machen? Meine Familie beklaut Reisende schon seit vielen Generationen. Jetzt sind alle zum Schicksalsberg aufgebrochen und ich bin allein. Ich kann nichts anderes als stehlen.«
»Dann wird es Zeit, dass du etwas lernst. Du kommst auf jeden Fall mit uns. Dann werden wir sehen, was wir mit dir machen.« Hörgs Stimme ließ keinen Widerspruch zu.
Die beiden Missionare nahmen den Tunichtgut in die Mitte und führten ihn zum Wagen. Plötzlich blieb Wolfi stehen und zwickte Henni ins Bein.
»Was soll denn das jetzt werden?«, schrie er und holte aus, um dem Hänfling eine weitere Maulschelle zu verpassen.
»Nicht hauen«, wimmerte Wolfi und wich einen Schritt zurück.
»Du hast angefangen«, entgegnete Henni und rieb sich die gepeinigte Stelle.
»Ich wollte mich nur vergewissern, dass ihr auch wirklich keine Geister seid«, sagte Wolfi kleinlaut. »Es ist wirklich noch nie jemand aus derselben Richtung gekommen wie ihr.«
»Ich sag dir jetzt mal was«, fauchte Henni. »Es ist mir völlig egal, ob du mir glaubst oder nicht, aber es gibt kein gelobtes Land. Die Massenselbstmorde sind Geschichte, und du wirst dich daran gewöhnen müssen, dass der Pfad in beide Richtungen benutzt wird. Das ist aber im Moment nicht dein größtes Problem. Zunächst wirst du dich für deine Taten verantworten müssen.«
»Ihr wollt mich den Wachen übergeben?«
»Natürlich«, antwortete Hörg. »Was hast du denn gedacht?«
Wolfi schwieg und stieg nach Hennis Aufforderung auf den Wagen. Noch hatten ihn die beiden Missionare nicht gefesselt. Henni hatte dem Kerlchen aber unmissverständlich erklärt, dass genau das passieren würde, falls er sich auch nur die geringste Kleinigkeit leisten sollte.
Während der folgenden Stunde erfreute Henni Wolfi mit einem Vortrag über Recht und Unrecht, während sein Bruder halb schlafend auf dem Wagen saß. Die beiden Missionare wussten selbst nicht, was sie mit dem halbwüchsigen Wegelagerer anfangen sollten. Auf jeden Fall würde er in Beta bleiben müssen. Sollte sich doch der Statthalter um den Nichtsnutz kümmern.
Wie immer ohne Vorwarnung legte Karla einen ihrer bei den Brüdern inzwischen gefürchteten Stopps ein. Sie sprangen sofort auf ihrer Seite vom Wagen und entfernten sich ein paar Meter vom Gefährt. Wolfi, der nicht wissen konnte, was passieren würde, wenn das Daxi den Schwanz hob, blieb ruhig auf seinem Platz sitzen und wurde von der Gaswolke eingehüllt. Henni und Hörg rechneten damit, dass der Halbwüchsige bewusstlos vom Wagen fiel – aber genau das passierte zu ihrer großen Überraschung nicht. Der kleine Strauchdieb blieb auf der Bank hocken, als wäre nichts passiert, und grinste die beiden Brüder nur an.
»Was ist denn mit euch los?«
»Das sollten wir dich fragen!«, entgegnete Henni.
»Wieso?«
»Riechst du das denn nicht?«, fragte Hörg verwundert.
»Nein. Ich verstehe nicht, was du meinst.«
»Das Daxi entlässt furchtbare Gase, die einem Hören und Sehen vergehen lassen«, antwortete Henni. »Du hast mitten in dieser Wolke gesessen. Es ist kaum zu glauben, dass du nichts davon gemerkt hast.«
»Ich habe mir als Welpe die Nase gebrochen und dabei meinen Geruchssinn verloren.«
»Der Gestank legt sich einem auch auf die Zunge«, sagte Henni.
»Davon spüre ich nichts.«
Hörg zog seinen Bruder zur Seite und forderte ihn auf, ihm zu folgen.
»Was ist denn los?«, fragte Henni irritiert.
»Ich habe eine Idee, was wir mit dem Kleinen machen können.«
»Ich auch. Wir lassen ihn in den Kerker werfen.«
»Jetzt hör doch mal zu. Wolfi wäre der ideale Pfleger für Karla. Wir können uns in den Städten kaum um das Daxi kümmern. Für ihn wäre es aber ein guter Start in ein geregeltes Leben.«
»Ich mag diesen kleinen Wegelagerer nicht«, entgegnete Henni.
»Du bist voreingenommen. Gib ihm doch wenigstens eine Chance. Wenn er versagt, können wir ihn immer noch den Wachen des Statthalters ausliefern.«
»Vielleicht hast du recht«, gab Henni nach kurzem Zögern zu. »Wenn er sich aber nicht benimmt, bekommt er eine Tracht Prügel.«
»Er wird uns nicht enttäuschen. Du wirst schon sehen.«
»Geht es jetzt endlich weiter?«, fragte Wolfi, nachdem sich die beiden Missionare wieder zu ihm auf den Wagen gesetzt hatten.
»Sei nicht so frech«, blaffte Henni, schwieg aber dann nach einem mahnenden Blick seines Bruders.
»Wir haben vielleicht einen Job für dich«, sagte Hörg.
»Ich dachte, ich soll ins Gefängnis.«
»Da kommst du auch hin. Es sei denn, du arbeitest für uns. Gegen Bezahlung versteht sich.«
»Was soll ich denn machen?«, fragte Wolfi, der jetzt offensichtlich neugierig geworden war.
»Wenn du willst, kannst du dich ab sofort um Karla kümmern. Du bekommst Essen und einen Platz zum Schlafen. Wenn du die Arbeit gut erledigst, können wir in einer Woche auch über ein kleines Taschengeld reden.«
»Habe ich eine andere Wahl?«
»Natürlich hast du die«, antwortete Hörg und grinste Wolfi böse an. »Wenn du ablehnst, gehst du in den Kerker.«
Auch wenn Henni nicht völlig überzeugt war, einigten sich die drei Lemminge darauf, es zunächst ein paar Tage miteinander zu versuchen. Der Halbwüchsige zeigte sich sehr erleichtert darüber, dem Kerker bis auf Weiteres entkommen zu sein, und verhielt sich seinen Arbeitgebern gegenüber höflich und unterwürfig. Jetzt konnten die drei nur noch hoffen, dass sie unterwegs keine Lemminge trafen, die Wolfi beraubt hatte. Sehr wahrscheinlich waren seine Opfer aber mittlerweile alle über den Schicksalsberg gegangen oder noch auf dem Weg dorthin.
»Schaut mal da vorne«, rief Wolfi plötzlich aufgeregt und deutete mit dem Finger zur rechten Seite des Weges.
»Ich sehe nichts«, sagte Hörg.
»Ich auch nicht«, pflichtete ihm Henni bei.
»Da glänzt etwas.«
»Wo denn?«, fragte Hörg ungeduldig. »Ich kann nichts erkennen.«
»Es ist direkt vor uns, vielleicht hundert Meter entfernt.«
Nachdem sie noch ein Stück weiter gefahren waren, konnten auch die beiden Missionare sehen, dass dort etwas lag.
»Deine Augen sind deutlich besser als dein Geruchssinn«, sagte Henni lobend. Dann zog er an den Zügeln, damit Karla stehen blieb, und stieg vom Wagen hinunter.
»Sieht wie eine Art Plane aus«, sagte Hörg, der seinem Bruder, genau wie Wolfi, gefolgt war.
»Ich würde eher sagen, das ist ein Handschuh«, entgegnete Henni. »Allerdings muss der einem Riesen gehören.«
In der Tat waren die einzelnen Finger eines Handschuhs zu erkennen. Es hatte sich Wasser darauf gesammelt, auf dem sich die Sonnenstrahlen spiegelten. Dadurch war Wolfi auf das Ding aufmerksam geworden.
»Das ist wirklich ein eigenartiger Fund«, sagte Hörg. Er griff nach einem Finger und zog ihn hoch, um ihn sich genauer anschauen zu können. Das Material war fast durchsichtig und Hörg nahm an, dass der Handschuh aus einer Art Gummi gefertigt worden war.
»Was machen wir jetzt damit?«, fragte Henni und sah seinen Bruder ratlos an.
»Wir nehmen das Ding mit«, antwortete er.
»Wozu?«
»Das weiß ich auch noch nicht. Wenn uns nichts Besseres einfällt, können wir daraus eine Plane schneiden und den Wagen abdecken. Zunächst einmal sollten wir diesen Handschuh lassen, wie er ist. Vielleicht können wir ihn in Beta ja auch zu Geld machen.«
»Wenn du meinst.« Henni schien nicht so überzeugt zu sein, wie sein Bruder, sagte aber nichts mehr dagegen und half Hörg und Wolfi dabei, den Gummihandschuh zum Wagen zu ziehen.
Er war deutlich schwerer, als es die drei Lemminge erwartet hatten, und sie waren schweißgebadet, als sie ihr Ziel endlich erreichten. Der schwierigste Teil der Arbeit bestand allerdings darin, die Last auf die Ladefläche zu bekommen. Schließlich kletterten Henni und Hörg auf die Kisten mit den Kaubonbons und zogen den Handschuh von oben hinauf. Beide waren völlig ausgepumpt, nachdem sie es endlich geschafft hatten, ihn auf dem Wagen festzubinden. Auch Wolfi, der die Brüder vom Boden aus unterstützt hatte, lag schwer atmend mit dem Rücken auf der Wiese.
»Das wäre erledigt«, sagte Hörg erleichtert und wischte sich den Schweiß aus dem Gesicht.
»Jammere nicht«, entgegnete Henni. »Schließlich war es deine Idee, das Ding mitzuschleppen. Vermutlich werfen wir es irgendwann weg, weil wir keine Verwendung dafür haben.«
»Fang jetzt nicht an darüber zu diskutieren. Du hättest ja gleich sagen können, dass wir den Handschuh hierlassen sollen.«
»Schon gut«, lenkte Henni ein. »Vielleicht hast du ja recht. Lass uns jetzt aber weiterfahren. Wir haben genug Zeit verloren und wollen Beta heute noch erreichen.«
Die drei stiegen wieder auf ihre Sitzbank und Henni gab dem Daxi den Befehl weiterzulaufen.