Als der Debutroman des mysteriösen Autors J. Colby zur literarischen Sensation des Jahres wird, ist die junge Unidozentin Emiline neugierig, was hinter dem Hype steckt.
Doch dann entdeckt sie: Das Buch erzählt ihre eigene unglückliche und dunkle Kindheit. Was bedeutet, Jackson muss Jase sein, ihre erste große Liebe.
Zutiefst verletzt macht sie sich auf die Suche, um ihn zur Rede zur stellen. Bald muss sie sich fragen, ob sie tatsächlich erfahren will, was damals geschah …
Renée Carlino ist Drehbuchautorin und lebt mit ihrem Mann, den beiden Söhnen und einem niedlichen Hund namens John Snow Cash im sonnigen Süden Kaliforniens. Sie ist eine Leseratte, liebt Livemusik und ist ganz versessen auf dunkle Schokolade.
Renée Carlino
NUR EINEN
HERZ
SCHLAG
ENTFERNT
Roman
Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch
von Frauke Meier
LÜBBE
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Titel der amerikanischen Originalausgabe:
»Swear on This Life«
German translation copyright © 2020 by Bastei Lübbe AG, Köln
Original English language edition Copyright © 2016 by Renée Carlino
All rights reserved including the right of reproduction in whole or in part in any form. This edition published by arrangement with the original publisher,
Atria Books, a Division of Simon & Schuster, Inc., New York.
Für die deutschsprachige Ausgabe:
Copyright © 2020 by Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: Anne Pias, Köln
Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München
Umschlagmotiv: © BLUR LIFE 1975/shutterstock.com;
Melinda Nagy/shutterstock.com
eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen
ISBN 978-3-7325-8637-0
www.luebbe.de
www.lesejury.de
Für Anthony – du wirst immer dieser eine Mensch sein.
Im Kurs sagen wir: Das ist ein bisschen zu offensichtlich, wenn jemand eine Geschichte oder eine Szene geschrieben hat, in der exakt das, was man erwartet, tatsächlich auch passiert. Oder wenn alles zu perfekt abläuft oder zu zielgerichtet. Aber im echten Leben fällt es uns schwer, glückliche Zufälle zu erkennen, weil wir uns die Geschichte nicht ausdenken, während wir sie erleben. Es ist kein Märchen – es ist etwas, das uns wirklich begegnet, und wir haben keine Ahnung, wie es ausgehen wird.
Einige von uns werden auf ihr Leben zurückblicken und sich an Ereignisse erinnern, die ein bisschen zu perfekt waren. Aber solange man nicht die ganze Geschichte kennt, ist es unmöglich, die Handschrift des Universums darin zu erkennen oder wenigstens zuzugeben, dass es da etwas gibt, das größer ist als wir und dafür sorgt, dass alles, was passieren soll, tatsächlich auch passiert. Doch wenn man sich der Vorstellung hingibt, dass es einen Plan geben könnte, statt jeden magischen Moment auf bloßen Zufall zu reduzieren, dann wird die Liebe einen finden. Er hat mich gefunden.
»Wow, die Möwen spielen völlig verrückt. Ich glaube, da kommt ein Tsunami auf uns zu«, sagte ich, während ich aus dem Fenster meiner Wohnung im ersten Obergeschoss starrte und zusah, wie sich der Küstennebel über La Jolla Cove verdichtete. Der Dunst bewegte sich schnell auf mein Haus zu, und in der Ferne wirbelten Gewitterwolken über den Himmel.
Trevor lachte. »Typisch San Diego, deine Überreaktion auf das Wetter.« Er saß auf dem Boden, mit dem Rücken an das überteuerte Ledersofa gelehnt, das meine Tanten Cyndi und Sharon mir zum Einzug gekauft hatten.
»Glaubst du, wir brauchen Sandsäcke?«
»Nein, ich glaube, du bist verrückt«, erwiderte er.
»Verrückt oder vorsichtig?«
»Ich würde es neurotisch nennen. Es nieselt ein bisschen. Es ist im Moment immer noch viel zu trocken in Kalifornien.«
Mir fiel auf, dass Trevor nicht mehr die Kurzgeschichte las, die ich geschrieben hatte, sondern stattdessen wieder Angry Birds auf seinem Telefon spielte.
»Trevor …«, mahnte ich.
»Emiline …«, antwortete er, ohne auch nur aufzublicken.
Ich ließ mich einfach auf seinen Schoß fallen und schlang die Arme um seinen Hals. »Ich möchte wirklich, dass du das liest.«
»Hab ich. Ich habe schnell gelesen.«
»So? Und wovon handelt die Geschichte?«
»Sie handelt von einem Mädchen, das eine uralte Formel für kalte Fusion entdeckt.«
»Die Handlung kennst du also. Aber hat sie dir gefallen?«
»Emi …« Er zögerte, und sein Blick huschte durch den Raum. Als er dann schließlich wieder mich anschaute, erkannte ich Mitleid in seinen Zügen. »Sie hat mir sehr gefallen«, sagte er.
»Aber …«
»Ich denke, du solltest über Dinge schreiben, mit denen du dich auskennst. Du bist eine gute Autorin, aber das hier …« Er hielt die Blätter hoch. »… das wirkt ein bisschen albern.«
»Albern? Warum?« Ich spürte, wie der Ärger in mir hochkochte. Trevor war ehrlich – das war einer der Gründe, warum ich ihn so gernhatte –, aber manchmal war er auch so unverblümt, dass es einer Beleidigung nahekam.
»Zunächst mal ist es unrealistisch.«
»Das ist Science-Fiction«, konterte ich.
»Es fehlt an Charakterentwicklung.« Er zuckte mit den Schultern, als läge das, was er sagte, auf der Hand.
»Trevor, bitte fang nicht mit diesem Kreativen-Schreiben-Anfängerkram an. Damit habe ich in meinem Kurs schon mehr als genug zu tun. Ich möchte das machen, was ich den Studenten immer erzähle. Die Regeln vergessen und sich beim Schreiben auf die Intuition verlassen. Sag mir bitte, wie du es findest – aus der Sicht eines Lesers, nicht aus der eines Lehrers.«
»Ich versuche es. Aber ich dachte, das hätte ich schon. Außerdem kommst du damit nicht zurecht, wenn ich deine Arbeit beurteile. Ich habe keinen Zugang zu den Charakteren gefunden, also hatte ich keine Lust, den Rest der Geschichte zu lesen. Ich bin nur ehrlich.«
»Es gibt auch nettere Arten, ehrlich zu sein«, murrte ich.
»Ich habe die Story trotzdem zu Ende gelesen, und jetzt versuche ich, dir zu helfen, aber das willst du offensichtlich nicht. Sag mir doch einfach, was ich sagen soll.«
Ich verschränkte die Arme vor der Brust. »War das jetzt dein Ernst?«
»Ja.« Abrupt stand er auf, und ich kippte um und fiel auf den Boden.
»Du bist kein Leser. Ich hätte dich gar nicht erst bitten sollen, das zu lesen. Streiten wir uns jetzt wirklich darüber?«
»Über so etwas streiten wir immer«, konterte er. »Und ich finde es beleidigend, dass du sagst, ich wäre kein Leser, als wäre ich eine Art ungebildeter Neandertaler.«
Trevor und ich waren schon seit unserem letzten Jahr in Berkeley zusammen. Daher wusste ich genau, woher seine Unsicherheit kam. Sieben Jahre – eine lange Zeit. Als wir uns kennenlernten, war er ein gefeierter Quarterback auf dem Weg in die NFL, und ich war ein Bücherwurm, der versuchte, eine Autorin zu werden. Er spielte nicht nur in der gleichen Position wie Tom Brady, er war auch genauso attraktiv, weshalb ich mich lange gefragt hatte, was er überhaupt an mir fand. Doch aus irgendeinem Grund hatte sich das am Anfang einfach richtig angefühlt. Wir verstanden uns wunderbar, und unsere Beziehung entwickelte sich geradezu märchenhaft – bis er sich im letzten Spiel der Saison den Wurfarm verletzte. Seine Karriere als Footballprofi war vorbei, ehe sie überhaupt angefangen hatte.
Also machte er ganz unglamourös seinen Abschluss und nahm einen Job als Assistant Offensive Coach an der San Diego State an, damit er näher bei mir war, während ich meinen Master of Fine Arts an der UC San Diego machte. Einen größeren Liebesbeweis hätte er kaum erbringen können, trotzdem hatte ich immer das Gefühl, als wäre ein kleines Licht in ihm erloschen. Er war zwar bei mir in San Diego, aber manchmal kam es mir vor, als wollte er ganz woanders sein.
Eine Beziehung wandelt sich ständig auf subtile Weise, aber in unserem Fall war es zu einer abrupten Veränderung gekommen: Von dem Moment an, in dem er verletzt wurde, war er nicht mehr der Star-Quarterback, der einen streberhaften Bücherwurm betört hatte. Mich hatte das nie gestört, aber ihm machte es eindeutig zu schaffen. Selbst nachdem er mir nach San Diego gefolgt war, lebten wir getrennt, aber wir redeten nicht darüber, selbst dann nicht, als ich meinen MFA in der Tasche hatte. Ich sagte mir, ich würde einfach auf ihn warten, ihm die Möglichkeit geben, die Entscheidung zu treffen, aber wenn ich ehrlich war, wusste ich nicht so recht, ob ich überhaupt mit ihm zusammenziehen wollte.
Also teilte ich mir das Apartment weiter mit meiner Mitbewohnerin Cara, die mit mir Kreatives Schreiben studiert hatte. Sie wollte ein bisschen Geld sparen, während sie ein paar Schreibkurse gab und an ihrem ersten Roman arbeitete, woran ich mich ebenfalls versuchte. Ihr langjähriger Freund Henry war Assistenzarzt der Chirurgie in New York, und sie hatte vor, am Ende des Studienjahrs zu ihm zu ziehen. Ich wusste, bis dahin musste ich mir etwas überlegen, aber Streitereien wie diese weckten in mir den Verdacht, dass Trevor und ich für den nächsten Schritt nicht bereit waren.
»Ich gehe eine Runde laufen«, sagte ich zu Trevor und ging zum Schlafzimmer, um mich umzuziehen.
»Was? In der einen Minute hast du Angst vor einem Tsunami und in der nächsten willst du laufen? Spinnst du?« Er folgte mir. »Emi, irgendwann musst du dich mit deinem Scheiß auseinandersetzen.«
»Meinem Scheiß? Was ist denn mit deinem Scheiß?«, erwiderte ich ausdruckslos, während ich auf dem Boden saß und meine Laufschuhe schnürte, ohne ihn auch nur anzusehen. Ich stand auf und versuchte, an ihm vorbeizukommen. Ich mochte Ballast mit mir herumschleppen, aber davon konnte Trevor sich auch nicht freisprechen.
»Du kannst nicht jedes Mal laufen gehen, wenn ich mit dir über was reden will.«
»Wir reden später«, sagte ich.
»Nein, jetzt«, entgegnete er bestimmt.
Ich schob mich an ihm vorbei zur Schlafzimmertür hinaus und ging in Richtung Küche. Dort beschäftigte ich mich damit, eine Wasserflasche aufzufüllen.
»Wir sind zusammen, seit wir zwanzig waren, Emi.«
»Verdammt, ich habe dich doch nur gebeten, eine Geschichte zu lesen.«
»Es geht nicht um deine Geschichte.«
»Worum geht es dann?«, fragte ich scharf.
Er sah frustriert und geschlagen aus, was ziemlich selten vorkam. Ein Anflug von schlechtem Gewissen sorgte dafür, dass ich wieder etwas ruhiger wurde.
»Trevor, ich weiß nicht, ob es dir aufgefallen ist, aber im Moment fällt mir das Schreiben nicht gerade leicht. Ich möchte nicht ewig Hilfsprofessorin für Kreatives Schreiben bleiben. Verstehst du das?«
»Du bist schon Autorin, Emi.« Er wirkte aufrichtig, aber das war nicht so ganz das, was ich hören wollte.
»All die anderen Hilfsprofessoren haben schon was veröffentlicht, nur ich nicht.«
»Cara auch?«
»Zweimal«, flüsterte ich.
Er zögerte, ehe er fortfuhr: »Willst du wissen, was ich denke? Es liegt nicht an einem Mangel an Talent, Emi. Ich glaube nur nicht, dass du dich mit den Dingen auskennst, über die du schreibst. Warum versuchst du nicht mal, über dich zu schreiben? Das zu erkunden, was du in deiner Kindheit durchgemacht hast?«
Ich spürte, wie die Wut erneut in mir hochkochte. Er wusste, dass meine Kindheit tabu war. »Darüber will ich nicht reden, und außerdem begreifst du einfach nicht, worum es geht.«
Ich zog mir die Kapuze über das Haar, stieß die Tür auf und lief die Treppe zum Gehweg hinunter, wo mir der Regen direkt ins Gesicht schlug. Ich hörte, wie Trevor die Tür zuknallte und hinter mir herlief. Auf dem Bürgersteig blieb ich stehen, drehte mich um und sah ihn an. »Was machst du?«
»Ich gehe nach Hause«, sagte er.
»Okay.«
»Wir müssen trotzdem reden.«
Ich nickte. »Später.« Daraufhin machte er auf dem Absatz kehrt und ging davon. Ich blieb einen Moment stehen, ehe ich mich in die Gegenrichtung umdrehte … und dann lief ich.
Ich war überzeugt, dass die jahrelange Therapie, die meine Tante Cyndi und ihre Freundin Sharon mir bezahlt hatten, dafür sorgte, dass meine Vergangenheit für immer einfach nur das wäre: vergangen. Trotzdem wusste ich irgendwo in meinem Hinterkopf, dass ich noch nicht ganz fertig war mit dem, was auf dieser langen Lehmstraße in Ohio passiert war, all diese Jahre, bevor ich schließlich bei Cyndi und Sharon untergekommen war. Ich war zurückhaltend und verschlossen, versteckte mich in meiner Beziehung zu Trevor, in meinem Job als Hilfsprofessorin, in meiner Schreiberei. Das alles war mir bewusst, aber mir war nicht so recht klar, wie ich aus diesem ewigen Teufelskreis ausbrechen sollte.
Nach ein paar Kilometern fand ich mich auf dem Parkplatz der UCSD wieder, von den schweren Regentropfen bis auf die Haut durchnässt.
»Emi!«, hörte ich Cara hinter mir rufen. »Warte!«
Ich drehte mich um und zog die Kordel meiner Kapuze weiter zu. »Beeil dich. Ich bin klitschnass.«
Als Cara auf mich zujoggte, klebte ihr glattes blondes Haar an den Wangen, wodurch sie noch dünner wirkte, als sie eh schon war. Sie war das Gegenteil von mir – groß, schmal, helles Haar, helle Augen. Ich dagegen hatte wirres, dunkles Haar, das mir ständig in alle Richtungen vom Kopf abstand.
Wir suchten unter dem auskragenden Obergeschoss des Gebäudes Schutz, in dem das Institut für Kreatives Schreiben untergebracht war.
»Oje, Emi, dein Haar.« Erfolglos versuchte Cara, es zu glätten, als wir das Gebäude betraten und das Wasser von unseren Klamotten schüttelten. Ehe ich irgendetwas erwidern konnte, sahen wir Professor James in seinem Büro, dessen Tür offen stand, aufblicken.
»Professor!«, rief Cara.
Der Mann erfüllte jedes Klischee eines Collegeprofessors. Er war füllig, hatte einen dichten Bart und trug stets Karos oder Fischgrätmuster. Es fiel nicht schwer, sich vorzustellen, wie er mit einer Pfeife im Mundwinkel Vorträge hielt.
»Haben Sie schon Anmerkungen zu meiner Geschichte?«, fragte Cara.
»Die habe ich in der Tat.« Er wühlte in seiner arg ramponierten Lederaktentasche und reichte Cara einen Stapel Papiere. »Ich habe sie an den Rand geschrieben.«
Cara lechzte nach konstruktiver Kritik, doch mir waren die Anmerkungen des Professors nie als besonders hilfreich erschienen, nicht einmal, als ich noch studiert hatte. Nach meinem Abschluss hatte ich ihn meine Arbeiten nicht mehr lesen lassen.
Während Cara die Randnotizen überflog, musterte Professor James mich von oben bis unten. »Und, woran arbeiten Sie, Emiline?«
»Im Moment nur an ein paar szenischen Übungen.« Ich wandte mich ab, um seinem starren Blick auszuweichen.
»Ich wollte nicht wissen, was Sie mit Ihren Studenten machen. Ich meinte Ihre persönlichen Projekte.«
Müßig dachte ich darüber nach, dass das einzige persönliche Projekt, an dem mir gerade gelegen war, darin bestand, meine Augenbrauen zu zupfen und die Beine zu rasieren. »Ach, nur ein paar Kurzgeschichten.«
»Sollten Sie je an einer Rückmeldung interessiert sein, können Sie Ihre Arbeiten gern in meinem Büro abgeben.«
Unbehaglich trat ich von einem Fuß auf den anderen. »Danke. Ich werd’s mir überlegen.«
Ich warf einen Blick auf Caras Story, und da fiel mir ganz oben auf der Seite in dicken roten Buchstaben die Anmerkung »BRILLANT!!« auf.
Professor James nickte uns zum Abschied kurz zu und ging seiner Wege. Ich drehte mich zu Cara um. »Zwei Ausrufezeichen? Über meine Arbeit hat er nie etwas gesagt, das auch nur annähernd so nett gewesen wäre.«
Cara runzelte die Stirn. »Du weißt, was ich darüber denke, Emi.«
»Oh Mann, und schon geht es wieder los.«
»Mir ist schon klar, dass du das nicht gern hörst, aber es ist wahr. Vielleicht schreibst du einfach über die falschen Dinge.«
Erst Trevor, und jetzt auch noch Cara? »Ich kann richtig gut backen – bedeutet das, ich muss Bäckerin werden?«
»Du weißt genau, dass ich es so nicht gemeint habe«, sagte sie.
»Ja, ich weiß.« Ich starrte meine ausgetretenen Nikes an. »Ich bin es nur so leid, dass ich bei meinen Kurzgeschichten immer irgendwie danebenliege. Meine letzte hat Trevor mehr oder weniger in der Luft zerrissen.« Ich blickte auf und deutete mit einem Nicken zum anderen Ende des Gangs. »Komm, lass uns los.«
Schweigend gingen wir zum Lehrerzimmer, um in unsere Postfächer zu sehen.
»Vielleicht könntest du es mit Memoiren versuchen? Selbst, wenn du sie nicht zu Ende bringst, könnte dir das helfen herauszufinden, was du in deinen Kurzgeschichten behandeln willst. Irgendetwas, was mehr mit dir selbst zu tun hat?«
»Nein danke«, entgegnete ich in der Hoffnung, dass mein Ton ihr vermittelte, wie sehr ich mir wünschte, sie würde das Thema fallen lassen.
Anscheinend hatte sie den Wink verstanden. »Hast du schon von diesem neuen Autor gehört, über den alle reden? J. Colby?«
Ich blätterte in den Papieren aus meinem Mitarbeiterfach und warf die Werbesendungen in den Mülleimer. »Nein, wer ist das?«
»Hat seinen Abschluss an der Columbia gemacht. Er ist ungefähr in unserem Alter. Kaum zu glauben, dass er schon ein Buch veröffentlicht hat. Und alle schwärmen von seinem Roman.«
»Schön für ihn«, kommentierte ich frustriert.
»Tja, ich werde es jedenfalls lesen, um herauszufinden, ob es gerechtfertigt ist«, sagte sie, während sie einen Stapel Briefe in ihren Stoffbeutel stopfte. »Er heißt All die Straßen auf unserem Weg. Ist das nicht ein toller Titel?«
»Ist okay. Erinnert mich irgendwie an Die Brücken am Fluss oder so.« Ich drehte mich zu ihr um. »Also gut, ich bin hier fertig, ich gehe nach Hause. Kommst du mit?«
»Ich komme nach – ich muss noch was erledigen. Aber, hey, weißt du, was wir bei dem Wetter machen sollten? Zu Hause bleiben, was zum Essen bestellen, Trash-TV gucken und uns betrinken. Das würde dich doch ein bisschen aufheitern, oder?«
»Vermutlich. Ja … das hört sich nicht schlecht an. Sogar richtig gut. Lass uns das machen.« Was machte es schon, dass ich Trevor versprochen hatte, mit ihm Football zu schauen und zu reden. Was ich jetzt brauchte, war ein netter Abend zu Hause mit meiner besten Freundin. »Ich besorge den Wein, du holst chinesisches Essen.«
»Einverstanden. Wir sehen uns zu Hause.«
Hinter den Gewitterwolken ging die Sonne unter, während ich auf der Fensterbank hockte, zusah, wie die Wellen an die Felsenküste der Bucht schlugen, und über die Geschichte nachdachte, die ich schreiben könnte. Ich wusste, ich hatte seitenweise Material. Bücherweise sogar. Ich wusste nur nicht, ob ich die Worte je zu Papier würde bringen können.
Cara polterte mit einer Tüte von Barnes and Noble zur Tür herein.
»Gibt es bei Barnes and Noble jetzt auch chinesisches Essen?«
»Unser Date muss ausfallen! Ich habe mir das Buch gekauft, über das wir gesprochen hatten. Ich habe schon im Laden zwanzig Seiten gelesen und konnte es einfach nicht wieder weglegen, und jetzt muss ich wissen, wie es weitergeht. Emiline, ich liebe diesen Autor. Ich werde ihn finden und ihn überzeugen, mich zu heiraten.«
»Und wie wird Henry das finden?«
Sie klatschte die Tüte auf die Frühstücksbar und schenkte sich ein Glas Wein ein. Ich sah ihr vom Fenstersims aus zu. »Er wird das verstehen«, antwortete sie kichernd.
»Du lässt mich also sitzen, um dich in dein Zimmer zu verziehen und zu lesen?«
»Du weißt doch, wie das ist, wenn mich ein Buch erst mal gepackt hat. Dann kann ich nicht aufhören.«
Ich verstand genau, was sie meinte – mir ging es nicht anders. »Okay. Aber du bist mir was schuldig.«
»Vielleicht kann Trevor kurz mit chinesischem Essen vorbeischauen?«
Ich lachte. »Du servierst mich ab, willst aber, dass mein Freund uns was zu essen bringt?«
Lächelnd beugte sie sich über das Sofa. »Bist du sauer?«
»Nein, ich will dich nur ärgern. Jetzt hau ab und genieß das Buch.«
Als Trevor eine Stunde später mit dem chinesischen Essen auftauchte, kam Cara aus ihrem Zimmer, holte sich einen Teller und verschwand umgehend wieder.
»Was ist mit der los?«, fragte er.
»Sie liest.«
»Tja, dann haben wir wohl jetzt Zeit zum Reden.« Nebeneinander setzten wir uns an die Theke, öffneten schweigend die Essenskartons und warteten darauf, dass der andere den ersten Schritt machte.
Nach einigen Bissen legte ich meine Stäbchen weg. »Du willst reden? Schön. Warum sagst du mir nie, dass du mich liebst?«
»Ich habe es dir doch schon mal gesagt«, erwiderte er überrascht. »Das ist aber nicht das, worüber ich mit dir reden will.«
»Tja, ich will aber darüber reden. Du hast es gesagt, aber nicht gerade oft. Ist dir nicht danach, mir das zu sagen?«
»Du sagst mir auch nicht, dass du mich liebst.«
Berechtigter Einwand. »Ich glaube, wir wissen nicht mal, was das bedeutet«, sagte ich mit dem Mund voller Sesamhähnchen.
»Was immer dir gerade zu schaffen macht, es hat nichts mit mir zu tun«, konstatierte er.
Trevor hatte so eine Art, bei Streitigkeiten jegliche Verantwortung von sich zu weisen. Mich machte das wahnsinnig.
»Leute gehen Beziehungen ein, damit sie Dinge miteinander teilen können.«
»Das aus deinem Munde? Ich staune.« Er seufzte. »Emi, wir sind seit sieben Jahren zusammen, und ich kenne dich immer noch nicht wirklich. Du erzählst mir alles Mögliche, aber nichts aus deiner Vergangenheit.«
Ich spürte, wie ich automatisch auf Abwehr umschaltete. »Wenn wir jetzt bei gegenseitigen Schuldzuweisungen sind, du hast dir auch keine große Mühe gegeben, mich kennenzulernen oder eine echte Bindung aufzubauen.«
Trevor verzog das Gesicht, und ich sah ihm an, dass ich einen wunden Punkt getroffen hatte.
»Ist das dein Ernst? Du sagst ständig, du weißt nicht, wo du in einem Jahr bist. Keine Ahnung, was das heißt. Was denkst du, wie ich mich dabei fühle?«
»Warum bist du dann hier?«, fragte ich nur. So kaltschnäuzig hatte ich gar nicht sein wollen, und ich erkannte, dass ich zu weit gegangen war. Dass ich ihn zu sehr verletzt hatte.
»Deinetwegen bin ich hergezogen, Emi. Ich habe mein ganzes Leben um diese Beziehung herum aufgebaut.« Er erhob sich von seinem Barhocker. »Wir sind keine Studenten mehr. Ich kann nicht gleichzeitig mit deiner verdammten Unbeständigkeit umgehen und mir anhören, ich würde keine Bindung zu dir aufbauen. Du bist es, die keine Beziehung mit mir will.«
In mir blubberten alle möglichen scharfen Erwiderungen. Dein einziges Jobangebot stammte aus San Diego. Du bist nicht meinetwegen hergezogen. Ich bin nur die Frau, mit der du dir die Zeit vertreibst. Das wissen wir beide. Warum sonst sollte es dir so schwerfallen, mir zu sagen, dass du mich liebst? Warum sonst kann ich mir unsere Zukunft nicht vorstellen?
Ich stand auf und ging in mein Zimmer. Trevor folgte mir auf dem Fuße. An der Tür legte ich für einen Moment die Hand auf den Knauf und drehte mich zu ihm um, während er schweigend wartete. Dann zog ich ihn an mich und küsste ihn, presste meinen Körper an seinen. Ich wollte nicht mehr reden.
Als ich am nächsten Morgen an der Frühstückstheke meinen Kaffee trank, hüpfte Cara herbei. »Was nagt denn so an dir?«, fragte sie. Ich hatte keine Ahnung, wie sie es schaffte, mir solche Dinge am Hinterkopf abzulesen, aber sie konnte Stimmungen auffangen wie niemand anderes. Sie schenkte sich einen Becher Kaffee ein, lehnte sich auf die Theke, sah mich unverwandt an, während sie auf eine Antwort wartete.
»Trevor.«
»Trevor nagt an dir?«
»Nicht auf eine angenehme Art, du Perverse.« Ich verdrehte die Augen.
»Streitet ihr euch wieder? Gestern Abend hat es sich eigentlich eher so angehört, als würdet ihr euch ziemlich gut vertragen.«
»Wir streiten immer. Sogar, wenn wir uns gut vertragen.«
Sie richtete sich auf, als wäre ihr gerade etwas in den Sinn gekommen, und ging zu ihrem Zimmer. »Bin gleich wieder da. Hau nicht ab.«
Gleich darauf kehrte sie zurück und legte ein Buch vor mir auf die Theke.
Ich warf einen Blick auf den Einband. All die Straßen auf unserem Weg.
»Du bist schon fertig?«, fragte ich.
»Bin die ganze Nacht wach geblieben. Ich liebe es. Du hast gesagt, ich bin dir was schuldig, weil ich dich gestern Abend im Stich gelassen habe, und das ist meine Wiedergutmachung. Ich glaube, du kannst eine kleine Ablenkung brauchen.«
»Ach ja?« Ich strich mit der Hand über das Buch. Auf dem Cover war ein Bild von zwei Kindern auf einer Straße zu sehen, die einander an den Händen hielten. Etwas an der Szenerie kam mir vertraut vor, aber ich konnte es nicht recht greifen.
»Vielleicht kannst du deiner eigenen, nicht perfekten Liebesgeschichte für eine Weile entkommen und dich in etwas verlieren, was befriedigender ist – auch wenn es nur fiktiv ist.«
Seufzend ergriff ich das Buch. Womöglich hatte sie recht. Mit der anderen Hand schnappte ich mir meinen Kaffee und machte mich auf den Weg zurück in mein Zimmer. »Danke, mein Glücksbärchi«, rief ich ihr über die Schulter zu.
»Immer gern.«
Kaum war ich in meinem Zimmer, ließ ich mich aufs Bett fallen und schlug das Buch auf. Von dem Moment an, in dem ich die zweite Zeile des ersten Absatzes gelesen hatte, schlug mein Herz dreimal so schnell wie sonst, und ich fing an zu schwitzen. Am Ende der ersten Seite war ich beinahe hysterisch.
Aus: All die Straßen auf unserem Weg
Wenn unser Schulbus die El Monte Road erreichte, waren Jax und ich die letzten Kinder, die noch übrig waren. Wir holperten an den Feldern entlang, vorbei an Carters Eierfarm und einer Menge verfallener Häuser, an Staubwolken und Unkraut. Wir lebten in der Nähe der El Monte am Ende einer langen Lehmstraße, die beim Fünf-komma-fünf-Meilen-Schild abzweigte. Zwei verbeulte Briefkästen auf schiefen, brüchigen Holzpfosten kennzeichneten die Zufahrt zu unseren Häusern. Auf dieser Straße wurde man im Auto kräftig durchgeschüttelt, und eine Busfahrt war nahezu unmöglich, darum holte Ms Beels uns an jedem Schultag bei Regen, Schnee und Sonnenschein an den Briefkästen ab. An diesen Briefkästen begannen und beendeten Jax und ich unsere lange Reise.
Ms Beels, eine gedrungene Frau, die nicht zusammenpassende Socken und alberne Sweatshirts zu tragen pflegte, war von der ersten Klasse an bis zur Highschool unsere Busfahrerin. Sie war die einzige Konstante, die einzige verlässliche Person in meinem Leben. Abgesehen von Jax.
Jeden Morgen begrüßte sie mich mit einem Lächeln, und an jedem Nachmittag sagte sie, kurz bevor sie die Tür schloss und weiterfuhr: »Geht nach Hause, Kinder, und esst euer Gemüse«, als könnten unsere Eltern sich solchen Luxus leisten. Ihr Leben war immer gleich, tagein, tagaus, aber sie lächelte trotzdem und tat gewissenhaft ihre Arbeit.
Wenn der eigenen Familie so gar nichts bleibt, dann beneidet man sogar Menschen wie Ms Beels. Auch wenn es nicht gerade ein Griff nach den Sternen ist, in einer bescheuerten Siedlung auf dem Lande einen Bus zu fahren, habe ich mit zehn Jahren dennoch zu ihr aufgeblickt. Sie hatte mehr als die meisten Leute, die ich damals kannte. Sie hatte einen Job.
Wir lebten in Neeble, Ohio, mit knapp achttausend Einwohnern. Heimat der ehemaligen Angestellten von American Paper Mill, deren Hauptsitz in New Clayton war. Die meisten Arbeiter hatten New Clayton verlassen, kurz nachdem die Fabrik geschlossen worden war, und ihre Familien in die ländlicheren, kleineren Orte gebracht, in denen die Mieten niedriger und Gelegenheitsjobs nicht ganz so selten waren.
Meine Familie hatte immer in Neeble gewohnt. Mein Dad war dort aufgewachsen und Jax’ Dad auch. Als die Fabrik noch in Betrieb war, fuhren sie zusammen nach New Clayton, begannen und beendeten ihre Tage gemeinsam, genau wie Jax und ich. Sie waren gute Freunde und gute Männer – so jedenfalls habe ich sie in Erinnerung. Und für eine Weile hatten wir ein angenehmes Leben. Mein Vater nannte das, was wir am Ende dieser Lehmstraße hatten, unser kleines Stückchen Himmel. Und das war es auch … lange Zeit. Aber wenn es hier auf Erden einen echten Himmel gab, dann gab es auch eine Hölle. Jax und ich mussten das schmerzhaft erfahren.
Er und ich waren nicht immer Freunde gewesen. Anfangs war er für mich nur ein übel riechender Junge mit dreckigen Fingernägeln und struppigem Haar, das ihm bis über die Augen fiel. In den ersten Jahren hörte ich von ihm kaum ein Wort außer »Ja, Ma’am« und »Nein, Ma’am«. Regelmäßig schlurfte er hinter mir die ganze Lehmstraße bis zu der Stelle hinunter, wo Ms Beels uns in Empfang nahm. Dann stiegen wir in den gelben Fern-County-Schulbus und hockten uns für die eineinhalbstündige Fahrt zur Schule hin. Ich saß immer in der ersten Reihe, und er ging jedes Mal direkt nach hinten durch.
Auf dem Weg durch den Ort sammelten wir noch einen ganzen Haufen anderer Kinder ein, wenigstens dreißig Schüler jedes Alters, aber die zwei, an die ich mich neben Jax am lebhaftesten erinnere, waren totale Arschlöcher. Ich war überzeugt, dass Mikey McDonald, der Junge mit dem militärisch kurzen blonden Haar und den Schlabberhosen, mir das Leben zur Hölle machen wollte.
»Emerson? Was ist das für ein Name? Ist das nicht ein Jungenname?«
Darauf verdrehte ich dann gewöhnlich die Augen und versuchte, gar nicht auf ihn zu achten. Ich bekam nie eine Gelegenheit, meine Eltern zu fragen, was sie geraucht hatten, als sie sich meinen Namen überlegt hatten.
In der dritten Klasse hatte Mikey einen neuen Kumpel: Alex Duncan. Was immer ich gerade bei mir hatte, er kam und versuchte, es mir aus den Händen zu schlagen, und dann setzten sie sich beide im Bus hinter mich und piesackten mich auf dem ganzen Weg nach Hause. »Vielleicht kannst du ja irgendwann ein Buch heiraten, Emerson Bücherwurm. Haha, du solltest echt Bücherwurm mit Nachnamen heißen.«
Alex hatte genau auf der Nasenspitze ein Muttermal. Er sah aus, als hätte er an Scheiße geschnüffelt. Lange Zeit ertrug ich die Gemeinheiten schweigend, aber in der vierten Klasse wurde plötzlich alles anders. Die Fabrik war da schon seit beinahe einem Jahr geschlossen, das Geld ging allmählich aus, und mein Vater tat gar nichts mehr außer trinken und Radio hören. Die Stimme des Radiomoderators Rush Limbaughs war mir vertrauter als die meines eigenen Vaters. Er zog sich einfach zurück. Er hatte beinahe aufgehört zu reden und wurde immer gemeiner. Daher verließ meine Mutter ihn und ließ mich mit ihm allein. Ich hatte nicht einmal einen Bruder oder eine Schwester, die mir hätten helfen können, die Last zu tragen.
Alles verändert sich, wenn ein Mann es sich nicht mehr leisten kann, Essen auf den Tisch zu bringen. Manche Männer sind so einer Situation gewachsen und finden eine Möglichkeit, über die Runden zu kommen, was immer dazu nötig ist. Andere sind zu stolz und können es nicht ertragen, ihre Welt zusammenbrechen zu sehen. Mein Dad war in dritter Generation Arbeiter bei American Paper Mill und Jax’ Vater ebenso. Das war alles, was sie kannten.
Nach Jahren der Quälerei durch Mikey und Alex kam ich an die Grenze meiner Belastbarkeit, als der stille, zurückhaltende Jax beschloss, sich an ihren kindischen Idiotien zu beteiligen.
Ich achtete immer darauf, dass meine Klamotten sauber und mein Gesicht gewaschen waren. Nachdem Mom gegangen war, fing Dad an, mit Susan Zeit zu verbringen, einer Frau, die als Zimmermädchen in einem Hotel in der Nähe arbeitete. Sie kleidete sich nicht wie ein Zimmermädchen, aber sie brachte uns immer diese kleinen Seifenstücke aus dem Motelbadezimmer mit, daher nahm ich an, dass sie wohl eines wäre. Die billige Hotelseife musste für alles herhalten. Ich wusch mir sogar die Haare damit, was logischerweise dazu führte, dass meine weichen braunen Locken sich innerhalb weniger Wochen in ein krauses Chaos verwandelten. Die Kinder im Bus nannten mich Medusa. Ach, wäre ich doch nur so beängstigend gewesen.
An einem schwülen Tag im Juni folgte mir Jax die Straße hinunter und nahm dann seinen üblichen Sitz im Heck ein. Auf halbem Wege zur Schule riefen Mikey und Alex Jax zu, er solle sich zu ihnen setzen. Gleich darauf fingen sie hinter mir an zu kichern.
»Hast du deinen Finger in eine Lampenfassung gesteckt, Medusa?«, fragte Alex.
»Wenn ich das anfasse, beißt es mich dann?«, stichelte Alex.
»Ja, echt cooles Haar«, bemerkte Jax.
Ich drehte mich um und durchbohrte ihn mit einem stechenden Blick. »Toller Kommentar, Fisher. Und so originell. Pass lieber auf, oder ich sage es deinem Vater.« Die anderen waren mir völlig egal, aber ich hatte nicht vor, mir das von einem Nachbarsjungen gefallen zu lassen. Er antwortete nicht – er fixierte mich nur und fing dabei an, leicht zu schielen. Aber wenigstens ließ er sich keine weitere Gemeinheit einfallen; es hatte sogar den Anschein, als hätte er ein schlechtes Gewissen. Er wandte den Blick nicht von meinen Augen ab.
»Mach ein Foto, da hast du länger was von«, blaffte ich. Er lief rot an und schaute weg.
Ich hörte, wie Mikey zu Jax sagte: »Erzählt sie das wirklich deinem Vater?«
Jax zuckte mit den Schultern. »Mir doch egal.«
Alex konzentrierte sich wieder auf mich. »Wir haben ja solche Angst – Pudelkopf will uns verpetzen. Wuff, wuff.«
Die Jungs fuhren ohne Jax’ Unterstützung fort, mich aufzuziehen. Jax hielt einfach nur den Kopf gesenkt und wartete, bis nur noch wir zwei im Bus saßen und wir wieder einmal das Meilenschild an der El Monte passierten. Ich wusste nicht recht, ob ich Jax mit meiner Drohung Angst gemacht hatte, oder ob er kapiert hatte, was für Idioten sie waren, also drehte ich mich auf meinem Sitz um und sah ihn über die Rücklehne der Bank an. »Das war kein Witz, Jackson Fisher. Ich werde es deinem Vater erzählen.«
»Das könnte ziemlich schwer werden, Emerson. Mein Dad ist weg. Er ist abgehauen.« Das war das erste Mal, dass ich ihn meinen Namen hatte sagen hören, und er sprach ihn so deutlich aus, wie es ein Erwachsener tun würde.
»Wo ist er hin?«
»Keine Ahnung. Wo ist deine Mom hin?«
Ich hätte nicht gedacht, dass er überhaupt von meiner Mom wusste – ich hatte angenommen, das wäre unser großes Familiengeheimnis. Aber es gab in solch einem kleinen Ort wohl keine Geheimnisse.
»Sie sind nicht … du denkst doch nicht …« Verlegen verstummte ich. War meine Mutter mit Jacksons Dad abgehauen?
»Nein, sie sind nicht zusammen. Ich meinte nur, sie haben das Gleiche getan. Sie haben uns verlassen.« Er schaute mit starrem Blick aus dem Fenster.
Ich war traurig und verwirrt. Einerseits wollte ich ihm in die Nase kneifen und ihm die Ohren langziehen, weil er sich über mich lustig gemacht hatte, andererseits wollte ich ihn in die Arme nehmen. Ich wusste, wie er sich fühlte, und es tat fast körperlich weh. Wenigstens hatte Jax zu Hause noch einen älteren Bruder. Ich hatte niemanden, nur meine Bücher.
Den Rest der Fahrt verbrachten wir schweigend, aber wir gingen Schulter an Schulter in freundschaftlicher Stille die lange Lehmstraße hinunter. Etwas fühlte sich anders an, so, als wäre eine Art Waffenstillstand geschlossen worden. Am Ende der Straße ging ich in mein finsteres Haus und er in seines. Drinnen fand ich meinen schnarchenden Vater, der noch im Schlaf eine Flasche Jack Daniel’s umklammerte, auf dem Sofa vor. Ich verschwand in meinem Zimmer, kramte eine Schere hervor, setzte mich vor den Spiegel und fing an, mir die Haare abzuschneiden. Später döste ich ein, ohne zu Abend gegessen zu haben, nur um gegen drei am Morgen von dem trunkenen Gefasel meines Vaters wieder wach zu werden. Er taumelte gegen Wände und schimpfte vor sich hin. Ich versteckte mich unter meiner Decke, und bald darauf stolperte er zu meiner Tür herein, und das dunkle Zimmer füllte sich mit dem Lichtschein aus dem Korridor. Ich hatte schreckliche Angst.
»Was machst du da, Emerson?«
»Ich habe geschlafen. Es ist spät, Dad, und ich muss morgen früh zur Schule.« Ich versuchte, möglichst kleinlaut und bußfertig zu klingen. In seinem Schnurrbart klebten Essensreste, und ich fragte mich, was er wohl gegessen hatte. Sosehr ich mich fürchtete, ich hatte auch genug Hunger, um mich von diesem Detail ablenken zu lassen.
Er kniff die Augen zusammen, als er in die Dunkelheit starrte. »Was zum Teufel hast du mit deinem Haar gemacht?«
»Nichts …« Automatisch hob ich die Hand, um eine Strähne zu zwirbeln, aber da war nicht mehr viel Haar übrig. Im Stillen verwünschte ich mich dafür, dass ich die eine Sache, die mir eine Ablenkung in unangenehmen Situationen ermöglichte, zerstört hatte.
»Nichts?«, brüllte er mich an. »Das sieht nicht wie nichts aus!« Er ragte über mir auf wie ein angriffslustiger Cartoon-Riese.
Unsicher stand ich in seinem Schatten auf und fuhr mir mit den Fingern durch die jungenhafte Frisur. »Ich … ich …«
»Halt den Mund, du dummes, dummes Mädchen. Du bist genauso wie deine dumme Mutter.« Entrüstet und zutiefst enttäuscht schüttelte er den Kopf. »Geh ins Bett.«
Ich wusste nie, welche Version meines Vaters mich gerade erwartete. In diesem Alter fiel es mir schwer zu begreifen, was er durchgemacht hatte, als er erst den einzigen Job, den er beherrschte, und gleich darauf seine Frau verloren hatte. Trotzdem rechtfertigte sein Pech nicht sein Trinken und den Zorn, der in ihm wütete.
Unter einer Decke auf dem Boden zusammengerollt schloss ich die Augen und betete, einer von uns würde verschwinden. Er oder ich – das war mir egal. Als ich hörte, wie er sich in der Küche einen weiteren Drink einschenkte, entspannte ich mich. Er würde trinken, bis er umkippte, das wusste ich. Das war der normale Ablauf, und ich wollte ganz bestimmt nicht in der Nähe sein, wenn er mit einem unglaublichen Kater wieder zu sich käme. Ich blieb noch eine Weile länger wach und lauschte, um mich zu vergewissern, dass er nicht zurückkommen würde. Als ich dann endlich kurz vorm Einschlafen war, steckte ich mir eine gebundene Ausgabe von Der König von Narnia in den hinteren Bund meiner Schlafanzughose. Gleich darauf döste ich mit im Kissen vergrabenem Gesicht wieder ein. Manchmal kam er mitten in der Nacht in mein Zimmer, um mir den Hintern zu versohlen, oft ganz ohne Grund. Ich fragte mich, ob alle Eltern das taten. Schließlich war ich erst zehn, und ich zog nicht gerade von Tür zu Tür, um andere Leute nach solchen Dingen zu fragen.
Am Morgen war ich so müde, meine Knochen fühlten sich schwer an und mein Gehirn vernebelt. Ich wusste nicht, ob ich diesen Schultag bis zum Ende durchstehen würde. Aber die Furcht war zu groß, um zu Hause zu bleiben. Die Schule war meine Zuflucht, und Bücher waren meine Freunde, also machte ich mich fertig, schlich auf Zehenspitzen zur Tür hinaus und setzte mich auf den niedrigen braunen Zaun vor dem Haus, um auf Jax zu warten. Während ich dort hockte, weinte ich, so traurig war ich, dass ich keine Mutter und keine Freunde hatte.
Jax kam von hinten und schnippte mein Haar mit den Fingern an. »Wir haben nur Spaß gemacht. Du hättest es nicht gleich abschneiden sollen.«
Ich blickte zu ihm auf und sah zu, wie sich ein Ausdruck des Begreifens in seinen Zügen ausbreitete. Er wusste, dass ich geweint hatte. In diesem Moment, der angefüllt war mit Verständnis und Mitgefühl, wurde Jackson Fisher mein einziger wahrer Freund.
»Was ist los, Emerson?«
»Ich hab Ärger bekommen, weil ich mir die Haare abgeschnitten habe. Mein Dad war deswegen total gemein zu mir.«
»Dann hast du wegen deinem Dad geweint, nicht wegen dem, was ich zu dir gesagt habe?«
Ich nickte. »Ich will nicht mehr weinen.« Meine Stimme klang heiser.
»Tut mir wirklich leid.« Er sprach die Worte, als wäre es ihm tatsächlich ernst damit: Sein Ton klang gepeinigt, reumütig … sanft. Sein Blick wirkte aufrichtig, und ich erkannte eine Ehrlichkeit in seiner Mimik, die nicht geheuchelt war. Das war ein Ausdruck, den ich nie vergessen würde. »Es ist nicht deine Schuld, dass dein Dad ein Arschloch ist«, sagte er, wühlte in seinem Rucksack und zog eine Packung Pop-Tarts hervor. Eines der Gebäckstücke behielt er für sich, das andere hielt er mir hin. »Hunger?« Ich griff danach wie ein wildes Tier und fing gierig an zu essen. »Nicht so schnell, Emerson. Sonst wird dir noch schlecht.«
»Ich weiß, ich weiß.«
»Komm, wir sollten besser gehen.«
Im Bus setzte Jax sich auf die Sitzbank hinter meiner. Als Mikey einstieg, sagte Jax zu ihm: »Sorry, der Platz ist besetzt. Such dir einen anderen.«
Ms Williams, unsere Lehrerin in der vierten Klasse, konnte kaum weiter als bis zur ersten Reihe ihrer Schüler sehen, umso weniger nahm sie mich ganz hinten im Klassenzimmer wahr, und daher wurde ich auch nie gefragt, warum ich kein Pausenbrot dabeihabe, wenn die Glocke läutete. Wir hatten nie was zu essen zu Hause. Mein Dad gab mir dann und wann mal einen Dollar, damit ich mir in der Cafeteria etwas kaufen konnte, aber an den meisten Tagen blieb mir nur das, was die anderen Kinder wegwarfen. An diesem Tag entdeckte mich Jackson gegen Ende der Mittagspause in der Bibliothek, als ich gerade wieder hinausgehen wollte. Er sagte nichts, reichte mir nur ein halbes Pausenbrot mit Erdnussbutter und Marmelade. »Danke«, sagte ich, verschwand auf dem Klo und schlang es hinunter, ehe es klingelte.
Später am Nachmittag, ehe sich unsere Wege am Ende der Straße trennten, fragte Jax: »Treffen wir uns in einer Stunde hinterm Schuppen?«
Im Schuppen waren einige Werkzeuge verstaut, die niemand mehr brauchte. Er lag gleich hinter der kleinen Baumreihe auf der Grenze zwischen unserem Grundstück und dem der Fishers, weshalb er weder von unserem noch von deren Haus aus zu sehen war.
»Warum?«
»Komm einfach.«
»Nein, du machst mir Angst.«
Er schüttelte den Kopf. »Du musst keine Angst haben. Ich habe ihn aufgeräumt. Ich gehe da immer hin.«
Ich bekam große Augen. »Ich habe keine Angst vor dem Schuppen …«
»Du hast Angst vor mir?« Er legte eine Hand an seine Brust. »Ich will dir nur helfen.«
»Warum?«, fragte ich erneut.
»Weiß nicht.«
»Und wie willst du mir helfen?«
»Ich hatte vor, dir einen Teller Essen mitzubringen. Meine Mom lässt uns Eintopf da, wenn sie zur Arbeit geht. Ich wollte nur nicht, dass Brian es erfährt.«
Brian war Jax’ zehn Jahre älterer Bruder. Wann immer ihre Mutter arbeiten musste, hatte er das Sagen. Er war in einer Band und spielte die ganze Nacht in der Garage Gitarre. Mein Dad nannte ihn einen Junkie. Damals verstand ich noch nicht, was das bedeutete.
»Oh.«
»Ach, vergiss es einfach.«
»Nein, das ist toll, Jax. Ich will nur nicht, dass du Ärger bekommst.«
»Ich bekomme keinen Ärger. Komm einfach in einer Stunde dahin. Wenn es dunkel im Schuppen ist, gleich links von der Tür hängt eine Laterne. Aber nimm eine Taschenlampe mit.«
»Danke.«
Er wandte sich ab und ging zu seinem Haus, also lief ich zu meinem. Mein Vater saß am Küchentisch, rauchte eine Zigarette und hielt ein Glas mit einer braunen Flüssigkeit in der Hand. Die beigen Vorhänge wehten über die Küchenspüle.
»Heute ist es ziemlich windig.« Ich trat ans Fenster und schloss es. »Hier drin wird alles staubig, wenn wir die Fenster offen lassen.«
Er reagierte nicht, also wandte ich mich dem Kühlschrank zu, öffnete die Tür und inspizierte den Inhalt. Da war ein Glas mit Gurkensalat, etwas abgelaufene Salatsoße und eine offene Dose mit Oliven. Ich nahm die Dose, ging zum Mülleimer und leerte sie hinein. Mein Vater maß mich mit einem finsteren Blick, als ich die Küche durchquerte, wartete, bis ich die Oliven in den Mülleimer gekippt hatte, um dann abrupt aufzustehen, sodass die Stuhlbeine über den schmutzigen Linoleumboden schrammten. Er brauchte nur zwei lange Schritte, um sich direkt vor mir aufzubauen.
»Hast du Geld, um Ersatz dafür zu kaufen?«
»Man soll keine Lebensmittel in offenen Aludosen aufbewahren.«
»Sagt wer?«
»Mom hat gesagt, davon kann man krank werden.«
»Deine Mutter ist tot, und hier gilt, was ich sage.« Er schäumte vor Wut und sprach so feucht, dass ein Spritzer seines Speichels auf meine Wange klatschte.
Langsam wischte ich ihn weg, und dann spürte ich, dass mir die Tränen in die Augen traten. »Was meinst du mit, sie ist tot?«
»Für uns ist sie jetzt tot.« Seine Augen funkelten vor Wut, und er umfasste die Kühlschranktür so kraftvoll, dass ich schon fürchtete, sie würde in seiner Hand auseinanderbrechen.
»Okay, Dad«, murmelte ich eingeschüchtert und fragte äußerst zaghaft: »Ist es in Ordnung, wenn ich nach nebenan gehe und ein bisschen Eintopf esse?«
»Mach, was du willst.« Er schlug die Kühlschranktür zu und verschwand aus der Küche.
Ich ging in mein Zimmer, schnappte mir ein Sweatshirt und tapste hinaus in die Dämmerung. Die Hütte war ungefähr so weit entfernt, wie ein Footballfeld lang ist, und ich musste durch knietiefes Gras marschieren, um hinzukommen. Kletten fingen sich an meinen Socken und meinen Hosenbeinen, aber das war ein geringer Preis für eine warme Mahlzeit. Unterwegs dachte ich darüber nach, wo meine Mutter wohl hingegangen sein mochte. Für meinen Vater war sie tot, aber für mich war sie immer noch lebendig und führte irgendwo ein besseres Leben. Ich hasste sie nicht. Ich verstand sie nicht, aber ich hasste sie auch nicht. Ich wünschte nur, sie hätte mich mitgenommen.
Als ich zum Schuppen kam, wurde prompt die Tür aufgestoßen. »Komm rein, aber schnell!«, flüsterte Jax.
Er hatte nicht gelogen. Er hatte aufgeräumt und sauber gemacht und den Schuppen in eine nette kleine Festung verwandelt. Es gab einen kleinen Tisch, zwei Stühle und eine alte Campingliege in der Ecke.
Jax griff an mir vorbei und stellte die Gaslampe auf den Tisch. Er drehte das Ventil auf und drückte den Knopf, um den Feuerstein anzuschlagen, bis die Lampe zündete. Es gab nur ein Fenster, aber das blickte auf der Rückseite der Hütte zu den fernen Bäumen hinaus. Der Himmel wurde nun rasch dunkel.
Jax setzte sich und schob einen mit Alufolie abgedeckten Teller zu mir rüber. »Da ist auch eine Gabel drunter.«
Ich nahm die Folie ab und sah einen Berg Essen vor mir. »Was … ist das?«
»Thunfisch und Nudeln und Suppe und alles Mögliche. Da sind sogar Kartoffelchips drauf. Sieht nicht gut aus, schmeckt aber. Na los, iss, ehe es kalt wird.«
Mir lief schon vom Geruch das Wasser im Mund zusammen. Und er hatte recht: Es war lecker. In den wenigen Monaten, seit meine Mom uns verlassen hatte, hatte ich bereits vergessen, wie selbst gekochtes Essen schmeckte. Die ganze Zeit hatte ich nur Frühstücksflocken und ab und zu einen Cheeseburger von McDonald’s bekommen. Wenn mein Dad mir mal einen mitgebracht hat, meist, nachdem er sich sein Arbeitslosengeld abgeholt und Susan besucht hatte, und dann hatte er sich jedes Mal aufgeführt, als hätte er Drachen bekämpfen müssen, um ihn zu ergattern. Jeden ersten Mittwoch im Monat kam er besoffen mit einer Papiertüte voller Hotelseifen in der einen und einem Cheeseburger von McDonald’s in der anderen Hand nach Hause. Er warf beides auf den Tisch und sagte: »Schau, was dein Dad dir mitgebracht hat! Siehst du, was für ein Glück du hast?« Und wenn ich dann keinen zutiefst dankbaren Kniefall machte, bezeichnete er mich als selbstsüchtige, verzogene kleine Schlampe.
Für den Eintopf vom Vortag, den Jax mir in dem winzigen Werkzeugschuppen servierte, empfand ich mehr Dankbarkeit als für einen kalten Cheeseburger und Seife vom Whiskeymonster. Aber das war nur der Anfang. Während der nächsten paar Jahre ging Jax weiterhin mit mir zur Bushaltestelle, setzte sich hinter mich, kam in der Mittagspause zu mir und teilte sein Essen mit mir. Dann und wann schlich er sich auch in den Schuppen, um mir einen Teller mit was immer er und sein Bruder an Aufgewärmtem bekommen hatten zu bringen. Ich sehnte mich danach, ihr Haus zu betreten, aber das tat ich lange nicht. Nicht vor Brians Unfall. Und das war das nächste Ereignis, in dessen Folge sich das Leben an der langen Lehmstraße veränderten sollte.