Michael Blume

Evolution und Gottesfrage

Charles Darwin als Theologe

Impressum

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2013

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Umschlagkonzeption: Agentur RME Roland Eschlbeck

Umschlaggestaltung: Verlag Herder

Umschlagmotive: © tribalium81 - Fotolia.com / Charles Darwin,

Natural History Museum, London; Wiki commons

ISBN (E-Book) 978-3-451-34566-1

ISBN (Buch) 978-3-451-06582-8

Allen konstruktiven Bloggerinnen und Bloggern,
Kommentatorinnen und Kommentatoren

Inhalt

Einleitung

Evolution – mehr als Biologie

1. Charles Darwin – vom Theologen zum Empiriker

1.1 Darwin – sein Leben und Werk

Aus der Theologie in die empirische Bürgerwissenschaft

1.2 Darwin und der Gottesglaube

Die Theodizee-Frage

Ablehnung von Heilsexklusivismus

Empirie und Offenbarung

John Brodie-Innes und Darwins Engagement für die Kirche

Darwin »mehr und mehr« Agnostiker

1.3 Darwin und die Grenzen der natürlichen Selektion

1.4 Darwin und die Frage nach Fortschritt und Moral

Moral als Maßstab für Fortschritt

Kooperation in der Evolutionsforschung heute

1.5 Die Rückkehr der großen Fragen – Darwins letztes Jahr

Besiegte sich der Naturalismus selbst?

2. Charles Darwins Evolutionsforschung zur Religion

Göttliche Intervention bei der Evolution des Menschen?

2.1 Darwins Begriffe und Hypothesen zur Evolution der Religion

Biologische Veranlagung und soziokulturelle Evolution

Religiöse und meditative Erfahrungen

Kurze Blüte der evolutionären Religionsforschung

2.2 Das Desaster des Sozialdarwinismus

Frühe liberale Lesarten der Evolution

Verdrängung statt Aufarbeitung

Der sozialistische Lyssenkoismus

Der genetische Neodarwinismus

Richard Dawkins

Edward O. Wilson

Das frühe 21. Jahrhundert

2.3 Der heutige Erkenntnisstand in der Evolutionsforschung zur Religion

Darwins Religionshypothesen aus heutiger Sicht

3. Charles Darwin und der evolutionäre Theismus

Darwins Briefwechsel zu »The Creed of Science«

3.1 William Grahams evolutionärer Theismus in »The Creed of Science«

Emergenz

Die Evolution von Religiosität und Religion(en) bei William Graham

Grahams Argumente für den evolutionären Theismus

3.2 Darwins »innere Überzeugungen« und »furchtbare Zweifel«

Die Graham-Darwin-Debatte aus heutiger Sicht

Erkenntnistheoretische Skepsis

Nachwort

Religion und Wissenschaft im 21. Jahrhundert

Anmerkungen mit Literaturangaben

Register der Personen

Einleitung

Evolution – mehr als Biologie

Ausgerechnet in Tübingen, an der Universität, an der ich studiert hatte und promoviert wurde! Selbst in Bristol oder Barcelona war das Lampenfieber geringer gewesen. Aber die europäische Gesellschaft für Evolutionsbiologie (European Society of Evolutionary Biology – ESEB) hatte Hunderte Biologinnen und Biologen zu ihrem 13. Jahreskongress ausgerechnet nach Tübingen geladen und dabei zum ersten Mal auch Kultur- und Geisteswissenschaftler zu Vorträgen unter der Überschrift »Evolution – mehr als Biologie« gerufen. Und so standen wir also etwas nervös im Vortragssaal: der Literaturwissenschaftler Joseph Carroll aus Missouri, der Ökonom Esben Andersen aus Aalborg, der Mediziner Frank Ryan aus Sheffield und ich als Religionswissenschaftler sowie die mutigen Organisatoren des Panels: Nico Michiels, Thomas D’Souza und Daniel Dreesmann. Würden, auch angesichts vieler gleichzeitiger Angebote, Interessierte kommen? Würde es Beschwerden geben, weil die Organisatoren es gewagt hatten, den Evolutionsbegriff (wieder) über die Biologie hinaus zu öffnen? Würde ein interdisziplinärer Dialog gelingen?

Und dann wurden wir, einer nach dem anderen, vom Ansturm überrollt. Im Internet gibt es ein Bild, in dem man zwei Minuten vor Beginn meines Vortrags die Fassungslosigkeit in der Körpersprache sieht, obwohl ich nur von hinten abgebildet bin. Denn der Vortragssaal, die Sitzreihen, Gänge, Tribünen vor mir quellen über, als Hunderte Biologinnen und Biologen über die Evolutionsforschung zu Religion hören wollten. Ich erinnere mich, kurz die Augen geschlossen zu haben, um die Konzentration zurückzugewinnen. Mein späterer Tübinger Doktorvater Günter Kehrer tauchte in meiner Erinnerung auf, sein bohrender Blick zwischen Schalk und Prüfung. Es war jene Szene, als ich ihm mein Konzept eröffnet hatte, über Religion und Hirnforschung promovieren zu wollen. »Sie wissen schon – wer sich mit Biologen einlässt, bekommt in der deutschen Religionswissenschaft nie einen Lehrstuhl«, hatte er sachlich festgestellt. Die Aussage war klar: Wenn ich doch lieber auf Nummer sicher gehen würde, würde er es verstehen. Aber wenn ich für das Thema wirklich brennen und bereit sein würde, die angehende Karriere dafür zu riskieren, würde er dies unterstützen. Es war meine Entscheidung, zu treffen in einem Augenblick. Und ich sagte Ja.

Und war, wie sich herausstellen sollte, mit dieser Entscheidung nicht mehr alleine. Überall auf der Welt begannen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die gegenseitigen Abgrenzungen ihrer Disziplinen in Frage zu stellen und Religion interdisziplinär zu erforschen. Tatsächlich hatte es solche Einzelkämpfer immer wieder gegeben.

Doch nun kam uns ein neues Medium zur Hilfe, mit dem wir voneinander erfahren und uns vernetzen und austauschen konnten: das Internet. Über Online-Veröffentlichungen, Blogs und Netzwerke und schließlich über Kongresse, Bücher, Institute und eigene Fachzeitschriften entfaltete sich binnen weniger Jahre die Evolutionsforschung zur Religion interdisziplinär und international. Wir vernetzten uns bei internationalen Tagungen und darüber hinaus. Unvergessen ist mir der Besuch des Sozialpsychologen Ara Norenzayan aus Vancouver/Kanada. Wir hatten uns online und auf Kongressen bereits vielfach ausgetauscht, besuchten nun zusammen eine baden-württembergische Landesausstellung zu ägyptischen Mumien und debattierten bei Fertigpizza bis tief in die Nacht.

2008 erschien dann das von dem Biologen Rüdiger Vaas und mir gemeinsam verfasste Buch: »Gott, Gene und Gehirn« als erste deutschsprachige Forschungsübersicht zum Thema. Es war für alle ein Wagnis, erhielt aber viele positive Rezensionen von Natur-, Kultur- und Geisteswissenschaftlern und liegt bereits in dritter Auflage vor. 2009 folgte der SciLogs-Preis für meinen Wissenschaftsblog »Natur des Glaubens«, 2010 der »Vermittlungen«-Preis der Evangelischen Akademie Villigst für die Arbeit im Dialog zwischen Naturwissenschaften und Religion. Vorurteile und Widerstände gab und gibt es weiterhin – Günter Kehrers Warnung war zu Recht erfolgt –, aber die Entwicklung innerhalb der Forschung und das wachsende Interesse insbesondere in der jüngeren Generation ließ sich nicht mehr aufhalten.

Die kurze Einführung der ESEB-Organisatoren riss mich aus meinen Gedanken. Ich begann also vorzutragen, dankte und kündigte an, mich heute an den Thesen eines »recht bekannten Theologen« zu orientieren, was merkbares Entsetzen bei vielen Anwesenden auslöste. Theologie? O Gott! Da erschien hinter mir ein Porträt von Charles Darwin auf der Leinwand. Verblüffung ging in überraschtes Lachen über – viele Biologinnen und Biologen hörten wohl zum ersten Mal, manche erinnerten sich vielleicht, einst davon gehört zu haben, dass der Begründer der Evolutionstheorie in seinem ganzen Leben nur einen Studienabschluss erworben hatte: den eines Bachelors in anglikanischer Theologie. Neu war vielen auch sein lebenslanges und überaus kundiges Interesse an der Evolution von Kultur(en), Sprache(n), Musik(en) und Religion(en). So stellte ich dazu Auszüge aus seiner »Abstammung des Menschen« (1871) und einige der Hypothesen vor, die der Theologe Charles Darwin der Evolution von Religiosität und Religionen gewidmet hatte und verglich sie mit dem neuesten Forschungsstand.

Die Idee zum vorliegenden Buch gewann während dieses Vortrages, den erfreulichen Reaktionen darauf und den anschließenden, sich über den ganzen Tag erstreckenden Diskussionen mit Biologinnen und Biologen von Island bis Israel Gestalt.

So viel wurde und wird über das Verhältnis von Evolution und Religion gestritten – doch kaum jemand weiß, was Darwin selbst dazu hinterließ. Selbst ernannte Freunde wie Feinde haben stattdessen Darwin-Zerrbilder entworfen, die mehr mit späteren gruppendynamischen Prozessen als mit dem historischen, interdisziplinär forschenden Privatgelehrten selbst zu tun hatten. Gegner der Evolutionstheorie beschuldigten ihn und die von ihm begründeten Forschungen pauschal des Reduktionismus, des Atheismus und der Menschenverachtung. Und umgekehrt vermochten auch prominente »Darwinisten« wie Richard Dawkins ganze evolutionsbiologisch argumentierende Bücher über bzw. gegen Religion(en) zu schreiben – ohne auch nur zu erwähnen (vielleicht ohne es gar zu wissen?), was der Namensgeber ihrer Bewegungen und Weltanschauungen selber dazu gemeint hatte.

Zwar kursieren im Netz viele Anekdoten und je nach Neigung zusammengestellte Zitate, doch behandelten selbst professionelle Darwin-Biografien die entsprechenden Fragen nur als ein Detail unter vielen und übergingen etwa seine Arbeiten zur Evolution der Religion meist völlig. Viele entsprechende Textquellen waren nie oder zuletzt vor Jahrzehnten ins Deutsche übersetzt worden, und zu dem aufregenden Briefwechsel zwischen dem späten Darwin und William Graham über dessen Buch zu evolutionärem Gottesglauben ist so gut wie nichts zu finden.

Auf den folgenden Seiten möchte ich daher nicht nur die Haltung, sondern vor allem auch die wissenschaftlichen Hypothesen Darwins zur Religion und evolutionären Religionsforschung vorstellen. Zudem möchte ich den faszinierenden Briefwechsel Darwins mit Graham erstmals ins Deutsche übertragen und vorstellen. Rosemary Clarkson von der Cambridge Library und dessen Darwin Correspondence Project danke ich herzlich für den Einblick in noch nicht online verfügbare Transkripte. Jesse Bering und William Crawley halfen aus Irland, Details über den zu Unrecht in weitgehende Vergessenheit geratenen Graham wiederzuentdecken.

Stellvertretend für die vielen Kolleginnen und Kollegen verschiedenster Disziplinen, mit denen Wissenschaft Freude macht, möchte ich Regina Ammicht-Quinn, Nico Michiels, Hermann Aichele, Günter Kehrer, Burkhard Gladigow, Rüdiger Vaas, Oliver Krüger, Eckhard Voland, Ara Norenzayan, David Sloan Wilson, Carsten Könneker, Ronald Pokoyski und Susan Blackmore danken. In diesen Dank schließe ich jene Studierenden ein, die mich zuletzt insbesondere an den Universitäten Marburg und Jena mit ihren Fragen gefordert und mit ihrem Interesse beflügelt haben.

Auch meinen Kolleginnen und Kollegen im Staatsministerium Baden-Württemberg gilt mein Dank, die nicht nur immer wieder Verständnis und Solidarität aufbrachten, wenn ich für einen Kongress, ein Vortrag oder Seminar Überstunden abbaute. Einige setzten auch manche Mittagspause, Zugfahrt und manchen Lektüretipp für wertvolle, interdisziplinäre Debatten ein. Stellvertretend nenne ich hier die Theologin Dr. Simone Höckele-Häfner, die Soziologin Lisa Stengel, den Politikwissenschaftler Dr. Michael Münter, die Literaturwissenschaftlerin Yonca Yazici und den Archäologen Roland de Beauclair. Meine Begeisterung für das Konzept von Bürgerwissenschaft entstammt der alltäglichen Erfahrung, dass nicht nur die Wissenschaft, sondern auch die Berufe profitieren, wenn die Freude am Wissen, Forschen, Publizieren und Lehren nicht mit dem Studienabschluss endet.

Meiner Frau Zehra verdanke ich überreiche Ermutigung, verständnisvolle Unterstützung sowie auch wiederholt wertvollen Rat für das Forschen und Schreiben, obwohl unser Jüngster erst seit wenigen Monaten bei uns ist und seine Rechte nachdrücklich einfordert. Ohne sie hätte es dieses Buch nicht geben können.

Dieser Dank gilt auch dem Verlag Herder, der aus einem Word-Manuskript ein Buch gefertigt hat. Für alle Fehler, die in den folgenden Seiten noch enthalten sein sollten, bin allein ich verantwortlich.

Dankbar gewidmet habe ich dieses Buch allen konstruktiven Bloggenden und Kommentierenden im Internet. Besonders prägte mich das wissenschaftliche Blogportal SciLogs und die religionswissenschaftliche Mailingliste Yggdrasil. Keine Frage: Online-Kommunikation hat ihre Tücken, zumal uns die biologische Evolution schlecht auf sie vorbereitet hat. Hier müssen wir also verantwortete Netzkultur durch Versuch, Irrtum und Erfahrung erst noch entwickeln, ein Prozess, der womöglich Jahrzehnte oder gar Generationen in Anspruch nehmen wird. Und doch erleben wir heute schon, wie sich wissenschaftliches Präsentieren und Diskutieren wie auch zunehmend Lehre und Forschung immer stärker ins weltweite Netz verlegen und wie sich unseren Schulen, Hochschulen, Institute und Wissenschaften völlig neue Chancen erschließen. Daher erscheint dieses Buch bewusst sowohl als E-Book wie auch als klassisches Printprodukt.

Zur Furcht vor Evolutionsforschung bestünde meines Erachtens nur Anlass, wenn Sie, liebe Leserin, lieber Leser, sich in diesen Prozess nicht konstruktiv und ideenreich einbringen würden! Falls wir auf meinem Chronolog »Natur des Glaubens« noch nicht diskutiert haben, so lade ich Sie hiermit herzlich auch dorthin ein. Denn auch für den direkten Dialog zwischen Forschenden, Schreibenden und Lesenden bietet das Netz neue und noch kaum entdeckte Chancen.

Michael Blume

1. Charles Darwin – vom Theologen zum Empiriker

»Es ist wahrlich etwas Erhabenes um die Auffassung, dass der Schöpfer den Keim alles Lebens, das uns umgibt, nur wenigen oder nur einer einzigen Form eingehaucht hat, und dass, während sich unsere Erde nach den Gesetzen der Schwerkraft im Kreise bewegt, aus einem so schlichten Anfang eine unendliche Zahl der schönsten und wunderbarsten Formen entstand und noch weiter entsteht.« (Charles Darwin, Schlusssatz seines ersten Hauptwerkes »Die Entstehung der Arten«, Auflage von 18721)

Als ich einmal in einem Blogbeitrag diese Aussage Darwins zitierte, setzte umgehend Protest ein. Gleich der erste Kommentator ließ wissen, dass »der Atheist Darwin« nicht gemeint haben könnte, was er schrieb – entsprechende Sätze »waren nichts weiter als beruhigende Zugeständnisse an seine erbosten Zeitgenossen«. Darwin – ein Atheist und feiger Taktierer?

Ein zweiter Kommentator behauptete, dass Darwin den Schöpfer »unter dem Druck der Religionslobby hinzugefügt« habe, und zwar »zu seinem eigenen Missfallen«. Und zitieren solle man ihn also auch nicht mehr, denn: »Das für seine eigene naive Argumentation für Gott zu vereinnahmen kann natürlich nur passieren, wenn man ganz stark an Religiosität erkrankt ist, jedem anderen Menschen mit einem Funken Anstand wäre derartiger Betrug einfach zu peinlich.« Hatte sich Darwin von religiösen Finsterlingen erpressen lassen? Und hätte er Religiosität, gerade auch im Kontext seiner Evolutionsforschung, als »Krankheit« beschrieben?

Und schon äußerte sich ein weiterer Kommentator, der es diesmal aus religiöser Sicht wiederum ganz genau wusste: »Gott hat die Erde in 6 Tagen erschaffen. Die Erde existiert ca. 6000 Jahre. Evolution ist eine gleichermaßen waghalsige wie dämliche Theorie, die weder Wissenschaftlich fundiert noch spekulativ tragbar ist. […] Ein allmächtiger Gott hätte es nicht nötig, erst die Welt zu erschaffen, dann dafür zu sorgen oder es zuzulassen, damit Menschen eine komplett andere geschichte aufschreiben. Entweder oder. Entweder man glaubt Gott oder eben nicht. es ist irrsinn Gott in einem menschlichem Verstand pressen zu wollen« (›Rechtschreibung‹ im Original).2

Wenn es um Darwin geht, so setzen offensichtlich von ganz verschiedenen Seiten her umgehend Emotionen und (Vor-)Urteile ein. Dabei eröffnet ein Blick auf die Biografie Darwins, der seinen einzigen Studienabschluss in anglikanischer Theologie erwarb, und seine zahlreichen Äußerungen zu Gottes-, Moral- und Fortschrittsfragen ein differenziertes und auch inhaltlich überraschend aktuelles Bild. Es lohnt sich gerade heute, Darwins eigene, religiöse Haltung wie auch seinen späteren Forschungen zur Evolution von Religiosität und Religionen kennenzulernen. Und dabei auch zu erfahren, wie es zu den obigen Sätzen kam …

1.1 Darwin – sein Leben und Werk

Charles Robert Darwin wurde am 12. Februar 1809 als fünftes von sechs Kindern in eine wohlhabende Unternehmerund Arztfamilie des Vereinigten Königreiches geboren und anglikanisch getauft. Seine Mutter Susannah Wedgwood war eine gläubige Unitarierin und ließ den Kleinen in die Tagesschule der Gemeinde gehen, sie starb jedoch, als Darwin gerade acht Jahre alt war. Sein Vater Robert war als Arzt zu einigem Wohlstand gelangt und galt als nichtreligiöser Freidenker. Nach dem Tod seiner Frau schickte er Darwin auf eine Internatsschule. Darwins Großvater väterlicherseits, Erasmus Darwin – den gleichen Namen trug später Darwins älterer Bruder –, hatte als Naturforscher und Dichter von sich Reden gemacht und bereits proto-evolutionäre Gedanken vertreten. Sein Großvater mütterlicherseits, Josiah Wedgwood, war Keramikfabrikant. Das Familienumfeld lässt sich als wohlhabendes Bildungsbürgertum mit protestantischen Wurzeln, entsprechendem Arbeitsethos und aufgeklärter Neugier gut umschreiben.

Schon früh beteiligte sich Darwin besonders an den naturwissenschaftlichen Sammlungen, Studien und Experimenten in seinem Familien- und Freundeskreis und strebte nach dem Vorbild seines Vaters den Arztberuf an. So nahm er ein Medizinstudium an der Universität Edinburgh auf und vertiefte sich dort in empirische Studien, langweilte sich aber bei anderen Themen. Schließlich brach er sein Studium im vierten Semester ab, nachdem er aus der Demonstration einer Operation ohne Narkose geflohen war.3

Längst war klar, dass Darwin genug Geld erben würde, um ein Leben in Müßiggang zu führen. Genau das wollte sein Vater vermeiden und schlug ihm nach dem Abbruch des Medizinstudiums eine Laufbahn als Landpfarrer vor. Darwin war dazu bereit und befand, die Glaubensartikel der anglikanischen Kirche akzeptieren zu können.

1828 wechselte er also zum Studium der Theologie nach Cambridge. In seiner 1876 verfassten und in den Folgejahren nachbearbeiteten Autobiografie beklagte Darwin später rückblickend, dass er in Cambridge, Edinburgh und seiner Schule viel »Zeit verschwendet« habe. In einem Sportsclub habe er sich auch mit üblen Typen [»dissipated low-minded young men«] abgegeben. Auch meinte Darwin, sich für zahlreiche Bankette mit »manchmal zu viel Getränk« schämen zu müssen, um augenzwinkernd hinzuzufügen: »Aber ich kann mir nicht helfen, mit viel Vergnügen an diese Zeiten zu denken.«4 Freunde erinnerten sich auch, der wohlhabende Student habe einen sogenannten »Schlemmerclub [Glutton club]« mitgegründet, der sich wöchentlich traf, sowie intensiv Musik (Mozart und Beethoven), Literatur (Shakespeare) und Ausstellungen in Kunstgalerien genossen.5 Freude hatte Darwin an der Botanik sowie an der Lektüre Euklids – der im griechischen Original zu lesen war – und an den Werken des Naturtheologen William Paley (1743 –1805), zu denen er auch geprüft wurde.6 In seiner »Natürlichen Theologie« hatte Paley das Argument entwickelt, das die kunstvolle Beschaffenheit der Welt (er verglich sie mit einer gefundenen Uhr) auf einen Schöpfer (den Uhrmacher) hinwiese und damit proto-evolutionäre Argumente von David Hume (1711–1776) und Darwins Großvater Erasmus zurückgewiesen. Darwin schrieb dazu noch 1859 in einem Brief: »Ich glaube nicht, dass ich je ein Buch mehr bewunderte als Paley’s Natürliche Theologie: Ich konnte es fast auswendig aufsagen.«7 Und so erwarb er schließlich 1831 in Cambridge den einzigen Studienabschluss seines Lebens: den eines Bachelors in anglikanischer Theologie, als immerhin Zehntbester seines Jahrgangs.8

Diese Verbindung von kultur- und geisteswissenschaftlichen Kenntnissen mit seinen naturwissenschaftlichen Neigungen würde Darwin zu dem bedeutenden, interdisziplinären und unabhängig denkenden Wegbereiter der Evolutionstheorie machen. Lebensweltlich zeigte er sich stets als wohlhabender, gemäßigt liberaler Viktorianer seiner Zeit, der vom Erbe seiner Familie lebte, Dienstboten beschäftigte und von der biologischen und kulturellen Überlegenheit des Mannes über die Frau, des Engländers über den Iren und andere »Menschenrassen« sowie der Notwendigkeit von Konkurrenz und »Kampf ums Dasein« überzeugt war. Dabei war er aber auch ein sensibler und vor allem mitfühlender Mensch, der sich über die Grausamkeit der Sklaverei empörte, gegen die Verfolgung von Juden in Russland protestierte und Tierquälerei kritisierte. Selbst in seinem zweiten Hauptwerk »Die Abstammung des Menschen« finden sich daher Sätze zur Sezierung lebender Tiere wie:

»Alle haben davon gehört, wie ein Hund, an dem man die Vivisektion ausführte, die Hand seines Operateurs leckte. Wenn nicht dieser Mann ein Herz von Stein hatte, so muss er, wenn die Operation nicht durch Erweiterung unserer Erkenntnis völlig gerechtfertigt war, bis zur letzten Stunde seines Lebens Gewissensbisse gefühlt haben.«9

Aber aus Rücksicht auf Forschung und Lehre konnte sich der Privatgelehrte trotz aller Abscheu doch nicht zur Unterstützung einer Parlamentsinitiative für eine gesetzliche Einschränkung von Vivisektionen durchringen, sondern hoffte auf individuelle Einsicht der Praktizierenden.10

Aus der Theologie in die empirische Bürgerwissenschaft

Die Frage, wie sich überlieferte Offenbarungen und die Ergebnisse empirischer Forschungen zueinander verhielten, gehörte bereits zu Darwins Zeiten zu den großen Debatten innerhalb der Theologie. Bereits Augustinus hatte ja davor gewarnt, die Bibel als einen Steinbruch für wissenschaftliche Aussagen zu verwenden und damit den Glauben der Lächerlichkeit preiszugeben. Und gerade auch in Großbritannien und Cambridge vertraten immer mehr Geistliche die »naturphilosophische« Auffassung, dass es nur eine Wahrheit geben könne und deswegen empirische Forschungen nicht etwa zu fürchten, sondern aktiv zu betreiben seien – selbst wenn sie überlieferten Auslegungen widersprächen. So hatte schon der englische Philosoph, Jurist und Politiker Francis Bacon (1521–1626) dafür plädiert, sowohl »das Buch von Gottes Wort« wie auch »das Buch von Gottes Werk« (die Natur) zu erforschen. Und der Präsident des bedeutenden Debattierklubs von Cambridge während Darwins Studium, der anglikanische Priester, Naturtheologe und Wissenschaftsphilosoph William Whewell (1794 –1866) hatte bereits 1833 bekannt: »Aber im Hinblick auf die materielle Welt können wir mindestens so weit wie folgt gehen – wir können wahrnehmen, dass Ereignisse nicht durch vereinzelte [insulated], in jedem Einzelfall angestrengte Eingriffe göttlicher Macht hervorgebracht werden, sondern durch die Etablierung allgemeiner Gesetze.« Mit diesen ausgewählten Zitaten Bacons und Whewells eröffnete Darwin seine erste Ausgabe der »Entstehung der Arten«. Leider wurden sie nicht in die frühen deutschen Übersetzungen übernommen.11

Die schnelle Ausbreitung und Etablierung empirischer Forschungsfelder, -befunde und -methoden zu Darwins Zeiten hatte dabei einen wesentlichen Antrieb in den vielen, die sich an ihr beteiligten. Die empirischen Wissenschaften entstanden gerade nicht als institutionelle Gründung von oben herab, sondern wurden als »Naturphilosophie« von Geistlichen, Staatsbeamten, Lehrern und Privatgelehrten ehrenamtlich betrieben, die sich je nach Neigungen und Möglichkeiten Kenntnisse in Spezialgebieten aneigneten und diese vertieften – und damit wiederum Nachfrage nach entsprechenden Büchern, Vereinigungen und Studiengängen samt Professuren auslösten. Die Zusammenarbeit von Bürgern und Adligen und auch die nicht länger zu ignorierenden Beiträge erster Frauen hatten dabei eine weitergehende, demokratisierende Wirkung, sollten in den empirischen Wissenschaften doch zumindest theoretisch nachvollziehbare Ergebnisse stärker zählen als Macht und Rang. Erst 1834 prägte der oben erwähnte Darwin-Zeitgenosse Whewell in der Rezension eines Wissenschaftsbuches der Autorin (!) Mary Somerville (1780 –1872) erstmals das Wort »Scientist – Wissenschaftler« als Bezeichnung für einen empirischen Forscher – oder eben auch eine Forscherin.12

Dass sich also Darwin als studierter Theologe ohne Anstellung an einer Universität oder an einem sonstigen Wissenschaftsinstitut als »Naturalist – Naturforscher« betätigte und darin ernstgenommen wurde, entsprach dem dynamischen Geist seiner Zeit. Seine Studienreise auf der HMS Beagle und seine publizierten Reiseberichte galten als Ausweis seiner Kompetenz und Ernsthaftigkeit.

Klingt für heutige Verhältnisse undenkbar? Nach Jahrzehnten elitärer und auch schroffer Abgrenzung gegenüber »Laien« versuchen einige Wissenschaftsbereiche sich auch heute wieder zunehmend »citizen scientists – Bürgerwissenschaftlern« zu öffnen. Sie wollen gerade auch angesichts wachsenden Unverständnisses und Misstrauens damit wissenschaftliches Denken und Arbeiten wieder in der breiteren Gesellschaft verankern und bürgerschaftliches Engagement für die Wissenschaften sowie deren Vermittlung und Akzeptanz fruchtbar machen.13

Großbritannien, insbesondere London und Cambridge, bildeten damals die dynamischen Schwerpunkte dieser empirisch-bürgerschaftlichen und wegweisenden Forschungen, die sich aus den Theologien heraus entwickelten. Aber auch in Kontinentaleuropa gelangen regionale Durchbrüche. In »Göttliche Geistesblitze« (2010) erinnerte Eckart Roloff beispielsweise an die entsprechende Rolle von amtierenden Geistlichen – wie Darwin einer hatte werden wollen – für die empirischen Bürgerwissenschaften auf dem Kontinent. So führte der norddeutsche Landgeistliche Hermann Bräß (1738 –1797) nicht nur 1786 eine Lokalzeitung zur Unterrichtung der »lieben Landleute, alt und jung« etwa in Fragen der Landwirtschaft ein, mit einem Frauenkopf auf der Titelseite, sondern druckte in dieser fachlich orientierten Publikation auch die ersten Leserbriefe der Geschichte ab – die Mutter des »dialogorientierten Journalismus« wie auch heutiger Onlineforen und Blogkommentare. In Süddeutschland löste der schwäbisch-pietistische Pfarrer und Erfinder Philipp Matthäus Hahn (1739 –1790) eine bis heute regional anhaltende Begeisterung für Feinmechanik, Rechenmaschinen und Uhren aus. Wegen seines schon zu Lebzeiten beachtlichen Ruhmes wurde er auch von Goethe und Herzog Carl August von Weimar aufgesucht. Und von der Abtei St. Thomas in Brünn aus begründete der Augustinerabt Gregor Mendel (1822–1884) mit Studien an Erbsen die moderne, auch mathematisch modellierte Genetik.14