Henriette Wich

Gefährliche Fracht

Kosmos

Umschlagillustration von Ina Biber, München

Umschlaggestaltung von Friedhelm Steinen-Broo, eSTUDIO CALAMAR

 

 

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© 2009, 2012 Franckh-Kosmos Verlags-GmbH & Co. KG, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

 

 

ISBN 978-3-440-13359-0

Satz: DOPPELPUNKT, Stuttgart

eBook-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Clubsitzung mit Hindernissen

 

 

Eigentlich kam Franzi so gut wie nie ins Schwitzen, nicht mal wenn sie mit Kim und Marie auf Verbrecherjagd war. Doch heute lief ihr der Schweiß in Strömen übers Gesicht. Kein Wunder, sie hatte ja auch die halbstündige Strecke von zu Hause bis zum Café Lomo in der Innenstadt in einem Wahnsinnstempo zurückgelegt und nur die Hälfte der Zeit dafür gebraucht. Auf der Zielgeraden war sie so schnell mit ihren Inlinern unterwegs gewesen, dass sie kurz vor dem Café zweimal eine Laterne umarmen musste, bevor es ihr endlich gelang, zum Stehen zu kommen.

»Kannst du nicht aufpassen?«, schimpfte ein älterer Mann, den sie bei ihrem waghalsigen Bremsmanöver angerempelt hatte.

»’tschuldigung!«, keuchte Franzi. »Kommt nicht wieder vor.«

Schnell quetschte sie sich an dem Mann vorbei und stieß die Tür zum Café Lomo auf. Ein Schwall warmer Heizungsluft kam ihr entgegen und brachte ihren Kopf, der ohnehin bereits knallrot war, erst richtig zum Glühen. Franzi blieb stehen, um zu verschnaufen und sich im Lokal umzusehen. Da entdeckte sie auch schon Kim, die ihr hektisch zuwinkte. Franzi rollte zur Sofaecke hinüber, dem Lieblingsplatz der drei !!!, und ließ sich neben Marie in die weichen Polster fallen. »Hallo zusammen!«

»Es ist vierzehn Minuten nach drei«, sagte Kim und tippte verärgert auf ihre Armbanduhr. »Das Clubtreffen war für Punkt drei Uhr angesetzt.«

»Ich weiß, ich weiß!«, stöhnte Franzi, während sie ihre Inliner abschnallte und erleichtert ihre heiß gelaufenen Füße ausstreckte.

»Muss das sein?« Marie rückte ein Stück weg von ihr und rümpfte die Nase. »Also ich dusche nach dem Sport immer. Und falls du es noch nicht wissen solltest: Es gibt erstklassige Fußsprays.«

»Danke für den tollen Tipp!«, sagte Franzi. Sie hatte schon eine giftige Bemerkung auf den Lippen, verkniff sie sich dann aber doch lieber, weil sie keinen Streit anfangen wollte. Ein bisschen Körpergeruch musste ihre Freundin schon aushalten. Schließlich ertrug sie auch umgekehrt Maries intensive Parfüms und ihren Tick, sich jeden Tag von Kopf bis Fuß zu stylen und zu schminken.

Kims vorwurfsvoller Blick erinnerte Franzi an ihr eigenes schlechtes Gewissen. »Tut mir leid, dass ihr warten musstet«, sagte sie zerknirscht.

Normalerweise war Zuspätkommen Maries Part, die ihre tausend Termine von Aerobic über Schwimmen bis Schauspiel- und Gesangsunterricht manchmal nur schwer mit den Treffen der Detektivinnen koordinieren konnte.

Zum Glück war Kim nie lange böse. »Schwamm drüber!«, sagte sie. »Hauptsache, du bist jetzt da.«

»Wir haben dir schon mal eine Cola bestellt.« Marie schob ihr gnädig ein volles Glas zu, in dem zwei Eiswürfel schwammen.

Dankbar griff Franzi danach und stürzte es in einem Zug hinunter. Danach ging es ihr gleich viel besser. Sie hielt sich das leere, aber immer noch eisgekühlte Glas an die Innenseite ihrer Handgelenke und spürte, wie sich ihr Puls langsam beruhigte und die Hitze aus ihrem Körper wich.

Marie warf ihre langen blonden Haare schwungvoll nach hinten. »Na, wie sieht’s aus? Ist euch in den letzten beiden Wochen was Verdächtiges aufgefallen? Irgendein neuer Fall in Sicht?«

Kim schüttelte den Kopf. »Seit dem Valentinstag ist absolut tote Hose.« Allein beim Gedanken an den letzten Fall, der mit ihren Eltern zusammenhing, liefen Kim kalte Schauer über den Rücken. Sie hatte dabei weit über die eigene Schmerzgrenze gehen müssen und hoffte, dass sie so was nie wieder durchstehen musste.

»Bei mir gibt’s leider auch nichts Neues«, sagte Franzi, obwohl das nicht ganz der Wahrheit entsprach. Ihre Neuigkeiten waren alles andere als schön und auch der Grund, warum sie zu spät gekommen war, aber sie wollte jetzt lieber nicht darüber reden. Schnell drehte sie sich nach der Kellnerin um und bestellte ein großes Glas Leitungswasser, weil sie immer noch einen Riesendurst hatte.

Marie drehte inzwischen eine Haarsträhne um ihren Finger und seufzte. »Schade! Ich könnte ein bisschen Ablenkung gut gebrauchen, seit ich wieder solo bin.«

Kim warf ihr einen besorgten Blick zu. »Immer noch Liebeskummer?« Es war gerade mal vier Wochen her, dass Marie sich von ihrem Freund Holger getrennt hatte. Die Fernbeziehung der beiden hatte auf Dauer leider nicht gehalten.

»Nein«, sagte Marie. Unter ihrem sorgfältig aufgetragenen Rouge breitete sich eine leichte Röte aus. »Das Schlimmste hab ich hinter mir. Und zum Glück gibt es ja noch Adrian …«

Kim konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. »Vor anderthalb Monaten hat sich das aber noch ganz anders angehört. War Adrian da nicht der schreckliche neue Nachbar, der auf deinen armen Nerven herumgetrampelt ist?«

»Hab ich das wirklich gesagt?«, fragte Marie gespielt überrascht. »Ich kann mich gar nicht mehr erinnern. Du etwa, Franzi?«

»Wie? Was?« Franzi war mit ihren Gedanken ganz woanders gewesen und hatte nur mit halbem Ohr den Namen Adrian aufgeschnappt.

Die drei !!! hatten Adrian bei ihrem letzten Fall kennengelernt, und Marie hatte sich sofort in den coolen Schauspielschüler verknallt. Die Sache hatte einen großen Vorteil, aber leider auch einen großen Nachteil. Der Vorteil war, dass Adrian nur ein Stockwerk tiefer im selben Haus wie Marie in einer WG wohnte und sie jederzeit bei ihm vorbeischauen konnte. Der Nachteil war, dass er schon achtzehn war – also viel zu alt für Marie.

»Siehst du, Franzi kann sich auch nicht erinnern!«, sagte Marie triumphierend, und Kim grinste wieder.

Endlich brachte die Bedienung das Wasser, und Franzi nahm ein paar tiefe Schlucke. Hoffentlich fragten Kim und Marie sie nicht auch nach der Liebe. Das hätte ihr jetzt gerade noch gefehlt.

Leider schien Kim heute Gedanken lesen zu können. »Und wie läuft’s bei dir und Benni?«

»Wie soll’s schon laufen?«, murmelte Franzi. »So wie immer. Wir sind Skaterkumpel, nicht mehr und nicht weniger.«

Auch das war nicht die ganze Wahrheit. Seit dem Valentinstag spürte Franzi wieder ein Kribbeln im Bauch, wenn sie Benni traf. Und seither wusste sie auch, dass es ihr absolut nicht egal wäre, wenn er nach ihr wieder eine neue Freundin hätte. Zum Glück sah es momentan nicht danach aus, aber das konnte sich natürlich jederzeit ändern.

Marie und Kim tauschten vielsagende Blicke, und Franzi wechselte schnell das Thema: »Können wir jetzt mal wieder über den Detektivclub reden? Ich dachte, das ist ein Clubtreffen.«

»Ist es auch.« Kim, die gerade noch verliebt an ihren Freund Michi gedacht hatte, mit dem es seit dem Valentinstag wieder wunderbar lief, schaltete sofort auf Profi-Detektivin um und holte ein abgegriffenes Heft aus ihrer Tasche. Geschäftig blätterte sie in ihrem Detektivtagebuch für unterwegs, das sie neben dem Computertagebuch führte. Als Kopf der drei !!! notierte sie akribisch alle Details der Ermittlungen. Im Laufe der Zeit hatte sich einiges angesammelt. Bald würde sie ein neues Heft kaufen müssen.

»Also …«, fing Kim an. »Wir sollten unbedingt endlich unseren Gutschein für den Detektiv-Workshop bei der Polizei einlösen. Sonst verfällt er womöglich noch.«

Marie lachte. »Das würde Kommissar Peters uns garantiert nicht antun. Dazu haben wir ihm schon viel zu oft geholfen.«

»Stimmt«, musste Kim zugeben.

Kommissar Peters, ein guter Freund von Maries Vater, war ziemlich stolz auf die Arbeit der drei !!!. Das konnte er auch sein, schließlich hatten Kim, Franzi und Marie bereits 16 Fälle gelöst und ihm handfeste Beweise zur Ergreifung der Täter geliefert.

»Wann findet denn der nächste Workshop statt?«, fragte Marie.

Kim fischte ein Blatt Papier aus ihrem Detektivtagebuch. »Warte … Ah, hier steht’s: übernächstes Wochenende. Das würde bei mir gut passen. Und bei euch?«

»Ich hab leider meinen Terminkalender nicht dabei«, sagte Marie. »Könnte aber schwierig werden. Mein Vater dreht bald in Italien und hat mir ein Luxus-Wochenende in Rom versprochen.«

Franzi seufzte leise. Manchmal wünschte sie sich heimlich, auch den berühmten Fernseh-Kommissar der Vorabendserie Die Vorstadtwache als Vater zu haben, der seiner Tochter jeden Wunsch von den Augen ablas. Da konnte ihr eigener Vater mit seiner kleinen Tierarztpraxis am Stadtrand nicht mithalten. Andererseits hatte Marie es nicht leicht, weil ihre Mutter bei einem Autounfall ums Leben gekommen war, als Marie erst zwei Jahre alt gewesen war.

»Gib uns bitte so bald wie möglich Bescheid«, sagte Kim. Dann drehte sie sich zu Franzi um. »Und was ist mit dir?«

Franzi zuckte mit den Schultern. »Weiß noch nicht ...« Im Moment hatte sie ganz andere Sorgen als den Detektiv-Workshop.

Kim verdrehte die Augen. »Ihr macht es mir echt schwer! Bitte klärt das bald, ja? Gut. Dann können wir zum nächsten Punkt übergehen. Was haltet ihr davon, wenn wir …«

Weiter kam sie nicht, weil plötzlich zwei Jungen auf den Tisch der Detektivinnen zustürmten.

»Ihr seid doch die drei !!!, oder?«, fragte der Kleinere, ein blonder Wuschelkopf, der ungefähr neun Jahre alt war.

»Ihr seid die berühmten Detektivinnen, stimmt’s?«, fragte sein braunhaariger Freund.

Beide Jungen starrten Kim, Franzi und Marie mit großen Augen an und platzten fast vor Aufregung.

Kim musste kichern. »Kann schon sein. Aber warum wollt ihr das wissen?«

Der Blonde sah sie bewundernd an. »Wir hätten gern ein … äh … ein … ein …« Er kam ins Stottern und wusste nicht mehr weiter.

Da sprang sein Freund für ihn ein: »Könnt ihr uns ein Autogramm geben? Bitte!«

Marie zog ihre linke Augenbraue hoch. Nach außen hin tat sie ganz cool und ließ sich nicht anmerken, wie sehr sie die Aufmerksamkeit der kleinen Fans genoss. »Ihr platzt hier einfach so rein. Seht ihr nicht, dass wir gerade mitten in einem wichtigen Gespräch sind?«

»Doch …«, nuschelte der Blonde und trat von einem Fuß auf den anderen, während sein Freund ein enttäuschtes Gesicht machte.

Kim schwankte zwischen Mitleid und Sorge. Bisher hatten die drei !!! immer ziemlich ungestört ermitteln können. War das jetzt vorbei? Waren sie zu berühmt geworden? Schließlich siegte doch das Mitleid. »Jetzt, wo ihr schon mal da seid …«, sagte Kim. Lächelnd griff sie nach einer Papier-Serviette, kritzelte ihren Namen darauf und schob die Serviette Franzi zu, die auch unterschrieb.

Am Schluss setzte Marie ihren schwungvollen Namenszug auf die Serviette. »Na, seid ihr jetzt zufrieden?«, fragte sie.

Die Jungen strahlten von einem Ohr zum andern und riefen wie aus einem Mund: »Jaaa!«

Der Blonde presste die Serviette wie einen Schatz an seine Brust. »Danke!«

»Gern geschehen«, sagte Franzi. »Woher habt ihr eigentlich von uns gehört? Habt ihr den letzten Artikel in der Zeitung gelesen?«

Der Braunhaarige schüttelte den Kopf. »Nö. Ben und Lukas haben in der Klasse erzählt, wie toll ihr seid und wie viele Fälle ihr schon gelöst habt.«

Kim schnappte nach Luft. »Ihr meint doch nicht etwa meine kleinen Zwillingsbrüder?«

»Doch«, sagte der Blonde. »Genau die. Ben und Lukas haben uns auch den Tipp gegeben, wo wir euch am besten erwischen können. Zweimal waren wir schon im Café Lomo, und heute hatten wir endlich Glück.«

»Danke noch mal für die Autogramme!«, sagte sein Freund. »Tschüss!«

Genauso schnell, wie sie gekommen waren, stürmten die Jungen wieder davon.

»Das glaub ich jetzt einfach nicht«, sagte Kim. »Daheim strecken mir meine lieben Brüder dauernd die Zunge raus und nennen mich Planschkuh, und in der Schule prahlen sie plötzlich mit mir.«

»Tja«, meinte Marie. »Scheint so, als ob sie doch ziemlich stolz auf ihre große Schwester sind. Freu dich doch! Ich wünschte, ich hätte auch Geschwister.«

»Sag das nicht!« Franzis Gesicht verdüsterte sich schon wieder. Als sie heute bei ihrer sechzehnjährigen Schwester Chrissie ihren Kummer hatte loswerden wollen, hatte die nur gemeint: »Ach, das wird schon, Kleine!« Stefan war zwar netter gewesen, hatte ihr aber auch nicht weiterhelfen können.

Kim sah sie besorgt an. »Was ist denn eigentlich los mit dir, Franzi? Du bist die ganze Zeit schon so mies drauf. Ist irgendwas passiert?«

Franzi schluckte. Merkwürdigerweise schaffte Kim es immer, den Nagel auf den Kopf zu treffen. »Hmmm …«, machte Franzi, weil sie nicht wusste, wie sie anfangen sollte.

Da rückte Marie auf dem Sofa näher. »Erzähl schon! Spuck es aus.«

Plötzlich konnte Franzi ihren Kummer keine Sekunde länger zurückhalten. »Polly geht es nicht gut!«, platzte sie heraus. »Seit gestern hinkt sie wieder ganz stark, viel schlimmer als früher.« Polly hatte zwar schon immer leicht gehinkt, war aber trotzdem fröhlich auf dem Hof herumgehüpft. Jetzt konnte sie auf einmal kaum noch laufen.

»Das ist ja schrecklich!«, sagte Kim. »Was fehlt denn deinem armen Huhn?«

Franzi hob hilflos die Schultern. »Wenn ich das bloß wüsste! Vielleicht hab ich mich in letzter Zeit nicht genug um sie gekümmert.«

»Das glaub ich nicht«, widersprach Marie sofort. »Du tust doch alles für deine geliebten Tiere.«

Franzi schniefte. »Eigentlich schon, ja …«

Ein Leben ohne Polly und ohne ihr Pony Tinka konnte Franzi sich überhaupt nicht vorstellen. Die beiden Tiere waren ihr so ans Herz gewachsen, dass es ihr gut ging, wenn es ihren Lieblingen gut ging, und schlecht ging, wenn sie krank waren.

»Mach dir keine Sorgen!«, versuchte Kim ihre Freundin zu trösten. »Polly wird bestimmt bald wieder gesund.«

Franzi musste noch stärker schniefen. »Ich glaub nicht …«

Plötzlich schlug Marie mit der Hand auf den Tisch. »Ich hab’s! Geh doch mit Polly zu deinem Vater. Er als Tierarzt kann ihr sicher helfen.«

Franzi starrte Marie verblüfft an. »Ich bin so doof! Warum bin ich da nicht selbst drauf gekommen? Vielleicht weil er gestern den ganzen Tag auf einem Tierarztkongress war. Ich muss sofort zu ihm!« Sie sprang auf und schnappte sich ihre Inliner, doch plötzlich biss sie sich auf die Lippen. »Äh … Ich will das Clubtreffen nicht so einfach abbrechen, aber kommt ihr heute vielleicht auch ohne mich zurecht?«

»Klar!«, sagte Kim. »Ich drück dir die Daumen. Du wirst sehen, es wird alles wieder gut.«

Und Marie grinste breit. »Kein Problem! Wer zu spät kommt, kann auch früher gehen!«

Schock beim Tierarzt

 

 

Das Wartezimmer der Tierarztpraxis Winkler war rappelvoll. Als Franzi mit Polly auf dem Arm die Tür aufmachte, fauchte eine Katze mit einer weißen Binde an der linken Pfote sie empört an.

Polly gackerte ängstlich und flatterte mit den Flügeln. »Ruhig, ganz ruhig«, sagte Franzi und strich ihrem Huhn sanft über den Kopf. »Das Kätzchen tut dir nichts. Das ist auch krank, weißt du?«

Langsam beruhigte Polly sich wieder. Franzi begrüßte die Tierbesitzer und setzte sich auf den letzten freien Platz, der zum Glück weit genug weg von der Katze war. Sie griff nach einer Tierzeitschrift und stellte sich auf eine längere Wartezeit ein. Vordrängeln wollte sie sich nicht, das hätte ihr Vater bestimmt nicht gut gefunden.

Kurz darauf streckte Herr Winkler seinen Kopf zur Tür herein und rief gut gelaunt: »Der Nächste, bitte!«

Die Besitzerin der kranken Katze stand auf und ging auf ihn zu. »Guten Tag, Herr Doktor! Ich bin ja so froh, dass Sie kurzfristig einen Termin für uns hatten. Meiner Mucki geht es leider überhaupt nicht gut.«

»Das ist doch selbstverständlich«, sagte Herr Winkler. Dann entdeckte er Franzi und zog überrascht die Augenbrauen hoch. »Du hier? Was ist denn mit Polly?«

»Sie hinkt seit gestern ganz schlimm«, sagte Franzi und merkte, wie ihr die Tränen in die Augen schossen. »Sie kann sich kaum noch auf den Beinen halten.«

Herr Winkler runzelte die Stirn. »Hmm … Klingt nach was Ernstem.« Er drehte sich zu der Frau mit der Katze um und lächelte entschuldigend. »Würde es Ihnen was ausmachen, wenn Sie noch einen ganz kleinen Augenblick warten? Ich fürchte, ich muss mich zuerst um den Notfall hier kümmern.«

Die Katzenbesitzerin war zwar alles andere als begeistert, seufzte aber resigniert. »Na gut! Es dauert ja sicher nicht lange, oder?«

»Ganz bestimmt nicht«, versicherte Herr Winkler. Dann winkte er Franzi und Polly ins Sprechzimmer hinein.

Erleichtert drückte sich Franzi an ihm vorbei. Hinter sich hörte sie noch das halblaute, verärgerte Murmeln von ein paar anderen Tierbesitzern. Normalerweise wäre ihr das peinlich gewesen, aber heute machte es ihr nichts aus. Zärtlich drückte sie Polly an sich und flüsterte ihr ins Ohr: »Hab keine Angst! Papa macht dich wieder gesund, versprochen!« In Wirklichkeit hatte sie selber schreckliche Angst, versuchte aber so tapfer wie möglich zu sein. »Danke, Papa!«, flüsterte sie.

Herr Winkler nickte. »War doch klar. Na, dann wollen wir uns die kleine Patientin mal ansehen.« Nachdem er sich die Hände desinfiziert und dünne Gummihandschuhe angezogen hatte, nahm er Franzi das Huhn ab und legte es auf den Untersuchungstisch. Sein Griff war so geübt und sicher, dass Polly gar nicht erschrak und ganz stillhielt. »Seit gestern hinkt sie, sagst du? Und auf welchem Bein? Ah, ich seh schon. Hier tut es weh, Polly, stimmt’s?« Das Huhn zuckte zusammen, als der Tierarzt ihr rechtes Bein berührte.

»Hat sie sich was gebrochen?«, fragte Franzi.

Herr Winkler tastete behutsam Pollys krankes Bein ab und schüttelte den Kopf. »Nein, ich glaube nicht. Es steht kein Knochen heraus. Den würde ich sofort fühlen.«

»Was kann es dann sein?« Franzi wurde immer unruhiger. »Irgendein schlimmer Virus, der ihr Bein lähmt?« Davon hatte sie mal in einer Tierzeitschrift gelesen. Der Besitzer einer Hühnerfarm hatte sämtliche Hühner töten müssen, weil der Virus hochansteckend war und sich rasend schnell ausbreitete.

»Nein«, sagte Herr Winkler. »Dann würde es ihr noch viel schlechter gehen. Ich tippe eher darauf, dass sie sich das Bein verdreht hat. Es ist leicht angeschwollen, siehst du?«

Franzi beugte sich über Polly und nickte. »Ja, stimmt. Und was kann man dagegen machen?«

»Nicht viel«, antwortete ihr Vater. »Das braucht einfach Zeit und viel Geduld, bis es von selber wieder abschwillt. Mach dir keine Sorgen! In ein, zwei Wochen ist Polly wieder gesund.«

Franzi fiel ein Riesenstein vom Herzen. »Wirklich?«, fragte sie, weil sie es noch nicht glauben konnte.

»Wirklich«, wiederholte er und lächelte ihr aufmunternd zu. »Hältst du sie bitte kurz? Ich muss was aus dem Arzneischrank holen.«

»Klar!« Liebevoll legte Franzi die Hände auf Polly und drückte sie sanft auf den Untersuchungstisch.

Herr Winkler holte inzwischen ein kleines braunes Fläschchen. »Ich gebe Polly jetzt ein paar Tropfen gegen die Schmerzen.« Er öffnete den Schnabel des Huhns und flößte ihr mit einer Pipette das Schmerzmittel ein.

Wieder zuckte Polly zusammen, aber als Franzi sie streichelte, entspannte sie sich.