Psychologie für Schiedsrichter

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HILKO PAULSEN

Psychologie für
Schiedsrichter

Souverän urteilen und entscheiden

• Stressmanagement • Persönlichkeitsentwicklung • Interaktion auf dem Platz

Meyer & Meyer Verlag

Psychologie für Schiedsrichter

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© 2021 by Meyer & Meyer Verlag, Aachen

ISBN 978-3-8403-7736-5

eISBN 978-3-8403-3762-8

Inhalt

Vorwort

1 Einführung

1.1 Anforderungen auf dem Platz

1.2 Psychologie – die Wissenschaft vom Erleben und Verhalten

1.2.1 Beschreiben, Erklären, Vorhersagen und Beeinflussen – Aufgaben der Psychologie

1.2.2 Der Schiedsrichter – Psychologe auf dem Platz

2 Entscheiden – Ablauf mehrerer mentaler Prozesse

2.1 Wahrnehmungsprozesse

2.1.1 Wahrnehmung ist selektiv und subjektiv

2.1.2 Warum Aufmerksamkeit blind macht

2.1.3 Das Gehirn ergänzt fehlende Puzzleteile

2.1.4 Lauf- und Stellungsspiel im Dienst der Wahrnehmung

2.2 Urteilsprozesse

2.2.1 Das Linsenmodell – Entscheidungen durch die Linse

2.2.2 Zuschauer und Spielergeschrei – Fehlschlüsse beim Urteilen

2.2.3 Entscheidungen optimieren

2.2.4 Mentale Mediathek aufbauen

2.2.5 Kalibrierung der persönlichen Linie im Spiel

2.3 Game Management – mehr als eine Entscheidung

2.3.1 Ein Unterschied: Akkurate und adäquate Entscheidungen

2.3.2 Schwellenmodelle der Entscheidung

2.3.3 Spielcharakter

3 Kommunikation

3.1 Kommunikationsaxiome von Paul Watzlawick

3.1.1 Man kann nicht nicht kommunizieren!

3.1.2 Jede Kommunikation hat einen Sach- und einen Beziehungsaspekt

3.1.3 Kommunikation ist ein Kreislauf

3.1.4 Es gibt verbale und nonverbale Kommunikation

3.1.5 Kommunikation verläuft symmetrisch oder komplementär

3.2 Sender-Empfänger-Modell

3.2.1 Unklarheit durch fehlende Zeichen

3.2.2 Unklarheit durch zu kurze Zeichen

3.2.3 Unklarheit durch fehlende Erklärung

3.2.4 Rückkopplung: Reaktionen beobachten und beachten

3.2.5 Mit Außenwirkung – mehr als ein Empfänger

3.3 Das Kommunikationsquadrat

3.3.1 Die Sachebene – Klarheit über die Entscheidung

3.3.2 Die Selbstoffenbarung – einen Eindruck hinterlassen

3.3.3 Die Beziehungsebene – eine Frage des Miteinanders

3.3.4 Appelle – Aufforderungen, etwas zu tun oder zu lassen

3.3.5 Empfänger hören mit verschiedenen Ohren

4 Konflikte und Konfliktmanagement

4.1 Konfliktarten und -anzeichen

4.2 Konfliktursachen

4.3 Konfliktdynamiken

4.4 Umgang mit Konflikten

5 Persönlichkeit und Persönlichkeitsentwicklung

5.1 Persönlichkeitsmodell und -unterschiede

5.1.1 Faktorenmodell der Persönlichkeit – die Big Five

5.1.2 Persönlichkeitsunterschiede zwischen Spielklassen

5.1.3 Kompetenzen für die Spielleitung

5.1.4 Persönlichkeit im Spiegel der Kommunikation mit Spielern und Offiziellen

5.2 Persönlichkeits- und Kompetenzentwicklung

5.2.1 Acht Komponenten des Lernens in der Praxis

6 Motivation

6.1 Die Entstehung von Motivation

6.1.1 Person und Situation

6.1.2 Motivation von innen und von außen

6.1.3 Erwartungen und Wert

6.2 Persönlichkeit und Motivation

6.2.1 Zwei Arten der Leidenschaft

6.2.2 Leistung, Macht und Anschluss

6.3 Motivationsdynamiken – hoch und tief

6.3.1 Vom Wünschen und Wollen

6.3.2 Flow-Erleben

7 Stress

7.1 Stress – ein Zusammenspiel von Anforderungen und Bewältigungsmöglichkeiten

7.1.1 Stress und die Rolle von Bewertungen

7.1.2 Stressspirale – wenn sich Stress hochschaukelt

7.2 Umgang mit Stress

7.2.1 Instrumentelle Ansätze

7.2.2 Mentale Ansätze

7.2.3 Erholung

8 Training im Kopf: Psychologisches Training

8.1 Grundsätze und Ziele des psychologischen Trainings

8.2. Selbstgesprächsregulation

8.3 Vorstellungstraining

8.3.1 Vorstellung einfacher Bewegungen

8.3.2 Vorstellung komplexer Handlungen

9 Teamarbeit

9.1 Merkmale der Teamarbeit – wie Teams sich unterscheiden

9.2 Teamprozesse – was die Leistung fördert, was sie reduziert

9.3 Teamentwicklung – zusammenwachsen und zusammen wachsen

10 Psychologie der Beobachtung

10.1 Beobachtung als Prozess der Urteilsbildung

10.2 Akzeptanz von Beobachtungen

10.3 Umgang mit Beobachtungen

10.3.1 Vor dem Spiel

10.3.2 Während des Spiels

10.3.3 Nach dem Spiel

Anhang

1 Literaturverzeichnis

2 Bildnachweis

Vorwort

Der Schiedsrichter soll dem Regelwerk Geltung verschaffen. Um dies zu tun, trifft der Schiedsrichter Entscheidungen und kommuniziert diese. Zum Teil werden diese Entscheidungen unter hohem Druck getroffen. Ein Schiedsrichter muss daher mit Stress umgehen können. Für viele Schiedsrichter ist die Tätigkeit auch Teil der eigenen Persönlichkeit. Die Erfahrungen als Spielleiter prägen die Persönlichkeitsentwicklung.

Dies war auch bei mir so. Schiedsrichter bin ich seit 2002. Allerdings pfiff ich bereits in der Grundschule Spiele auf dem Pausenhof, weil ich zufällig einmal eine Trillerpfeife mithatte und mir die Aufgabe gefiel. Um an einem Anwärterlehrgang teilzunehmen, war ich allerdings noch zu jung. Nach einem Ausflug in die Leichtathletik holte ich dies acht Jahre später nach.

Am Schiedsrichterwesen hat mich von Beginn an fasziniert, dass der Schiedsrichter nicht nur körperlich, sondern vor allem auch mental gefordert ist. So begann ich dann – auch beeinflusst durch das Pfeifen –, Psychologie zu studieren. Noch im ersten Semester begann ich das Wissen auf die Schiedsrichterei zu übertragen, indem ich einen Vortrag im Perspektivteam des Fußballverbands Mittelrhein hielt, dem ich damals als aktiver Schiedsrichter angehörte.

Ein besonderer Dank gilt an dieser Stelle dem damaligen Leiter Markus Müller, der mir die Möglichkeit gab, einen Vortrag zu halten und damit, ohne es zu wissen, auch den Weg zu diesem Buch ebnete. Das Buch ist das Ergebnis der Auseinandersetzung mit Schiedsrichterforschung und der praktischen Tätigkeit in der Nachwuchsförderung.

Bedanken möchte ich mich auch bei Alex Feuerherdt, Frederick Assmuth, Ronald Schober und Jens Goldmann für die Beiträge in Form von Interviews, die in Exkursen wiederzufinden sind. Ein besonderer Dank gilt den Schiedsrichterkollegen Christoph Hamer, Hannes Göldenitz, Niklas Bahr, Florian Hiller, Maik Chamier-Gliszczynski, Joel Hannemann, Jonathan Sterner, Rene Rose und Johannes Schmidt für das Feedback während des Schreibprozesses. Heide Gliss danke ich für die Korrekturen. Alexa Deutz danke ich für die Betreuung beim Meyer & Meyer Verlag.

1 Einführung

1.1 Anforderungen auf dem Platz

Schiedsrichter sind körperlich und mental gefordert. Sie treffen eine Reihe von Entscheidungen auf dem Platz. Doch wie viel Prozent einer Spielleitung sind Kopfsache? Schätze doch einmal und schreibe einen Wert von 0 bis 100 % auf den Zettel! Am besten bevor du weiterliest.

Zu was für einem Ergebnis bist du gekommen? Vielleicht ist der Wert bereits hoch und liegt bei 50 % oder sogar weit darüber. Dann wird dich Folgendes vielleicht wenig überraschen und in deiner Einschätzung, dass Pfeifen auch Kopfsache ist, bestätigen. Vielleicht ist der Wert aber auch niedriger und liegt unter 50 %. Dann bin ich gespannt, was du nach dem Lesen der folgenden Abschnitte denkst. Diese sollen einen kleinen Eindruck von den Anforderungen geben, die mit der Schiedsrichtertätigkeit verbunden sind.

Als Schiedsrichter triffst du viele Entscheidungen während einer Spielleitung. Eine Analyse der Europameisterschaften 2004 zählte 137 beobachtbare und 60 nicht beobachtbare Entscheidungen eines Schiedsrichterteams (Helsen & Bultynck, 2004). Setzt man dies zur Nettospielzeit in Relation, trifft der Schiedsrichter alle 15-20 Sekunden eine Entscheidung. Für die Entscheidung selbst bleiben auch nur wenige Sekunden (vgl. Raab, Avugos, Bar-Eli & Mac-Mahon, 2020). Du nimmst eine Situation wahr, beurteilst sie im Kopf und fügst in Sekundenschnelle alle Informationen zusammen, um eine Entscheidung zu treffen und diese dann auch zu kommunizieren. Das Zeitfenster für die Entscheidung ist eng. Die Situationen oft nicht eindeutig.

Stelle dir einmal folgendes Szenario vor: Du leitest als Schiedsrichter ein Spiel. Es steht unentschieden und es läuft bereits die Nachspielzeit. Du schaust auf die Uhr. In nicht einmal einer Minute ist Schluss. Bleibt es bei einem Unentschieden, dann steigen beide Mannschaften ab. Gewinnt eine Mannschaft, hält sie die Klasse.

Ein Angriff der Gäste wird nun abgefangen. Es kommt zum Konter: zwei gegen zwei. Du sprintest. Ein Angreifer – der Gastgeber – dringt in den Strafraum ein. Es kommt zum Zweikampf mit dem Torhüter. Der Angreifer geht zu Boden. Foul oder kein Foul? Du musst nun eine Entscheidung treffen – es spielt keine Rolle, wie gut du die Situation beobachtet hast. Als Schiedsrichter kannst du keiner Anforderung so einfach entfliehen. Das macht es auch schwer, auf dem Platz die richtigen Entscheidungen zu treffen.

Von außen betrachtet, erscheint der Job des Schiedsrichters oft spielend leicht. „Das muss der doch sehen. Warum pfeift der nicht?“, ist dann am Spielfeldrand zu hören. Leichter gesagt, als getan. Auf dem Platz ist die Perspektive eine andere. Der Schiedsrichter trägt die Verantwortung und muss binnen kurzer Zeit eine Entscheidung treffen, die korrekt ist und nach Möglichkeit auch die Akzeptanz bei Spielern, Offiziellen und Zuschauern findet. Als Schiedsrichter reicht es nicht aus, sehr gut zu sein, man muss immer dann sehr gut sein, wenn es darauf ankommt – eine typische mentale Anforderung von Leistungssportlern (vgl. Eberspächer, 2011).

Im Beispiel oben hängt von deiner Entscheidung als Schiedsrichter der Klassenerhalt einer Mannschaft ab. Deine Entscheidung hat Konsequenzen für andere. Im Regelwerk spielen die Konsequenzen keine Rolle: Ein Foul ist ein Foul. Doch Konsequenzen beeinflussen bewusst oder unbewusst den Schiedsrichter und seine mentale Verfassung auf dem Platz. Es ist etwas anderes, ein Vorbereitungsspiel zu pfeifen als ein Pokalfinale. Ein Spiel um die „Goldene Ananas“ ist (zumeist) leichter als der Abstiegskampf am letzten Spieltag.

So manch ein talentierter Nachwuchsschiedsrichter erweckte bei einer bedeutsamen Spielleitung den Eindruck, als habe er neben sich gestanden. Dieses Phänomen ist aus anderen Sportarten bekannt: Dort gibt es Trainingsweltmeister, denen im Training alles gelingt. Im Wettkampf unter Druck können sie jedoch die Leistungen nicht abrufen (Baumeister, 1984).

Konsequenzen führen dazu, dass Entscheidungen unter Druck getroffen werden müssen. Als Schiedsrichter musst du auch unter Druck souverän urteilen und entscheiden. Dies erfordert auch ein Stressmanagement.

Zeitdruck kann nicht nur auf dem Fußballplatz Stress auslösen. Auf dem Platz gibt es weitere Stressoren: Konflikte zwischen Spielern, Kommentare von Spielern, Trainern und Zuschauern sowie eigene Ansprüche an sich selbst, möglichst keinen Fehler zu machen, können den mentalen Druck weiter erhöhen und einen Schiedsrichter in eine Stresssituation bringen.

Greifen wir das Beispiel von oben wieder auf. Gleiches Szenario: Die letzte Minute der Nachspielzeit läuft. Es steht 1 : 1. Bleibt es dabei, steigen beide ab. Wer gewinnt, der hält die Klasse. Nun ist es aber ein Gästestürmer, der im Duell mit dem Torwart der Heimmannschaft zu Fall kommt. Du hast eine leichte Berührung gesehen. Der Torwart streift mit seiner Hand das Standbein. Der Stürmer kann weiterlaufen, gerät aber ins Straucheln, kann kaum das Gleichgewicht halten und fällt dann demonstrativ zu Boden.

Dir schießt vermutlich eine Frage durch den Kopf: War der Kontakt ausschlaggebend, damit der Spieler zu Fall kommt? Idealerweise beantwortest du für dich diese Frage schnell. Dir bleibt nicht viel Zeit, um nachzudenken.

Oft haben Schiedsrichter daher ein intuitives Gefühl. Im Gespann kannst du je nach Ort des Vergehens auch noch den Kontakt mit deinem Assistenten suchen. Je nach technischem Equipment kann es Funksignale, verdeckte Zeichen oder klare verbale Hinweise geben, die dich bestätigen oder nicht. Vielleicht schießt dir aber noch eine andere Frage durch den Kopf. Was ist, wenn ich jetzt den Strafstoß gebe? Was passiert dann? Eine derartige Frage führt schnell zu Zweifeln, die verunsichern. Die Folge kann sein, dass die Entscheidung – wie immer sie auch ausfällt – nicht so selbstbewusst wie nötig kommuniziert wird.

Zu viel über die Konsequenzen nachzudenken, schadet. Im schlimmsten Fall kann es zu Abwärtsspiralen kommen. Das ist meist der Fall, wenn im Spielverlauf Zweifel an vorangegangenen Entscheidungen aufgekommen sind. Nehmen wir einmal an, die strittige Strafstoßentscheidung ist nicht in der Nachspielzeit zu treffen, sondern bereits in den ersten zehn Minuten der Begegnung.

Dann kann es sein, dass das weitere Spiel den Schiedsrichter mental besonders fordert. Die Gedanken schweifen dann möglicherweise immer wieder ab. Sie sind dann nicht in der Zukunft bei den Konsequenzen, sondern in der Vergangenheit. Dann beginnt das Grübeln. War das richtig, vorhin weiterlaufen zu lassen?

Die Aufmerksamkeit wandert nach innen auf die eigenen Gedanken. Die Gefahr, dass dir dann auf dem Platz als Schiedsrichter etwas entgeht, steigt. Konzentrationsschwierigkeiten und Fehler können weitere Folgen sein. Verschärft wird dies dann, wenn du unter Beobachtung stehst. Dann kreisen die Gedanken zwischen Vergangenheit und Zukunft: „Habe ich einen Fehler gemacht? Wird der Fehler mich meine Klasse kosten?“

Als Schiedsrichter bedarf es hier einer Stressresistenz. Du musst auch in potenziellen Stresssituationen souverän urteilen und entscheiden. Besser noch, du kommst gar nicht in Stress, beugst Stress vor oder bewältigst aufkommenden Stress schnell und regulierst dich herunter. Die Reflexion von Stresssituationen, das Lernen aus Fehlern kann dazu führen, dass du künftige Stresssituationen besser meisterst. Das Gefühl, in Drucksituationen souverän geurteilt und entschieden zu haben, fördert die Stressbewältigungskompetenzen. Ein gelungenes Stressmanagement trägt auch zur Persönlichkeitsentwicklung bei (Kuhl, 2001).

Viele Schiedsrichter berichten, dass die Schiedsrichterei zur Persönlichkeitsentwicklung beigetragen hat. An die Rolle eines Schiedsrichters sind widersprüchliche Erwartungen gerichtet. Der Schiedsrichter kann es selten allen recht machen und muss dennoch unbeirrt handeln. Entscheidungen zu treffen, auch unter Druck, dies lernen Schiedsrichter mit der Zeit. Schiedsrichter werden so oft kompetenter und erleben, dass sie in ihrer Persönlichkeit reifen. Die Persönlichkeit wird vor allem aber auch durch kommunikative Anforderungen gefordert und idealerweise auch gefördert.

Als Schiedsrichter im Fußball bist du mittendrin, statt dabei. Du interagierst mit 22 Spielern und den Offiziellen. Gleichzeitig wirst du von Außenstehenden beobachtet. Die Schiedsrichtertätigkeit bietet so viele Lerngelegenheiten, den Umgang mit Menschen zu verbessern und sich Methoden anzueignen, um Konflikten zu begegnen. Die Persönlichkeit zeigt sich immer auch in der Interaktion mit Menschen – insbesondere in Stresssituationen.

Hier bietet die Psychologie Ansatzpunkte. Sie ersetzt nicht die eigene Erfahrung. Doch sie bietet dir Werkzeuge, mit denen du Erfahrungen reflektieren kannst. Doch was ist eigentlich Gegenstand der Psychologie?

1.2 Psychologie – die Wissenschaft vom Erleben und Verhalten

Die Psychologie ist die Wissenschaft vom menschlichen Erleben und Verhalten (Dorsch, Häcker & Becker-Carus, 2004). Das Erleben bezieht sich auf das, was in uns Menschen vorgeht. Dies sind vor allem Gedanken und Gefühle, die wir Menschen haben. Es geht dabei nicht nur um Abweichungen und Störungen, sondern um alltägliche Dinge. Entsprechend umfangreich sind die Berufsfelder von Psychologen, die sich von Psychotherapeuten und Psychiatern abgrenzen lassen (siehe Exkurs 1.1).

Menschliches Erleben und Verhalten ist auch auf dem Fußballplatz allgegenwärtig. Das Erleben fängt mit der Wahrnehmung und Beurteilung von Zweikämpfen an. Der Schiedsrichter erlebt ferner den Spielcharakter und schätzt diesen ein. Er erlebt sich vielleicht als konzentriert oder unkonzentriert. Spieler erleben eine Entscheidung möglicherweise als unfair und erleben Emotionen – oft Ärger oder Wut.

In Tab. 1.1 sind einige Beispiele für Erleben und Verhalten von Schiedsrichtern und Spielern dargestellt. Die Auswahl zeigt bereits, dass ein Fußballspiel viel mit Psychologie zu tun hat.

Tab. 1.1: Erleben und Verhalten auf dem Fußballplatz (Beispiele)

 

Erleben

Verhalten

Schiedsrichter

Zweikampfbeurteilung (Foul/kein Foul)

Intensität der Foulspiele

Spielcharakter fair/unfair

(Un-)konzentriert sein („bei der Sache“ vs. „Abschweifen“)

Selbstsicherheit vs. Zweifel

Motivation (Lust vs. Unlust)

Emotionen (z. B. Ärger/ Freude nach Beobachtung)

Entscheidungen

Nonverbales Verhalten (Gestik, Mimik)

Ansprachen durch Worte

Lauf- und Stellungsspiel

Blickkontakt im Gespann

Training in der Woche

Spielvorbereitung

Spieler

Emotionen (z. B. Frust, Ärger)

Fairness von Entscheidungen

Erleben des Schiedsrichters als Person (z. B. kompetent, zuverlässig)

Erleben von Gegenspielern als fair oder unfair

Zweikampfverhalten

(Nicht) zum Mitspieler abspielen

Shakehands mit Gegner

Den Gegner verbal angehen

Unmutsäußerungen gegenüber Schiedsrichter

Nonverbales Verhalten nach Entscheidungen, verlorenen Zweikämpfen

Das Erleben umfasst neben der Wahrnehmung von Spielsituationen auch, wie Menschen sich selbst und andere Menschen wahrnehmen – also erleben. Beim Schiedsrichter kann das das Gefühl von Sicherheit sein oder aber Zweifel, die aufkommen. Bei Spielern das Erleben des Schiedsrichters und der Gegenspieler. Menschen erleben sich und andere.

Bei Spielen unter Beobachtung ist gerade dieser Abgleich sehr spannend.

Wie hat der Schiedsrichter eine Situation wahrgenommen?

Wie hat der Beobachter den Schiedsrichter erlebt?

Welches Selbstbild hat der Schiedsrichter von seiner Leistung?

Deckt sich dies mit dem Bild, das der Beobachter und die Assistenten von seiner Leistung haben, mit dem Fremdbild?

Der Abgleich setzt voraus, dass in einer Nachbesprechung darüber gesprochen wird. Denn grundsätzlich bleibt das Erleben anderen verborgen.

Manche Menschen denken, dass Psychologen in sie hineinschauen können und Gedanken lesen könnten. Dies trifft nicht zu. Psychologen können jedoch Vermutungen anstellen, die oft zutreffen, weil viele Menschen in vergleichbaren Situationen Ähnliches erleben. Auch können sie oft besser aus dem, was andere sagen, herausfiltern, was andere erleben. Doch das Erleben wird hier nur erschlossen, in die Köpfe gucken kann niemand. Für Außenstehende ist daher das Verhalten, das andere an den Tag legen, entscheidend.

Das Verhalten können wir beobachten. Hier geht es darum, was eine Person tut oder mehrere Personen tun. Auf dem Platz sind das unter anderem konkrete Entscheidungen. Der Schiedsrichter pfeift. Er entscheidet auf Strafstoß. Auf dem Platz passiert aber noch viel mehr.

Der Schiedsrichter spricht Spieler an. Er ermahnt sie. Dies macht er auf eine bestimmte Art und Weise: mal besonnen, mal energisch. Die Spieler foulen, regen sich auf, beruhigen sich usw. Abseits des Platzes gibt es auch ein breites Verhaltensrepertoire, das Schiedsrichter zeigen können. Schiedsrichter reflektieren sich mehr oder weniger. Schiedsrichter holen sich Feedback ein oder nicht. Schiedsrichter trainieren viel oder wenig.

Erleben und Verhalten sind natürlich nicht isoliert voneinander zu betrachten. Gedanken und Gefühle beeinflussen – mal mehr, mal weniger – das Verhalten.

Einstellungen führen zu Handlungsabsichten, die sich dann auch im Verhalten widerspiegeln (Ajzen, 1985). Wenn der Schiedsrichter denkt, dass eine Ermahnung nicht notwendig ist und er das Spiel ebenso mit einer Ansprache beruhigen kann, verzichtet er wahrscheinlich auf eine Verwarnung.

Nicht immer ist der Mensch jedoch so überlegt. Auch Gefühle spielen eine Rolle und können der Auslöser für ein Verhalten sein. Auf Schiedsrichter bezogen wären Entscheidungen dann beispielsweise impulsiver und weniger reflektiert (vgl. Raab et al., 2020).

Wie könnte sich das konkret auf dem Platz auswirken? Wenn ein Schiedsrichter bereits von einem Spieler genervt ist, dann kann es sein, dass dieser schneller zu einer Karte greift, wenn dieser erneut eine Entscheidung kritisiert. Unser Verhalten gibt uns zudem Rückschlüsse über unsere eigene Person und beeinflusst so unser Erleben.

Ein Schiedsrichter, der nach Spielen feststellt, dass er immer wieder in Spielen ein Späßchen mit Spielern macht, wird sich vermutlich eher als „Kumpeltyp“ erleben (Bem, 1972). Auch andere Menschen ziehen aus dem Verhalten Rückschlüsse auf innere Zustände. Wenn der Schiedsrichter kurz zögert, erleben ihn andere als unsicher.

Exkurs 1.1: Psychologe, Psychotherapeut, Psychiater

Psychologen werden oft mit einer Couch in Verbindung gebracht. Die Annahme ist, dass sie sich als „Seelenklempner“ um psychisch kranke Menschen kümmern.

Zu unterscheiden ist zwischen verschiedenen Berufsgruppen: den Psychologen, den Psychotherapeuten und den Psychiatern.

Psychologen haben ein Studium der Psychologie absolviert. Sie arbeiten in vielen Feldern, z. B. in der Wirtschaft, in Schulen oder im Sport. Sie beschäftigten sich vorrangig mit gesunden Menschen. Oft zielt ihr Handeln darauf ab, das Wohlbefinden, die Leistungsfähigkeit und -bereitschaft von Menschen zu fördern. Psychologen sind keine Ärzte. Sie therapieren auch nicht.

Ebenfalls keine Ärzte, jedoch therapeutisch tätig sind Psychotherapeuten. Psychologische Psychotherapeuten haben in der Regel Psychologie studiert. Sie haben zudem eine mehrjährige Zusatzausbildung, die es ihnen erlaubt, Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen zu therapieren. Sie unterstützen beispielsweise Menschen mit Depressionen, Suchterkrankungen oder traumatischen Erlebnissen, wie Gewalterfahrungen.

Psychiater haben Medizin studiert und haben eine mehrjährige Facharztausbildung. Sie betrachten vor allem körperliche Ursachen psychischer Störungsbilder und behandeln vorrangig mit Medikamenten.

Erleben und Verhalten von Menschen spielt immer eine Rolle, wenn Menschen irgendwo tätig sind. Auf dem Fußballplatz gibt es viele Menschen, die zusammenkommen. Entsprechend komplex wird das Erleben und Verhalten von Menschen. Die Psychologie als Wissenschaft nähert sich dem Ganzen systematisch. Auch praktisch tätige Psychologen gehen ähnlich strukturiert an Aufgaben heran.

1.2.1 Beschreiben, Erklären, Vorhersagen und Beeinflussen – Aufgaben der Psychologie

Die Psychologie als Wissenschaft vom Erleben und Verhalten hat vier Aufgaben. Sie beschreibt das Erleben und Verhalten, erklärt dieses, trifft Vorhersagen und entwickelt Ansätze, um das Erleben und Verhalten zu beeinflussen. Dies erfolgt dabei immer auf bestimmte Themen bezogen. Es gibt also nicht eine Psychologie, die den Menschen, sein Erleben und sein Verhalten in der Gesamtheit umfasst, sondern eine Vielzahl an Theorien und Modellen und dazugehörigen Befunden.

Es ist ein wenig so, dass es für unterschiedliche Aspekte des menschlichen Erlebens und Verhaltens unterschiedliche Brillen gibt. Eine Brille kann mehr oder wenig geeignet sein, einen Sachverhalt besonders gut zu erfassen. Manchmal hilft es aber, einen Sachverhalt durch verschiedene Brillen zu betrachten, um ein umfassenderes Bild zu gewinnen.

So beschäftigt sich beispielsweise die Psychologie damit, Aggressionen in unterschiedlichen Formen zu beschreiben, zu erklären, wieso Menschen Aggressionen erleben und Aggressionen zeigen, sie sagt vorher, unter welchen Bedingungen Aggressionen auftreten und zeigt Maßnahmen auf, um das Auftreten von Aggressionen zu reduzieren (Anderson & Bushman, 2002).

Exkurs 1.2: Aufgaben der Psychologie

Die wissenschaftliche Psychologie umfasst ein strukturiertes Vorgehen bei der Auseinandersetzung mit einem Gegenstand (Ulich & Bösel, 2005):

Beschreiben: Hier geht es darum, Erleben und Verhaltensweisen zu benennen und zu kategorisieren. Von Interesse sind auch Auftretenshäufigkeit und Verbreitung von Erleben und Verhalten, z. B. aggressivem Verhalten und das Erleben von Aggression.

Erklären: Es geht darum, Antworten auf Fragen nach dem Warum? zu geben. Es werden Ursachen ermittelt, die bestimmtes Erleben und Verhalten begünstigen. Zudem begünstigen Ursachen nur das Auftreten von Erleben und Verhalten. Es ist also nicht in jedem Einzelfall, bei dem Ursachen vorliegen, so, dass dann das zu erklärende Erleben oder Verhalten auftritt. Bei einer Vielzahl von Fällen ist es jedoch häufig der Fall. Menschliches Erleben und Verhalten lässt sich dabei nicht auf eine einzige Ursache zurückführen. Zumeist kommt eine Vielzahl an Ursachen zusammen.

Vorhersagen: Rückblickend lassen sich zumeist Erklärungen finden. Diese Erklärungen erlauben Vorhersagen. In der Wissenschaft werden dazu sorgfältig geplante Studien durchgeführt, die es erlauben, die gemachten Vorhersagen zu überprüfen.

Beeinflussen: Um gewünschtes Erleben und Verhalten zu fördern und unerwünschtes Erleben und Verhalten zu minimieren, zielt die Psychologie darauf, Interventionen zu entwickeln. Dies sind zum Beispiel Trainingskonzepte. Darüber ergeben sich aus Forschungsbefunden Hinweise, was man anders machen kann, um gewünschte Ergebnisse zu erzielen.

Konkret bezogen auf Fußballschiedsrichter hat sich die Psychologie beispielsweise mit dem Treffen von Entscheidungen beschäftigt, diese beschrieben und erklärt. Aufbauend auf diesen Erklärungen, wurden dann Vorhersagen getroffen, die in Studien überprüft wurden. Auch wurden Maßnahmen, z. B. Videotrainingseinheiten, entwickelt, um das Entscheidungsverhalten zu optimieren.

Es gibt viele weitere Theorien, Modelle und Befunde, die für Fußballschiedsrichter interessant sind. Zum einen sind es direkte Forschungsarbeiten, die sich mit (Fußball-)Schiedsrichtern beschäftigt haben, zum anderen sind dies allgemeinere Theorien.

Für dieses Buch habe ich wichtige und interessante Arbeiten zusammengestellt. Die Idee ist, dass du mit verschiedenen Brillen auf Geschehnisse auf dem Fußballplatz gucken kannst und dir so ein möglichst scharfes Bild von diesen machen kannst, sodass du in deiner Rolle als Psychologe auf dem Platz noch besser vorbereitet bist.

1.2.2 Der Schiedsrichter – Psychologe auf dem Platz

Bereits früh in meinem Studium hat mir ein Gedanke des amerikanischen Psychologen George Kelly imponiert. Er hat die These aufgestellt, dass Menschen wie Psychologen menschliches Erleben und Verhalten beschreiben, erklären, vorhersagen und beeinflussen (Kelly, 1955).

Bereits damals habe ich die Idee aufgegriffen und in einem Vortrag unter Schiedsrichterkollegen dargelegt: „Der Schiedsrichter – Psychologe auf dem Platz“. Was ist damit gemeint? Auch als Schiedsrichter bist du gefordert, das Erleben und Verhalten von dir und vor allem von den Spielern einzuordnen. Du erklärst dir, was Ursachen sind, wirst Vorhersagen über den weiteren Spielverlauf treffen und überlegst dir, mit welchen Maßnahmen du Spielfluss förderst und die Spielkontrolle behältst – sprich, das Verhalten der Spieler beeinflusst.

Stelle dir folgende Situation vor. Nachdem die Gäste früh mit 2:0 geführt haben, konnte die Heimmannschaft fünf Minuten vor der Halbzeitpause den Anschlusstreffer erzielen. Es folgten noch härtere Zweikämpfe, drei Gelbe Karten und eine Gelb-Rote-Karte vor dem Pausenpfiff. Du leitest die Partie im Gespann. In der Pause wirst du dich mit deinen Assistenten vermutlich über den Spielverlauf austauschen. Ihr werdet das Erleben und Verhalten der Spieler, voraussichtlich auch der Trainer und weiterer Offizieller beschreiben. Ihr erklärt Situationen. Vor allem werdet ihr aber auch darüber sprechen, was wohl in der zweiten Halbzeit passieren wird. Ihr werdet Vorhersagen treffen, ob die Spieler aggressiv auftreten werden – und ihr werdet euch abstimmen, wie darauf zu reagieren ist.

Als Schiedsrichter wirst du nicht wie ein Wissenschaftler systematisch vorgehen. Dafür fehlt schlichtweg auch die Zeit. Als Schiedsrichter bist du gefordert, bei Zeitdruck auch unter Unsicherheit zu handeln und dich für eine Option zu entscheiden. Dies führt zwangsläufig dazu, dass du dich manchmal irrst und rückblickend vermutlich anders gehandelt hättest. Gelingt es dir allerdings in einem Spiel, das Erleben und Verhalten von Menschen vorherzusagen und zu beeinflussen, wird dies die Spielleitung vermutlich deutlich erleichtern.

In diesem Buch bekommst du Impulse und Anregungen, die du dazu nutzen kannst, bereits gemachte Erfahrungen zu reflektieren und künftige Erfahrungen einzuordnen.

Bevor du nun weiterliest: Erinnerst du dich noch an die Eingangsfrage? Auf einer Skala von 0 bis 100 % solltest du angeben, wie viel Kopfsache eine Spielleitung für dich sei.

Was würdest du nun sagen?

Hat sich nach dem Lesen des Einführungskapitels schon etwas geändert?

Welche eigenen Erfahrungen hast du bereits mit mentalen Anforderungen auf dem Platz gemacht?

Welche Fragen hast du dir immer wieder gestellt?

Im folgenden Kapitel werden verschiedene inhaltliche Schwerpunkte in einzelnen Kapiteln behandelt, vom Urteilen und Entscheiden bis hin zur Psychologie der Schiedsrichterbeobachtung. Du wirst vermutlich während des Lesens die Erfahrung machen, dass dir einiges bekannt vorkommt. Wahrscheinlich nutzt du unbewusst bereits die eine oder andere Theorie in deinen Spielleitungen, um das Erleben und Verhalten von Spielern zu beschreiben, zu erklären und vorherzusagen.

In der Zukunft kannst du davon profitieren, bewusster mit diesen Brillen auf Ereignisse zu schauen. Ebenso wirst du neue Brillen kennenlernen, die dir helfen, eine neue Perspektive einzunehmen. So erweiterst du deinen Horizont.

Infobox 1.1: Lesetipps für das Buch

Du kannst dieses Buch selbstverständlich von vorne bis hinten lesen. Wahrscheinlich interessieren dich aber einige Dinge mehr als andere. Von daher kannst du in dem Buch auch einzelne Kapitel lesen und die Reihenfolge selbst festlegen.

In den meisten Kapiteln findest du verschiedene Übungen, die dir helfen, dich und deine Erfahrungen zu reflektieren und so Impulse für die Praxis zu geben. Weniger ist dabei manchmal mehr. Bearbeite lieber eine Übung intensiv, als alle oberflächlich. Du kannst das Buch auch als Saisonbegleiter sehen und immer wieder in Kapitel reinstöbern. Denn, wenn du neue Erfahrungen auf dem Platz sammelst, findest du oft auch noch Anknüpfungspunkte an die Inhalte des Buchs.

2 Entscheiden – Ablauf mehrerer mentaler Prozesse

Einer Schiedsrichterentscheidung liegen mehrere mentale Prozesse zugrunde. Die Grundlagen dazu wurden in einem frühen Modell von Plessner and Raab (1999) beschrieben. Ausgangspunkt ist ein Ereignis wie ein Zweikampf oder ein potenzielles Handspiel. Endpunkt die tatsächliche Entscheidung und deren Kommunikation. Die mentalen Prozesse umfassen

die Wahrnehmung wie die Aufmerksamkeitsprozesse, Blickbewegungen und Einflüsse durch die Position und Blickwinkel;

eine Kategorisierung und Einordung und Rückgriff auf Regelwissen, Erfahrungen und Kontextinformationen;

eine Integration verschiedener Informationen ebenfalls unter Rückgriff auf Regelwissen, Erfahrungen und Kontextinformationen.

Am Anfang steht ein Wahrnehmungsprozess. Wichtig ist vor allem, dass der Schiedsrichter einen Zweikampf sieht. Neben dem Sehen ist jedoch auch das Hören für die späteren Prozesse von Bedeutung (dazu später mehr). Der Wahrnehmung folgt dann eine Kategorisierung des gesehenen Zweikampfs und eine erste, vorläufige Einordnung.

War es überhaupt ein Foulspiel?

Wenn ja, wie hart war das Vergehen?

Ist eine persönliche Strafe erforderlich?

Wenn ja, welche?

Dazu erfolgt ein Abgleich von Informationen aus dem Gedächtnis. Beim Gedächtnis denken viele Menschen erst einmal an einen großen Wissensspeicher. Das Gedächtnis eines Schiedsrichters umfasst beispielsweise das Regelwissen. Aber auch persönliche Erfahrungen aus der Vergangenheit sind im Gedächtnis hinterlegt. Erfahrungen sind anschaulich, diese können beispielsweise konkrete Spielszenen sein, die du als Schiedsrichter in vergangenen Spielen erlebt hast oder Szenen, die auf einem Lehrabend gezeigt wurden.

Auch eigene Erfahrungen als aktiver Spieler, sogenannte motorische Erfahrungen, spielen hier eine Rolle (Pizzera & Raab, 2012): Wer erlebt hat, wie es sich anfühlt, einen Tritt zwischen die Beine zu bekommen, dem fällt es leichter, die Härte eines Vergehens, das er sieht, einzuordnen. Die wahrgenommenen Informationen werden dann zusammen mit den Erfahrungen zu einem Urteil zusammengefasst. Fehlentscheidungen können auf fehlender Wahrnehmung oder einer fehlerhaften Einordnung basieren.

Eine modifizierte Variante des Modells ist in Abb. 2.1 dargestellt.

Abb. 2.1: Prozessmodell einer Schiedsrichterentscheidung (modifziert nach Plessner & Raab, 1999)

Zu beachten ist, dass Entscheidungen auf dem Platz in der Regel sehr schnell getroffen werden. Mentale Prozesse basieren im Wesentlichen auf zwei, sich gegenseitig ergänzenden Systemen (Deutsch & Strack, 2006; Furley, Schweizer & Bertrams, 2015). Ein bewusstes System, das System 2, das langsam und anstrengend ist und vergleichsweise viel Aufmerksamkeit erfordert und ein unbewusstes System, das System 1, das auf schnelle Automatismen zurückgreift. Es ist anzunehmen, dass überwiegend System 1 bei den mentalen Prozessen am Werk ist und System 2 erst spät eingreift.

Nach einem Pfiff bleibt meistens etwas Zeit, um abzuwägen, ob eine Karte gegeben wird. Mit der Zeit und der Spielpraxis bilden sich zunehmend Automatismen aus. Diese führen zu mehr Handlungsschnelligkeit. Wahrscheinlich wirst du bereits die Erfahrung gemacht haben, dass du bei einem taktischen Halten nach dem Pfiff gleich zur Verwarnung gegriffen hast. In solchen Fällen war der Autopilot am Werk (System 1).

Der Autopilot mit seinen Automatismen erleichtert uns das Leben im Alltag. Lesen, kleinere Rechenaufgaben, sich im Straßenverkehr bewegen oder die Bedienung der Gangschaltung im Auto: Vieles geschieht unbewusst ohne große mentale Anstrengung.

Doch Automatismen sind zugleich rigide. Dann greift die Macht der Gewohnheit. Auf dem Platz hebt der Assistent bereits die Fahne, obgleich der im Abseits stehende Spieler stehen bleibt und ein Mitspieler von hinten angelaufen kommt. Ein klares Foulspiel ist bereits gepfiffen, da erkennt der Schiedsrichter die sich ergebende Vorteilssituation. Automatismen betreffen eine Vielzahl von psychischen Prozessen und somit auch die Wahrnehmung und weitere Denkprozesse.

2.1 Wahrnehmungsprozesse

2.1.1 Wahrnehmung ist selektiv und subjektiv

Abb. 2.2: Subjektive Wahrnehmung und Umwelt

Menschliche Wahrnehmung ist kein vollständiges Abbild der Umwelt. Wir nehmen immer nur einen Teil, also Ausschnitte, wahr und gleichzeitig sehen wir auch mehr, als objektiv gegeben ist (siehe Abb. 2.2). Denn unsere eigene Verfassung beeinflusst unsere Wahrnehmung. Wer Hunger hat, dem wird vermutlich der Geruch der Bratwurst auffallen. Wahrnehmung ist immer selektiv – und damit auch subjektiv. Wir schenken bewusst oder unbewusst immer nur gewissen Dingen unsere Aufmerksamkeit.

Als Schiedsrichter wirst du bereits die Erfahrung gemacht haben, wie entscheidend die Perspektive auf ein Geschehen für die Wahrnehmung ist. Eine Situation kann sich aus unterschiedlichen Blickwinkeln ganz anders darstellen. Auch der Profifußball zeigt, dass das eine oder andere Foulspiel erst durch eine bestimmte Kameraperspektive aufgedeckt werden kann.

Abb. 2.3: Top-down- und Bottom-up-Wahrnehmung

Abb. 2.3