Die Handlung und die Personen des vorliegenden Romans sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder toten Personen ist rein zufällig. Die Verwendung von Namen bestehender Institutionen, Einrichtungen oder Unternehmen ist schöpferisches Stilmittel. Der Autor hat zahlreiche Quellen für die Recherche genutzt und beabsichtigt keine persönlichen Ansprüche verletzen zu wollen.

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© 2021 Susanne Erhard

Autorenfoto: Ralf Erhard by Delightphotos

Reihe: Edition Sunrise

Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN: 978-3-7543-5071-3

Prolog

233 nach Christus am Nachmittag des Samhain unweit der Stadt Cambodunum, Provinz Raetia

Ingrun griff ein paar Holzscheite, huschte dann nach einem prüfenden Blick über den kleinen Platz geduckt zwischen der Hütte des Häuptlings und dem Backofen hindurch zu ihrer beinahe fertigen Feuerstelle.

Sie würde den Ahnen ein Feuer entzünden, auch wenn die Versammlung und Herr Arne, der Häuptling, es verboten hatten. Sogar ihr eigener Mann hatte gegen sie gestimmt. Der Groll darüber nagte böse an ihr.

Flüchtig glitt ihr Blick hinauf zu den dichten Wipfeln der Eichen und Buchen. Nieselregen befeuchtete ihr Gesicht. Kein Alamanne würde an diesem trüben Tag den Rauch bemerken.

Die Alamannen waren viel zu dumm, um hier oben auf dem bewaldeten Hügel überhaupt jemand zu vermuten, schon gar nicht eine Wallburg. Sie waren noch dümmer als die verweichlichten Römer.

Verächtlich musterte sie die Rückseite des Blockhauses des Häuptlings. Ein Halbrömer. Nicht Fisch, nicht Fleisch, trotzdem war er zum Häuptling gewählt worden. Ingrun war sich sehr wohl bewusst, dass ihr Hass auf die Alamannen und die Römer mit jedem Jahr verzehrender an ihr fraß.

Ihre Zeit der Rache würde kommen, auch wenn Ivo, ihr Mann, der Sohn des Stammesfürsten der Likater, die Nachfolge seines Vaters abgelehnt hatte. Ivo hätte es zum Hochkönig bringen können. Hochkönig der Vindeliker. Er hätte die Stämme versammelt, um die Eindringlinge, die alamannischen Mörder ihrer Familie, die fetten römischen Maden, in ihren Kastellen von ihrem angestammten Land zu vertreiben. Doch Ivo hatte abgelehnt. Den Armreif des Fürsten nicht genommen. Abgelehnt, weil er Rinder und Pferde züchten wollte. Ivo wollte nicht für seine Freiheit kämpfen.

Im erneut aufflammenden Zorn ließ Ingrun das Holz viel zu laut in die Feuerstelle fallen. Sie fluchte leise und schaute sich um.

Niemand schien sie bemerkt zu haben, obwohl natürlich ein paar der Frauen ahnten, was sie vorhatte. Sicher hatte das Gerücht, dass Ingrun trotz des Verbotes ein Ahnenfeuer entzünden würde, längst die Runde durch die Hütten gemacht. Sie wusste aber genau, dass keine der Frauen einen Verrat wagen würde. Manchmal war es gut, wenn einen die Menschen fürchteten. Sollten sie Ivo doch für ihren Ungehorsam bedauern. Das berührte sie nicht. Unwillkürlich spuckte sie ins gefrorene Gras.

Es war ein Fehler gewesen, Ivo zu erwählen. Der größte Fehler, den sie gemacht hatte. Die Enttäuschung schmeckte wie bittere Galle.

Lauschend wendete sie den Kopf zu den einfachen Weidenhütten hinüber. Hatte jemand nach ihr gerufen? Tatsächlich sah sie Ivo am Eingang ihrer Hütte stehen. Behutsam schob sie sich tiefer in den Schatten der hohen Holzpalisaden. Ja, Ivo war ein schrecklicher Fehler gewesen, dachte sie erneut, obwohl ihr Herz bei seinem Anblick verwirrend freudig klopfte. Unwillkürlich ballte sie die Fäuste, spürte, wie sich dabei ein Holzsplitter in ihre Handfläche bohrte. Noch fester presste sie die Finger zusammen. Es tat weh, doch der Schmerz der Enttäuschung war schlimmer und sie wollte nicht, dass ihr Herz etwas Anderes fühlte als sie. Sie war so blind gewesen.

Den Kopf gesenkt, schritt Ivo nur wenige Augenblicke später über den kleinen Platz vor der Hütte des Häuptlings zum Tor hinüber. Ingrun hörte das Holztor knarren, dann rumpelte es leise. Es kam ihr ein wenig so vor, als schlössen sich endgültig auch die Tore ihres Herzens.

Seit Jahren versuchte sie alles, um Ivo umzustimmen. Gebettelt hatte sie, ihn mit Macht und Ruhm gelockt, logische Argumente für einen Aufstand gebracht, sogar ihre Weiblichkeit benutzt. Vergebens. Ivo wollte hier im Dorf leben und Rinder züchten. Sie schnaubte wütend. Vor ein paar Wochen, als an Mabon, der Herbst-Tagundnachtgleiche, die Boten seines Vaters den Armreif des Stammesfürsten überbrachten, um ihn als seinen Nachfolger zu legitimieren, da hatte sie sich trotzdem am Ziel ihrer Träume gewähnt. Doch Ivo hatte abgelehnt. Abgelehnt. Dieses Wort machte sie fast wahnsinnig. Jetzt bewahrte Cedric, der Druide, den kunstvoll geschmiedeten Armreif auf.

Ihr Magen krampfte sich zusammen, unbändiger, hilfloser Zorn ließ sie glühen. Ivo war ein Feigling, der sich hinter dem philosophischen Geschwätz der Druiden versteckte. Ein Schwächling, der sich lieber einem halbrömischen Häuptling unterordnete, als die Verantwortung seiner Herkunft anzunehmen.

Tief aufseufzend löste sie ihre verkrampften Fäuste. Genau diese Herkunft hatte sie geblendet, ihre Hoffnung auf Rache jahrelang genährt. Geblendet hatte sie auch Ivos Schönheit. Jede Frau im Dorf schaute dem Sohn des Fürsten begehrend hinterher. Jede hätte ihn an Beltane, dem Beginn des Sommers, dem Fest der Fruchtbarkeit, genommen. Jeder mochte Ivo, den Stillen. Immer wahrhaftig, immer ehrlich. Erneut übermannte sie ihr Zorn und sie spuckte ins Gras.

Ihr Hass war Ivo fremd. Ivo kannte solche Gefühle nicht. Er missbilligte sie, glaubte, dass auch die Götter dieses Zehren nicht guthießen. Und Cedric, dieser alte Wirrkopf, bestärkte ihn darin. Einzig Frieden und Vergebung, so meinte der Druide, könne ihre Wunden heilen. Sie spuckte ein drittes Mal ins winterliche Gras.

„Nein“, flüsterte sie böse, „nein.“

Nur Blut konnte diese Wunden heilen. Alamannisches Blut, römisches Blut. In Strömen sollte es fließen. Tausendfache Schmerzensschreie für die Schreie ihrer Mutter und ihrer Schwestern, für den Todesschrei ihres Vaters und ihrer Brüder. Sie schloss kurz die Augen, hielt ihr Gesicht in den leichten Sprühregen. Für einen langen Moment fühlte sie sich unendlich müde. Sterbensmüde.

Dann atmete sie tief durch, schob sich unauffällig hinter den Hütten vorbei zu ihrem geheimen Holzlager, wo sie ein letztes Mal Scheite aufklaubte und zur Feuerstelle schleppte. Genau deswegen würde auch dieses Jahr, heute, an Samhain, ein Feuer für ihre geschändete und ermordete Familie brennen und für alle anderen Ahnen, die seit Generationen unter der römischen Knechtschaft gelitten hatten. Das war ihr Versprechen. Niemand würde sie daran hindern. Weder Herr Arne noch Ivo. Niemand. Nicht einmal die Götter.

Für einen erstickenden Atemzug lang beneidete sie Ivo um seinen Seelenfrieden, dann kniete sie sich ins nasse Gras neben der Feuerstelle. Konzentriert verteilte sie die mitgebrachten Glutstücke im Reisig zwischen den Holzscheiten, blies all ihren Hass in sie hinein, bis die Flammen gierig in den dämmrigen Himmel schlugen. Sie wusste, dass dieses Feuer alles verändern würde.

Es gab kein Zurück. Schwerfällig stemmte sie sich auf die Beine. Wie lange würde es dauern, bis man ihr Feuer bemerkte? Nicht lange, dachte sie, aber das schmälerte ihre Freude nicht. Die Götter würden sie für ihren Mut segnen. Eine kalte Windbö fegte in die aufbrausenden Flammen. Wie damals, als der Hof ihrer Familie in Flammen aufging. Sie kannte die zerstörerische Kraft des Feuers nur zu gut. Instinktiv trat sie einen Schritt zurück, legte kurz ihre kalten Hände auf ihre Wangen, die von der Hitze des Feuers glühten.

In diesem Moment brüllte der Häuptling. Zuerst verstand sie seine Worte nicht, zu laut toste das Feuer, dann sah sie seine Sklaven mit Wassereimern auf sie zu rennen. Sie werden es nicht wagen, dachte Ingrun verächtlich. Gemessen umrundete sie die Feuerstelle und baute sich mit verschränkten Armen für alle sichtbar vor dem Feuer auf. Der Häuptling stand an der Ecke seines Hauses, brüllte jetzt nach Ivo, was ihr ein weiteres verächtliches Lächeln entlockte.

Die Sklaven zögerten tatsächlich, schauten fragend zu ihrem Herrn, warfen scheue Blicke auf die Frau. Zu oft hatte ihr Herr sie eine gefährliche Zauberin genannt. Ingrun spuckte vor ihnen aus, bückte sich zu dem Kräuterbündel zu ihren Füßen, wendete sich um und warf mit erhobenen Händen die Kräuter in die immer höher schlagenden Flammen. Die Sklaven wichen angstvoll, bis die Peitsche ihres Herrn sie schmerzhaft zurück zum Feuer trieb. Hastig schleuderten sie das Wasser aus ihren Eimern hinein, rannten durch die entstehende Menschenmenge wieder zum Brunnen, wo sie erneut schöpften. Ingrun lachte kreischend. Die Sklaven stolperten in einem weiten Bogen um sie herum, die Glut zischte, kämpfte mit dem Wasser um ihr Leben.

Die Menge der Schaulustigen teilte sich, um Ivo, Ingruns Ehemann, Platz zu machen. Dazwischen hetzten die Sklaven mit ihren Eimern umher. Sie hatte ein Inferno entfesselt. Bei Ivos Anblick schwankte ihr Mut für einen Atemzug lang, dann richtete sie sich umso stolzer auf. Ihre Augen trafen sich. Sie sah die Traurigkeit in seinem Blick, erkannte sein Verständnis für ihr Handeln und etwas, was ihr Herz, von dem sie glaubte, dass kein Schmerz ihm mehr etwas anhaben könnte, ein weiteres Mal zerbrechen ließ. Intuitiv legte sie ihre Hände unter der Brust zusammen, ihre Gesichtszüge verkrampften sich. Sie wollte keine Schwäche zeigen. Nie. Ivo hatte erkannt, dass sich ihre Wege nun trennen mussten. In diesem Moment war Ingrun den Göttern dankbar, dass ihr Leib leer geblieben war, trotzdem sie seit Langem mit Ivo das Lager teilte.

Ohne ihn eines Blickes zu würdigen, schüttelte Ivo die Hand des Häuptlings von seiner Schulter.

„Dein Weib hat wieder die Regeln gebrochen, Ivo!“, brüllte der Häuptling. „Die Alamannen werden uns finden. Sie ist schuld!“

Mit einer flüchtigen Bewegung wischte sich Ivo den zunehmenden Regen aus dem Gesicht. „Es sind keine Alamannen in der Nähe, Arne“, erwiderte er emotionslos, „keiner kann das Feuer zwischen den hohen Bäumen und den tief hängenden Wolken sehen. Aber du hast recht, Arne“, zum ersten Mal wendete er den Blick von Ingrun, um Arne anzuschauen, „wir hatten anders entschieden. Und Ingrun hat unserer aller Entscheidung zuwider gehandelt.“

Langsam trat er auf Ingrun zu. Sie erstarrte. Vor allen Leuten hatte Ivo zugegeben, dass sie Unrecht getan hatte. Seltsam klar bemerkte sie die verschiedenen Regungen der anderen Frauen und Männer des Dorfes, die da im Regen um sie und ihr Feuer herumstanden. Sie sah Mitleid, Häme, Überraschung, aber keine Zustimmung.

„Tritt zur Seite, Ingrun“, forderte Ivo sie unüberhörbar auf, „und lass uns das Feuer löschen. Dieses Jahr wird es an Samhain kein Feuer für die Ahnen geben. Mögen die Götter uns vergeben.“

Freundlich, aber auch entschieden fasste er sie am Arm, um sie zur Seite zu ziehen. Sie folgte, fühlte sich mit einem Mal wie die Holzpuppe, die sie Ivos Nichte Belana vor Jahren geschenkt hatte. Ungelenk machte sie einen Schritt vom Feuer weg, während Ivo einem der Sklaven einen Eimer abnahm und ihn in das ersterbende Feuer schüttete.

„Wie gedenkst du dein Weib zu bestrafen, Ivo?“, brüllte der Häuptling erneut, schaute dabei Zustimmung heischend in den Kreis der Dorfbewohner. So oft hatte er gehadert, warum Ivo, diesem keltischen Bastard, von allen Ehre erwiesen wurde, während er, Arne, ein echter römischer Bürger aus einer alten Familie, mit Klugheit ihre Geschicke leitete. Seit Jahren fühlte er sich von Ivos Überlegenheit erniedrigt. Und sein Weib ließ keine Gelegenheit ungenutzt, um ihn zu verhöhnen.

Auch jetzt verzog Ingrun nur verächtlich den Mund. Niemand würde es wagen, Hand an sie zu legen. Und das war auch nicht mehr nötig. Mit allem Stolz, den sie noch in sich trug, schritt sie auf die Dorfbewohner zu und blieb vor dem Häuptling stehen. Ihr Blick verwandelte ihn vor ihrem inneren Auge für einen erhebenden Moment lang in eine hässliche Made. Leise flüsterte sie einen Fluch, sah ihm dabei genau in die Augen, sah die Angst und den Hass, sah ihn erbleichen. Dann eilte sie, ohne sich umzuschauen, zu den Pferchen der Pferde am anderen Ende der Wallanlage, wo sie ihre schwarze Stute sattelte. Noch immer schweigend führte sie das Pferd zum Tor.

Letzte Rauchfäden stiegen von ihrem Feuer auf, aus den Augenwinkeln sah sie Ivo herüberrennen. Es dämmerte und eine weitere Anordnung der Dorfältesten besagte, dass sich niemand nach Einbruch der Dunkelheit aus der Fluchtburg entfernen durfte. Oswin, ihr Schwager, sollte das Tor verschließen. Und sie würde ihn nicht in Verlegenheit bringen, diese Order zu missachten, denn sie hatte nicht vor zurückzukehren.

Mit einer harten Handbewegung wies sie Oswin zurück, schob harsch den Riegel des Tores zur Seite und verließ mit ihrer Stute am Zügel die Wallanlage. Hinter ihr rumpelte das Tor. In diesem Leben gab es nur noch einen Weg für sie.

Langsam ritt sie zwischen den Wällen hindurch den schwach erkennbaren Pfad hügelabwärts, umrundete die Anlage, bis sie sich wieder am Rand der kleinen Schlucht befand. Unbewusst hielt sie ihr Pferd unter der alten Eiche an. Es hätte der Regen sein können, der ihr über das Gesicht lief. Mit einer unwirschen Bewegung wischte sie sich über die Wangen. Unter dieser Eiche hatte Ivo sie so oft geküsst. Es sollte Glück bringen, unter Eichen zu küssen, sagte man. Vielleicht hatte ich aber gar kein Glück haben wollen, dachte Ingrun, vielleicht war es schon lange zu spät für Glück gewesen. Und was war schon Glück? Ein wohlwollendes Zwinkern der Götter, mehr nicht. Flüchtig und umso nutzloser, je fester man es halten wollte.

Aus den Augenwinkeln vermeinte sie einen Schatten zu sehen, ihre Stute tänzelte kurz, dann raste ein gleißender Schmerz von hinten durch ihren Körper. Sie spürte noch, wie sie stürzte, und sah dieses wunderschöne Licht durch die fast kahlen Zweige der Eiche strahlen.

Später Nachmittag am 31.Oktober 2012 nahe Ottacker im Oberallgäu

Reichlich genervt warf ich mein Handy auf den Tisch. Eine geschlagene halbe Stunde hatte mich der eigentlich recht nette Herr von der Versicherung jetzt am Telefon aufgehalten, weil er meinte, dass ich unbedingt eine Lebensversicherung abschließen sollte. Wie mir ein Blick aus dem Fenster klarmachte, war es genau die eine halbe Stunde, die mir bei meinem Vorhaben heute Abend derbe fehlen würde.

Der letzte Tag des Oktobers war trübe gewesen, kalt, und immer wieder hatten die Pferde draußen auf dem Paddock ihre Hinterteile gegen den Sprühregen gedreht. Jetzt dämmerte es fast und mein Haflinger Askan wälzte sich gerade genüsslich in der schlammigsten Ecke des Paddocks. Danke, dachte ich, super Idee. Keine Zeit und ein dreckiges, nasses Pferd.

Kurz war ich versucht, einfach daheimzubleiben, schien sich doch alles gegen mich zu wenden, zumal der böige Wind mir eben neue Regentropfen an die Scheiben sprühte. Hier in meinem Haus war es muckelig warm. Ich schielte zum Sofa, malte mir aus, wie es sich anfühlen würde, dort mit einer Tasse frischem Pfefferminztee zu liegen, in eine Wolldecke gekuschelt entspannt den Abend des Samhain, Halloween, zu genießen, anstatt wie geplant hinauf zur ehemaligen keltischen Fliehburg zu reiten, um dort einen selbst gebastelten Strauß aus Eberesche, Wacholder und Eiche abzulegen. Theoretisch brachte das den alten Kelten nichts mehr, mir womöglich aber eine Erkältung.

Egal, ich warf einen letzten wehmütigen Blick zum Sofa, das hoffentlich in Gnade auf mich warten würde, und lauschte kurz auf das Lied im Radio. Phil Collins, „Against all odds“:

So take a look at me now,

'cos there's just an empty space

And there's nothing left here to remind me,

just the memory of your face

Take a look at me now,

'cos there's just an empty space

And you coming back to me is against the odds

and that's what I've got to face

Den unendlich traurigen Refrain summend, trat ich in den Flur, wo meine Jacke hing. Ich hatte mir das vorgenommen, also sollte ich es auch durchführen. Selbst der verdreckte Askan konnte mich nicht aufhalten. Against all odds, gegen jede Widrigkeit.

An Putzen war bei nassem Schlamm nicht zu denken, ich seufzte, also legte ich nur einen alten Jutesack auf Askans Rücken und griff mir Zaumzeug, Halfter und Strick für Runa, meine schwarze Fellponystute. Vom Zaun aus wuchtete ich mich auf den Haflinger, packte Runa am Strick und ritt hinaus auf die schmale Landstraße.

Für den Rückweg würde mir wegen der Dunkelheit nichts übrig bleiben, als querfeldein zu reiten, in der Hoffnung, dass keiner der Bauern mich dabei erwischte. Immerhin hatte ich dank der Pferde und des eifrigen Versicherungsvertreters eine Flurschadenversicherung. Ich grinste fies. Doch unbeleuchtet auf der Straße zu reiten, schien mir keine gute Idee. Missmutig rückte ich mich auf Askans Rücken zurecht, schon längst hätte ich mir eine Reitbeleuchtung samt Reflektorweste beschaffen sollen, faules Stück, das ich war. Jetzt war es zu spät.

Ich musste mich beeilen, um überhaupt noch einen Funken Tageslicht oben im Wald zu erwischen, also trabten wir flott am Wiesenrand entlang bergauf Richtung Ottacker. Auf Höhe Kenels überquerten wir die Umgehungsstraße nach Kempten, bogen schräg gegenüber in den historischen Wanderweg nach Albis ein.

Hier unter den Bäumen war es schon recht finster. Die Zeit drängte, zumal ich nicht unbedingt bei Dunkelheit im Wald herumreiten wollte. Eigentlich neigte ich nicht zu Aberglauben, aber geheuer war mir ein finsterer Wald trotzdem nicht. Es war Samhain. Eine Taschenlampe wäre auch eine gute Idee gewesen.

Aus zeitlichen Gründen wählte ich den breiten Holzweg, der in einem langen Bogen den Hang hinaufführte, und nicht den überwucherten alten Weg zwischen den Wällen. Oben auf der Anhöhe angelangt, stapften die Pferde gemächlich weiter über den Wanderweg in einem Bogen auf die Lichtung der alten Wallanlage zu als überraschend ein letzter, faszinierend silbriger Sonnenstrahl durch die hohen Fichten direkt vor uns auf den Weg fiel. Überall glitzerten Regentropfen in schillernden Farben, der Wasserfall des Tobels, wie man im Allgäu diese kleinen Schluchten nannte, rauschte neben uns, die Luft schien wie verwandelt. Ich grinste. Allein für diesen Augenblick war der Ritt es wert gewesen. Jetzt wollte ich nur noch schnell meinen Strauß auf dem Gedenkstein deponieren und zackig nach Hause traben. Dann warteten der Stall mit Heu auf die Pferde und ein Glas Rotwein samt heißer Badewanne und Sofa auf mich. Was brauchte ich mehr?

Noch während ich so vor mich hin grinste, wurde es allerdings schlagartig dunkel. Durch die lichten Wipfel bemerkte ich eine rabenschwarze Wolke über uns. Das sah nicht gut aus. Gleichzeitig sprang mein Haflinger wegen irgendeines pferdefressenden Monsters erschrocken zur Seite. Mir schoss ein irrsinniger Schmerz durch den Rücken in die Brust. Ich schrie auf und landete unsanft im Matsch. Und da ich die ebenso erschrockene Runa nicht loslassen wollte, rumpelte ich auch noch derb mit dem Kopf gegen einen Baum. Eine Eiche, bekannt für ihr hartes Holz. Die einzige Eiche zwischen all den Fichten auf diesem Hügel.

Dort hockte ich diverse Atemzüge lang, derweil die Pferde wieder völlig entspannt nach letzten Grashalmen suchten. Typisch Pony. Mir dagegen brummte der Schädel und vor Schreck war mir ein wenig übel. Vom Pferd war ich schon lange nicht mehr gefallen, schon gar nicht so dämlich. Das ärgerte mich. Ich trug mal wieder keinen Helm und das Handy lag trocken daheim auf dem Küchentisch, außerdem wusste kein Mensch, wo ich war. So viel zum Thema sicheres Reiten. Das hätte schiefgehen können.

Wütend rappelte ich mich auf, um meine Pferde wieder einzufangen.

Wir befanden uns kurz vor dem ersten Wall, der ehemaligen Fliehburg. Mit den Pferden an der Hand suchte ich den Boden nach dem verdammten Strauß ab, den ich beim Sturz verloren hatte, konnte ihn aber nirgends finden. Das alles war wirklich eine blödsinnige Idee gewesen. Mittlerweile war es fast dunkel, aber wenigstens den Strauß wollte ich noch dort hinlegen, wo ich es geplant hatte.

„Ingrun!“

Dieses Mal erschraken wir zu dritt, bollerten wie die Dominosteine aneinander, was den Pferden weniger ausmachte als mir.

„Ingrun! Bei allen Göttern, endlich. Ich war so in Sorge um dich!“

Matt vor Schreck sortierte ich mit feuchten Händen Strick und Zügel, starrte ungläubig auf den Mann, der da im Dreivierteldunkel mit schnellen Schritten auf uns zukam. Askan machte gleich noch mal einen Satz nach hinten, ich fluchte.

„Beeil dich, Ingrun, Oswin sollte das Tor längst geschlossen haben. Nur uns zuliebe hat er noch gewartet.“

Reichlich verdutzt fragte ich mich, ob dieser Wald an Samhain Tag des offenen Forstes hatte? Wer trieb sich hier noch alles herum? Ingrun? Oswin? Und dieser Mann? War ich in die Party einer neodruidischen Gemeinschaft geplatzt? Vielleicht kam ich dann endlich einmal in den Genuss, um ein Feuer zu tanzen, und immerhin bewiesen mir diese Namen, dass ich nicht die Einzige auf der Welt war, die eine Schwäche für alte heidnische Vornamen hatte, auch wenn ich dafür immer belächelt wurde. Es gab tatsächlich Leute, die Bubi als Namen für einen Haflinger passender fanden als Askan. Das würde mir nie eingehen.

„Mea Culpa“, erwiderte ich entsprechend lässig pseudolateinisch, „aber ich bin nicht Ingrun. Ich bin Christin. Ingrun ist mir auf dem Weg nicht begegnet.“

Der Mann vor mir stockte kurz, schien einen Moment lang irritiert, dann schüttelte er den Kopf.

„Lass den Unfug, Ingrun, Häuptling Arne ist sehr erzürnt wegen uns, aber mir tut es leid, dass ich dich heute Nachmittag vor allen gerügt habe, wirklich. Ich möchte dich um Vergebung bitten.“

Okay, leises Unwohlsein stieg in mir auf. Der Typ war entweder auf Drogen oder aus irgendeinem unerfindlichen Zufall heraus spazierte besagte Ingrun auch mit zwei Pferden durch diesen Wald und er verwechselte uns tatsächlich.

Keine Frage, welche Variante wahrscheinlicher erschien. Möglichst unauffällig zog ich meine Pferde näher an mich heran. An aufsteigen war nicht zu denken und an wegrennen noch viel weniger. Dafür war es mittlerweile viel zu dunkel und der Pfad zu unwegsam.

Am besten, ich mogelte uns diplomatisch aus der Situation. Nett lächeln, noch einen schönen Samhain oder Halloweenabend wünschen, langsam rückwärts treten und dann hurtig den Berg hinunter. Den Strauß sollten die Rehe holen. Daheim würde ich ausnahmsweise die Tür und den Stall verschließen. Auf den Schrecken meinen besten irischen Whiskey kippen.

„Echt, alles super“, ich schob mich und die Pferde wie beiläufig rückwärts, „tut mir leid, wenn ihr euch gestritten habt, das renkt sich schon wieder ein und euer Häuptling soll sich mal nicht so haben. Gute Nacht!“

Ich war noch keine zwei Schritte gegangen, da packte er mich hart an der Schulter.

„Du redest wirr, Ingrun“, sagte er und zog mich an sich. Er roch nach Leder und Rauch und nicht ganz frisch gewaschenem Mann, „hat dir jemand etwas angetan? Waren es die Alamannen? Sprich, Ingrun, was ist geschehen?“

Mit seiner Ingrun ging er mir langsam, aber sicher auf die Nerven. Da ich wegen des Stricks und der Zügeln keine Hand frei hatte, um mich von ihm loszumachen, wendete ich mich mit aller Kraft zur Seite. Seine Sorge rührte mich, aber es ging mich nichts an. Sollte er seine Ingrun doch einfach suchen gehen. Was stand dem im Weg?

„Du“, ich machte mich endgültig von ihm los und zerrte Runa zwischen uns, „such Ingrun doch einfach. Der Wald ist nicht groß, sie kann nicht weit sein. Ich muss jetzt nach Hause.“

Aber anstatt meinen Rat anzunehmen, griff er nach Runas Strick. Ich erahnte in der Dunkelheit seinen Blick mehr, als dass ich ihn sah. Er war verwirrt und besorgt.

„Es reicht jetzt, Ingrun“, erklärte er bestimmt und ging mit Runa einfach Richtung Wall, „ich verstehe, dass du noch wütend auf mich bist, aber hier draußen können wir jetzt nicht weiterreden. An Samhain ist kein Wald sicher. Komm endlich.“

Notgedrungen lief ich ihm mit Askan am Zügel hinterher, schließlich konnte ich ihn schlecht mit meiner Stute von dannen ziehen lassen.

Mittlerweile war es unter den Bäumen endgültig dunkel geworden. Zum x-ten Mal für diesen Abend verfluchte ich mich und meine schrägen Ideen. Das war das letzte Mal, dass ich meiner romantischen Ader nachgegeben hatte. Die brachte mir nichts als Scherereien ein.

Ich musste dringend mein Pferd wieder in die Hand bekommen und noch viel dringender von hier verschwinden. Ich hatte nur keine Ahnung, wie, zumal ich es langsam mit der Angst zu tun bekam.

Mir erschien es trotzdem erst einmal am klügsten, dass ich den Mann ein wenig laufen ließ. So ein Pferd an der Hand war sehr beruhigend und weit konnte er hier nicht gehen. Der eine Weg endete am Waldrand in einem Wildzaun, der andere führte durch die alte Anlage wieder hinunter nach Kenels, wo ich theoretisch laut um Hilfe brüllen konnte und mich mit großer Wahrscheinlichkeit auch jemand hörte. Also nur ruhig.

Vor uns ragte der erste Wall der alten Wehranlage auf, jetzt im Dunkeln um ein vielfaches höher wirkend als bei Tag. Da ich alle Konzentration auf den Mann vor mir legte, nahm ich es nicht bewusst wahr. Wir schritten durch den schmalen Durchtritt, wie immer, doch dann türmte sich vor mir, dort, wo eigentlich der innere Wall gewesen war, ein hohes, dunkles Tor auf, inmitten eines hölzernen Palisadenrings, der sich nach beiden Seiten in der Dunkelheit verlor. Askan stieß gegen mich, weil ich abrupt stehen geblieben war, und ich stolperte. Der Mann fing mich geistesgegenwärtig auf. Obwohl wir uns fast im Schatten des Tores befanden, war es auf der Rodung doch um einiges heller. Völlig fassungslos starrten wir uns an, dann prallten wir beide entsetzt zurück.

Vor mir stand ein drahtiger, schlanker Mann mittlerer Größe, gekleidet in eine wollene Tunika mit Umhang. Er trug karierte Hosen, an deren Ledergürtel ein kurzes Schwert baumelte, und geschnürte, bis an die Knie reichende, Lederstiefel. Sein Gesicht war glatt rasiert, doch sein langes, dunkles Haar trug er zu einem Pferdeschwanz gebunden, aus dem ein einzelner geflochtener Zopf an seiner Schläfe hing. Hinter ihm befand sich ein Bollwerk aus angespitzten Palisaden und dichter Buchenwald umgab uns. So sah das hier sonst nicht aus. Eigentlich sollte hier ein großes Holzlager sein, ein geschotterter Fahrweg, der eine Senke durchquerte, die vor zweitausend Jahren eine Fliehburg gewesen war. Diese Anlage sah aber verstörend intakt aus.

„Was ist mit dir, Ingrun“, flüsterte er und machte das uralte Zeichen zur Abwehr des Bösen, „du siehst aus wie sie, aber du trägst dein Haar kürzer und das ist nicht Ingruns Kleidung. Wer bist du?“

Beschwörend hob ich die Hände. „Alles ist gut“, versuchsweise angelte ich nach Runas Strick, doch er hielt ihn krampfhaft fest, „ich bin Christin, ich kenne keine Ingrun. Was geschieht hier?“

„Es ist Samhain, Ingrun, hast du die Ahnen verärgert? Hat ein Geist dich verhext?“

Mir wurde schlagartig kalt bis auf die Knochen. Verhext? Zu keiner Zeit seit Menschengedenken war es als Frau ratsam gewesen, mit dem Wort Hexerei in Verbindung gebracht zu werden, in dieser Situation schien es mir sogar fatal. Irgendetwas war passiert, etwas stimmte nicht. Ein total falscher Film lief hier ab.

Natürlich, ich atmete halbwegs erleichtert auf, vielleicht war ich doch daheim auf dem Sofa eingeschlafen. Ich träumte. Meine Albträume waren legendär, immer gut für eine Horrorstory auf Partys. Keiner träumte so scheußliche Sachen wie ich.

Und jetzt hatte mein Unterbewusstsein mal wieder die Oberhand, bastelte hier prähistorische Wallanlagen, martialisch anmutende Männer – und ich ahnungslos mittendrin. Hektisch schlug ich mir mit beiden Händen ins Gesicht, in der Hoffnung, dass ich davon aufwachen würde. Der Mann packte meine Hände, mein Gesicht brannte vor Schmerz.

„Ich rufe gleich den Druiden oder Mara. Sie werden dir helfen, hab keine Angst, Ingrun. Cedric kennt sicher ein Kraut für dich.“

Bilsenkraut, dachte ich hysterisch, große Dosis, dazu ein paar von diesen psychoaktiven Pilzen, damit ich noch mehr halluzinierte und die Welt fantastisch schillerte.

„Ich bin vom Pferd gestürzt“, quiekte ich halb in Auflösung begriffen, wollte ihn aber wenigstens von der Theorie abbringen, dass ich von sonst was besessen sein könnte, „ich muss mir den Kopf angeschlagen haben. Ich kann mich an nichts erinnern. Wer bist du?“

Die Bestürzung in seinem Gesicht tat mir wirklich leid. „Bei allen Göttern, Ingrun, ich bin Ivo, dein Mann.“

Die Bestürzung, die ich empfand, tat mir noch viel mehr leid. Mein Blutdruck sackte spontan ins Erdreich, mir brach kalter Schweiß aus.

„Mein Mann?“

Wieder schlug ich mir ins Gesicht, trampelte so wild auf dem Boden herum, dass Askan entrüstet zur Seite wich, doch ich wollte einfach nicht wach werden. Dieser Albtraum fand kein Ende.

Schweigend packte mich Ivo am Arm, zog mich und die Pferde hastig durch das Tor, das ein rundlicher Mann in der gleichen seltsamen Tracht für uns aufhielt. Das musste Oswin sein. Ich spürte seinen erstaunten Blick im Rücken. Die Torflügel schwangen fast lautlos knarrend auf und schlossen sich mit einem leisen Rumpeln hinter mir. Damit hatte sich die letzte Chance zur Flucht ultimativ vernichtet. Das fühlte sich ganz fies nach Falle an. Panik schoss in mir hoch. Was, wenn das kein Albtraum war? Was, wenn ich in die Hände von irgendwelchen irren Neo-Germanen gefallen war? Oder was, wenn … Mein Hirn setzte aus. Es gab eine Möglichkeit, die eigentlich keine war und die ich nicht einmal denken konnte, die aber doch seltsam real erschien.

Um mich herum konnte ich schemenhaft verstreute Hütten ausmachen, dem Tor gegenüber sah es nach einem größeren Haus aus. Durch die Wände mancher Hütten schimmerte gedämpfter Lichtschein, leise Stimmen drangen als Gemurmel zu uns herüber, ansonsten war es verstörend still. Ich blickte zum Himmel auf, in der Hoffnung, wenigstens die vertrauten Blinklichter eines Flugzeugs zu sehen, doch alles war dunkel. Kein Stern, kein Mond, kein Flugzeug auf seinem Weg über die Alpen.

Ivo führte die Pferde zum hinteren Teil der Anlage, wo leises Stampfen und Schnauben die Anwesenheit von anderen Pferden verriet. Mit einem schiefen Lächeln in meine Richtung reichte er mir Zügel und Strick zurück.

„Ich trenne einen Teil für den Weißmähnigen und die Schwarze ab, warte.“

Er kletterte zwischen den Latten des Zaunes hindurch, verschwand kurz im Dunkeln, während die fremden Pferde ihre Köpfe neugierig über den Zaun streckten. Es schienen durchweg stämmige Ponys wie Runa zu sein. Mit einem Strick spannte Ivo einen Teil für meine beiden ab und ich führte sie hinein. Während er für jeden einen Arm voll Heu verteilte, zog ich Askan das Westernzaumzeug vom Kopf und nahm auch Runa das goldgelbe Nylonhalfter ab. Das schien mir in Anbetracht der verworrenen Situation sicherer. Wer konnte schon absehen, wie die Bewohner dieser Wallanlage auf so neumodische Sachen reagierten.

„Komm.“

Notgedrungen folgte ich dem fremden Mann. Wenigstens versuchte er nicht wieder, mich zu berühren. Ganz in der Nähe des Langhauses hob er eine schwere Matte vom Eingang einer Hütte und schob mich rigoros hinein. Unvermittelt fand ich mich in einem Raum wieder, in dem ich sogar aufrecht stehen konnte und der in das sanfte Licht eines Feuers aus einem getöpferten Ofen gehüllt war. Ivo trat hinter mich, legte scheu seine Hand auf meinen Rücken. „Setz dich, Frau, und ruh dich aus.“

Zögernd blickte ich mich um, registrierte mit gemischten Gefühlen, dass er mich jetzt nicht mehr dauernd Ingrun nannte, in deren Zuhause ich mich wahrscheinlich befand. Die Hütte war nicht groß, vielleicht vier mal vier Meter, ohne Fenster. Die Wände waren mit Lehm abgedichtet und das Dach mit Rindenstücken gedeckt. Vom First hingen Kräuterbüschel zum Trocknen herab und rund um den Rauchabzug dörrten Fleisch und Fisch. Der Boden war mit dicken geflochtenen Schilfmatten und mehreren Schaffellen belegt, es gab sogar einen Hocker aus Holz. In der hinteren Ecke bemerkte ich etwas, das an ein Bettlager erinnerte. An der Hüttenwand lagen ordentlich gestapelt Kochgeschirr aus Ton, sowie ein Kessel, aus getriebenem Kupfer mit feinen Ornamenten verziert, und in der Mitte der Hütte befand sich eine Feuerstelle zum Kochen. Außerdem sah ich viele Gerätschaften, die ich nicht zuordnen konnte. In Geschichte hatte ich nie besonders gut aufgepasst, doch genau so stellte ich mir die Wohnstatt einer keltischen Familie vor.

Schüchtern sank ich auf einem der Felle nieder, schob unauffällig Halfter und Zaumzeug zur Sicherheit halb darunter. Die Wärme in der Hütte tat unglaublich gut, ich war ziemlich durchgefroren. Ivo musterte mich kurz, ich senkte den Blick, und überlegte fieberhaft, was eigentlich passiert war? Wie konnte das alles sein? Wo war Ingrun? Wer war Ivo? Wieso existierte jetzt diese Wallanlage, wenn sie vor ein paar Wochen bei meinem letzten Besuch auf dem Hügel nichts anderes als ein Gedenkstein und zwei eingesunkene Wälle gewesen war? So schnell konnte man das doch unmöglich aufbauen, zumal ich davon sicherlich gehört hätte.

Fahrig zerrte ich an meinem langen Zopf herum, der mir wie immer seitlich über die Schulter hing, starrte unter den Haaren hindurch den Mann am Ofen an, der gebeugt ein paar dicke Äste in die Glut legte. Ich sollte mir dringend eine Lösung überlegen, denn die Variante mit dem Albtraum konnte ich mittlerweile ausschließen.

Automatisch tastete ich in Erinnerung meiner Weckaktion mein Gesicht ab. Hoffentlich hatte ich mir nicht selbst blaue Flecken geschlagen. Mit einer geschmeidigen Bewegung ließ sich Ivo vor mir nieder und legte sanft seine Hände auf mein Gesicht.

„Warum hast du das getan, Frau?“, fragte er leise. Ich senkte erneut den Kopf, um mich ihm zu entziehen.

„Was?“

„Warum hast du dich selbst geschlagen? Wozu?“

„Ich dachte, vielleicht träume ich das alles und würde durch die Schläge aufwachen. Bin ich aber nicht.“

Er schnaubte unwirsch. „Warum solltest du aufwachen? Ich hätte da wohl eher das Recht, so etwas zu vermuten.“

Nachdenklich musterte er mich von oben bis unten und stand mit einer fließenden Bewegung auf. Von solcher Gelenkigkeit hätte ich wiederum nie zu träumen gewagt. Ich war froh, wenn ich halbwegs elegant auf mein Pferd hinaufkam. Verwirrt blinzelte ich zu ihm hoch.

„Das verstehe ich jetzt nicht.“

Er füllte etwas in zwei glasierte Keramikbecher, von denen er mir einen reichte, und setzte sich wieder so nah vor mich, dass sich unsere Knie fast berührten. Das war mir eigentlich zu nah, ich pochte gern auf mein Recht auf einen gewissen Individualabstand, doch ich wollte in dieser Situation nicht unbedingt unfreundlich wirken. Mit ernstem Gesicht verneigte er sich vor mir und dem Becher, was ich mit offenem Mund quittierte.

„Wohl den Ahnen.“

Ich nickte sprachlos, nippte skeptisch an der Flüssigkeit im Becher. Met? Der Geschmack erinnerte mich an das Zeug, das ich beim letzten Mittelalterfest auf Burg Sulzberg getrunken hatte. Aber das hier war Met vom Feinsten. Überrascht schaute ich auf.

„Ingruns Met ist das Beste.“

Ein gequältes Lächeln zog sich um seine Lippen und unsere Blicke bohrten sich ineinander. „Du siehst aus wie sie“, er strich mir sacht die Wange entlang, „du bewegst dich wie sie, es sind ihre Augen in deinem Gesicht. Aber deine Haare scheinen dunkler und kürzer, und deine Sprache und Kleidung sind mir fremd. Deine schwarze Stute könnte unsere sein, doch der Weißmähnige ist kein Pferd aus dieser Gegend. Wer bist du? Und wo ist Ingrun?“

Instinktiv drehte ich meine Handflächen nach oben, die universelle Geste der Friedfertigkeit, Ahnungslosigkeit. Schizophrener Gedanke, aber gleichzeitig hätte ich fast gelacht, als er meinte, ein Haflinger sei kein regional typisches Pferd.

Ohne den Blick von mir zu wenden, griff er nach meinen Händen.

„Ich warte seit einer Weile am Wall auf Ingruns Rückkehr. Sie hat heute Nachmittag den Anweisungen des Häuptlings zuwider gehandelt, als sie ein Feuer für die Ahnen entzündete, und ich habe sie dafür gescholten. Arne hat recht, es war gefährlich, denn die Alamannen ziehen in der Gegend umher. Deswegen sind wir ja auch hier oben, anstatt unten im Dorf in unseren Häusern zu wohnen. Ingrun hat aber ihre eigene Meinung. An Samhain wird den Ahnen gehuldigt, auch dieses Jahr. Im Zorn ist sie mit der Stute davongeritten, hinunter ins Tal. Und zurück kommst du. Sag mir, ob ich träume, Frau?“

Träumte er? Oder ich? Welche Welt war real? Seine? Meine? Wo hatten sie sich vermischt? An Samhain sind die Grenzen zwischen den Welten sehr dünn, manchmal lösen sie sich angeblich sogar ganz auf. Viele Fragen – und ich hatte keine Antworten, außer dass ich ihm sagen konnte, wer ich war.

„Ich bin Christin“, es klang ein wenig wie ein Mantra, solide, richtig, daran konnte ich mich halten, „ich weiß nicht, was geschehen ist und es tut mir sehr leid, dass ihr gestritten habt. Man sollte nicht im Streit auseinandergehen.“

Scheu berührte ich seine Handgelenke mit meinen Fingern. „Ich wollte nur wie Ingrun am Abend des Samhain hier oben den Ahnen einen Gruß … ein Opfer hinlegen, deswegen bin ich mit meinen beiden Pferden hierhergekommen. Ingrun ist mir aber nicht begegnet. Ich weiß nicht, wo sie ist. Vielleicht ist sie bei mir gelandet?“

Jäh stürzte er den Becher Met hinunter und sprang auf.

„Christin …“, mit gerunzelter Stirn starrte er mich von oben an, „der Druide hat mir von einer Bruderschaft weit im Süden erzählt, die sich Christen nennen. Gehörst du dazu? Bist du über die Alpen gekommen? Glaubst du, dass Ingrun jetzt dort ist? Vielleicht ist sie mit der wilden Horde durch die Nacht geflogen?“

Das wurde immer verworrener. Ich glaubte eigentlich gar nichts, denn nichts von alldem war glaubhaft. Ich wollte auch nicht in Betracht ziehen, dass ich samt meinen Pferden blöderweise durch ein Zeitloch geflutscht sein könnte. So etwas passierte nicht im wahren Leben.

„Ja, Christin bezieht sich auf das Christentum“, besser ich hielt mich wieder an die Fakten, „aber ich bin nicht religiös.“

Sollte ich einfach behaupten, dass ich per Pferd über die Alpen geritten war, trotz Herbst und Schnee? War das glaubhaft? Völlig überfordert schüttelte ich den Kopf und trank einen Becher ebenfalls in einem Zug leer.

„Nein. Ich bin nicht über die Alpen geritten“, mit einem versöhnlichen Lächeln hielt ich ihm meinen leeren Becher hin, er schenkte nach, „ich glaube auch nicht, dass die wilde Horde Ingrun mitgenommen hat. Vielleicht ist sie morgen ja wieder daheim.“

Verwirrt bewegte er die Schultern, legte Holz nach und setzte sich wieder zu mir, sein Blick ging erneut forschend über mich hinweg, Wollpullover, Daunenweste, Jeans, dreckige Stallschuhe. Schweigend trank er seinen Met, fixierte dann einen Punkt irgendwo im Universum.

„Nein, du bist nicht über die Alpen gekommen“, er streifte mich mit einem weiteren flüchtigen Blick, „und ich glaube nicht, dass Ingrun heimkehren wird, solange du da bist. Ich glaube, dass immer eine gehen muss, damit die andere kommen kann.“

Interessante Theorie, trotzdem genauso surreal wie alle anderen, was sollte ich dazu sagen?

„Wie sieht deine Welt aus, … Christin?“ Indem er mich bei meinem Vornamen nannte, akzeptierte er etwas, was ich kaum zu denken wagte.

„Sieht sie so aus wie diese? Ziehen die Alamannen auch bei dir plündernd umher, kommen immer öfter über den Limes, fallen in euer Land ein? Wohnen die Römer noch immer in Loja und versinken jedes Jahr ein Stückchen mehr im Sumpf? Könnte es sein, dass Ingrun jetzt bei deinem Mann am Feuer in eurem Haus sitzt und Met trinkt?“

Hölle, ich wusste nicht einmal genau, wer die Alamannen waren, geschweige denn wusste ich, wann sie konkret gelebt hatten – und vom Limes hatte ich zuletzt in der Schule beiläufig etwas gehört. Römer? Bis wann hatte es Römer im Oberallgäu gegeben? Verdammt, dachte ich, vielleicht wäre es im Nachhinein sinnvoll gewesen, wenn ich mich mal mit der Geschichte Kemptens befasst hätte. Angeblich galt Kempten als älteste Stadt Deutschlands. Zu spät. Unwahrscheinlich, dass dieser Mann namens Ivo mir genau sagen konnte, welches Jahr er derzeit schrieb. Zumal er sicherlich nicht nach dem Gregorianischen Kalender rechnete. An Papst Gregor dachte vielleicht noch niemand. Ich atmete tief durch. Egal, was nach dieser Nacht kam, mein Leben würde nie wieder so unbedarft wie früher sein. Nie wieder.

„Nein“, fing ich unsicher an, „nein, meine Welt sieht nicht so aus wie diese. Es gibt keine Alamannen und auch den Limes brauchen wir nicht mehr. Keine Römer in Loja. Von Loja erzählen nur noch Geschichten. Ich habe in meiner Welt keinen Mann, bei dem Ingrun sitzen könnte.“

Er nickte, als würde er verstehen, drehte nachdenklich seinen Becher in den Händen.

„Das klingt nach einer schönen Welt, ohne Römer, ohne Alamannen. Gibt es uns noch?“ Er blickte mit einem halben Lächeln zu mir auf. „Und warum hat eine schöne Frau wie du keinen Mann im Haus?“

Mir stieg tatsächlich bei seinem Kompliment die Hitze in die Wangen, ich drehte mich ein wenig weg. Auch ein Hauch von Wehmut und Mitgefühl klang bei seinen Worten in mir an. Seine Welt war im Wandel der Zeiten untergegangen.

Ausweichend schüttelte ich den Kopf. „Mir reicht mein Leben mit meinen Pferden“, ich schenkte ihm ein kleines Lächeln, „danke für deine netten Worte. Meine Welt ist recht friedlich. Viele Krankheiten können geheilt werden und wir haben im Laufe der Zeit Maschinen erfunden, die uns das alltägliche Leben leichter machen. Germanen gibt es allerdings so nicht mehr. Irgendwie haben wir uns alle miteinander vermischt.“

Seine Augenbrauen gingen steil in die Höhe. „Ich bin ein Kelte vom Stamm der Estionen und Likater, kein Germane. Die Germanen, Alamannen, überfallen uns immer wieder.“ Er fasste aufgebracht nach seinem Zopf und griff nach einer Kette unter seiner Tunika, die er mir vor mein Gesicht hielt. „Kennst du Germanen, die solche Kunstwerke vollbringen? Kennst du Germanen, die nicht stinken und wie ich sauber gewandet sind?“

Fettnapf. Bisher kannte ich weder Kelten noch Germanen, woher sollte ich also den gravierenden Unterschied bemerken? Die Kette, die noch immer vor meiner Nase baumelte, war wunderschön. Sie schien aus Gold zu sein. Das Muster war ein seltsam verschlungener Knoten, ohne Anfang, ohne Ende. Keltischer ging es nicht mehr, das erkannte sogar ich. Und erst jetzt fiel mir der schwere goldene Ring an seinem linken Daumen auf, der ebenfalls kunstvoll geschmiedet war, er trug Ohrringe und mit silbernen Beschlägen verzierte Lederarmbänder.

Das Unmögliche nahm immer mehr Gestalt an. Die Gestalt eines keltischen Mannes und einer keltischen Fliehburg. Ich sah nur noch die Kette vor meiner Nase, der Knoten darin drehte sich immer wilder vor meinen Augen, mein Hirn raste, arbeitete, versuchte zu erfassen, zu verstehen. Nein, es konnte nicht sein! Ich hatte es ja nicht einmal bemerkt! Nichts Auffälliges war geschehen, außer dass ich dämlich vom Pferd geplumpst war. Ich rang nach Luft, keuchte vor Panik. Der Becher mit Met fiel aus meinen Händen, ergoss sich in einer breiten Lache vor mir auf dem Lehmboden.

„Bitte, Ivo, bitte…! Es ist nicht mehr lustig.“ Ich presste mir die Hände an meine hämmernden Schläfen. „Sag mir einfach, dass ihr hier ein historisches Happening veranstaltet und euch mit mir einen derben Witz erlaubt habt. Sag mir, dass wir das Jahr 2018 schreiben und alles super in Ordnung ist. Bitte, Ivo. Ich verspreche dir auch, dass ich nicht sauer sein werde.“

Wie vorhin nahm er meine zitternden Hände in seine, streichelte mir minutenlang schweigend die Finger, dann griff er in einen Beutel, der an seinem Gürtel hing, und drückte mir ein paar Geldmünzen in die Hand.

„Ich verstehe nicht, was du da redest, Christin, aber falls du glaubst, dass ich meine Scherze mit dir treibe, dann irrst du. Sehen die Münzen in deiner Welt so aus wie diese?“

Ich schluckte schwer, die Geldstücke brannten in meiner Hand, die ich krampfhaft zur Faust ballte. Noch nie hatte ich so inbrünstig gebetet, lieber Gott, lass es Euros sein. Als ich meinen Blick senkte, meine Hand öffnete, starrten mir drei grob geprägte, kleine Kupferstücke in Form von hohlen Halbkugeln und ein größeres silbernes entgegen. Auf allen waren seltsame Muster und Tiere abgebildet. Das waren definitiv keine Euros. Aber wahrscheinlich Münzen, für die ein Sammler im Jahr 2018 viele Euros gezahlt hätte. Ich kippte einfach in die Metlache.

Mein Kopf wackelte hin und her. Etwas war geschehen, etwas, das mir dieses unschöne, aber bekannte Gefühl gab, besser nicht die Augen aufzumachen, weil die Situation nicht danach war, ihr ins Angesicht zu schauen. Ich kniff die Lider noch fester zu, doch dieses Wackeln hörte nicht auf, verursachte mir Übelkeit und Schwindel, also blinzelte ich notgedrungen und erfasste über mir die Umrisse eines schmalen Männergesichts mit blauen, besorgten Augen und einem dünnen geflochtenen Zopf, der entlang der hohen Wangenknochen baumelte. Davon wurde mir gleich wieder übel. Reflexartig schob ich seine rubbelnde Hand von meiner Wange, das Schwanken hörte auf, aber dafür setzte die Erinnerung beschleunigt ein.

Mühsam richtete ich mich ein wenig auf, glotzte erneut fassungslos die Münzen in meiner Hand an, die ich krampfhaft festgehalten hatte. Eine Männerhand legte sich um meine verkrampften Finger.

„Es ist also wahr“, sacht wiegte mich Ivo in seinen Armen. „Sind es viele Menschengeschlechter, die unsere Zeiten voneinander trennen?“

Interessante Frage, wenn sie nur nicht mein eigenes Dasein so extrem berührt hätte. Es mussten Hunderte von Generationen sein. Panik schoss kreuz und quer durch mich hindurch, mein Herz raste, ich hatte Heimweh wie noch nie in meinem Leben, so blödsinnig das auch schien, und schluchzte haltlos auf. Tränen strömten mir aus den Augen, ich jammerte kläglich. Ich wollte nach Hause, dabei war ich ja nicht einmal wirklich fort, oder doch? Ich wollte mich nur noch auf meinem Sofa zusammenrollen.

Ivo legte seine Arme um mich, hob mich hoch und schleppte mich zu dem Bettlager im hinteren Bereich der Hütte. Das fehlte mir jetzt noch! Wild strampelnd wollte ich mich von ihm befreien, doch er hielt mich eisern fest. Wer hätte gedacht, dass dieser schmächtige Mann solche Kräfte besaß?

„Ruhig, Christin, ich tu dir kein Leid.“ Er legte eine Decke aus Schaffell über mich.

„Schlaf, es ist Samhain, da fürchtet man sich, aber ich weiß, dass morgen die Sonne wieder aufgehen wird. Schlaf.“

Ich rollte mich zusammen wie ein kleines Kind, zog mir die herrlich weiche Decke bis zur Nase hinauf. Ivos Hand lag als warmer Anker auf meiner Schulter, ich schluchzte erschöpft. Mit einem Seufzer stand er auf, ich linste hinter ihm her, wie er in einer Truhe neben dem Eingang herumkramte. Er trug eine kleine gläserne Flasche in der Hand, mit der er zu mir zurückkam. Er hockte sich wieder neben mich und zählte ein paar Tropfen aus der Flasche auf einen hölzernen Löffel.

„Trink das, Christin, es ist Ingruns Kräutermischung zur Beruhigung. Sie wird dir einen tiefen Schlaf schenken.“

So tief konnte mein Schlaf gar nicht sein, dass dieser Stress aufhörte, außerdem war mir nicht wohl dabei, etwas zu trinken, von dem ich nicht wusste, wie giftig es war. Ich schnupperte vorsichtig an dem Löffel. Es roch nach gewöhnlicher Melisse und stark nach Baldrian, dazwischen nach etwas, das ich nicht kannte, und nach ein wenig Honig. Irgendwo in meinem schrägen Langzeitgedächtnis kam eine Erinnerung hoch, dass die Kelten sich wie alle schamanischen Völker ganz gern mit Biodrogen zugedröhnt hatten. Vielleicht war das ja genau das, was mich jetzt retten konnte. Entschlossen sperrte ich den Mund auf und schluckte. Das Zeug war so bitter, dass es gesund sein musste, ging gar nicht anders. Ich verzog das Gesicht, aber mein Unterbewusstsein gaukelte mir umgehend Entspannung vor. Ich schloss die Augen und ließ meinen überreizt hämmernden Schädel auf ein weiches Kissen sinken. Es war die Nacht des Samhain, also blieb die leise Hoffnung, dass ich morgen völlig gerädert auf meinem Sofa aufwachen würde.

Wach wurde ich tatsächlich immer mal wieder, aber es blieb die keltische Hütte, und jedes Mal saß Ivo neben meinem Lager, eine gewebte Wolldecke um die Schultern, und gab mir erneut von den Tropfen.

Irgendwann in den frühen Morgenstunden erwachte ich wieder, dieses Mal kniete Ivo vor einem hölzernen Schrein, den er auf die Truhe neben dem Eingang gestellt hatte. Eine kleine Kerze erhellte die Ecke notdürftig. Er schien tief in Gedanken versunken. Eine ganze Weile lag ich still da, starrte seinen gebeugten Rücken an. War er ins Gebet vertieft? Und wenn ja, um was oder wen betete er? Um Ingrun, natürlich. Ich Trottel. Vorsichtig richtete ich mich auf. Vor lauter eigenem Elend hatte ich keine Sekunde daran gedacht, wie es ihm in dieser Situation gehen mochte.