Schönian, Valerie Ostbewusstsein

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Die Autorin benutzt die männliche und weibliche Sprachform im Wechsel. Gemeint sind jeweils alle Geschlechter.


© Piper Verlag GmbH, München 2020
Covergestaltung: FAVORITBUERO, München

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Bloß von hier weg,

so weit wie möglich,

bis du sagst,

es ist Zeit,

wir müssen aus Feuerland zurück.

Nach Hause.

Prolog

Darf man das noch sagen? Ossi?

Genau das habe ich mich auch gefragt, als ich den Entwurf für dieses Buchcover sah. Da musste ich mich endgültig entscheiden. Lasse ich das wieder streichen? Oder nicht? Will ich das sein? Ein Ossi?

Eigentlich haben alle genug von dem Ausdruck. Er erinnert Westdeutsche daran, dass Deutschland mal ein geteiltes Land war. Und Ostdeutsche an die Vorurteile, die ihnen entgegengebracht werden. Stellt man sich unser Denken als riesengroßen Schrank voller Schubladen vor, sind die Dinge, die im Ossi-Fach liegen, keine, die man sich gegenseitig im Freundschaftsbuch attestiert. Jammern, komischer Dialekt, Faible für Runenschriftpullis. Seit einiger Zeit auch das Tragen von Fischerhüten in Schwarz-Rot-Gold.

Ich glaube, alle wollen, dass der Begriff verschwindet, weil sie hoffen, dass dann auch die Vorurteile verschwinden. Und das leise Gefühl, dass zwischen Ost und West noch immer eine unsichtbare Mauer verläuft, die das Land spaltet.

Aber egal, wie sehr das jede und jeder gehofft hat – 30 Jahre nach der Wiedervereinigung ist das alles noch da. Die Vorurteile, die Unterschiede. Das Gerede von der Spaltung wird sogar wieder mehr. Auch der Ossi ist noch da. Zuletzt eindrücklich illustriert auf einer Ausgabe des Spiegel im Sommer 2019 mit besagtem Fischerhut und der Überschrift: »So isser, der Ossi«.

Nachdem ich eine Weile auf das Cover dieses Buches geschaut hatte, dachte ich: na gut. Wenn sowieso alle noch vom Ossi reden, dann sind damit Ostdeutsche gemeint – und das ist eine Gruppe, zu der ich gehöre. Und Ostdeutsche zu sein ist ja nichts Schlimmes. Sondern es ist ein Teil von mir. Das heißt dann in der Schlussfolgerung, dass ich auch Ossi bin. Mehr noch, dann will ich es auch sein. Ganz bewusst, gern und schon aus Prinzip. Deswegen ist der Begriff auf dem Titel dieses Buches farblich unterlegt.

Begriffe und das, was wir mit ihnen verbinden, wandeln sich. Wir können die Schublade, auf der Ossi steht, also mit ganz vielen weiteren Eigenschaften, Dingen und Kopfbedeckungen füllen, bis der Inhalt des Fachs wirklich widerspiegelt, wie wir Ossis sind: viele und verschieden. Irgendwann liegt dann so viel Zeug in der Schublade, dass wir sie überhaupt nicht mehr schließen können. Das wird der Moment sein, in dem wir sie nicht mehr brauchen.

Ich fange an: Ich bin Ossi. Und ich trage am liebsten Wollstirnbänder.

Eine Bewusstwerdung

»Es gibt unzählige Dinge, die man nicht weiß, zum Beispiel ob ein Regenwurm weiterlebt, wenn man ihn in zwei Teile schneidet, wie eine Katze den Sprung von einer Mauer unbeschadet überleben kann oder wie Eiscreme hergestellt wird. Man weiß, dass man es nicht weiß, das ist nicht schlimm. Man kann ja jemanden fragen, wie das geht. Schwieriger ist es, wenn man nicht weiß, was man nicht weiß.«

Andrea Hanna Hünniger, Das Paradies. Meine Jugend nach der Mauer

1 Nachwendekind

Viele Jahre bevor ich zur Ostdeutschen werde, stehe ich an einer Magdeburger Straßenbahnhaltestelle und versuche zu verstehen, was ein lallender Herr mir sagen will. Der Mann, graue Haare, halbe Glatze, hat eine Tüte vom Discounter in der Hand. Er schaut auf mich, 14 Jahre alt, rot gefärbte Haare, Kapuzenpulli – und auf meine Freundin neben mir. »Was sagt ihr denn? Ihr Jungen?«, ruft er. »Bei euch jibt et doch schon keene Unterschiede mehr zwischen alten und neuen Ländern, oa was?«

Ob ich ihm antworte, weiß ich heute nicht mehr. Ich erinnere mich kaum noch an Details, außer, dass es schon dunkel ist und der McDonald’s auf der anderen Straßenseite noch geöffnet hat. Weil ich in dem Moment nicht ahne, dass dieser Mann eine Frage stellt, an die ich jemals wieder denken werde. Was ich aber noch weiß, ist, dass ich hoffe, dass meine Freundin nicht von mir wissen will, was mit »alten« und »neuen Ländern« gemeint ist.

Es ist das Jahr 2005. Deutschland denkt, die Wiedervereinigung sei lange her und das Gröbste geschafft. Doch den Herrn mit der Discountertüte in der Hand scheint im Verhältnis zwischen Ost- und Westdeutschland noch etwas zu bewegen. Und ich verstehe nicht einmal die Frage.

* * *

Ich bin in Magdeburg aufgewachsen. Geboren bin ich im Herbst 1990 in Gardelegen in Sachsen-Anhalt. Damit bin ich ziemlich genauso alt wie das wiedervereinigte Deutschland. Meine Geburtsurkunde wurde ausgestellt von der Deutschen Demokratischen Republik, der DDR, mein erster Impfpass trägt Hammer und Zirkel. Ich gehöre zur ersten Ost-Generation, die Pampers trug statt Windeln aus Baumwolle. Nutella stand für mich immer ganz selbstverständlich neben Nudossi. Mit sieben Jahren fuhr ich mit meinen Eltern im Zug nach Disneyland Paris, mit 18 Jahren stieg ich das erste Mal in ein Flugzeug, das mich auf einen anderen Kontinent brachte. Begrenzende Mauern kenne ich nur von Bildern. Heute arbeite ich als Journalistin, in einer freien Presselandschaft, und lebe in Berlin, im Westteil der Stadt.

Ich habe als Jugendliche nie darüber nachgedacht, ob die Deutsche Einheit etwas mit mir zu tun hat. Ob das etwas bedeutet, in einem Staat geboren worden zu sein, der nicht mehr existiert. Und ob es etwas bedeutet, dass meine Mutter, mein Vater, meine Familie in diesem Staat groß geworden waren. Ich habe mich nicht weiter mit Ostdeutschland beschäftigt, wie viele.

Seit einigen Jahren ist etwas anders geworden. Ostdeutschland ist heute ein drängendes Thema. Nicht nur für mich, sondern für die ganze Republik. Und ich glaube, es wird mehr und mehr zu einem für meine Generation.

Ich meine die der ostdeutschen Nachwendekinder. Die Menschen, die um die Zeit der Friedlichen Revolution geboren und in einem wiedervereinigten Land groß geworden sind. Wir haben die DDR nicht mehr bewusst erlebt. Mit dem Osten zu tun haben wir trotzdem. Weil der nicht einfach verschwunden ist mit der Wende. Der Osten von heute ist mehr als das ehemalige Gebiet der DDR.

Damals an der Magdeburger Haltestelle war ich mir dessen nicht bewusst. Ich habe mich nicht ostdeutsch gefühlt.

Dann passierten ein paar Dinge, die das änderten.

2 Plötzlich Ossi

Wenn ich im Rückblick darüber nachdenke, wann es anfing, lande ich in Berlin, wohin ich nach meinem Abitur zog, um zu studieren. Dort wurde mir das erste Mal klar, dass es Unterschiede zwischen Ost und West gibt, weil ich Leute traf, die nicht wussten, was ein Polylux ist (westdeutsch: Overheadprojektor). Das war kein Problem. Eher lustig. Wie eben einige Leute mit dem Oktoberfest aufwachsen, andere mit dem Baumblütenfest. (In Magdeburg war es einfach: der Rummel.)

Mit 21 Jahren lebte ich für ein paar Wochen in Bayern, weil ich dort ein Praktikum absolvierte. Dabei hatte ich nicht den Gedanken, jetzt in »Westdeutschland« zu sein. Meine bayerischen Kolleginnen machten Witze über den grauen Osten, ich über den Versuch, unironisch Lederhosen zu tragen – alles war in Ordnung. Witze sind kein Problem, wenn alle Seiten einverstanden sind und sie auf Augenhöhe passieren. So fühlte es sich damals an.

Das änderte sich ab dem Herbst 2014, als ich für eineinhalb Jahre nach München zog. Obwohl ich mich da selbst bewusst noch nicht viel mit Ostdeutschland auseinandergesetzt habe, begann ich zu ahnen, dass irgendetwas nicht so in Ordnung ist, wie ich dachte. Eine bayerische Freundin fasste mir das, was sie in der Schule über die DDR gelernt hatte, so zusammen: Es war einmal ein schlimmer Staat, dank uns, den Westdeutschen, wurden die Leute gerettet, jetzt ist alles gut. Und dann begann zur selben Zeit auch noch Pegida in Dresden zu marschieren. Ich stand in München auf einer Gegendemo. Doch etwas unterschied mich von den Leuten um mich herum. Ich sah in den Demonstrierenden in Dresden Wütende. Viele andere, hatte ich das Gefühl, sahen zuallererst Ostdeutsche. Eine Freundin gestand mir, dass sie wegen Pegida in ganz finstere Klischees zurückfalle: »Die sind irgendwo tief in mir vergraben. Sodass ich denke: Scheiß Ossis! Ihr Jammerlappen, dass ihr euch immer noch benachteiligt fühlt!«

»Jammerlappen« dachte ich nicht. Aber so richtig verstand auch ich nicht, was dort los war in Ostdeutschland. Ab dem Herbst 2015, als Tausende Geflüchtete nach Deutschland einreisten und die Migrationspolitik die deutschen Wohnzimmertische erreichte, stritt auch ich mit meinen Eltern darüber. Ich war zu Besuch in Magdeburg, wir diskutierten über Flüchtlingspolitik, und mein Vater sagte, dass Migration eben reguliert werden müsse. Ich bekam Herzklopfen, vermutete Schlimmstes, wurde laut und schwor, zu Weihnachten nie wieder nach Hause zu kommen, sollte er jemals zu Pegida gehen oder die AfD wählen. Was mein Vater beides nicht tat und auch nicht tun wird. Er sagte da nur etwas, was mittlerweile für viele Menschen zu einem politischen Allgemeinplatz geworden ist. Ich jedoch wollte das nicht hören. Weil ich es unerträglich fand, Menschen Hilfe zu verweigern, obwohl man die Möglichkeit hätte, diese zu leisten (was ich immer noch finde). Aber ich wollte damals auch überhaupt nicht verstehen, woher die Skepsis kommt, die in Ostdeutschland zunächst größer war. Woher die Wut kommt, das Bedürfnis nach Protest. Das Gespräch mit meinen Eltern war schnell vorbei.

2016 zog ich zurück nach Berlin, und dort passierten mehrere Dinge gleichzeitig. Ich merkte, wie wenige sich für den Osten interessieren. Deshalb tat ich es umso mehr – ein bisschen aus Trotz. Je mehr ich meinen Blick auf den Osten richtete, desto mehr wurde mir das fehlende Interesse der anderen bewusst. Und desto mehr wuchs mein Lernbedürfnis. Danach, mich damit auseinanderzusetzen, warum die Ostdeutschen anscheinend immer noch irgendwie anders ticken.

 

Im März 2016 wurden neue Landesparlamente in Sachsen-Anhalt, Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz gewählt. In allen drei Ländern würde die AfD ins Parlament einziehen, das sagten die Umfragen voraus – und am stärksten sollte die Partei in Sachsen-Anhalt werden. Trotzdem bestimmten vor allem die westdeutschen Länder die Schlagzeilen.

Da gab es beispielsweise die Debatte um die Diskussionsrunden, in denen Politikerinnen vor einer Wahl gegeneinander antreten. In den Medien wurde breit über die Entscheidungen der beiden westdeutschen Landesoberhäupter Malu Dreyer und Winfried Kretschmann berichtet. Sie hatten erklärt, nicht an einer TV-Runde teilnehmen zu wollen, wenn auch die AfD beteiligt sei (Kretschmann änderte seine Entscheidung später). In Sachsen-Anhalt entschied der MDR, die AfD trotz ihrer Umfragewerte nicht in die Runde zu laden: Auch das war eine Entscheidung, die diskutiert gehört. Doch das passierte in der bundesweiten Presse wenig. Ich weiß noch, wie ich mich irgendwann wunderte und nachschaute, ob es denn überhaupt ein solches Fernsehduell in Sachsen-Anhalt geben würde. Sechs Wochen vor der Wahl musste ich einem Bekannten aus Nordrhein-Westfalen, der politisch interessiert und informiert ist, erklären, dass im Osten auch gewählt werde. Ein Hamburger Bekannter begründete die Aufmerksamkeit für Baden-Württemberg damit, dass dort die Grünen das erste Mal stärkste Kraft werden könnten. Ich schaute ihn entgeistert an. In Sachsen-Anhalt wurde die AfD schließlich die zweitstärkste.

 

Ich wollte verstehen, was da eigentlich passiert in dieser Gegend, in der ich aufgewachsen bin. Wo fängt man da an? Zu Hause. Also suchte ich das Gespräch mit meiner Familie.

Meine Familie wählt nicht die AfD, geht nicht zu Pegida, niemand von ihnen bezeichnet die Medien als eine Lügenpresse. Meine Verwandten zählen nicht zu den Leuten, die vor die Kameras geschoben werden, wenn es um ostdeutsche Wut geht. Aber was mich von meiner Familie unterschied: Ich konnte nicht einmal ein bisschen verstehen, warum die Leute skeptisch waren oder besorgt.

Ich sah das so: Im Osten gab es quasi keine Geflüchteten, gegen die die AfD so vehement auftrat, und Deutschland ging es gut. Was war das Problem?

Je länger ich meiner Familie zuhörte und sie erklärte, desto mehr kam es, ein bisschen, bei mir an: Woher das alles rührt. Was hier, im Osten, in den vergangenen Jahrzehnten eigentlich abgegangen ist.

Ich verstand, dass man misstrauisch wird, wenn vieles anders kommt als versprochen. Ich verstand die Traurigkeit, die entsteht, wenn man den eigenen Leuten beim Gehen zusehen muss. Ich verstand den Trotz, den man entwickelt, wenn man endlich auch mal gehört werden will. Ich verstand, wieso man Anerkennung für das Geleistete einfordert und mit Selbstbewusstsein über sein Leben reden will.

Ich verstand, dass nicht jedes Leben nach 1990 besser wurde. Meine Oma zum Beispiel hatte vorher alles, was sie brauchte. Dann wurde sie arbeitslos. Sie sagte, in der DDR habe sie besser gelebt, manchmal sehne sie sich zurück. Ich verstand auch meine Oma. Eine Tante erzählte mir, dass sie seit 40 Jahren arbeiten gehe, seit 25 Jahren Angst habe, ihren Job zu verlieren, und am Ende des Monats überlegen müsse, ob sie sich ihre Lieblingspralinen leisten könne. Als sie Angela Merkel sagen hörte, Deutschland gehe es gut und »wir schaffen das«, fragte sie sich: Wer ist »wir«?

Mir erschienen diese ganzen Gefühle sofort einleuchtend. Weil es meine Familie war, die mir diese Dinge erzählte. Und weil ich einige Folgen der Nachwendezeit natürlich selbst kannte: In Gardelegen, meiner Geburtsstadt, hatte beispielsweise einige Zeit zuvor der letzte Lebensmittelladen im Zentrum zugemacht. Die meisten Läden an der Hauptstraße sind jetzt geschlossen. Die Stadt hat die Besitzer aufgefordert, bunte Bilder in die Schaufenster zu stellen, damit das ein bisschen weniger auffällt.

Das erste Mal wurde mir in diesen Gesprächen bewusst, was es heißt, in einem anderen, jetzt umgestürzten System aufgewachsen zu sein. Das erste Mal sah ich durch meine Familie die ostdeutsche Perspektive, ohne mir dessen schon ganz bewusst zu sein.

Es war wie ein Vorhang, der sich öffnete. Die Leinwand wurde sichtbar. Der Saal gedimmt, die Popcorntüten knisterten, der Projektor ging an. Und auf der großen Fläche vor mir begann das Leben meiner Familie zu laufen. Die Kamera zeigte mir bekannte Szenen, aber in anderen Farben, aus anderen Winkeln, mit neuen Sinnzusammenhängen. Später merkte ich, dass ich in dieser Zeit gerade einmal den Vorspann sah. So viele Aha-Momente – und der Hauptfilm hatte noch nicht einmal begonnen. Ich sah zwar die ostdeutsche Perspektive, aber sie fühlte sich nicht wie meine eigene an.

 

Das änderte sich zum ersten Mal am 13. März 2016 – dem Abend der drei Landtagswahlen. Die AfD erhielt in Sachsen-Anhalt 24,2 Prozent der Zweitstimmen. Sie zog als zweitstärkste Kraft in den Landtag ein. Heute gehört das im Osten ja schon zur Regelmäßigkeit, damals war es das erste Mal. Da lief mein Heimatbundesland plötzlich doch auf allen Kanälen – ob Fernsehen, Radio oder Zeitungen. Und alle schienen überrascht zu sein.

Ich konnte es auch nicht fassen. Jede vierte Stimme. Ich dachte: Leute, so funktioniert das nicht! Auch wer enttäuscht ist und Veränderung will, kann keine rechtspopulistische Partei wählen.

Dann ging ich auf Facebook. Dort schrieben Menschen, die ich in den vergangenen Jahren in Berlin, Hamburg oder München kennengelernt hatte: »Schäm dich, Sachsen-Anhalt«, »Tja, was machste mit so Leuten« oder »Diese Hohlköpfe!«. Und da dachte ich: Leute, so funktioniert das aber auch nicht! Ihr könnt doch nicht jahrzehntelang wegschauen und dann alle Menschen eines Bundeslandes als Hinterwäldlerinnen abstempeln.

Ein paar Tage nach der Wahl unterhielt ich mich mit einem Westdeutschen, vielleicht 30 Jahre älter als ich, über das Wahlergebnis und versuchte zu erklären, was ich selbst gerade erst verstanden hatte. Gefühlte Sicherheit in der DDR, politischer Umsturz, neues Wirtschaftssystem, Abwanderung, Arbeitslosigkeit, Traurigkeit, Ohnmacht, Angst, Trotz.

Und dieser Mann sagte dann, ganz ernsthaft, wegen des Wahlergebnisses jetzt einen ganzen Bogen bis zur DDR zurückzuschlagen, das sei »Ossi-Gejammer«.

 

Ossi. Gejammer.

 

Meine Ossi-Werdung ist ein Prozess gewesen und ist es noch immer. Aber wenn ich gezwungen wäre, einen einzigen Moment bestimmen zu müssen, der mich zum Ossi gemacht hat, dann war es dieser.

Was mir im Gespräch mit meiner Familie unmittelbar eingeleuchtet hatte, bezeichnete dieser Mann als »Gejammer«. Da merkte ich: Offenbar haben er und ich eine völlig andere Perspektive. Einen anderen Blick auf die Bedeutung der DDR-Zeit und der Nachwendejahre. Nicht weil einer von uns dumm ist oder ignorant. Oder völlig falschliegt. Sondern schlicht aus dem Unterschied heraus, dass seine Perspektive eine westdeutsche ist. Und meine eine ostdeutsche. Weil er Wessi ist. Und ich Ossi.

* * *

Seitdem fühle ich mich ganz bewusst als Ostdeutsche. Seitdem will ich es auch sein. Seit diesen ganzen Ossi-Momenten ist es ein prägender Teil von mir und meinem Leben geworden, aus Ostdeutschland zu kommen. Und das zeige ich gern.

Heute ist es so: Ich schmuggle ostdeutsche Lieder auf die Musikliste von Betriebsfeiern und WG-Partys. Ich erkläre jeder, die es nicht hören will, dass der FC Magdeburg es in die 2. Bundesliga schaffte, jetzt zwar wieder in der 3. Liga ist, aber sich das ganz – ganz! – bestimmt bald wieder ändert, obwohl mir nicht viele Dinge egaler sind als 22 Menschen, die 90 Minuten lang auf einem Stück Rasen herumlaufen. Sobald sich die Gelegenheit bietet, führe ich aus, dass die Riesa-Spirelli die besten sind, weil sie die ideale Kurvenbreite und -form haben, in denen das perfekte Maß Tomatensoße hängen bleibt. Und dass der Rotkäppchen-Sekt in Wahrheit noch besser kribbelt, als es auf dem Rücken der Frau in der Werbung wirkt. Beides ist wahr (klar!). Aber sonst würde ich es eben behaupten. Erst vor Kurzem habe ich gelernt, dass das Spülmittel Fit bereits 1954 in der DDR hergestellt wurde, womit meine Parteilichkeit in zukünftigen Putzgesprächen feststeht. Warum ich das nicht wusste? Weil ich lange nicht in Ost- und Westkategorien dachte.

Sobald es aber jetzt um Ostdeutschland geht, stehe ich innerlich bereit, irgendetwas richtigstellen zu wollen. Ich höre genau hin, ob da jetzt zum Beispiel das Wahlergebnis eines Landesteils verurteilt wird. Oder pauschal alle Menschen, die in diesem Landesteil leben. Wenn Letzteres passiert, rücke ich meine innere Krawatte zurecht, strecke meinen Rücken durch, räuspere mich bei Bedarf und wechsle in den Dozentinnenmodus, in dem ich meinen Da-muss-man-jetzt-aber-differenzieren-Vortrag halte. Auch gern lang. Und ungefragt.

Obwohl ich doch nach dem Abitur kaum schnell genug aus Magdeburg verschwinden konnte, bin ich in den vergangenen Jahren zu so etwas wie einer Lokalpatriotin geworden. Nicht nur zu einer Magdeburger, sondern zu einer ostdeutschen Lokalpatriotin. Dabei war ich noch nie in Zwickau und erst ein einziges Mal in Schwerin.

Wir feiern 30 Jahre Deutsche Einheit. Aber je länger die Mauer nicht mehr steht, desto ostdeutscher fühle ich mich. In einer Zeit, in der die meisten Menschen, denen ich mich ideell verbunden fühle, davon sprechen, Europäer oder Weltbürgerinnen zu sein, fühle ich mich zuallererst als Ostdeutsche. Aus den vielen Fragen, die das für mich aufgeworfen hat, ist dieses Buch entstanden.

 

Ergibt es Sinn, sich als Nachwendekind noch ostdeutsch zu fühlen? Ist es eigentlich okay, darauf zu bestehen, Rotkäppchen-Sekt zu kaufen, Lokalpatriotin zu sein? Und sich mit diesem Landesteil verbunden zu fühlen, in dem gerade rechtspopulistische Kräfte politische Macht erhalten? Woher kommt das, und, vor allem, bringt das etwas? Oder spaltet mein Ostdeutsch-Sein mehr, als dass es eint? Der ostdeutsche Autor Christoph Dieckmann, geboren 1956, schrieb einmal, als Entgegnung auf einen meiner Artikel, in der ZEIT im Osten: »›Der Osten ist Geschichte.‹ (…) Sie empfinden nachgeborene Zugehörigkeit, in diffuser Differenz zum Westen, dessen Ost-Verachtung Sie nervt. Aber was wäre der Osten? Der Staat DDR ist gottlob futsch.« Ich nehme die Herausforderung an. Dieser Frage will ich auf den Grund gehen: Was ist der Osten heute noch?

Dabei will ich wissen, ob es anderen genauso geht wie mir und wie sie mit diesen Fragen umgehen. Denn ich glaube, dass es etwas über den Zustand unseres Landes und unserer Gesellschaft aussagt, wenn junge Leute wieder beginnen, sich ostdeutsch zu fühlen. Ossi zu sein.

Ich habe deshalb eine Reise gewagt. Eine Reise zu meinen Wurzeln, eine, die mich durch Ostdeutschland geführt hat und zu Personen, die unterschiedlicher kaum sein könnten, aber von denen die meisten eines gemeinsam haben: Sie sind ostdeutsche Nachwendekinder wie ich. Ich habe mit ihnen gestritten und gelacht, habe einige mehr verstanden, andere weniger. Die Fragen, die mich leiten auf dieser Reise, sind: Wer sind wir, die Nachwendekinder? Was eint uns? Was trennt uns? Und was können wir zu dieser Gesellschaft und der Deutschen Einheit beitragen?

 

Ein paar Anmerkungen vorneweg. Diese Reise war auch von Zweifeln begleitet. Denn mir ist bewusst, wer Unterschiede benennt und herausarbeitet, reproduziert sie auch. Diese Zweifel werden sich in diesem Buch wiederfinden, und ich hoffe, sie verständlich machen zu können. Ich benutze den Ausdruck Wende, da er sich, auch bei den meisten Ostdeutschen, etabliert hat. Jedoch sei gesagt, dass einige Bürgerrechtlerinnen von damals sich daran stören, dass dieser Begriff vom ehemaligen DDR-Staatsratsvorsitzenden Egon Krenz geprägt wurde. Außerdem spreche ich von Wiedervereinigung, obwohl manche Ostdeutsche lieber von Beitritt sprechen, da 1990 in Ostdeutschland das System der Bundesrepublik übernommen wurde. Aber aus Wiedervereinigung resultiert für mich der Anspruch auf Augenhöhe, den ich einfordern möchte.

Die Chronologie des Buches entspricht nicht komplett der Chronologie der Recherche. Ich musste Dinge neu ordnen, um die Nachvollziehbarkeit meiner Reise und Gedanken zu erleichtern. Außerdem kann ich hier beim besten Willen nur einen Ausschnitt der Ost-Debatte wiedergeben, die wiederum nur eine von vielen wichtigen laufenden Debatten ist. Dieses Buch ist keine Enzyklopädie des Ostens, und es ist nicht objektiv, sondern gefärbt durch meine Erlebnisse sowie mein Leben. Ich bin nicht nur ostdeutsch, sondern auch weiß und war nie Rassismus ausgesetzt. Außerdem bin ich privilegiert aufgewachsen. Zuerst habe ich studiert, nun gehe ich einer Arbeit nach, die mir Zeit und Möglichkeiten gibt, mir über all diese Dinge Gedanken zu machen, diese Reise anzutreten, wofür ich dankbar bin.

 

Das Seltsame ist, dass gerade meine Eltern zunächst gar nichts von meiner Reise halten.

3 Meine Eltern

Als ich meinen Eltern eröffne, dass ich jetzt Ostdeutsche bin, nehme ich irgendwie an, dass sie das freuen würde. So nach dem Motto: Das weggezogene Kind kehrt zu den Wurzeln zurück. Ist doch eine schöne Geschichte. Aber mein Vater antwortet nur: »Was hast du denn mit dem Osten zu tun?«

Meine Mutter, mein Vater, mein Bruder und ich fahren kurz danach trotzdem zu der Wohnung, in der meine Eltern mit mir Anfang der 1990er-Jahre gelebt haben. Eine kleine Straße im Osten Magdeburgs, wie sie überall liegen könnte: ruhig, renovierte Häuserfassaden in warmen Rot- und Gelbtönen. Ich war nie wieder dort und habe meine Familie gebeten, dass wir noch einmal gemeinsam hierherkommen. Als wir aus dem Auto steigen, frage ich, wie es hier früher aussah. Mein Vater sagt: »Grau.«

Meine Mutter schaut mich vorwurfsvoll an: »Willst du jetzt wieder von den armen Leuten in Deutschland erzählen, oder was? Vom Elend der Ossis? Sollen wir uns noch vor abgewrackte Häuser stellen, für ein paar Fotos?« Ich bin irritiert über ihren Ton. Weiß nicht, wie ich reagieren soll, und sage nur: »Nein, Mama, natürlich nicht.«

 

Meine Eltern sind beide 1968 geboren. Mein Vater ist Elektriker, meine Mutter Kindergärtnerin. Beide kommen aus der Altmark in Sachsen-Anhalt, wo sie sich Ende der 1980er-Jahre an einem Tanzabend kennenlernten, nach einer Woche das erste Mal küssten und zusammenblieben bis heute. Sie erlebten gemeinsam die Montagsdemonstrationen, den Mauerfall, den ersten Besuch im Westen, das Ende der DDR, die Wiedervereinigung. 1990 kam ich zur Welt, ein paar Jahre später, 1997, mein Bruder. Sie zogen mit uns in ein Reihenhaus am Rand von Magdeburg, mit Garten und Kaffeevollautomaten.

Während meiner Kindheit und Jugend machten sie Ost und West eigentlich nie zum Thema. Da waren keine Wessi-Sprüche und keine Ossi-Nostalgie. Nur ganz selten blitzte das Thema auf: Mit zwölf Jahren schaute ich Goodbye Lenin im Kino und erklärte meiner Mutter, dass ich den Film nicht lustig fand. Da sagte sie: »Das verstehst du nicht. Wenn da jemand plötzlich Bananen versteckt, würden wir lachen. Und du wüsstest überhaupt nicht, warum.« So lernte ich, dass es im Osten offenbar ein Problem mit Bananen gab. Und irgendwann einmal erzählte mein Vater den Witz: »Warum brauchen Wessis 13 statt 12 Jahre in der Schule? – Ein Jahr mehr für den Schauspielunterricht.«

Es ist nicht so, dass es ein Schweigen zwischen meinen Eltern und mir gab über ihr Leben in der DDR. Nur ein Nicht-drüber-Reden, weil immer etwas anderes zu tun war. Ich habe in meiner Jugend nie danach gefragt, weil man in dieser Zeit einfach nicht im Sinn hat, dass es Mutti und Vati schon vor einem selbst gab. Und sie haben nie groß darüber erzählt, weil sie eben nicht der Typ Mensch sind, der ungefragt viel über die Vergangenheit schwatzt. Zwei Kinder zieht man nicht nebenbei groß, zumal wenn man Vollzeit arbeitet. Meine Eltern haben die Zeit in der DDR nicht großartig reflektiert, bevor ich anfing, danach zu fragen. Sie finden auch heute noch: Das ist vorbei, was soll man da noch groß drüber reden?

Als ich begann, mich für die DDR zu interessieren, war ich schon von zu Hause ausgezogen. Es passierte nicht aus dem Bedürfnis heraus, sie zur Rede zu stellen. Es war einfach die Neugier eines Kindes am früheren Leben seiner Eltern. Mein Vater war zu DDR-Zeiten in der Kirche und eher systemkritisch, meine Mutter war in allen staatlichen Organisationen, in denen man so war – bei den Pionieren, in der Jugendorganisation FDJ, in der Gesellschaft für Deutsch-sowjetische Freundschaft (DSF), bei der Gesellschaft für Sport und Technik (GST) – und wäre bestimmt auch Parteimitglied geworden, wenn die DDR noch länger existiert hätte. Als ich sie einmal fragte, wieso sie überall mitgemacht habe, sagte sie, da sei man eben reingewachsen, und betonte, dass sie ein ganz normales Leben in der DDR geführt habe. Doch weil sie Kindergärtnerin werden wollte, musste sie aus der Kirche austreten. Ich wollte wissen, ob sie das normal gefunden habe. »Was ist denn normal, mein Kind?«, entgegnete sie. Das leuchtete mir ein.

Ich habe meinen Eltern nie einen Vorwurf daraus gemacht, dass sie nicht gegen das DDR-Regime kämpften. Natürlich nicht. Doch wie konnten sie damit leben, dass an den Grenzen ihres Landes Menschen starben? Keine Ahnung. Wie können wir damit leben, dass im Mittelmeer Menschen sterben? Ich weiß, das ist nicht das Gleiche – und doch zeigt es, wie – viel zu – einfach wir das Leid anderer ausblenden können.

 

Meine Eltern, mein Bruder und ich laufen durch die Gegend im Osten Magdeburgs, in der wir mal gelebt haben. Sind auf der Suche nach Erinnerungen, die übermalt sind von Pastelltönen. Wenn man durch den Osten geht, bekommt man bis heute manchmal das Gefühl, dass ohne jedes Konzept Häuserfassaden bunt angestrichen wurden.

Später fahren wir noch zu meinem alten Kindergarten in einem anderen Stadtteil. Da erzählt mein Vater, dass hier nach der Jahrtausendwende Tausende Wohnungen abgerissen wurden. Ich erinnere mich noch daran, wo die Rutsche stand. Aber nichts anderes hätte ich wiedererkannt.

Zurück bei uns zu Hause, in dem Reihenhaus am anderen Ende der Stadt, setzen wir uns zu viert an unseren Esszimmertisch, um zu reden. Das Gespräch hakt. Denn ich bin da, um von meinen Eltern zu erfahren, was es bedeutet, ostdeutsch zu sein. Aber sie verweigern regelrecht die Antwort, weil sie bestreiten, dass das bei mir noch eine Rolle spielen würde. Und nicht nur das: Sie bestreiten es sogar für sich selbst.

»Vor 30 Jahren hieß das, dass einer aus der DDR gekommen ist«, sagt mein Vater. »Heute ist das nur etwas Geografisches. Bei Ost und West kenne ich keine Unterschiede.«

»Findest du nicht, dass es ostdeutsche Eigenschaften gibt?«, frage ich.

»Bescheidenheit«, sagt meine Mutter, »… und Nationalstolz.«

Wir lachen. Auch Ossis können Ossi-Witze machen.

Sie spricht weiter: »… Pflichtbewusstsein. Arbeitsdisziplin. Geselligkeit. Das Kollektiv war hier immer wichtiger als der Einzelne, das merkt man noch heute.«

»Wie siehst du das denn, Papa? Gibt es für dich nichts typisch Ostdeutsches?«, versuche ich es noch mal.

»Broiler.«

Ostdeutsche Gesprächsverweigerung à la Papa.

»Habt ihr mich ostdeutsch erzogen?«

»Nur weil du eine Ost-West-Geschichte schreiben willst, brauchst du uns doch jetzt nichts einzureden!«, ruft er. »Vielleicht hast du doch den falschen Beruf, wenn du dich beweisen musst zwischen Ost und West. Uns ist das egal.«

Mich überrascht, mit welcher Vehemenz er jeglichen Unterschied bestreitet. Aber ich werde das immer wieder hören während meiner Reise – den Vorwurf, dass das Thema doch hinter uns liege.

Mein Bruder schaut die ganze Zeit zwischen meinem Vater und mir hin und her. Auch er meint, dass das Thema heute keine Rolle mehr spiele.

»Dann ist er also Wessi«, sage ich über meinen Bruder. »Er ist ja in der BRD geboren.«

»Nein«, widerspricht meine Mutter.

»Ja«, sagt mein Vater.

»Hey, nein! Ich bin auch Ossi«, ruft mein Bruder.

Die Verwirrung ist perfekt.

Meine Mutter ändert während des Gesprächs ihren Standpunkt. Zuerst ist sie der Meinung meines Vaters und betont, dass es keine Unterschiede mehr gebe. Aber dann erzähle ich von meinen Ossi-Momenten, und irgendwann stimmt sie mir dann doch zu.

»Tut mir leid«, fängt sie mit Blick auf meinen Vater an, »aber doch, ich fühle mich noch als Ossi. Mich stört, dass die Westdeutschen denken, wir seien Proleten. Weil wir das nicht sind. Wir sind genauso gut wie sie.«

Dann schaut sie mich an: »Also, um das gleich mal zu sagen, das kannst du ganz groß überall schreiben: Ich habe mich als Ossi nie elend gefühlt. Sondern ich habe mich wohlgefühlt!«

Mein Vater sitzt am Tisch und schüttelt weiter den Kopf, jetzt mit verschränkten Armen, um zu verdeutlichen, dass er das noch immer anders sieht. Ich werde langsam ungeduldig. Und zähle weiter und weiter auf, was das Problem ist – und wie der Westen auf den Osten blickt.

»Papa«, setze ich an, jetzt eindringlicher, »nach den Landtagswahlen hier sprachen einiger meiner Freundinnen von Hohlköpfen. Das kann dir doch nicht egal sein.«

»Mh-mh.«

Ton: Kann ja sein, was soll ich dazu jetzt sagen?

»Würdest du nicht sagen, dass es im Westen noch viele Vorurteile gibt?«

»Das kann ich nicht beurteilen.«

»Gibt es hier noch viele Stereotypen gegenüber Westdeutschen?«

»Das ist generationsbedingt. Ich glaube, die meisten Vorurteile haben die, die nie richtig auf der anderen Seite waren.«

»Hast du denn das Gefühl, es wird genug anerkannt, dass die Leute hier einen Systemwechsel gemeistert haben?«

»Das kannst du doch eh nicht mehr ändern. Wir wollten es so haben, fertig.«

Und dann erzähle ich von dem Mädchen, mit dem ich vor einiger Zeit gesprochen habe: geboren 2003, aus Leverkusen. Sie meinte, das Einzige, was sie in der Schule über den Osten gelernt habe, sei das gewesen: Da kloppen sie sich um die Bananen, und im Sportunterricht dopen sie.

In unserem Esszimmer in Magdeburg ist es kurz still, ein paar lange Sekunden.

»Was? Das ist ja gruselig. Das ist ja richtig gruselig«, meint meine Mutter, empört.

»Genau, und im Osten gibt’s nur Nazis«, sagt mein Bruder, belustigt. Ihn scheint das irgendwie nicht zu stören. Vielleicht weil er es zu absurd findet. Oder noch nicht oft genug gehört hat.

»Das erzählen sie heute noch, oder was?«, fragt mein Vater. Jetzt wütend.

Und dann fängt er an: »Die denken auch alle, jeder war ein Spion! Das ist alles so ein Schwachsinn! Heute wirst du mehr ausspioniert! Wir haben auch gelebt. Wir haben damit nicht gewartet, bis die Mauer weg ist!«

»Verstehst du meinen Punkt jetzt?«, frage ich.

Mein Vater antwortet nicht, er redet sich in Rage.

»Man hätte einen Austausch machen müssen, bei der Arbeit, zwischen Ost und West. Die meisten Vorurteile haben ja diejenigen, die die andere Seite gar nicht kennen. Im Westen ist es mittlerweile grauer als hier! Die müssten mal herkommen!«

Ich habe das Gefühl, meinen Vater überzeugt zu haben. Aber ich bin mir nicht sicher, ob mir das gefällt. Er ist jetzt im Die-Modus: Die da drüben, die Wessis, die anderen.

 

Nach der Die-Predigt beenden wir das Gespräch, für den Familienfrieden. Meine Mutter macht Nudeln mit dieser Tomatensoße, mit der mein Bruder und ich aufgewachsen sind. (Es braucht nur das Pulver und 250 Milliliter Wasser.) Ich liebe sie noch heute. Jede Portion ist, wie immer, nach etwa zweieinhalb Minuten verspeist. Wir sitzen noch eine Weile zusammen, dann bringt mein Vater mich zum Bahnhof.

Als wir im Auto sind und über die Magdeburger Stadtautobahn fahren, reden wir über die nächste Familienfeier. Nicht mehr über das Ost-Thema. Er fängt nicht damit an. Ich auch nicht.

Ich muss das Gespräch erst mal sacken lassen und ordnen. Ich bin irritiert: Erst spielt das ganze Thema angeblich keine Rolle, dann zeigt sich: Sie kennen die Vorurteile gegenüber Ostdeutschen offensichtlich genauso gut wie ich, vielleicht sogar besser – diese Vorurteile, die mich erst zum Ossi machten.

 

Im Rückblick kann ich sagen: Das Gespräch würde ich nicht noch einmal so führen. Ich wusste nicht, wie ich anfangen sollte, und reproduzierte Klischees, Vorurteile, Stereotype. Weil mir eine Sprache fehlte, um zu sagen, dass es um etwas anderes ging. Also beschließe ich, erst einmal die Sprache zu lernen, die ich brauchen werde, um mich bei meiner Reise besser verständigen zu können. Nur geht es bei der nicht bloß um Worte, sondern um Geschichte und Gegenwart eines ganzes Landes. Ich tue also, was ernsthafte Reisende immer tun, bevor sie aufbrechen: Ich fange an, alles zu lesen, was mir zu meinem Reiseziel in meine Nachwende-Finger kommt.

4 Was ist der Osten?