Roger de Weck
Die Kraft der Demokratie
Eine Antwort auf die autoritären Reaktionäre
Erweiterte und aktualisierte Ausgabe
Suhrkamp
Meinen Enkelkindern
Erst Trump, dann Corona – diese zwei sehr ungleichen Plagen werden als ein Wendepunkt in die Geschichte des 21. Jahrhunderts eingehen. Denn nunmehr haben sich die Rollen vertauscht: Die Verfechter der Demokratie sind auf dem Vormarsch, während sich die autoritären Populisten festfahren.
In den Vereinigten Staaten entzweit sich die Grand Old Party der Republikaner, in der Bundesrepublik die AfD. Der italienische Scharfmacher Matteo Salvini verlor das Gesicht und sein politisches Profil, als seine antieuropäische Lega dem überzeugten Europäer Mario Draghi zum Amt des Ministerpräsidenten verhalf. Die polnischen und ungarischen »Autoritärdemokraten« erfahren sowohl den wachsenden Außendruck der Europäischen Union als auch den Innendruck einer auflebenden Opposition. Die Freiheitliche Partei Österreichs (FPÖ) ist im Abseits, die Schweizerische Volkspartei (SVP) erodiert. Die rechtsradikale Präsidentschaftskandidatin Marine Le Pen spielt in Frankreich ihre letzte Karte: Verliert sie zum dritten Mal die Wahl, ist sie am Ende.
Leise sind die einst vorlauten Populisten geworden, sie hadern. Viele sind frustriert, weil Protestparteien nichts Schlimmeres widerfahren kann, als in die Defensive zu geraten. Der Erfolg hatte sie lang verwöhnt, ja süchtig gemacht, nun sind sie auf Entzug. Je verdrossener diese Autoritären, desto wilder werden sie in nächster Zeit um sich schlagen – bedrohlich bleiben sie. Aber erstmals seit zwei Jahrzehnten fällt es den Demagogen schwer, für ihre Themen zu trommeln.
Im Gegenzug entfalten sich Kräfte des Augenmaßes, in den USA wie in der EU, auch in der Bundesrepublik. Die politische Mitte prägen jetzt die Grünen. Und ein Teil der traditionellen wirtschaftshörigen Mitte hat sich, ein bisschen, emanzipiert. Weil infolge der Corona-Krise der Staat die Schlüsselrolle spielt, haben liberalkonservative und sozialliberale Politiker den Primat der Politik wiederentdeckt und daran Gefallen gefunden. Sie möchten jenseits der Pandemie diesen Primat über die Wirtschaft behaupten: um die globalen Digitalriesen zu bändigen und die Unternehmenswelt ökologisch auszurichten.
Allerdings erfordert eine griffige Umweltpolitik – die das Wohnen, Fahren und Einkaufen verteuert – eine griffige Sozialpolitik, das heißt eine Umverteilung zugunsten der Lohnempfänger. Seien es der amerikanische Präsident Joe Biden und seine Vizepräsidentin Kamala Harris in Washington, sei es die Europäische Kommission in Brüssel, sei es in Berlin die neue Bundesregierung: Können sie die Ungleichheit in der Gesellschaft wirksam angehen? 1937 sagte der US-Präsident Franklin D. Roosevelt, dessen Ausgaben- und Reformprogramm New Deal die heutige Politik inspiriert: »Der Prüfstein wird sein, dass wir nicht etwa zum Überfluss derer beitragen, die viel besitzen; sondern dass wir genug Mittel bereitstellen für die, die zu wenig haben.«
Das epochale Ungleichgewicht zwischen Arm und Reich, Frau und Mann, Schwarz und Weiß, Natur und Mensch besteht fort. Aber die Corona-Zeit hat das Leben stark und manche Einstellungen leicht verändert. Viele Menschen denken weiter, manchmal neu, oft etwas anders:
Die Gefahr, die vom krassen sozialen Gefälle ausgeht, wird mittlerweile breit diskutiert. Selbst der Internationale Währungsfonds fordert jetzt Umverteilung, die stärkere Besteuerung des Kapitals und die Mehrbelastung hoher Einkommen, um »den von Covid-19 beschleunigten Teufelskreis der Ungleichheit« zu durchbrechen.
Während der Krise hat sich die herrschende Minderheit der Männer – wie stets in der Not – auf die wirtschaftliche und gesellschaftliche Schlüsselrolle der Frauen besonnen. Die Gleichstellung macht deswegen keinen Sprung nach vorn, wohl aber tut sie nächste Schritte.
Mitten in der Pandemie entfaltete sich in Amerika und alsbald in Europa die mächtige antirassistische Bewegung Black Lives Matter. Sie verändert die Grundstimmung.
Corona hat die Umweltfrage nicht verdrängt, sondern weiter vergegenwärtigt.
Erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg griff das historische Geschehen in unser aller Leben ein. Die Mehrzahl will zurück zur Normalität, aber zu einer zukunftsfähigen Normalität – wo ehedem die Krisen zur Norm geworden waren. Das schärft das Bewusstsein der Krisenzeitgenossen, nun müsse korrigiert werden, was seit Jahren bloß kritisiert wurde.
Gerade in der Trump-Zeit haben die Verfechter der liberalen Demokratie dazugelernt – zum Beispiel, dass es sich rächt, fällige Renovierungsarbeiten an dieser Demokratie zu vernachlässigen. Sind demokratische Einrichtungen rückständig wie das aus dem 18. Jahrhundert stammende US-Wahlverfahren, lässt sich spielend Zweifel an den Wahlergebnissen säen, bis hin zum Sturm auf das Kapitol.
Und auch das ist inzwischen eine Erfahrungstatsache: Eine Überdosis Liberalismus ist Gift für die Demokratie wie für den Kapitalismus, für die politische und wirtschaftliche Stabilität. Der »Ultraliberalismus« maximiert ökonomische Risiken, die Geldwelt wird und bleibt hoch anfällig. Und er maximiert die Ungleichheit, was die Gesellschaft spaltet, Protestparteien beflügelt, die Demokratie zerrütten kann. Die USA bieten dafür das abschreckende Extrembeispiel.
In Europa ist Polarisierung out, eine Großzahl der Bürgerinnen und Bürger hat Sehnsucht nach Balance. Der Wunsch nach Differenziertheit statt Aggressivität wächst, nach Humanismus anstelle des lang angesagten Zynismus, auch nach neuem Zusammenspiel der Gegensätze wie in Deutschland Grün-Rot-Gelb oder auch Grün-Schwarz. Jedenfalls ziehen die Zauberformeln des Marktliberalismus und die Sprüche des Populismus je länger, desto weniger – der allgemeine Rechtsrutsch ist vorbei. Krisengeplagte Menschen erhoffen konkrete Verbesserungen. Die Einsicht in eine Kernaufgabe der Demokratien kehrt zurück, nämlich vielfältige Interessen auszugleichen, auf dass die Gesellschaft friedlich und die Natur möglichst wohlbehalten bleibt. In der Europäischen Union steht nicht mehr der Markt im Mittelpunkt, sondern der ökologisch-digitale Umbau der Wirtschaft, den Milliardenprogramme ankurbeln. Und sowohl die Erfahrung des »Trumpismus« als auch die antidemokratische Militanz von China und Russland beflügeln den für viele noch ungewohnten Gedanken der europäischen Souveränität.
Der doppelte Trump-Corona-Schock hat eine Zäsur zwischen der Ära der Maßlosigkeit und einer Periode des größeren Augenmaßes gesetzt. »Echte Avantgarde ist nichts anderes als der mutige Rückschritt zur Vernunft«, meinte Karl Kraus. Europa ist Avantgarde, wenn es zum Kontinent der ökosozialen Demokratien gedeiht. Das könnte im besten Fall das neue Narrativ der EU werden.
Die Demokratie also muss gestaltungskräftiger, die Politik gestaltungswilliger werden – das Hauptanliegen dieses Buchs. Nach dem Trump-Corona-Schock verbessern sich die Bedingungen für eine demokratische Renaissance: Darum diese ergänzte, leicht aktualisierte Ausgabe.
Neue reale und mentale Verhältnisse begünstigen die Arbeit daran, die Institutionen der Demokratie auf die Höhe des ökologisch-digitalen 21. Jahrhunderts zu bringen – jetzt lässt sich der Primat der Politik sichern und der Kapitalismus ein Stück weit ordnen, statt dass wir uns unterordnen. Diesen Optimismus und Voluntarismus dokumentiert der zusätzliche Teil V: Das Gesetz des Handelns.
Was ist eine Elite – eine, die hohe Ansprüche erfüllt und den Namen verdient? Sie müsste Vorbild sein, verantwortungsvoll handeln, die Interessen des Gemeinwesens über die eigenen stellen. Der Weitblick darf nicht fehlen, das Denken in übergeordneten Zusammenhängen. Zu viel verlangt? Elite ist nicht Establishment.
Im Gegensatz zur Elite wollen Etablierte weniger die Zukunft mitgestalten als vielmehr die Gegenwart verlängern: den Status quo verewigen, dem sie Macht, Geld, Geltung, Privilegien verdanken. Und dann gibt es noch die sogenannten Promis, reich, schön, oder beides, und manchmal begabt. Prominente (besagt das lateinische Wort) »ragen hervor«, jedoch nicht immer notwendig durch Talent oder Leistung, sondern weil der unersättliche Medienbetrieb sie für verwertbar hält – die einen mehr, die anderen weniger. Es gibt ja auch B-Promis und C-Promis. New York hat sogar D-Promis: d-list celebrities. Donald Trump stand anfangs auf der D-Liste.
Trump gehörte weder zur Bildungselite wie der Harvard-Absolvent Barack Obama noch zum politischen Establishment wie der langjährige Senator Joe Biden, aber er setzte alles daran, im Promi-Alphabet nach vorn zu rücken. Er suchte den New Yorker Medienwirbel, genoss ihn und fand im Fernsehen eine Bühne, die ihn landesweit berühmt machte: die Castingshow The Apprentice (Der Lehrling). Donald Trump, Boss und Showmaster, drillte junge Talente, die sich bei ihm um eine Stelle bewarben. Gern demütigte er die Kandidaten, Widerspruch zwecklos. Einmal maßregelte er eine allzu aufrichtige Anwärterin. Die rechtfertigte sich, sie sei halt ein ehrlicher Mensch. »Wie dumm ist das«, befand Trump.1 Sein sonores »You're fired« beschloss die Show – Sie sind entlassen: Einer der Bewerber schied aus. Während seiner Jahre im Weißen Haus feuerte er unablässig Minister und Mitarbeiter.
So wie Trump mit Menschen umgeht, so verfährt der amerikanische Ultrakapitalismus mit all den Überzähligen und Unterqualifizierten … – die dann Trump anhimmeln, nach wie vor. Ausgegrenzte mögen den Ausgrenzer. Die Reaktion vieler Verlierer ist die Ergebenheit an einen Reaktionär, der einzig die Gewinner respektiert und auch deshalb seine Niederlage leugnete.
Was steckt dahinter? Ausgerechnet seinen despotischen Charakterzügen verdankte Trump die hohe Einschaltquote im Fernsehen und das höchste Amt der USA. Nach seiner Abwahl tritt er noch autoritärer auf, gerade weil er an Autorität verloren hat.
Die liberale Demokratie wurde namentlich zu dem Zweck geschaffen, für die Stärke des Rechts zu sorgen, wider das Recht des Stärkeren. Doch mittlerweile sehnen sich viele nach dem »starken Mann«. Sie huldigen ihm, solange er anmaßend und aggressiv auftritt. Das »Volk« bewundert ihn – und das Volk bilden diejenigen, die ihn bewundern. Die anderen gehören nicht dazu. Sie sind lauter »Volksfeinde«.
Die Alternative für Deutschland (AfD) stempelt Gegner zu »Volksverrätern«. Die Freiheitliche Partei Österreichs (FPÖ) ortet »Verrat an der eigenen Bevölkerung«. Für die Schweizerische Volkspartei (SVP) übt die Elite »Verrat am Volkswillen«. Als der französische Staatspräsident den Aachener Freundschaftsvertrag mit der Bundesrepublik paraphierte, habe Emmanuel Macron »den Straftatbestand des Verrats« erfüllt, sagte Marine Le Pen, die Chefin des Rassemblement National.2
Verräter – das V-Wort ist Programm, es richtet sich gegen die Liberalität. Und »liberal«, dieses Adjektiv ist eindeutiger, als gespottet wird. Es steht für alles, was zur Freiheit aller beiträgt:
eine Demokratie, in der die Menschen in gleicher Freiheit und freier Gleichheit leben;
faire Wahlen und Abstimmungen;
die Menschenrechte, den Rechtsstaat;
das Aufteilen der Staatsmacht zwischen den Bürgerinnen und Bürgern, dem Parlament, der Regierung und der unabhängigen Justiz, um Übermacht zu verhindern;
den Kampf von Gesetzgebern und Kartellbehörden gegen wirtschaftliche Übermacht;
die Freiheit zu forschen und die Erkenntnisse in die Debatte einzubringen;
die Freiheit des Worts, der Meinung, der Medien und der Künste, um diese erkenntnisorientierte Debatte zu ermöglichen;
die Freiheit, aus der Debatte politische Schlüsse zu ziehen und selbst Politik zu machen oder sich vertreten zu lassen: durch Parteien und Organisationen, die ebenfalls in freier Gleichheit und gleicher Freiheit wirken.
Das ist liberal und macht die liberale Demokratie aus, die nur »bei Naturkatastrophen oder besonders schweren Unglücksfällen« (Grundgesetz) etwa die Bewegungs- und Versammlungsfreiheit vorübergehend einschränkt. »Verräter« jedoch verdienen gar keine Freiheit. Wer mit dem V-Wort um sich wirft, wendet sich gegen die Freiheit aller. Und will eine unfreie Demokratie. Das ist ein Widerspruch in sich. Denn Freiheit ist der Sinn und Zweck des pragmatischen Ideals, das wir Demokratie nennen. Eine unfreie Demokratie ist keine. Illiberale Demokratien sind undemokratisch, also halbe oder ganze Diktaturen – und Diktaturen sind hart, auch die halben.
Alle Autoritären berufen sich auf das Volk. Doch in ihrer Machtwelt ist etwas Wesentliches nicht vorgesehen: die Bürgergesellschaft, der demokratische Diskurs, ein offenes öffentliches Leben. Die Res publica, die öffentliche Sache, ist ihre Privatsache. Hauptsache, sie herrschen. Das Zelebrieren der Macht ist der Kern ihrer Politik wie ihrer Propaganda. Und die wirkt: Allmählich kommt bei vielen Zeitgenossen die Vorstellung gar nicht mehr auf, dass es zum Recht des Stärkeren eine Alternative gäbe.
Unablässig arbeiten antiliberale Politiker daran, die Institutionen der liberalen Demokratie schlechtzumachen. In ihrer Propaganda bilden Parlament, Justiz und Medien das Reich des Bösen: des Elitären. Sie sind »volksfern«, weil sie den »volksnahen« Anführer schwächen, seine Macht begrenzen, sein Gebaren beaufsichtigen. Doch ist die liberale Demokratie dazu da, Allmacht zu verhindern. Sie verteilt nicht nur die Staatsmacht auf die gesetzgebende, die vollziehende und die rechtsprechende Gewalt, wobei in Extremlagen die Regierung rasch handeln muss und das Parlament ihr eine Zeitlang freiere Hand lässt. Die liberale Demokratie ermöglicht es zudem der Opposition, den Interessengruppen und Nichtregierungsorganisationen, den internationalen Organisationen und den Medien, sich Gehör zu verschaffen, Einfluss zu nehmen. Die illiberale Demokratie will all dies verhindern oder erschweren.
Liberale Demokratie teilt die Staatsmacht in viele Machtstücke. Niemand bekommt ein zu großes Stück, keiner hat mehrere Stücke. Die gestückelte Macht wird in verschiedenen demokratischen Institutionen eingebettet, so kann sie niemand zusammenfügen und aus einer Hand ausüben. Diese Staatsform ist bestrebt, jede Hegemonie abzuwenden. Das ist nicht die ganze liberale Demokratie, aber es ist ihr Leitgedanke. Eine diametral andere »Leitkultur« hat die illiberale Demokratie: Macht soll sich ungehindert entfalten, das Machtstück kann nicht groß genug sein.
Einst riefen Autoritäre nach der Diktatur. Das tun sie nicht mehr oder, wenn schon, verklausuliert. »Die Rechtlosigkeit hat sich Seidenhandschuhe angezogen«, sagte Friedrich Dürrenmatt 1990. Drei Wochen vor seinem Tod hielt er eine Lobrede auf den Schriftsteller, Dissidenten und Staatspräsidenten Václav Havel. Und meinte, die Herrscher in der »spättotalitären« Tschechoslowakei hätten so gründlich manipuliert, dass sie nicht länger morden und foltern lassen mussten.3 Wie immer bei Dürrenmatt war der Rückblick zugleich ein Ausblick. Heute wissen Herrschsüchtige, dass eine förmliche Diktatur unnötig ist, wo sich jede sogenannte »Demokratie« autoritär führen lässt. Siehe in Singapur die obrigkeitliche Demokratie, auf den Philippinen die polizeiliche, in Brasilien die militarisierte, in Russland die gelenkte, in der Türkei die repressive, in Ungarn und Polen die illiberale Demokratie. Und vierzehn Monate lang sahen wir in Italien eine Hetzer-Demokratie à la Matteo Salvini.
Schon im Jahr 1923 schrieb Carl Schmitt, der Jurist und spätere Staatsdenker der Nazis: »Eine Demokratie kann militaristisch oder pazifistisch sein, absolutistisch oder liberal, zentralistisch oder dezentralisierend, fortschrittlich oder reaktionär, und alles wieder zu verschiedenen Zeiten verschieden, ohne aufzuhören, eine Demokratie zu sein.«4 Zu lesen in dem Band Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, dessen zweite Auflage er mit einer »Vorbemerkung über den Gegensatz von Parlamentarismus und Demokratie« versah. Carl Schmitt ist heute die Lichtgestalt reaktionärer Publizisten.
Die illiberale Demokratie ist die Demokratie der Antidemokraten – und eine neue Art, Diktaturen zu legitimieren. In der demokratischen Hülle steckt die Fülle des Autoritären. Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán führt das mit verschlagener Brutalität vor. Das Idol der Reaktionäre in Europa beschwört die »christlich-abendländische« Vergangenheit – »und in diesem Sinn ist der neue Staat, den wir in Ungarn bauen, kein liberaler Staat, sondern ein illiberaler«. Orbán vollzieht den »Systemwechsel« zur neuen »Staatsform, die am besten fähig ist, eine Nation erfolgreich zu machen«, so die wichtigste Rede seiner bisherigen Amtszeit im Juli 2014.5 Liberale Demokratie baue »auf dem Gedanken auf, dass wir alles tun dürfen, was die Freiheit des anderen nicht einschränkt«. Er hingegen mache die Freiheit »nicht zum zentralen Element der Staatsorganisation«. Ungarn müsse sich »von den in Westeuropa akzeptierten Dogmen und Ideologien lossagen«. Denn die siegreichen »Stars« im Wettlauf um die beste Staatsform seien »Singapur, China, Indien, Russland, die Türkei«. Orbán fuhr fort: Das Volk erwarte von ihm, »die neue Organisationsform des ungarischen Staats […] zu schmieden«. Und in dieser Arbeit gebe er, bei aller »Berücksichtigung« der Menschenrechte und der Individuen, etwas anderem den Vorrang: der Nation als »Gemeinschaft, die organisiert, gestärkt, ja sogar aufgebaut werden muss«. Im Juli 2019 zog der Ministerpräsident eine erste Zwischenbilanz: Die Errichtung seiner Autoritärdemokratie werde weitere fünfzehn Jahre beanspruchen.6 Dann ist Orbán erst siebzig Jahre alt.
Unter den Gegnern der liberalen Demokratie finden sich Freunde der Diktatur und die neuen Autoritärdemokraten. Die Grenzen sind fließend, aber in allen Ländern relativieren, strapazieren, ignorieren sie die Menschenrechte. Alle teilen den Willen zur Willkür. Und fast alle sind Nationalisten. Medien nennen diese Kräfte »rechtsbürgerlich« oder »nationalkonservativ«. Das ist ungenau. Bürgerliche nämlich sind stolz auf die schönste, fragilste Errungenschaft bürgerlicher Revolutionen des 18. Jahrhunderts: die Menschenrechte. Konservative möchten das Bestehende bewahren, und das ist vorderhand die liberale Demokratie.
Ein brauchbarer Sammelbegriff ist »Neue Rechte«, so wie die Neue Linke im Jahr 1968 aufbegehrte und lang weiterwirkte. Die 68er gossen alte linke Denkmuster in neue Formen und sie entwickelten neue Denkmuster. Nun imitiert das im Westen die Neue Rechte, wobei ihr glänzende Intellektuelle fehlen. Auch sie setzt auf – allerdings humorfreie – Provokationen: Sie will nämlich die Gesellschaft verhärten, wo die Neue Linke lustvoll das Bürgerlich-Rigide gelockert hatte. Neurechte rufen ebenfalls eine Revolution aus, ihre »Konservative Revolution«. Sie wollen »Begriffe besetzen«. Und diese Kämpfer für die Rückkehr zur Willkür bilden genau wie die Neue Linke eine buntscheckige Schar. Dazu zählen Rechtspopulisten, Rechtsradikale, Rechtsextremisten (samt den Neonazis, Identitären oder »Reichsbürgern«) und Rechtsterroristen. Frankreich hat seine nicht neue Nouvelle Droite. In den USA ließen sich die Neokonservativen von evangelikalen Eiferern, der Tea-Party-Bewegung und schließlich dem »Trumpismus« rechts überholen.
Die gedanklich radikalsten Neurechten, wiewohl sie gediegen aufzutreten pflegen, sind die »Libertären«, die so tun, als seien sie konsequente Liberale. Sie träumen von der Gründung »staatsfreier Privatstädte«. Am liebsten möchten sie zugunsten des Markts den demokratischen Staat nahezu einreißen. Ohne den Rechtsstaat gilt dann die eigengesetzliche Führerschaft der Marktmächtigen: das Gesetz der wirtschaftlich Starken, die sozial Schwache ausmustern oder ausbeuten. Unterdrückung im Namen der Freiheit – das Muster ist allen Neurechten gemein.
Diese Kräfte sind unterschiedlich populistisch, unterschiedlich radikal, unterschiedlich extremistisch, unterschiedlich neu, unterschiedlich rechts, in sehr unterschiedlichem Ausmaß antiliberal, illiberal, marktfundamental und national. Sie haben sich in den verschiedenen Ländern ganz verschieden ausgeprägt. Aber wie Viktor Orbán neigen sie allesamt zu autoritären »Staatsformen« (die Libertären zur Marktdiktatur).
Und so erweisen sich die Neuen Rechten als Reaktionäre, das ist der zweite Sammelbegriff. Wer im Europa und im Amerika des 21. Jahrhunderts das Autoritäre wieder hervorholt, ist anachronistisch. Wenn Regierende nach Gutdünken schalten und walten, wenn Trump einwandfreie Wahlergebnisse nicht gelten ließ, ist es ein Rückschritt. Reaktionär waren die Gegner der jungen liberalen Demokratien, deren erste 1776 in Gestalt der Vereinigten Staaten entstand. Gestrig sind heutige Gegner der liberalen Demokratie, weil sie dem Westen kein anderes Zukunftsmodell bieten als das uralte Muster, das noch jedes Mal Stillstand, Willkür und Unbill heraufbeschwor: Ballung statt Teilung der Macht.
Freiheit sei die »Unabhängigkeit von eines Anderen nöthigender Willkür«, schrieb 1797 Immanuel Kant, der Philosoph der Aufklärung.7 Wer hinter die klug erarbeiteten, hart erkämpften politischen Errungenschaften dieser Aufklärung zurückfällt, ist reaktionär. Und wird in diesem Buch so genannt, egal, ob er extremistisch, radikal oder »bloß« rechtspopulistisch ist.
Der Reaktionär, er reagiert. Er verkörpert die andauernde Reaktion auf die epochale Aktion, die in der Geistesgeschichte Aufklärung heißt. Und die bis heute in schönster »Geistesgegenwart« zweifelt, fragt, forscht, debattiert, lernt, entdeckt und entwickelt, also Aktion bleibt. So etwas können nur eigenständige Menschen leisten, möglichst mündige Bürgerinnen und Bürger eines möglichst selbstbestimmten Gemeinwesens, das sich von niemandem lenken lässt. Ohne es für die absolute Wahrheit zu halten, nehmen sie das Wissen der Wissenschaften ernst: zum Beispiel die Erkenntnisse der Umweltwissenschaften.
Die Aufklärung ist nicht Zustand, sondern Suche, an ihrem Anfang steht der Zweifel. Die liberale Demokratie, Kind der Aufklärung, muss denn auch deshalb jeder Übermacht wehren, weil Machtmenschen – seien sie nationalistische Anführer, seien sie transnationale Wirtschaftsführer – in der Regel zu wenig zweifeln. Demgegenüber sollte die liberale eine lernende Demokratie sein: sich infrage stellen, selbstkritisch ihre Schwächen sehen und ausbessern, sich fortentwickeln, bei Bedarf neue Felder der Politik demokratisieren, um auf der Höhe der Zeit zu bleiben. Nur so lässt sich das demokratische Prinzip durch alle Umbrüche von Gesellschaft, Wirtschaft und Technik behaupten.
Offenkundig aber überwiegt die Macht der Gewohnheit: Seit Langem unterlassen es die Demokraten, die Institutionen und Verfahren der liberalen Demokratie zu modernisieren. Wiewohl sie rivalisieren, sind der neoliberale und der diktatorische Kapitalismus made in China fortan unzertrennlich. Das bleibt nicht ohne Folgen: Der Welt der Konzerne wird die demokratische Logik noch fremder. Im Bann der Megamacht von Global Players, die wenig Selbstzweifel hegen und die Politik als ihre Dienstleisterin betrachten, erwuchs aus der liberalen die neoliberale Demokratie. Bis zur Corona-Krise galt nämlich: Ökonomie lenkt Demokratie. Verkehrte Welt, wenn die Wirtschaft den Staat reguliert. So war's ganz und gar nicht vorgesehen.
Aber die Demokratie hatte sich angedient, statt sich zu erneuern. Sie war stehen geblieben. Das war ein Geschenk an die Illiberalen: Kaltblütig nutzten sie die Schwäche der nicht mehr ganz so liberalen Demokratie. Doch trotz ihrer offenkundigen Überforderung und Handlungsschwäche blieb die Debatte über unerlässliche Demokratiereformen aus. Nur Wirtschaftsreformen standen zur Diskussion.
Wirtschaftshörig – und leicht fatalistisch – hatte die neoliberale Demokratie dem Kapitalismus freie Hand gelassen, worauf dieser immer wieder außer Rand und Band geriet: In den Worten des Wirtschaftsethikers Peter Ulrich fehlte sowohl der »Rand«, der Sinn für die Grenzen von Marktmacht und Gewinnmaximierung, als auch das »Band« zur Bürgergesellschaft: das elementare Gefühl dieser globalen Spieler für ihre Verantwortung gegenüber der Demokratie.8
Freilich darf die Tugendkritik an maßlosen Wirtschaftsführern (abgesehen davon, dass der Mittelstand maßvoll blieb) nicht von der relevanteren und konstruktiveren Systemkritik ablenken: Nur eine renovierte, erstarkte Demokratie kann den Primat der Politik durchsetzen. Doch einer Diskussion über Umbauten des politischen Systems sind die planlosen konservativen, liberalen und linken Parteien lang ausgewichen, obwohl es um ihre Existenz geht. Die meisten Politikerinnen und Politiker wollten es nicht wahrhaben: Ultrakapitalismus schwächt die liberale Demokratie. Die Mutter aller Deregulierungen, die Freiheit des Kapitalverkehrs, war ein kolossaler Machtgewinn für die Wirtschaft, ein gewaltiger Machtverlust für die nationalen Demokratien und die wenig ausgereifte europäische Demokratie. Seitdem zieht das Kapital einfach woandershin, wenn Parlament und Regierung nicht spuren.
Die liberale Demokratie ist oft dermaßen erpressbar, dass sie das vollends internalisiert und sie den Stolz verliert. Dann frönt sie in vorauseilendem Gehorsam dem Standort- und Steuerwettbewerb, also dem liebedienerischen Buhlen um die Gunst der Unternehmen. Wie viel kleiner sind da der Gefühlsraum und der finanzielle Spielraum, um all jene Menschen einzubinden, die der global-digitale Ultrakapitalismus aufs Abstellgleis geschoben hat. Oder die gekränkt sehen, dass ihre Kenntnisse nach und nach irrelevant werden, ihre analoge Arbeit zweitrangig, ihre Region noch peripherer wird. Und sollten sie infolge der Corona-Krise gänzlich deklassiert werden, dann nagt erst recht wieder das Ressentiment, von der Demokratie ausrangiert zu werden, zumal wenn die Hilfe und Aufmerksamkeit der Politik nachlassen. Wer sich als Restposten vorkommt, sucht Anerkennung bei Reaktionären, die Identität stiften. Dabei bestärken neurechte Gruppen den »entwerteten Mann« (Walter Hollstein) darin, ein Macho zu bleiben.9 Und sie spenden das Gemeinschafts- und Wohlgefühl, ein Macho unter Machos zu sein. Reaktionäre Parteien haben mehr Wähler als Wählerinnen – und mehr Dörfler als Städter.
AfD & Co. lenken den soziokulturellen und wirtschaftlichen Unmut geflissentlich auf die demokratischen Politikerinnen und Politiker: nie auf das Wirtschaftssystem, das die drastische Ungleichheit erzeugt. Neurechte stützen den Ultrakapitalismus, der viel Geld von unten nach oben umverteilt, indem sie die Bürger »drinnen« gegen die Migranten »draußen« aufbringen. Donald Trump buhlte um die »kleinen Leute« und wetterte gegen die Elite und das Establishment – aber vier Fünftel der Steuersenkungen zu Beginn seiner Amtszeit gingen an die Reichen.
Alle Reaktionäre locken und verprellen die Verlierer. Werden diese Hintergangenen nach und nach zu einer erneuerten liberalen Demokratie zurückfinden? Diese muss willens sein und befähigt werden, ihre Aufgabe zu erfüllen: der Wirtschaft vernünftige, faire Rahmenbedingungen zu setzen.
Trotzdem ist keine breite Diskussion über unerlässliche Reformen der liberalen Demokratie aufgekommen. Sporadisch werden Chancen, Risiken und Nebenwirkungen der direkten Demokratie erörtert. Gut so. Aber auch in der direktdemokratischen Schweiz ist das Kernproblem ungelöst: das Machtgefälle zwischen Ökonomie und Demokratie.
Der erste Teil dieses Buchs erörtert die Gründe für den gleichzeitigen Aufmarsch des Ultrakapitalismus und der Neuen Rechten. Gefährlicher als die Lautstärke der Reaktionäre ist die Schwäche von Konservativen, Liberalen und Linken, nicht immer standfest und ganz ohne Vorstellung einer zukunftstauglichen Demokratie. Viele machen sich bereitwillig die reaktionäre Kritik am Aufgeklärten zu eigen.
Der zweite Teil schildert Grundmuster, Methoden und Vorgehen der Reaktionäre. In der Pandemie wussten sie weder ein noch aus, aber in ihrem Kulturkampf (wider die liberale Demokratie) und ihrem Kampf der Kulturen (wider den Islam und die Migranten) lassen sie nicht locker. Und der Klamauk der Populisten überspielt ihre Unfähigkeit: Die Neue Rechte der Neinsager ist eine Neue Rechte der Versager, sobald sie regiert und zur Sachpolitik gezwungen ist, zumal in Krisenzeiten. Auch verkämpft sie sich gegen unaufhaltsame gesellschaftliche Entwicklungen: Zum Beispiel und zum Glück verliert sie alle ihre Rückzugsgefechte gegen die Parität der Geschlechter. Und die Wahlerfolge der Reaktionäre bleiben in halb Europa unter ihren Erwartungen.
Der dritte Teil zeigt die Kraft der Demokratie auf, und der vierte Teil umreißt die Arbeit an ihrer Modernisierung. Diktatoren sorgen sich Tag und Nacht um ihr Überleben. Was tun die Demokraten? Warum entwickeln sie kaum Strategien, um das Bestehen und Gedeihen der Demokratie zu sichern? In vielen Ländern bleibt sie resilient. Sie weist die Reaktionäre in die Schranken, oft laufen sie auf. Jedoch reicht das nicht. Die Aufgabe liegt darin, die Demokratie zukunfts- und aktionsfähig zu machen, sie zu modernisieren, Zutrauen zu wecken – damit die Demokratie ihre volle Kraft entfaltet. Nur so werden aufgeklärte Kräfte die Zukunftsdebatte und die politische Agenda prägen. Der zuversichtliche fünfte Teil zeigt auf, warum das jetzt sehr wohl gelingen kann.
Grüne, Sozialliberale und Linke, gemeinsam mit vielen Liberal-Konservativen und der aufstrebenden Generation Greta: Diese Demokraten brauchen mehr denn je, was sie verbindet und ausmacht, nämlich Perspektiven des Fortschritts. Wer handelt, ist optimistisch. Sonst würde er nicht handeln.
Wer aber wird handeln und die liberale Demokratie erneuern? Weder die Autoritären, die diese Demokratie als elitär schmähen, noch das Establishment, das weiterhin sehr bequem lebt in der unbequemer werdenden Gegenwart. Und schon gar nicht der Big-Business-Big-Data-Verbund, der fischblütig mit jedem politischen System dealt. Wer sonst? Die Bürgergesellschaft.
Wir sind die, auf die wir warten.