Bildnachweis

Fotos und Abbildungen im Innenteil:

Abb. 7:   Möckel Feinmechanik, Buseck

Abb. 13: F. H. Papenmeier GmbH & Co KG, Schwerte

Tab. 6:    Bildschirmlesegerät Visio 500: BAUM-Retec AG, Meckesheim
Mobiles Kamerasystem: F. H. Papenmeier GmbH & Co KG, Schwerte

Tab. 8:    Elotype: Blista Brailletec gGmbH, Marburg
PIAF Tactile Image Maker: Harpo Sp. z.o.o., Posen, Polen
TactiPad: Thinkable, Huissen, Niederlande

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Blindheit und Sehbehinderung

In diesem Kapitel wird beschrieben, welcher Personenkreis als blind, hochgradig sehbehindert und sehbehindert bzw. sehbeeinträchtigt gilt und wie sich verschiedene Sehschädigungen auf die kindliche Entwicklung auswirken.

Sehbeeinträchtigungen können ihre Ursache im Bereich des Sehapparats (Linse, Netzhaut etc.) und /oder im Bereich der zentralen visuellen Wahrnehmungsverarbeitung haben. Für die pädagogische Arbeit ist es wichtig, die jeweilige Sehbeeinträchtigung nicht isoliert zu sehen, sondern die individuellen Fähigkeiten der SchülerInnen sowie die Rahmenbedingungen des Unterrichts mit zu betrachten.

Informationen zur Entwicklung der inklusiven Bildung von Kindern und Jugendlichen mit Blindheit und Sehbehinderung beschließen das Kapitel.

1.1   Begriffsdefinitionen

keine einheitliche Definition

Klassifikationen von Sehschädigungen sind international nicht einheitlich. Unter medizinischen und sozialrechtlichen Gesichtspunkten wird als wichtigstes Kriterium zur Feststellung einer Sehbehinderung die Messung der Sehschärfe (Visus) herangezogen. Hierbei muss die Testperson Sehzeichen (ab dem Schulalter meist Buchstaben oder Zahlen) in einer Normdistanz erkennen. Aus der Differenz zwischen Normdistanz und tatsächlicher Prüfdistanz lässt sich die Sehschärfe folgendermaßen errechnen:

Visus = Prüfdistanz : Normdistanz

Beispiel für Visuswert

Ist ein Sehzeichen für eine Entfernung von fünf Meter normiert, die Testperson müsste jedoch die Distanz bis auf einen Meter verkürzen, um alle Sehzeichen erkennen zu können, beträgt der Visuswert 1/5 (0,2). Der Referenzwert für nicht beeinträchtigtes Sehen liegt immer bei 1,0 (in unserem Beispiel 5/5).

Neben Visuswerten für die Ferne kann mit entsprechend normierten Prüftafeln auch ein Nahvisus bestimmt werden. Dieser ist im schulischen Kontext bei Lese- und Schreib­tätigkeiten von großer Bedeutung.

Begriffe

Definitionen

Im deutschsprachigen Raum ist die Bezeichnung „Sehschädigung“ v. a. im medizinischen und sozialrechtlichen Kontext als Oberbegriff für „Sehbehinderung“, „hochgradige Sehbehinderung“ und „Blindheit“ gebräuchlich. Personen gelten dann als blind, wenn ihr Visuswert auf dem besseren Auge nicht mehr als 1/50 beträgt oder gleichzusetzende Sehbeeinträchtigungen (z. B. sehr starke Einschränkungen des Gesichtsfeldes) vorliegen. Im Unterschied zum umgangssprachlichen Gebrauch des Wortes „Blindheit“, bedeutet der entsprechende sozialrechtliche Begriff, dass ein Betroffener noch über visuelle Wahrnehmungsmöglichkeiten verfügen kann. Liegt kein Sehvermögen vor, wird die Bezeichnung „Amaurose“ verwendet. Tabelle 1 fasst die medizinischen und sozialrechtlichen Definitionen von Sehbehinderung, hochgradiger Sehbehinderung und Blindheit zusammen.

Tab. 1: Klassifizierung von Sehbeeinträchtigungen (Deutsche Ophthalmologische Gesellschaft 2011)

In einigen Veröffentlichungen (u. a. Walthes 2014) wird der Begriff „Sehbeeinträchtigung“ synonym zum Begriff „Sehschädigung“ oder zum Begriff „Sehbehinderung“ verwendet. Zum Ausdruck gebracht wird hierdurch, dass medizinisch diagnostizierte Schädigungen nicht zwangsläufig zu Behinderungen beispielsweise der sozialen Teilhabe führen müssen. Dieser Sachverhalt wird auch in der vorliegenden Publikation berücksichtigt: „Sehbehinderung“ und „Sehbeeinträchtigung“ werden synonym verwendet, wobei „Sehbeeinträchtigung“ insbesondere auch zerebral bedingte Störungen der visuellen Wahrnehmungsverarbeitung einschließt. „Sehschädigung“ wird ausschließlich in medizinisch-sozialrechtlichen Kontexten gebraucht.

Oft treten Sehschädigungen zusammen mit weiteren Beeinträchtigungen (z. B. der ­Kognition, der Motorik, der auditiven Wahrnehmung) auf. Untersuchungen kommen zu dem Ergebnis, dass etwa 60 – 70 % der Kinder mit Blindheit und Sehbehinderung eine Mehrfachbehinderung aufweisen (Hatton et al. 2013).

1.2   Prävalenz von Blindheit und Sehbehinderung

Zahlen und Fakten

Exakte Angaben über die Häufigkeit von Blindheit und Sehbehinderung in Deutschland liegen nicht vor. Die vom Statistischen Bundesamt veröffentlichten Zahlen beziehen sich auf bewilligte Anträge auf einen Schwerbehindertenausweis (mit Blindheit / Sehbehinderung als schwerste Behinderung). Da jedoch nicht alle Personen mit Blindheit oder Sehbehinderung einen Antrag auf Ausstellung eines Schwerbehindertenausweises stellen, liegen die tatsächlichen Zahlen in jedem Fall höher als die entsprechenden Angaben (Tab. 2).

Tab. 2: Angaben zur Häufigkeit von Blindheit und Sehbehinderung in Deutschland

In der Schweiz wird von 10.000 Menschen mit Blindheit und 315.000 Menschen mit Sehbehinderung (inkl. hochgradiger Sehbehinderung) ausgegangen (Spring 2012). Der Blinden- und Sehbehindertenverband Österreich nennt für Österreich 3.000 Menschen mit Blindheit, 101.000 Menschen mit hochgradiger Sehbehinderung und 146.000 Menschen mit Sehbehinderung (BSVÖ 2016).

Häufigkeit im Kontext Schule

Für das Schulalter ergibt sich laut Statistik der Kultusministerkonferenz (KMK 2019) in Deutschland für das Schuljahr 2017 / 18 eine Zahl von 9.009 SchülerInnen, die blinden- und sehbehindertenspezifisch unterstützt wurden. Bei dieser Angabe ist jedoch zu beachten, dass Kinder und Jugendliche mit zusätzlichen (z. B. kognitiven und motorischen) ­Beeinträchtigungen nicht hinlänglich berücksichtigt werden (Drave et al. 2013). Die absolute Anzahl derjenigen SchülerInnen, die eine blinden- und sehbehindertenspezifische Unterstützung und Förderung benötigen, ist somit wesentlich höher, als es die Angaben in amtlichen Statistiken vermuten lassen.

1.3   Ursachen von Blindheit und Sehbeeinträchtigung

Die Ursachen von Blindheit und Sehbeeinträchtigung können sehr vielfältig sein und lassen sich auf genetische (z. B. vererbte Augenerkrankungen) oder umweltbedingte Faktoren (z. B. Unfälle, Geburtskomplikationen, erworbene Krankheiten) zurückführen.

Sehapparat und zentrale Verarbeitung als Schädigungsursachen

Bedeutsam erscheint eine Differenzierung in Bezug auf den Schädigungsort, d. h. inwieweit der Sehapparat (Auge: Linse, Hornhaut, Netzhaut etc.) eine Schädigung aufweist und/oder etwaige Störungen der Reizweiterleitung und -verarbeitung die beobachtbaren Sehbeeinträchtigungen erklären können. Störungen der Verarbeitung visueller Reize im Gehirn werden als CVI (Cerebral Visual Impairment) bezeichnet. In den Industrieländern können im Kindes- und Jugendalter häufig die in Abbildung 1 aufgeführten Ursachen von Sehschädigungen festgestellt werden.

Abb. 1: Ursachen und Häufigkeiten von Sehschädigungen in Industrieländern (Garber/Huebner 2017,67; Hatton et al. 2013) (Übers. v. M. Lang)

1.4   Diagnostik von Sehbeeinträchtigung

Durch genaues Beobachten der Kinder und Jugendlichen lassen sich Indikatoren erkennen, die auf eine Sehbeeinträchtigung schließen lassen (Tab. 3). Wird eine entsprechende Beeinträchtigung vermutet, muss eine detaillierte Diagnostik von augenärztlicher und anschließend von sehbehindertenpädagogischer Seite aus erfolgen.

Tab. 3: Indikatoren für das Vorliegen einer Sehbeeinträchtigung (Degenhardt / Henriksen 2009)

medizinische und pädagogische Sehdiagnostik

Die funktionelle Überprüfung des Sehvermögens wird vom Augenarzt vorgenommen. Hierbei werden beispielsweise die Sehschärfe in der Ferne, das Gesichtsfeld, der Augen­innendruck und die Intaktheit von Netzhaut, Linse und Sehnerv überprüft. Diese Ergebnisse stellen wichtige Bezugsgrößen für die in Unterricht und Förderung zu treffenden Maßnahmen dar. Ergänzend werden von Blinden- und SehbehindertenpädagogInnen weitere detaillierte diagnostische Informationen erhoben ( Funktionale Sehprüfung). Hierzu gehören unter anderem Messungen der Sehschärfe (Nähe und Ferne) sowie Informationen zur Farbwahrnehmung, zum Kontrastsehen, zum Vergrößerungsbedarf oder zum räumlichen Sehen, die jeweils über spezifische Testverfahren ermittelt werden. Darüber hinaus bedarf es für den pädagogischen Kontext einer auf Beobachtungen basierenden Sehdiagnostik, bei der gezielt verschiedene alltagsrelevante Aufgabenstellungen (z. B. Lese- und Schreibaufgaben, Aufgaben zur Orientierung) bei unterschiedlichen Kontextbedingungen wie Beleuchtungssituation, Kontrastierung der Materialien oder zur Verfügung stehende Zeit berücksichtigt werden.

Die Diagnostik von CVI erweist sich als äußerst komplex. Bildgebende Verfahren können die konkreten Schädigungen kortikaler Areale trotz enormer Fortschritte noch nicht mit der notwendigen Genauigkeit ermitteln. Aus diesem Grund werden in der Praxis detaillierte Beobachtungsraster und spezifische Testaufgaben ­eingesetzt, um Funktionsbeeinträchtigungen beispielsweise bei der Form- und Bewegungswahrnehmung oder zentral bedingte Gesichtsfeldeinschränkungen erfassen zu können.

1.5   Auswirkungen von Blindheit und Sehbeeinträchtigung

Mögliche Auswirkungen von Sehbeeinträchtigungen auf das Sehvermögen

ein trübes, unscharfes Netzhautbild

ein eingeschränktes Gesichtsfeld

eine erhöhte Blendempfindlichkeit

eine herabgesetzte Kontrastempfindlichkeit

ein nur gering oder gar nicht vorhandenes Farbensehen

fehlendes räumliches Sehen (Stereosehen)

Einschränkungen in der Wahrnehmung bewegter Objekte

Schwierigkeiten bei der Fixation aufgrund eines Augenzitterns (Nystagmus)

Probleme bei der Unterscheidung von Formen

Extreme Kurz- oder Weitsichtigkeit (Myopie bzw. Hyperopie)

Abb. 2: Simulation von Sehbeeinträchtigungen

begrenzte Aussagekraft von Simulationsbildern

Die Simulation des Sehvermögens bei einer Augenerkrankung oder einer zentralen visuellen Wahrnehmungsstörung ist äußerst schwierig. Simulationsbilder können lediglich einen möglichen und darüber hinaus sehr groben Seheindruck vermitteln. Ein Nachempfinden der tatsächlichen Auswirkungen ist für Menschen ohne Sehbeeinträchtigung nicht zugänglich. Die Einschränkung bleibt individuell und abhängig von situativen und personalen Bedingungen (Beleuchtungssituation, Sehaufgabe, Stress, Erfahrungshintergrund, Ermüdungsgrad etc.). Abbildung 2 kann somit nur sehr begrenzt Sehbehinderungen veranschaulichen.

Blindheit und Sehbehinderung wirken sich zunächst direkt auf die sensorische Wahrnehmung aus. Darüber hinaus können jedoch weitergehende bzw. indirekte Auswirkungen auf andere Entwicklungsbereiche (z. B. Motorik, Emotionalität, Soziabilität) beobachtet werden.

individuelle Auswirkungen

Inwieweit die Entwicklung in weiteren Bereichen beeinflusst wird, ist abhängig vom Eintrittszeitpunkt der Blindheit bzw. Sehbehinderung, vom Grad der verbliebenen Sehfähig­keit, von den Ursachen der Sehschädigung oder vom Vorliegen zusätzlicher Behinderungen. Darüber hinaus sind Variablen wie die Persönlichkeitsstruktur (Explorationsfreude oder Zurückgezogenheit etc.) oder die unmittelbare Umgebung (sensible und konstante Bezugspersonen, Anregungsgehalt für Aktivitäten und inhaltliche Auseinandersetzungen) entscheidende Einflussfaktoren. Die nachfolgend aufgelisteten Aspekte sind somit lediglich potenziell mögliche, jedoch nicht zwingende Auswirkungen von Blindheit und Sehbehinderung auf verschiedene Entwicklungsbereiche.

Mögliche Auswirkungen von Sehbeeinträchtigungen auf verschiedene Entwicklungsbereiche

Kognition

Kinder und Jugendliche mit Blindheit und Sehbehinderung sind kognitiv genauso leistungsfähig wie Kinder und Jugendliche ohne ­Sehbeeinträchtigungen. Lernprozesse können jedoch beispielsweise durch ein eingeschränktes Imita­tionslernen erschwert sein. Auch die Bildung von Begriffen kann sich aufwendiger gestalten, da manche Begriffsmerkmale visuell schneller und einfacher zugänglich sind.

Der Aufbau räumlicher Vorstellungen ist oftmals erschwert.

Motorik

Sehen schafft vielfältige Bewegungsanreize, steuert die Bewegungsausführung und stabilisiert das Gleichgewicht. Kinder mit Blindheit und Sehbehinderung sammeln u. U. weniger Bewegungserfahrungen und können somit Verzögerungen in der motorischen Entwicklung sowie Auffälligkeiten hinsichtlich Bewegungskoordination und Körperhaltung zeigen.

Vor allem Kinder und Jugendliche mit Blindheit zeigen mitunter psychomotorische Besonderheiten (Bewegungsstereotypien wie Augenbohren, Schaukeln mit dem Oberkörper etc.).

Sprache / Kommunikation

Das Erfassen mimischer und gestischer Gesprächsanteile ist nur eingeschränkt oder gar nicht möglich.

Soziabilität

Der Erwerb lebenspraktischer Fähigkeiten (z. B. Zubereitung von Nahrung) ist erschwert.

Emotionalität

Blindheit und Sehbehinderung können die Entwicklung von Ängstlichkeit unterstützen, da Bewegungshandlungen mit schmerzhaften Erfahrungen ­verbunden sein können.

1.6   Grundlegende pädagogische Konsequenzen

eigene Sichtweisen hinterfragen

Blindheit und Sehbehinderung sind nur zwei mögliche Persönlichkeitsvariablen von unendlich vielen (Kap. 1.1