1   Sprache ist Kommunikation

1.1   Was Sprache ist und warum sie gefördert werden sollte

Sprache und gesellschaftliche Teilhabe

Eine gesunde Sprachentwicklung und eine erfolgreiche Sprachbildung sind optimale Bedingung dafür, dass Kinder in ihrer Welt wirken, diese begreifen und einen erfolgreichen Bildungsweg einschlagen können. So werden sie Teil der sie umgebenden Gesellschaft und können später sowohl persönlich als auch beruflich wirken. Dabei reichen die sprachlichen Fähigkeiten des Verstehens und Sprechens nicht aus – auch Lesen und Schreiben, also die Schriftsprache, sind eine wesentliche Voraussetzung, um als „vollwertiges“ Mitglied der Gesellschaft agieren zu können.

Folgen sozialer Beeinträchtigungen

Alle Kinder, d. h. sowohl einsprachige als auch mehrsprachige Kinder, deren Sprache schlechter als die der Peers ist, zeigen ein erhöhtes Risiko für soziale Beeinträchtigungen (Clegg et al. 2005), Verhaltensauffälligkeiten und psychiatrische Probleme (Conti-Ramsden et al. 2013; Snowling et al. 2006), ausbleibenden Schulerfolg (Durkin et al. 2012; Johnson et al. 2010) sowie zukünftige Arbeitslosigkeit und / oder ökonomische Benachteiligung (Parsons et al. 2011).

Viele Erwachsene wissen, dass Sprache ein zentraler Schlüssel für den Bildungserfolg und somit für den künftigen Verlauf des Bildungsweges eines Kindes mit entscheidend ist. Schlagwörter wie „Gesellschaftliche Teilhabe“ und „Chancengleichheit“ tauchen in diesem Zusammenhang ebenso auf wie „Sprachkompetenz“ und „Sprachförderung“.

Kinder wissen dies (noch) nicht. Die kindliche Perspektive auf Sprache ist eine vollkommen andere. Kinder sind von Natur aus neugierig und motivierte Sprachlerner. Sie sind innovativ, zeigen häufig kreative Wortneuschöpfungen und entwickeln ihre Sprachfähigkeiten fortlaufend weiter. Dies vor allem dann, wenn sie entdecken, dass sie mit dem Medium „Sprache“ als Ausdrucksmittel ihrer Wünsche und Intentionen auf das Verhalten anderer Menschen und die Umwelt Einfluss nehmen und wirken können.

Komponenten der Sprachentwicklung

Sprache selbst ist wie die Sprachentwicklung sehr dynamisch und äußerst komplex. Zur Beschreibung sprachlicher Kompetenzen lassen sich formalsprachliche Aspekte unterteilen. So werden im Deutschen folgende Komponenten unterschieden: Prosodie (Betonung und Rhythmus), Phonetik und Phonologie (Struktur, Kombination, Funktion und Bedeutung der Laute), Morphologie (Form und Bildung der Wörter), Syntax (Satzbau), Lexikon (aktiver und passiver Wortschatz), Semantik (sprachliche Bedeutung) und Pragmatik (sprachliches Handeln).

Zeitlich vor sowie parallel zur Entwicklung der expressiven (aktiven) Sprachfähigkeiten in den einzelnen Ebenen, entwickelt sich das Sprachverständnis, also die rezeptive (passive) Fähigkeit, Sprache zu entschlüsseln, zu verstehen und zu interpretieren.

Als Ergebnis eines optimalen Erwerbs aller Entwicklungsschritte und deren angemessener Kombination auf allen Ebenen zeigt sich die Sprachfähigkeit im Sinne von Sprachkompetenz eines Menschen.

kommunikative und repräsentative Funktion

Sprache ist vor allem ein Medium zur sozialen Kommunikation. Über Sprache können wir uns mit anderen Menschen verbinden und sie integrieren; wir können Sprache aber auch dazu verwenden, um andere auszugrenzen und ihre Gefühle zu verletzen. Wir treten miteinander in einen Dialog und sprechen miteinander, weil wir uns mitteilen oder etwas von anderen erfahren, weil wir andere überzeugen oder Einfluss nehmen wollen (kommunikative Funktion von Sprache). Mit Hilfe von Sprache können wir anderen abstrakte Inhalte wie unsere Gedanken, Gefühle, Absichten und Bedüfnisse vermitteln.

Sprache hat nicht nur einen Einfluss darauf, wie wir die Dinge um uns herum benennen, sondern auch, wie wir die Welt wahrnehmen und welches geistige Bild wir uns von der Welt machen (repräsentative Funktion von Sprache). Mit Hilfe von Sprache erzeugen wir Vorstellungen in den Köpfen anderer Menschen. Unser Sprachgebrauch sagt etwas über uns aus – er ist unsere verbale Visitenkarte.

Sprachfähigkeit vs. Sprachkenntnisse

Sprache ist ein Begriff, der häufig pauschal für unterschiedliche Inhalte und Zielsetzungen verwendet wird. Dabei erfordert der Begriff „Sprache“ eine differenzierte Betrachtung. So wird im Deutschen nicht zwischen Sprache im Sinne von Sprachfähigkeit und Sprache im Sinne von Kenntnissen einer Einzelsprache unterschieden. Wer aber nicht zwischen Sprachfähigkeit und Sprachkenntnissen (wie Deutschkenntnissen) differenziert, wird in der Folge geneigt sein, sprachliche Förderziele auf formalsprachliche Bereiche zu reduzieren. Dabei ist Sprachfähigkeit viel mehr als Vokabelwissen und die regelrechte Aneinanderreihung bestimmter Wortformen zu einem Satzgefüge, überdies ist es auch die Fähigkeit, sich durch Kommunikation kompetent in der Gesellschaft und dem eigenen Lebensumfeld zurechtzufinden. Dennoch erhalten die Größe des Wortschatzes sowie grammatische Fähigkeiten in Krippen, Kindergärten sowie im Elementarbereich zunehmend mehr Gewichtung bei der Gestaltung von Lern- und Bildungsplänen.

Abb. 1: Voraussetzungen für eine gelungene soziale Interaktion

Sprache ist mehr als Deutschkenntnisse, somit bedeutet Sprachförderung mehr als die Förderung von Kenntnissen der deutschen Sprache. Diese Differenzierung ist ebenso von entscheidender Bedeutung, wenn es um Sprachförderung im Kontext von Mehrsprachigkeit geht.

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Zentrale Voraussetzungen zur Sprachentwicklung liegen im Gehirn, sodass davon ausgegangen werden kann, dass die grundsätzliche Sprachfähigkeit Teil der genetischen Disposition ist. Wie sich das angeborene Talent entwickelt, hängt neben biologischen Reifungsprozessen jedoch stark von den Lebensbedingungen und Kommunikationssituationen, und somit vom kindlichen Umfeld, ab.

Bedeutung der Interaktion

Die unmittelbaren Bezugspersonen, zumeist die Eltern, haben einen entscheidenden, verantwortungsvollen Einfluss auf die Sprachentwicklung des Kindes. Ohne eine sozioemotionale Beziehung zu anderen Menschen und ohne deren sprachliche Anregung (Input) ist Sprachentwicklung nicht möglich. Denn Kinder entwickeln Sprache in der Interaktion mit ihren Bezugspersonen. Dabei verdeutlicht das Wort Interaktion, dass neben dem sozialen Wechselspiel zwischen dem Kind und einer weiteren Person (inter), ebenso das direkte Handeln und Erleben (Aktion), und demnach das gemeinsame Tun, einen wesentlichen Rahmen zur Förderung der sprachlichen Fähigkeiten bildet. Das gemeinsame Handeln stellt also die Grundlage einer kindgerechten Sprachförderung dar, die sich am kindlichen Entwicklungsprozess der Handlungsmöglichkeiten und Interessen orientiert.

So begleiten Bezugspersonen in der Interaktion mit Kleinkindern häufig das an das Hier und Jetzt gebundene gemeinsame Handeln sprachlich, bevor sie mit älteren Kindern über etwas sprechen, und damit Sprache losgelöst vom Kontext (abstrakt) im Dialog mit dem Kind unter Bezug auf nicht direkt stattfindende Handlungen anwenden.

Meilensteine

Kinder entwickeln ihre Sprachfähigkeit demnach im Zusammenspiel der sozial-kommunikativen, kognitiven und sprachlichen Entwicklung. Die sprachliche Entwicklung beruht dabei genauso auf Reifungsprozessen wie auch auf Erkenntnisprozessen, die vom Umfeld des Kindes beeinflusst werden können (Kap. 1.2). Dies spiegelt sich in der individuell sehr unterschiedlichen Sprachentwicklung bei Kindern wider, obgleich es bestimmte „Meilensteine“ der Sprachentwicklung gibt, die zu bestimmten Zeitpunkten in der kindlichen Entwicklung erreicht werden. So produziert eine Vielzahl von Kindern erste Wörter im Alter von ca. zwölf Monaten; das Wort selbst und die Häufigkeit der Äußerungen aber variieren stark.

soziokulturelle Komponente

Aufgrund des starken Einflusses des Umfeldes hat Sprache eine starke soziokulturelle Komponente. Sie ist eine kulturelle Fähigkeit, in deren Entwicklungsbedingungen man hineingeboren und von der man geprägt wird. Unser Sprachverhalten erwerben wir von unseren Bezugspersonen, die uns ihre Einstellungen, Auffassungen und Haltungen größtenteils unbewusst, aber oft auch bewusst vermitteln („Das sagt man aber nicht!“).

Sprache ist auch Ausdruck ihrer Zeit. So sind heutzutage im deutschen Wortschatz zahlreiche Lehnwörter und Anglizismen wie Box oder cool zu finden. Wörter kommen („krass“) und gehen auch wieder („Nietenhose“), so wie die Menschen, die sie verwenden. Dies trifft nicht nur auf Wörter, sondern auch auf Elemente der Grammatik wie des Satzbaus oder des Kasus zu („weil ich hab kein Geld mehr“). Sprache unterliegt dem zeitlichen Wandel.

Identität

Sprache ist also mehr als ein Medium zur Kommunikation. Sie spiegelt gesellschaftliche Bedingungen wie die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe, einer Gesellschaft, einem Volk wider und vermittelt damit das Gefühl von Identifikation. Zugleich stellt sie durch Wortwahl, regionale Färbung, Betonung und Modulation ein individuelles Persönlichkeitsmerkmal dar. Sprache ist neben der persönlichen Visitenkarte also zugleich Ausweis kultureller Identität.

Sprachprestige

Es gibt zahlreiche Einzelsprachen (sog. Sprachcodes), die ebenfalls leben und sterben können, und die je nach Sprachprestige gesellschaftliche Wertschätzung oder Diskriminierung erfahren. Dass Sprachen wie Englisch als Zweitsprache seit langer Zeit „in“ und Chinesisch „im Kommen“ ist, belegen nicht zuletzt die entsprechenden Angebote in Kindertageseinrichtungen, während z. B. bilinguale deutsch-polnische Krippen hierzulande noch unterrepräsentiert sind.

Deutsch in Deutschland (und anderen deutschsprachigen Ländern) verstehen, sprechen, lesen und schreiben können – das ist im Zeitalter der Migration im Einwanderungsland Deutschland (sowie auch in Österreich und in der deutschsprachigen Schweiz) nicht mehr selbstverständlich. In der Europäischen Union, in der im Jahr 2015 24 gleichberechtigte, verschiedene Amtssprachen verzeichnet wurden, lautet die Devise „Mehrsprachigkeit ist Bildungsziel“. Die (Bildungs-)Politik steht vor der schwierigen Aufgabe, sprachliche Vielfalt als Bildungsziel und zugleich Zuwanderern Deutsch als wichtige Sprache zu vermitteln, deren Beherrschung – auch als Schriftsprache – die Voraussetzung für Chancengleichheit und eine aktive Teilhabe an einem friedlichen gesellschaftlichen Zusammenleben ist.

Damit wird deutlich, dass auch die Förderung von Sprache insgesamt vielfältig ist, und alle Kinder – ganz gleich ob ein- oder mehrsprachig – auf dem Weg, ein aktiv teilhabendes Mitglied unserer Gesellschaft zu werden, eine entwicklungsorientierte gesamtsprachliche Förderung bzw. Sprachenförderung erfahren sollten. Zum Angebot einer altersgruppenspezifischen Förderung finden sich Hinweise in den entsprechenden nachfolgenden Kapiteln.

1.2   Sprache als Erwerbsaufgabe für das Kind

Begriffe

Das Wort „Sprachentwicklung“ verdeutlicht, dass das Kind bereits angelegte Potenziale mitbringt, die reifen und im wechselseitigen Zusammenspiel mit der Umwelt weiterentwickelt werden müssen. Als Ergebnis dieser vielfältigen Reifungs- und Erkenntnisprozesse entwickelt und verfügt das Kind zunehmend über nichtsprachliche sowie sprachspezifische Strategien, mit deren Hilfe es allmählich die Regeln der Sprache erwirbt.

Das Wort „Spracherwerb“ verdeutlicht, dass, neben der Umwelt, vor allem dem Kind zur Bewältigung dieser Aufgabe eine aktive Rolle zukommt. So gilt es, sich das Produkt Sprache als Kompetenz (anzuwendendes Wissen) sowohl in Form als auch in Funktion aktiv anzueignen.

Komponenten der Sprache

Um das zu erwerbende Gesamtsystem Sprache mit seinen einzelnen grundsätzlichen Komponenten, die wiederum ihre eigenen Gesetzmäßigkeiten haben, übersichtlich darzustellen, wird eine kurze Produktbeschreibung in Tabellenform vorgenommen (Tab. 1). Jede dieser Komponenten hat in Abhängigkeit der betreffenden Einzelsprachen eine andere oder eigene Funktion. Anhand ausgewählter Beispiele unterschiedlicher Sprachen wird deutlich, dass die jeweilige Sprache, den Erwerb (sprach-)spezifischer Regeln voraussetzt.

Tab. 1: Grundlegend zu erwerbende Komponenten der Sprachen und ihre Funktionen

Insgesamt ist die Entwicklung der Sprache auf sämtlichen relevanten Ebenen ein komplexes Bedingungsgefüge. Ihre Bewältigung stellt eine fortlaufende und komplexe Erwerbsaufgabe dar. Insofern sind auch im Rahmen der Sprachförderung sämtliche Komponenten der jeweiligen Einzelsprache zu berücksichtigen.

impliziter Spracherwerb

Diese Art der Betrachtung geschieht aus der Erwachsenenperspektive heraus. Wie eingangs beschrieben, erwerben Kinder Sprache in den ersten Jahren nicht bewusst (explizit). Sie entwickeln und entdecken ihre Sprache(n) vielmehr unbewusst (implizit) in der alltäglichen Interaktion und in alltäglichen Handlungen, die von Bezugspersonen sprachlich begleitet werden. Zur Aufnahme (Intake) dieses sprachlichen Inputs, braucht das Kind nicht nur ein gesundes Gehör. Sein Gehirn bearbeitet die sprachlichen Informationen induktiv, d. h. es erkennt und vergleicht unbewusst sprachliche Regelmäßigkeiten der Umgebungssprache(n), speichert sie und leitet daraus Regeln für die weitere Anwendung ab – es lernt. Der Spracherwerb erfordert demnach Bezugspersonen, die gemeinsam mit dem Kind handeln, diese Handlungen sprachlich begleiten und somit Lerngelegenheiten schaffen.

Die Pragmatik wurde, ähnlich wie die Prosodie, in vielen Konzepten zur Sprachförderung bislang vernachlässigt. So stehen auch heute noch primär grammatische Fähigkeiten im Fokus der Förderung von Deutsch als Zweitsprache (DaZ). Dabei liegt es auf der Hand, dass allein grammatisch wohlgeformte Äußerungen kein Garant für eine erfolgreiche Kommunikation darstellen. So ist die soziokulturelle Kenntnis kommunikativer Regeln und Verhaltensweisen ebenso Voraussetzung für eine gelingende sprachliche Interaktion. Daher sind pragmatisch-kommunikative Fähigkeiten der Schlüssel, um in der sozialen Interaktion überhaupt verbleiben und somit den Kontakt mit jenen Bezugspersonen aufrechterhalten zu können, die den kindlichen Spracherwerb fördernd unterstützen.

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Fehlbewertungen und Missverständnisse

Die in der Tabelle 1 dargestellten Beispiele zu sprachspezifischen Unterschieden verdeutlichen, dass es keine universelle Altersnorm für die jeweiligen Sprachkomponenten gibt. Des Weiteren gibt es keine Norm für an sich sprachunspezifische Elemente wie die Sprechstimmlagenhöhe (Grundfrequenz) oder auch die Körpersprache mitsamt Gestik und Mimik. Und dennoch neigen wir hierzulande häufig dazu, selbst nichtverbale Elemente der Kommunikation als allgemeingültige Standards zu betrachten und in der Folge nach unseren eigenen Maßstäben zu bewerten. In diesem Zusammenhang kann es leicht zu interkulturellen Missverständnissen und Fehlbewertungen bei der Einschätzung kindlicher kommunikativer Fähigkeiten kommen, die im äußersten Fall diskriminierend wirken. So zeigen Erfahrungen aus der Praxis, dass ein Kind mit einem französischen Akzent bei vergleichbaren Sprachfähigkeiten von nativ deutschsprachigen Erwachsenen manchmal anders bewertet wird als ein Kind mit einem türkischen Akzent.

Sprachentwicklungsorientierung und Meilensteine

Der Begriff „Entwicklung“ allgemein enthält eine zeitliche Dimension – die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft – und ist daher eng mit dem Begriff „Prozess“ verbunden. In der Pädagogik bezieht sich der Entwicklungsbegriff auch auf ein woher und ein wohin, und enthält somit eine Zielbestimmung (z. B. die Zielsprache der Erwachsenen oder auch die Bildungssprache). Häufig jedoch wird Entwicklung auf die direkt beobachtbaren Erscheinungsformen als Ergebnisse von Entwicklungsprozessen reduziert (z. B. Produktion erster Wörter).

Lange Zeit wurde versucht, die einzelnen Entwicklungsschritte eines Kindes anhand von Stufen bestimmter Entwicklungsaufgaben zu beschreiben, die wie die Stufen einer Treppe in einer festen Reihenfolge, in eine einzige Richtung sowie zu einem bestimmten Zeitpunkt bewältigt werden müssen. Solche Stufen- oder Phasenmodelle der kindlichen Entwicklung betonten mit ihrer festgelegten Reihenfolge also formale Gesetzmäßigkeiten innerhalb einer bestimmten Altersstufe. Dem Prozesscharakter der menschlichen Entwicklung wurde damit eine geringere Bedeutung zugesprochen als heute den wechselseitigen Einflüssen von Reifeprozessen (und genetischen Faktoren), Lernprozessen und Umwelteinflüssen in der Entwicklungspsychologie beigemessen wird.

Sprachentwicklung ist ein hochgradig komplexer Prozess, der individuell variabel verläuft. So kann es zu einer hohen Varianz innerhalb einer Altersgruppe kommen. Daher eignet sich das Alter eines Kindes häufig nicht als Bezugspunkt im Entwicklungsverlauf. Das chronologische Lebensalter ist lediglich eine messbare Größe, die jedoch entwicklungspsychologisch keine Aussagen über den Entwicklungsverlauf zulässt oder ihn erklären kann. Auch das Konzept der „Meilensteine“ ist durch das Alter definiert und daher mit Vorsicht zu betrachten. Meilensteine beziehen sich auf einen Altersbereich, bei dem rund 50 % der Kinder einer untersuchten Stichprobe ein bestimmtes (sprachliches) Verhalten gezeigt haben und dieses Verhalten als Entwicklungsziel für dieses Alter formuliert wurde. Das bedeutet gleichzeitig, dass die andere Hälfte der untersuchten Kinder das (sprachliche) Verhalten zu diesem Zeitpunkt nicht gezeigt hat.

Die in den folgenden Kapiteln zu findenden Angaben wie „erstes Wort mit ca. zwölf Monaten“ sind daher nicht als Voraussetzung für eine unauffällige Entwicklung zu verstehen. D. h. sie sind keine Vorgabe, welches sprachliche Verhalten ein Kind zu einem bestimmten Zeitpunkt zeigen sollte, sondern sollen lediglich als prozessbezogene Meilensteine Orientierung darüber geben, welches (sprachliche) Verhalten eine große Stichprobe von (zumeist einsprachigen) Kindern gezeigt hat.

Zur Orientierung ist es daher sinnvoller, den individuellen Entwicklungsverlauf, den Sprachentwicklungsprozess in den Blick zu nehmen und anhand des Verlaufes zu erkennen, welche Fähigkeiten einen Entwicklungsschritt im Rahmen einer typischen Entwicklung voraussetzen – eine entwicklungsorientierte Betrachtung also.

1.3 Voraussetzungen für den Spracherwerb

Der Spracherwerb gelingt innerhalb weniger Jahre – das heißt jedoch nicht, dass Kinder im Vorschulalter Sprache wie Erwachsene verwenden können. Sie sind vielmehr in der Lage, ihrer Umwelt eigene Gedanken, Vorstellungen und Bedeutungsinhalte zu vermitteln und sich hierzu der Gesetzmäßigkeiten ihrer Sprache zu bedienen. Sprache und Kognition können daher nicht getrennt voneinander betrachtet werden – sie bedingen einander.

Sprechfreude als kommunikative Notwendigkeit

Neben kognitiven Prozessen basiert die Sprachentwicklung auf verschiedenen angeborenen Fähigkeiten, die mit dem Ziel einer gelingenden Sprachentwicklung parallel entwickelt und miteinander verknüpft werden müssen (sensomotorische Integration). So müssen sich Kinder z. B. bewegen und aktiv ihre Umgebung sowie deren Objekte be-greifen können, um ihre Sprachfähigkeiten weiterzuentwickeln. Dies erfordert neben einer das Kind annehmenden und anregenden Umgebung mit sozialen Bezugspersonen auch eine entsprechende emotionale Stabilität (Bindung). Somit vollzieht sich die Sprachentwicklung im Rahmen der kindlichen Gesamtentwicklung in enger wechselseitiger Beziehung mit der Umgebung: Der Antrieb, diese Erwerbsaufgabe zu bewältigen, sind die kindliche Neugier und die Motivation, zu den unmittelbaren Bezugspersonen eine soziale Verbindung aufzubauen – Sprechfreude als eine kommunikative Notwendigkeit.

Sprachentwicklung ist eingebettet in die kindliche Gesamtentwicklung. Bereits im Mutterleib entwickelt ein Kind einzelne Fähigkeiten und verknüpft diese mit zunehmender kognitiven Reife im Rahmen der sensomotorischen Integration miteinander. So entwickelt sich beispielsweise das Hören ab dem dritten Schwangerschaftsmonat analog zur Entwicklung der auditiven Wahrnehmung. Zeitgleich werden motorische Fähigkeiten entwickelt, die den Tastsinn und das Fühlen ausbilden und wertvolle Sinneseindrücke für die Entwicklung des Gleichgewichtsinnes geben. Auch schmeckt und bewegt bereits das Ungeborene mithilfe der später auch für das Sprechen notwendigen Artikulationsorgane. Im Säuglings- und Kleinkindalter zeigt sich das Zusammenspiel der Fähigkeiten im Prozess des Laufenlernens genauso wie im Zuge der Begriffsbildung während der Exploration von Gegenständen, die hierzu nicht nur mit der Hand, sondern auch mit der Zunge untersucht werden. Wie wichtig die Verbindung dieser Entwicklungsprozesse auch noch später ist, zeigt die Verbindung von Motorik und abstrakten Begriffen wie „rückwärts“ sowie der Vorstellung einer elementaren mathematischen Operation wie der Subtraktion im Vorschulalter.

Jedes gesunde Kind verfügt von Anfang an über die Voraussetzungen für eine erfolgreiche Sprachentwicklung. Dabei sind die grundlegenden Entwicklungsaufgaben (z. B. in Interaktion treten, Sprache entdecken) für jedes Kind gleich. Der soziokulturelle Kontext und damit die Art und Weise, wie ein Kind diese Erwerbsaufgaben bewältigt, sowie zu welchem Zeitpunkt welche Fähigkeiten erworben werden, variiert zwischen den Kindern jedoch erheblich aufgrund der genetischen Disposition und der diversen Umweltbedingungen, unter denen ein Kind seine Entwicklungsaufgaben bewältigt.

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milieubedingte, sozioökonomische Unterschiede

Die soziale Lage des kindlichen Umfeldes (Kap. 1.1) hat ebenfalls einen Einfluss auf den Spracherwerb und somit auch die spätere Verwendung von Sprache. Überdies werden in der Schule vor allem die von den Kindern bereits mitgebrachten sprachlichen und soziokulturellen Fähigkeiten bewertet bzw. schulische Leistungen mittels sprachlicher Ressourcen gemessen (Bourdieu 2001, 41), deren schichtspezifische Sprachdifferenzen bereits im Vorschulalter festzustellen sind (Schlee 1973).

„Schon bei 5-jährigen Kindern zeigen sich soziale Herkunftsunterschiede beim rezeptiven Wortschatz und dem Beherrschen der Grammatik in der deutschen Sprache. Kinder aus Elternhäusern mit hohem allgemeinbildenden Schulabschluss erreichen höhere sprachliche Kompetenzen als Kinder aus Elternhäusern mit niedrigem Abschluss.“ (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2014, 60).

Insofern spielt vor allem die Familie als primärer Ort der Sozialisation, später zudem die Peer-Gruppe und die Schule, eine entscheidende Rolle beim Spracherwerb. Demnach zählen gute soziale Bedingungen zu den Grundlagen für einen erfolgreichen Spracherwerb, sie sind aber nicht voraussetzbar.

Grundsätzlich ist die Sprachentwicklung nur in einem bestimmten Zeitfenster möglich. Daher gilt die Zeit zwischen Geburt und Grundschulalter als sprachsensible, kritische Periode. Der Erwerb einer zweiten Sprache sowie weiterer Sprachen ist hingegen lebenslang möglich. Das Gehirn ist lebenslang für Mehrsprachigkeit empfänglich.

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1.4   Mehrsprachige Kinder

Mehrsprachigkeit ≠ Gleichsprachigkeit

Wenn ein Kind mehr als eine Einzelsprache regelmäßig in natürlichen Sprachsituationen verwendet – und hierzu reicht es, wenn es mehr als eine Sprache versteht – dann ist es mehrsprachig. Dabei bedeutet Mehrsprachigkeit nicht Gleichsprachigkeit. So ist es für einen gelingenden Spracherwerb weniger entscheidend, wie ausgewogen oder „wie gut“ ein Kind seine Sprachen beherrscht (Kompetenz), sondern es ist vielmehr von Bedeutung, „wie sehr“ es eine weitere Sprache für seine unterschiedlichen sozialen Interaktionen „braucht“ (Funktion).

Gründe für Mehrsprachigkeit

Viele Kinder werden mehrsprachig, wenn sie mehr als eine Sprache zur Bewältigung ihres Alltags in ihrer persönlichen Lebenswelt brauchen. Dies kann u. a. aufgrund mehrsprachiger und / oder binationaler Eltern und / oder Mitgliedern einer Patchworkfamilie, durch einsprachige Eltern und mehrsprachige Geschwister, in gemischt-sprachlichen oder grenznahen Wohngegenden, oder aufgrund von Migration der Fall sein. Auch Alleinerziehende können ihre Kinder mehrsprachig erziehen, vor allem wenn eine weitere Sprache außerhalb der Familie erworben wird. Wächst ein mehrsprachiges Kind mit älteren Geschwistern auf, erwirbt es das Deutsche meist früh. Der Einfluss von Geschwistern auf den Spracherwerb der Kinder wurde lange Zeit unterschätzt. Da viele Familien mit Migrationshintergrund bereits in der zweiten oder dritten Generation in Deutschland leben, ist jedoch nicht mehr unbedingt davon auszugehen, dass in der Familie lediglich die Sprache des Herkunftslandes verwendet wird. Der Sprachgebrauch verändert sich mit der Länge des Aufenthaltes in einem Land oder auch dem Lebensentwurf einer Familie.

heterogene Spracherwerbsverläufe

In Anbetracht der vielfältigen Lebensentwürfe und verschiedenen Bezugspersonen können sich sehr unterschiedliche Spracherwerbsverläufe ergeben, wie in den Fallbeispielen in Kap. 1.5 dargestellt wird.

Die Gründe für das Aufwachsen mit mehr als einer Sprache sind vielschichtig, dennoch lassen sich zwei zentrale Voraussetzungen des Mehrspracherwerbs unterscheiden: Einige Kinder werden freiwillig mehrsprachig, während andere Kinder keine Wahl haben.

Insofern stellt sich für viele Kinder erst gar nicht die Frage, ob sie eine weitere Sprache erwerben wollen oder nicht – ein Großteil der Kinder muss eine weitere Sprache erwerben. Sofern sich ein Kind in Deutschland aufhält, werden häufig seinem Alter entsprechende Deutschkenntnisse vorausgesetzt. Die Frage danach, welche zeitlichen und qualitativen Kontaktmöglichkeiten zur deutschen Sprache ein Kind bislang hatte, wird dagegen noch zu selten gestellt.

Begriffe wie „das mehrsprachige Kind“ oder „das Kind mit Migrationshintergrund“ sind lediglich Konstrukte

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