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Für den großen und den kleinen Jack
Übersetzung aus dem Englischen von Susanne Meyerhöfer
Mit 16 Farbfotos und einer Karte
Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe
4. Auflage 2010
ISBN 978-3-492-95729-8
© Dorian Amos 2004
Deutsche Erstausgabe:
© Piper Verlag GmbH, München 2005
Titel der Originalausgabe:
»The Good Life« erschienen bei Eye Books Ltd, Shropshire, Großbritannien
Redaktion: Gudrun Honke, Bochum
Umschlaggestaltung: Dorkenwald Grafik-Design, München
Umschlagfoto: Johnny Caribou
Innenteilfotos: Dorian Amos
Datenkonvertierung: CPI – Clausen & Bosse, Leck
Wie Motten, die der Feuerschein anlockt, saßen Dorian und Bridget um mein Lagerfeuer irgendwo in Südengland. Sie nahmen an einem Woodlore Überlebenstraining in der Wildnis teil. Schon damals ging ihnen der Gedanke an ein Abenteuer durch den Kopf, doch davon ahnte ich nichts. Ich machte sie, wie alle anderen Kursteilnehmer, mit dem grundlegenden praktischen Wissen für das Leben im Freien vertraut. So hob ich hervor, dass solche Kenntnisse, die man ständig erweitern sollte, wichtiger sind als jede Ausrüstung. Ich betonte auch, dass es besser ist, sich im Einklang mit dem Rhythmus der Wildnis zu bewegen, als zu versuchen, die Symphonie der Natur mit dem chaotischen Tempo der Menschen zu übertönen. Wenn ich damals gewusst hätte, was Bridget und Dorian zu tun gedachten, ich hätte bestimmt für weitere Kurse in Überlebenstraining gesorgt, sie an erfahrene Kanutrainer verwiesen und an eine Menge anderer Lehrer, die ihnen ihre Reise leichter gemacht hätten. Als ich von ihrem abenteuerlichen Plan erfuhr, war ich gleichzeitig begeistert und betroffen. Jeder wahre Lehrer wünscht sich für seine Schüler nichts mehr, als dass sie hinausziehen und das Erlernte praktisch umsetzen. Aber aufgrund seiner Erfahrung, die ihn zum Unterrichten befähigt, ist er auch eher in der Lage, die Risiken eines solchen Unternehmens realistisch einzuschätzen.
Die Abenteuer von Bridget und Dorian haben mich erst entsetzt, dann aber auch amüsiert, denn wahre Ignoranz ist eine glückliche Fügung. Mit Vergnügen lese ich, wie sie in unerschütterlichem Selbstvertrauen darangehen, auch bei schlechtesten Wetterbedingungen ein Feuer zu entzünden, und die Wärme, die ihren Durchhaltewillen wieder entflammt, ist für mich auf diesen Seiten mit Händen zu greifen. Und mein Herz erwärmt sich, wenn ich von ihrer unbedingten Entschlossenheit lese, die sie mit allen Konventionen brechen und ihren Lebenstraum verwirklichen lässt. In den mehr als 20 Jahren, die ich nun das Leben in der Wildnis lehre, bin ich Menschen begegnet, die erst spät in ihrem Leben an einem Lagerfeuer saßen und bereuten, dass sie nicht schon in ihrer Jugend ein Interesse für die Natur entdeckt hatten. Andere waren zwar noch jung, brachten aber nicht den Mut auf, ihre Träume zu verwirklichen. Nur ganz wenige Menschen tun alles, damit ihre schönen Träume Realität werden. Und besser als alle anderen wissen sie: Nur der tote Lachs schwimmt mit dem Strom.
Ray Mears
England 2004
Es war Januar 1998, und ich lebte in Polperro, einem der niedlichen kleinen Fischerdörfer und freundlichen Gemeinwesen Cornwalls. Für die zehn Meter zur Post brauchte ich morgens eine halbe Stunde, weil jeder mir einen guten Morgen wünschen oder sich mit mir über Fische oder das Wetter unterhalten wollte. Ich hatte mein eigenes kleines Unternehmen, ich zeichnete Comics und verkaufte sie in meinem Laden, der Amosart hieß. Ich arbeitete, wann ich wollte, tat, was ich wollte, sagte, was ich fühlte, und gab so viel Geld aus, wie es mir gefiel. Ich kannte keinen morgendlichen Zwang zum Aufstehen, kein Pendeln in Verkehrsstaus oder überfüllten Zügen, keinen Stress mit einem übereifrigen Chef im Rücken und schon gar keine sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz. Mein Leben war nicht geordnet, nicht langweilig, und es machte mir Spaß.
Fünf Jahre hatte es gedauert, bis ich mein Geschäft aufgebaut und mir solch ein glückliches, unbeschwertes Leben eingerichtet hatte. Bridget, meine Frau, hatte gerade eine vierjährige akademische Ausbildung zur psychiatrischen Pflegekraft hinter sich und nun einen Job, der ihr gefiel, und alles sah danach aus, dass wir im kommenden Jahr 12 000 Pfund monatlich mehr an Einkommen haben würden. Ich war 32, Bridge 29, und zum ersten Mal hatten wir keine finanziellen Sorgen.
Und trotzdem, allmählich überkam mich eine schmerzhafte Sehnsucht nach etwas mehr Abenteuer.
Ich ignorierte den Schmerz, behielt ihn für mich und schickte mich darein, noch mehr Cartoons zu zeichnen. Jeden Morgen filterte ich eine Kanne Kaffee, drehte die Stereoanlage auf und zeichnete – bis etwa drei Uhr nachmittags, jeden Tag, dann wanderten meine Gedanken in alle Ecken der Welt, auf der Suche nach einem Abenteuer. Schon bald streifte ich bereits mittags durch Welt, dann um elf Uhr, bis ich schließlich, einige Monate später, schon mit den Krokodilen am Nil kämpfte, kaum dass ich mich an den Zeichentisch gesetzt hatte. Die Begeisterung für meine Arbeit und mein Geschäft ging irgendwo in den Weiten Afrikas verloren.
Im Mai 1998, nach vier Monaten Kampf mit meinen Träumen, beschloss ich, Bridge davon zu erzählen. Ich sah ihr zu, wie sie Chips aus einem fettigen Papier wickelte. Sie berichtete mir gerade von ihrem Arbeitstag, von Spritzen, die sie in Hintern gerammt, und von dem Alarmknopf, den sie gedrückt hatte, weil jemand sich für ein Erdferkel hielt und mit der Nase den Teppich umgraben wollte. Ich hörte gar nicht richtig hin, sah ihr nur zu, wie sie mit der Essigflasche gestikulierte. Dann vernahm ich ihren Seufzer: »Mich kotzt das alles an«, und richtete mich mit klopfendem Herzen auf. »Wirklich?«, fragte ich. »Du weißt, wir können das ändern.« Bridge sah mich an auf eine Art, die ich erst seit ihrer Ausbildung zu Psychiatrieschwester an ihr kannte. Ich wagte den entscheidenden Schritt und erzählte ihr von meinem mich überwältigenden Abenteuerdrang.
Als ich geendet hatte und in meinen Sessel zurückgefallen war, sagte sie: »Wenn man über etwas zu lange nachdenkt, redet man es sich aus und tut es nie. Wir sind nur einmal auf der Welt, also lass es uns tun! Gibst du mir bitte das Salz?« Das war sie, die Entscheidung, die unser Leben so dramatisch verändern sollte.
Am folgenden Abend kam Bridget mit Tragetüten voller Reiseführer nach Hause, und die nächsten Tage verbrachten wir mit dem Studium von Atlanten und dem Blättern in zahllosen Büchern. Ein ganzes Abenteurerleben fand sich auf diesen Seiten, aber wir hatten keine Vorstellung, wohin wir wollten – ich wusste nur, dass ich nicht an den Nil wollte, denn in meinen Tagträumen hatte mir dort ein Krokodil ziemlich brutal den Fuß angeknabbert.
Im Juli 1998 erhielt ich eines Nachts einen Anruf meines Bruders. Als Offizier bei den Royal Marines hatte er in Bosnien, Somalia und Nordirland einiges erlebt, und so erzählte ich ihm von meinem Bedürfnis nach Abenteuer. Er hörte mir schweigend zu und sagte dann: »Nächste Woche habe ich Urlaub, und zufällig findet das große Stiertreiben in Pamplona statt – was hältst du davon?« Ich stimmte sofort zu, und erst als ich den Hörer aufgelegt hatte, kam mir zu Bewusstsein, dass er um Klassen durchtrainierter war als ich.
Am darauf folgenden Samstag saß ich schon in der Bar auf dem Oberdeck der Sechs-Uhr-Abendfähre nach Spanien, zusammen mit einem braun gebrannten, fitten und aufgeregten Julian. Ich dagegen war blass, alles andere als fit und hustete von der Zigarette, die ich mir nervös angesteckt hatte, als ich mir vorstellte, wie ich von zehn riesigen, gehörnten Stieren niedergetrampelt wurde.
Mein Bruder hatte fast täglich irgendwelche Abenteuer zu bestehen, meistens handelte es sich um die Flucht vor eifersüchtigen Geliebten. Als er mir von seinem Bungeesprung in Afrika erzählte, schnitt ich ihm das Wort ab und fragte: »Bei dem Stiertreiben, gibt es da auch Tote?« Er sah mich an und lachte: »Hast du Schiss?« »Von wegen«, schnauzte ich betont männlich zurück. »Ich will nur wissen, auf was ich mich da einlasse.« Julian wusste, wie ängstlich ich war, und genoss es, mir in aller Ausführlichkeit zu zitieren, was er über die Stierhatz gelesen hatte, inklusive der durchschnittlichen Zahl der Todesopfer, die jedes Jahr zu beklagen ist.
Das Fest in Pamplona war mit nichts zu vergleichen, was ich bisher erlebt hatte. Die Luft war von Musik erfüllt, und überall wimmelte es von Menschen, von Kopf bis Fuß in Rot und Weiß gekleidet, die Schulter an Schulter sangen, tanzten und tranken. Wir schlossen uns ihnen gern an und feierten mit bis um drei Uhr früh. Nach einem kurzen Schlaf auf der Plaza weckte mich Julian um halb sechs mit einem spanischen Bier. In den Bars war immer noch was los, die Leute sangen noch, und Feuerschlucker erleuchteten den Platz. Julian sprang auf und führte uns zum alten Rathaus, wo das Treiben startete.
Wir kletterten über die zwei Meter hohen Barrieren und mischten uns unter die Massen betrunkener Männer auf dem überfüllten Platz. Ein Kerl hinter uns, der gestern mitgerannt war, hielt mit seinen Erfahrungen nicht hinter dem Berg, was einige Leute dazu veranlasste, sich mit Bemerkungen wie »Das ist mir mein Leben nicht wert!« oder: »Ich sollte besser Golf spielen!« aus dem Staub zu machen. Nach einer Stunde wies ein krächzender Lautsprecher uns an, nicht unbesonnen loszurennen, uns nicht in Hauseingängen zu verstecken und nicht anzuhalten, um verletzten Läufern zu helfen. Gesang und Gelächter verstummten, als wir an den Start gingen. Vor uns lag eine lange, extrem schmale Straße, begrenzt von zwei Meter hohen, schweren Holzbarrieren. Um uns drängten sich Scharen von Zuschauern, sie hingen an Straßenschildern und Regenrinnen, jubelten uns von Balkonen aus zu und winkten aufgeregt aus den Fenstern.
Am Himmel hinter uns ging eine Rakete los, das Zeichen, dass die ersten vier Stiere draußen waren und heranstürmten. Die Leute rannten los, aber mein Bruder rief mir zu: »Warte, bis wir die Stiere sehen!« Und so standen wir nebeneinander mitten in der Straße, als hunderte von Menschen um uns herumrannten und nach vorn drängten. Ich wollte eigentlich nur mit den anderen mitrennen, so schnell ich konnte – warum musste ich ausgerechnet mit einem Helden hier sein?
Chaos brach aus, als die Stiere 15 Meter von uns entfernt um die Ecke stürmten und dabei die Läufer aus dem Weg räumten. Zuerst brachen vier Stiere durch die Menge, die Leute wurden buchstäblich in die Luft geschleudert. Julian drehte sich um und rief jede denkbare, irgendwie mit Stiertreiben in Verbindung zu bringende Obszönität. Die Massen gerieten in Verzückung, als die Stiere die Läufer hinter uns niedermähten. »Toro! Toro! « Die Rufe erfüllten die Luft, während ich auf dem Absatz kehrtmachte und floh. Der Erdboden erzitterte unter der gewaltigen Last der Stiere.
Bevor es mir bewusst wurde, waren die ersten Stiere schon über mir. Dem Ersten wich ich aus, als er vorwärts stob und dabei einen Haufen Leute überrannte. Der Zweite stolperte über die zu Boden gegangenen Läufer und stürzte direkt auf sie drauf. Ich suchte nach einem Fluchtweg, denn der Stier rappelte sich wieder auf, wechselte die Richtung und raste direkt auf mich zu. Ich sah nur noch seine langen, spitzen Hörner. Meine Beine waren wie Blei, als ich durch die Rennenden stürmte, im verzweifelten Versuch, dem Stier zu entkommen. Ich rannte einfach weiter, sprang oder kletterte über Berge gefallener Läufer, bevor mich die übrigen Stiere einholten.
Momente später kam die Arena in Sicht. An den alten Toren verengte sich der Weg, und die Läufer stürzten haufenweise zu Boden. Mir gelang es, dem Durcheinander zu entkommen, und mit den letzten Stieren, die um die Ecke und durch die Tore stürmten und dabei, ohne aus dem Tritt zu geraten, die gestürzten Läufer platt machten, erreichte ich die Arena. Die Menge tobte, als die Läufer in der kreisrunden Arena erschienen, gefolgt von den Stieren. Ich hatte es geschafft! Ringsum fielen die Läufer sich in die Arme und tanzten. Das Gefühl war unbeschreiblich.
Ich sah mich nach meinem Bruder um und erinnerte mich, dass ich ihn zuletzt erblickt hatte, als er vor mir zusammen mit vielen anderen am Boden lag und einen armen Spanier als Deckung über sich zerrte. Ich ging die Strecke zurück bis zur nächsten Bar. Überall auf der Straße lagen Menschen, bewusstlos, hinkend, manche bluteten aus ihren geschundenen Körpern und wurden von Sanitätern versorgt. Ich drängte mich durch die Massen und bestellte wild gestikulierend das größte Bier. 20 Minuten später betrat Julian die Bar; er blutete am Ellbogen, war aber genauso high wie ich. Es war halb neun Uhr morgens, doch die Nacht war noch jung, und wir hatten einiges zu feiern. Das war das Leben!
Drei Tage später – inzwischen war es Juni – saß ich schon wieder an meinem Zeichentisch. Erstaunlich war, wie schnell ich zurück in meine Routine fiel, und das beunruhigte mich. Die Stierhatz war aufregend, aber kurzlebig, und ich sehnte mich noch immer nach einem Abenteuer. Bridget und ich unterhielten uns oft bis spät in die Nacht darüber, was wir vom Leben erwarteten. Mit den Worten von David Thoreau wollten wir »bewusst leben«. Wir wussten auch, dass wir nicht unser ganzes Leben arbeiten wollten oder unsere Kinder, sofern wir welche hätten, in der Vorstellung aufwachsen lassen, Geld sei alles im Leben. Wir wollten alles tun, um glücklich zu sein – und auf diesen Gedanken stießen wir mit unserer letzten Flasche Apfelwein der Marke Somerset Scrumpy an.
Schließlich entschieden wir uns für den Norden Kanadas als Ziel. Es ist eine Wildnis, so ursprünglich, wie es nur noch wenige auf der Erde gibt, voller Abenteuer und Herausforderungen, die wir uns über alle Maßen wünschten, und mit der Freiheit, »bewusst zu leben«. Unser großer, das Leben verändernder Plan war, am Ende des Sommers auszuwandern, mitten im Nirgendwo ein Stück Land zu kaufen, ein Blockhaus zu bauen und so natürlich und frei wie nur eben möglich zu leben. Das war alles. Ehrlich und einfach, genau so, wie wir es mögen.
Im August 1998 stellte ich ein Räumungsverkaufsschild in den Laden, und das sprach sich schnell herum. Manche Leute waren froh, dass wir gingen, andere weniger. Alle meinten, wir wären mutig, eine solch große Sache durchzuziehen, und dass eine Menge Vorbereitung und Planung dafür nötig sei. Aber wir fühlten uns nicht mutig und hielten auch nichts von Planung. Wenn wir auswandern wollten, mussten wir es auf unsere Weise tun oder überhaupt nicht.
Im November 1998 gab ich den Versuch auf, meine Arbeit zu einem Ende zu bringen, und buchte, so schnell ich konnte, ein Ticket irgendwohin im Norden der USA. Wir hatten beschlossen, dass Bridget mir im kommenden März folgen sollte, wenn ihr Vertrag abgelaufen wäre. Ich hatte gerade den Hörer aufgelegt, als ein Kunde den Laden betrat und mich mit dem Druck und der Gestaltung von 2000 Broschüren beauftragen wollte. »Ich würde es ja gern machen«, sagte ich zu ihm, »aber übermorgen wandere ich in die kanadische Wildnis aus und habe noch immer nicht gepackt.«
Am nächsten Tag warf ich einen Schlafsack, ein paar Jeans, zwei saubere Hemden, eine Wochenausstattung an Unterwäsche, meine Zahnbürste und etwas Geld in einen Rucksack. Dann verbrachte ich den letzten Abend mit Bridget im Pub, um dem Dorf Lebewohl zu sagen, und am nächsten Tag befand ich mich schon hoch über der kanadischen Prärie in einem Flugzeug nach Edmonton. Der Song Leaving on a Jetplane dröhnte in meinem Kopf.
Es war Dezember 1998, und ich hatte in Edmonton bei Bridgets Schwester Pam und ihrem Mann Glenn Unterschlupf gefunden, einem echten kanadischen Hinterwäldler, der mich mit offenen Armen in seinem Haus aufnahm. Die nächsten paar Monate sollte ich bei ihnen wohnen und Vorbereitungen für unser großes Abenteuer treffen. Bridget und ich wollten in die Wildnis im Norden Kanadas, uns mit den strengen Wintern, Mutter Natur und Grizzlybären messen, aber zuerst mussten wir eine geeignete Gegend finden, und wir brauchten eine Ausrüstung. In »Edmontons Welt der Landkarten« kaufte ich detaillierte Karten, studierte sie wochenlang und arbeitete an der Entscheidung, ob wir per Hundeschlitten durch die Northwest Territories fahren, einen Kanutrip entlang der Westküste von British Columbia oder einen Marsch durch den Busch im Yukonterritorium unternehmen sollten.
Wenn ich Leuten von unserem Plan erzählte, in die Wildnis zu gehen, lachten sie nur, und ohne Bridgets Unterstützung verlor ich langsam das Vertrauen. Solange Bridget und ich zusammen sind, können wir es mit der Welt aufnehmen, doch jetzt war ich allein. »Wovon willst du leben?«, jammerten die Leute. »Da oben im Norden gibt’s keine Arbeit. Was ist, wenn du krank wirst? Die Leute sterben dort meist!« »Du kennst unsre Winter nicht!« »Die Lebensumstände fressen dich auf dort in den Wäldern!« »Du weißt, dass es da nicht mal Klopapier gibt?« »Für so was bist du zu alt.« Aber tief in meinem Innern meldete sich eine hartnäckige Stimme und verlieh mir eine Kraft, die dir kein anderer geben kann, eine Kraft, die gegen die Logik ankommt. Ich empörte mich von Herzen und brüllte: »Schwachsinn!« Von nun an beschloss ich, unser Vorhaben für mich zu behalten, zumindest so lange, bis ich in Bridge wieder eine Verbündete hatte.
Bridget und ich sind ganz gewöhnliche Menschen ohne irgendeinen Reise-, Abenteuer- oder Survival-Hintergrund. Wir haben die meiste Zeit unseres Lebens an der Armutsgrenze gelebt, daher schrecken uns weder Not noch Entbehrungen. Die reichen Kanadier konnten das nicht verstehen. Wir wussten absolut nichts über die Wildnis, aber irgendwie war das unsere größte Stärke, weil wir sie so weder unterschätzten, noch uns von den Ängsten anderer beeindrucken ließen. Wahrscheinlich würden wir tagtäglich Fehlschläge erleben oder vielleicht sogar aufgeben müssen, aber es gar nicht erst versucht zu haben wäre wahrhaftig ein Scheitern gewesen.
Im Januar 1999 hatte ich eine Camping-Grundausstattung zusammengetragen, die schon den Boden der Garage bedeckte; was wir jedoch wirklich brauchten, war ein solides, wasserdichtes Zelt. Bei Tent World sah ich ein zweckmäßiges, warmes und wasserdichtes Pionierzelt, hatte aber keine Ahnung, wie ich den horrenden Betrag aufbringen sollte, der dafür zu bezahlen war. Stattdessen ging ich in ein Segeltuchgeschäft und kaufte 20 Meter vom Zehn-Unzen-Segeltuch und eine Nadel, die aussah wie der Speer, mit dem man im südamerikanischen Regenwald die Büffel absticht.
Im Kopf hatte ich ein grobes Bild von einem Zelt und machte mich nun daran, den Ballen Segeltuch in die gewünschte Form zu bringen. Sehr schnell dämmerte mir, warum Zelte so teuer waren. Beim Versuch, die Teile von Hand zusammenzunähen, ließ sich mein Speer wesentlich leichter durch meine Handfläche als durch den Stoff stechen, und schon bald war das Zelt genug mit meinem Blut getränkt, um sämtliche Bären der Northwest Territories anzulocken. Ich hätte genauso gut ein Schild daran befestigen können: »Hier bestes Bärenfutter – Spezialität knickrige Einwanderer!« Aber ich hielt durch und hatte schließlich ein zeltförmiges Stück Segeltuch gefroren auf dem Garagenboden liegen. Zwei Tage stöberte ich durch die Wälder, bis ich genügend gerade Stangen geschlagen hatte, um mein erstes kanadisches Heim zu errichten. Ich zerrte Stangen und Segeltuch auf die vordere Koppel und machte mich daran, mein Meisterwerk aufzustellen. Vier Stunden später grübelte ich noch einmal über die horrende Ausgabe nach.
In den folgenden Wochen – Februar 1999 – stellte ich die restliche Ausrüstung für unser Abenteuer zusammen. Ich kaufte einen Nissan, Baujahr 1983, dem ich den Spitznamen Pricey gab, weil er immer wieder schlapp machte und seine Reparaturen sich als recht kostspielig erwiesen. Dann kaufte ich auch noch ein Kanu, vollendete mein Zelt und beschloss, einen Hund anzuschaffen, der uns in harten Zeiten Gesellschaft leisten, uns gegen wilde Tiere schützen und bei der Erschließung unserer Neuen Welt helfen sollte. Unter den Sibirischen Huskys, Rottweilern, Dänischen Doggen und hunderten von Mischlingen im Tierasyl von Edmonton stach Boris Lovelock heraus. Er sah mich aus seinem Zwinger an, als wollte er sagen: «Komm, Dorian, lass uns einen draufmachen!« Da nahm ich ihn mit nach Hause, wo er sofort alles Erreichbare anpinkelte, und stellte ihn Pam und Glenn vor. »Was, zum Teufel, ist das denn?«, fragte Glenn, vergeblich bemüht, ruhig zu klingen. »Eine Kreuzung aus Basset und Deutschem Schäferhund, er heißt Mr. Boris Lovelock und ist mein Kumpel«, antwortete ich. Endlich waren wir komplett.
Im März 1999 sollte ich nach fünf Monaten Bridget wiedersehen. Auch wenn wir fast täglich telefoniert hatten, war ich nervös und widmete mich intensiver Körperpflege. Es ist schon komisch, wie man verheiratet sein und trotzdem vor einem Date noch Herzklopfen haben kann; ich fühlte mich wieder wie 16. Endlich war der Tag gekommen, an dem ich Bridget vom Flughafen abholen sollte, und ich benutzte Atemfrisch-Mundspray, duftete intensiv nach Brut und hatte zahlreiche blutgetränkte Fetzchen Toilettenpapier am Kinn kleben. Als die Ankunftstüren sich öffneten und der Schwall Passagiere sich in die Empfangshalle ergoss, hielt ich gespannt Ausschau nach Bridget. Nach, wie es schien, sechs Flugzeugladungen von Passagieren kämpfte sie sich unter dem Gewicht eines riesigen Rucksacks durch die Türen. Sie hatte ein Lächeln auf dem Gesicht, das sagte: «Nimm mich mit in die Berge!«
Was für eine Erleichterung, sie endlich zu sehen! Wir zitterten beide vor Aufregung, aber nach der anfänglich unbeholfenen Umarmung fanden wir rasch wieder zu unserer alten Form und schlenderten vertraut Hand in Hand nach Kanada hinein.
Jetzt waren wir zusammen, das Abenteuer rief. Nach einem tränenreichen Abschied von Pam und Glenn warfen wir Pricey an, verstauten Boris hinten drin und brachen auf nach Westen in die Berge. Vor uns, so weit das Auge reichte, eine lange, schnurgerade Straße, fühlten wir uns wie richtige Abenteurer. Wir saßen zwar nicht auf einer Harley, und uns begleitete keine Adlerspur quer durch die Wüste, aber wir fuhren hinaus über die Grenzen unserer zivilisierten Welt. Wir hatten unsere Armbanduhren zurückgelassen, eingetauscht gegen Fahrtenmesser, auf die Rambo stolz gewesen wäre, und in einem zeremoniellen Akt hatte ich Arbeitsanzug und Krawatte verbrannt. Jetzt trug ich alte Jeans, unförmige, robuste Stiefel und ein Hemd, auf dessen Brusttasche in goldenen Lettern Adventure West stand. Erstmals nach langen Jahren hatte ich mich seit drei Tagen nicht rasiert, und alles, was mir noch fehlte, waren Sonnenbräune und anständige Muskeln. Bridget hatte ihre Sonnenbrille aufgesetzt, ihr langes schwarzes Haar trug sie offen, den Arm aus dem Fenster gestreckt, ihre Doc Martens, Größe fünf, auf dem Armaturenbrett. Ihr unförmiges Holzfällerhemd passte nicht zu den Polstern, aber das störte sie nicht. Sie sah glücklich aus, vor allem aber frei.
Ein paar Stunden später konnten wir schon die Rocky Mountains sehen, wo wir eine Nacht campieren wollten. Die weißen Gipfel glitzerten wie ein Haufen grob geschliffener Diamanten auf Satin. Als wir in ihre Dunkelheit hinauffuhren, prasselten aus zusammengeballten Wolken Graupelschauer nieder, und uns überkam ein dumpfes Gefühl von Einsamkeit, während die Scheibenwischer mühsam die Sicht auf die nasse Straße freihielten. Es existierte keine Aussicht mehr, keine Wärme, und unser Raum war auf die Größe von Priceys Führerkabine zusammengeschrumpft.
In keinem der Abenteuerbücher, die ich gelesen habe, ist dieses Gefühl je beschrieben worden. Jeder von uns beiden gab vor, nach einem geeigneten Lagerplatz Ausschau zu halten – in Wirklichkeit dachten wir an das warme, sichere Haus von Bridgets Vater, fünf Stunden Fahrt entfernt auf Vancouver Island. Na großartig! Unsere erste Nacht, und schon erleiden wir Schiffbruch. Schließlich gaben wir beide zu, dass wir uns davor fürchteten, in den Bergen zu campen. Wir waren nun mal keine Helden. Warum auch? Keiner konnte uns sehen, also fassten wir den Beschluss, die Nacht durchzufahren bis zur Insel. Um drei Uhr morgens schlichen wir uns in den Fährhafen von Vancouver. Die Nacht war von Flutlicht erleuchtet, und der Lärm riesiger Dieselmaschinen dröhnte über die Bucht.
Die Geräusche und die Lichter waren uns vertraut, aber wir waren peinlich berührt. Wir hatten zu viel Angst gehabt, um in den Bergen unser Lager aufzuschlagen und deren natürliche Schönheit zu genießen. Stattdessen saßen wir im Truck und warteten fünf Stunden lang im Lärm und Gehetze des Fährhafens, der alles andere als schön und erheblich gefährlicher war als ein Lager in den Bergen. Als wir in unsere Schlafsäcke krochen und die Sitze zurücklehnten, mussten wir über die erste Nacht unseres Abenteuers lachen. Der Autopark vor dem Fährenterminal war nicht gerade die unberührte kanadische Wildnis, von der wir in Polperro geträumt hatten.
Als wir ankamen, herrschte auf der Insel Frühling, ein ziemlicher Kontrast zu der winterlichen Landschaft der Ebene von Alberta. Blütenblätter wiegten sich mit den Bienen im warmen Wind. Süßer Blumenduft erfüllte die Luft, und Singvögel schwirrten auf der Suche nach Insekten für ihre Brut durch das Unterholz.
Solange wir bei Bridgets Vater wohnten, waren wir geborgen, warm und satt – genau die richtigen Umstände, um Abenteuerlust aufkommen zu lassen. Wir nutzten die Gelegenheit, unser Kanu auszuprobieren. »Was ist hier eigentlich vorn?«, fragte Bridget mit verwirrtem Gesichtsausdruck. »Wie zum Teufel soll ich das wissen?«, sagte ich, nachdem ich die beiden spitzen Enden untersucht hatte. Wir fanden es allmählich heraus, indem wir einstiegen und probeweise paddelten, dann die Position wechselten, bis wir ziemlich sicher waren, wo vorn und wo hinten war. Dann paddelten wir, mit beträchtlichem Lampenfieber, hinaus auf das sonnenüberflutete Meer.
Vorher hatten wir noch nie in einem Kanu gesessen. Unser Wissen bezogen wir ausschließlich aus dem Film Beim Sterben ist jeder der Erste. Der Meeresgrund verschwand in beachtlicher Tiefe, als wir endlich begriffen hatten, dass schon die kleinste Bewegung das Kanu gewaltig zum Schaukeln und Schlingern brachte. Nach ein paar Kilometern hatten wir den Bogen raus, und das Gefühl, dem Wasser so nah zu sein, war großartig. Wir beobachteten Adler über uns, dicht neben uns tauchten Seehunde aus dem Wasser auf, und in den Untiefen wälzten sich spielende Otter. Wir glitten die fichtenbestandenen Ufer entlang und hörten nichts anderes als das Lied unserer Paddel und das Plätschern des Wassers. Mit Seetang überwucherte Felsen ragten aus der Tiefe empor und verschwanden wieder, wenn wir darüber hinwegglitten. Es hatte uns erwischt. Kanufahren war großartig!
Am nächsten Morgen versuchten wir mit Hundekuchen, Lob und Flüchen, Boris ins Kanu zu bewegen, bis wir ihn schließlich hochhoben und hineinfallen ließen. Es dauerte nicht lange, und er lag zusammengerollt auf dem Boden und döste.
Mit wachsender Zuversicht und dem Titelsong von Hawaii 5 0 auf den Lippen trauten wir uns ein wenig weiter, als geboten war, umrundeten eine felsige Insel und steuerten direkt in das Fahrwasser einer riesigen Fähre. In Panik schaukelten wir das Kanu zum Ufer, und als uns die Dünung der Fähre erwischte, hörte ich den Bordlautsprecher sagen (da bin ich mir sicher): »Steuerbord sehen Sie zwei dämliche Einwanderer und einen Köter in einem winzigen Kanu viel zu nahe an einer Fähre.«
Im April 1999 erreichte uns die Nachricht, dass sich der geheimnisvolle Norden noch fest in der Hand des Winters befand und viele Straßen unpassierbar waren. Im gemütlichen Heim von Bridgets Vater, wo der Whisky freigebig floss und unsere Träume schürte, beschlossen wir, wie die Einheimischen sagen, inselaufwärts zu gehen, wenigstens so weit, wie das Festland im Norden eisfrei war. Wir beluden Pricey, sagten Lebewohl und machten uns auf nach Norden, folgten Tälern mit eleganten Tannen und Gebirgsbächen, die ihren Weg die felsigen Hänge hinabrauschten. Diesmal gab es kein Zurück. Deswegen hatte ich meinen Anzug verbrannt, deswegen hing ein Fahrtenmesser an meinem Gürtel, das war es, was auf meinem Hemd stand: Adventure West.
Um einen Lagerplatz zu suchen, bogen wir vom Highway ab in das Labyrinth von Holzfällerpfaden, die sich durch die meist unzugänglichen Gegenden von British Columbia wanden. Manche Straßen erwiesen sich als Sackgassen, andere waren unbefahrbar, aber eine führte zu einem wunderbaren See. Ehrfürchtig ließen wir uns nieder an dem beinahe türkisblauen Wasser, das sich vor uns ausbreitete, einem idealen Ort für eine Kanufahrt am frühen Abend und für einen Lagerplatz. Das war’s. Genau so hatten wir uns unsere Wildnis ausgemalt, damals vor vielen Monaten in unseren Lehnstühlen in Polperro.
Wie eine Warnung von oben fiel ein kalter Wind in das Tal ein, peitschte den See auf und trieb schwarze Wolken über den düsteren Himmel. Nur Augenblicke später prasselten Regen und Graupel durch die Bäume auf uns nieder. Boris lief zum Wagen, während Bridget und ich mit dem Zelt kämpften, das sich mehr wie ein Stoffdrachen benahm. Durchnässt und mit tauben Fingern schlüpften wir ins Zelt und drängten uns aneinander, zutiefst erschrocken, wie schnell das Wetter umschlagen konnte. Das Zelt stand, aber keineswegs ordentlich. Ich kam mir vor wie ein Offizier im Film Der Angriff der leichten Brigade, der seine Truppen bewusst in Gefahr bringt. Ich wollte, ich hätte bei Tent World ein anständiges Zelt gekauft und wäre nicht so überheblich gewesen. Wir mussten uns quälen, und das wäre eigentlich nicht nötig gewesen.
Unsere Stimmung war schlecht, es wurde dunkel, und wir brauchten ein Feuer. Also teilten wir uns auf und suchten die feuchten Wälder nach Feuerholz ab. Beim Herumkriechen zwischen den Bäumen wurden wir noch nasser, aber wir hielten durch und fanden genug Zweige für ein schwaches Rauchsignal. Später saßen wir bei unserer lauwarmen Mahlzeit, und ich ließ Bridge an meinen Bedenken teilhaben. »Ich bin arrogant, ein Besserwisser – warum vertraust du auf das, was ich sage?« Bridge sah mich an mit ihren großen Rehaugen, der Regen rann ihr übers Gesicht. »Ich glaube an dich«, sagte sie. Was kannst du dem entgegensetzen? Da saßen wir nun aneinander gedrängt im dunklen Wald, meilenweit entfernt von der Zivilisation, frierend und verängstigt. Alles, wofür wir zehn Jahre gearbeitet hatten, hatten wir aufgegeben. Der Regen prasselte, ein unerbittlicher Wind wehte, wir hatten nichts als eine aufgeweichte Mahlzeit aus Stampfkartoffeln und Käse zu essen, und sogar der Hund hatte uns verlassen. Und dennoch schenkte mir die zierliche Frau, die ich seit elf Jahren kenne und deren wunderbares langes schwarzes Haar ihr gerade wie geschmolzenes Plastik am Kopf klebte, ein strahlendes Lächeln, als wäre ich der Weihnachtsmann.
Später legte sich der Wind im Tal, und ebenso schnell, wie sie verschwunden war, kehrte die Stille zurück. In der Dämmerung machten wir mit Boris einen Spaziergang am Seeufer entlang. Ein Froschkonzert war in vollem Gange, und der Wind trug die Unterhaltung der Eulen über den See. Nun saßen wir viel entspannter am Wasser, sprachen über unsere Vorstellungen und die Realität, Dinge, worüber wir an unseren Lagerfeuern noch oft reden sollten.
Bevor wir es bemerkten, war es tiefe Nacht, und wir konnten keine zehn Meter weit sehen. Boris streifte durch das Gebüsch und pinkelte überallhin. Plötzlich fing er an zu bellen. Wir dachten sofort an Bären, große böse Bären, und an all die Horrorgeschichten und Grauen erregenden Angriffe, wovon wir vor unserer Abreise gelesen hatten. Wir riefen nach Boris, und er kam zurückgerannt, ein wenig zerzaust zwar, aber sonst unversehrt. »Zeit heimzugehen«, sagte ich zu Bridge, bemüht, in keinster Weise beunruhigt zu klingen. Sie stimmte mir zu, und wir gingen durch den Wald hinauf zu unserem Lagerplatz. Boris knurrte irgendetwas hinter uns an und bellte grimmig. Wir beschleunigten unsere Schritte, bis wir regelrecht rannten, durch den Wald hinauf zum Lager; wie zwei verängstigte Kinder, die die Treppe hinaufrennen – keiner will der Letzte sein, falls das Monster da unten sie einholt.
Im Lager setzte sich die Paranoia fest, weil mir klar wurde, wie verletzbar wir waren, meilenweit von allem entfernt, mitten im Bärenland und in einem Zelt schlafend, das mit meinem Blut getränkt war. Wir luden unsere Nahrungsmittel in den Wagen und schlossen die Türen ab, trotzdem verfielen wir in Panik. Auch wenn mein Stoppelbart am Kinn dagegensprach, ich fühlte mich wie der Junge in der Schule, der vor dem Büro des Direktors warten muss, weil er im Klassenzimmer einen Heizofen in Brand gesetzt hat. Reiß dich zusammen, sagte ich mir.
Widerstrebend folgte Bridget Boris und mir beim Markieren unseres Reviers. Für uns Jungs war es leicht, alles anzupinkeln, was sich über dem Erdboden befand, für Bridge weniger. Jedes Mal, wenn ich rief: »Wechsel!«, rannten Boris und ich mit hängender Zunge zur nächsten Position, aber Bridge verhedderte sich in ihrer Spitzenunterwäsche von Marks & Sparks und fiel in den Matsch, was recht amüsant war. Als wir nicht mehr konnten, krochen wir ins Zelt und verbarrikadierten es, so wie sich Cowboys verschanzen vor dem unvermeidlichen Angriff feindlicher Indianer.
Im Inneren des Zelts war es noch schlimmer. Jedes Geräusch verstärkte sich. Ein knackender Zweig klang, als ob ein ganzer Baum umgestoßen würde. Einmal war ich überzeugt, dass ein Bär unmittelbar vor dem Zelt herumschnüffelte, bis ich realisierte, dass die Geräusche, abgesehen von meinem Herzklopfen, in Wirklichkeit Boris Lovelock zuzuschreiben waren, der am Fußende unseres Schlafsacks zufrieden schnarchte. Ich versuchte zu schlafen, aber zwischen »Was war das?« und »Hast du was gehört?« erwies sich das als ziemlich schwierig. Endlich, offensichtlich erschöpft vom Tag, trat Bridge mit Boris in den Wettstreit um die Schnarchmeisterschaft des Westens. Ich sah mir ihr Gesicht an in der schummrigen Zeltbeleuchtung. Ihr Mund stand offen, und sie sabberte ein wenig, aber es war wunderbar zu sehen, wie geborgen sie sich fühlte. Ich hingegen fühlte meine ganze Unzulänglichkeit, wie ich so dalag mit meiner fest schlafenden Familie, die sich voll auf mich verließ. Ich war ängstlich, hielt bei jedem Geräusch den Atem an und betete um Sicherheit und darum, dass es bald Tag würde. Manchmal in der Nacht glitt ich zwar in den Schlaf hinüber, aber dann betrat ich eine Welt voller wütender Riesenbären, die genauso gekleidet waren und aussahen wie die großen Jungs in der Schule, die die Leute tyrannisierten.
Dann hörte ich Engel singen. Das beunruhigte mich. War ich tot? Ich wachte auf und setzte mich aufrecht hin. Zu meiner Erleichterung war es nicht der Gesang von Engeln, sondern der von Vögeln. Die schrecklichen dunklen Schatten an der Zeltwand gingen über in herrliches Tageslicht. Wir hatten die Nacht überstanden. Schnell standen wir auf, wuschen uns und machten Frühstück. Mit dem Aufgehen der Sonne und dem Filtern des Kaffees über dem knisternden Feuer fiel die Anspannung von uns ab, und wir genossen endlich den Auftakt unseres Lagerlebens.
Nach dieser ersten überstandenen Nacht waren wir ein wenig zerzaust und hatten gelernt, dass uns die Bären die meiste Angst machten. Dagegen konnte man nicht viel tun, es sei denn, man campierte in einem riesigen Wohnwagen oder trug ständig eine AK 47 in der Hosentasche. Im Zelt waren wir ungeschützt, und wenn wir weiter durch Vancouver Island nach Norden fuhren, gerieten wir direkt in die größte Schwarzbärenpopulation Nordamerikas. Das wurde offensichtlicher mit jeder Holzfällerstraße, die wir entlangfuhren. Ein Bärenhinterteil verschwand im Busch oder trudelte vor dem Truck her. Überall, wo wir anhielten, stießen wir auf beschädigte Bäume, dazu Haufen von Bärenkot, aus denen beunruhigend viele Knochensplitter ragten.
Am zweiten Nachmittag schlugen wir das Zelt unterhalb eines großen Tannenwalds auf, gleich neben einem wunderbaren See, und fuhren mit unserem Kanu zum Fischen. Wir hatten nicht gerade viel Verpflegung dabei und dachten uns, so eine am offenen Feuer gegrillte Forelle wäre eine willkommene Mahlzeit. Obwohl ich wenig Erfahrung im Fischen hatte, kam ich mir vor wie ein Profi, als ich unsere funkelnagelneue Angel auswarf, mit der Anmut eines Kleinkindes, das seine ersten Schritte macht.
Drei Stunden später waren wir zurück im Lager. Bridge und ich wechselten kein Wort. Offenbar war Fischen in diesem See Ehrfurcht gebietend, das Einzige, was ich eingefangen hatte, war schlechte Laune, und unser nagelneues Gerät lag nun auf dem Grund des Sees. Ich hatte mit verwickelten Leinen gekämpft, die am Boden schleiften, mich dabei in Bein, Finger, Schulter, Nase und Kleidung verhakt, während Bridge mühsam versuchte, das Kanu auf Kurs zu halten und sich die Angelhaken aus den Haaren zu winden.
Die Nacht schob sich über den See, während wir am Feuer saßen und die letzte unserer Campbell’s Hühnersuppen mit Nudeln aufwärmten. Unsere Welt schrumpfte rasch auf den kleinen Lichtkreis zusammen, den die Flammen erhellten. Die Kälte liebkoste unsere Rücken, und das Feuer wärmte uns die Vorderseite, und wieder krochen Unbehagen und Angst durch unsere Adern. Das einzige Geräusch kam von einem großen Fisch, der klatschend auf dem See Fliegen fing und an Moby Dick denken ließ. Wir fühlten uns sehr einsam, als wir uns in die Schlafsäcke zurückzogen. Wieder lag eine lange Nacht mit wenig Schlaf vor uns. Als wir endlich eingedöst waren, nahmen die Bären die Gestalt hässlicher, fetter Riesen an, die sangen: »Hi… Ho… Ham, ich riech Blut vom Englischmann.«
Am nächsten Morgen waren wir noch vor der Sonne auf den Beinen und sehr niedergeschlagen. Bridge strengte sich an, zu verbergen, wie sehr sie alles hasste, und ich wollte mit ein paar blöden Scherzen gute Stimmung vortäuschen. Entmutigend war der Gedanke, dass es so und nicht anders blieb. Dies war die Art zu leben, die wir erwählt hatten, und in absehbarer Zukunft war kein Ende abzusehen.
Wir versuchten nochmals zu fischen, diesmal mit Würmern als Köder. Der See war so still, das leiseste Geräusch des Kanus verursachte ein Echo, das spöttisch um die Berggipfel hüpfte. Wie, zum Teufel, wir die Fische töten sollten, konnte ich mir nicht vorstellen. Wir hatten schon Probleme mit unserem Schuldgefühl, wenn wir die sich ringelnden Würmer an den Haken befestigten.
In dieser Nacht zündeten wir ein Feuer an, obwohl wir nichts zu kochen hatten. Auch Boris’ Stimmung schlug jetzt schnell in Niedergeschlagenheit um. Er hing eine Weile bei uns herum, in der Hoffnung, bald würde sein Futter serviert, doch schließlich trollte er sich für die Nacht in die Büsche. Wir überlegten, ob wir unsere Würmer essen sollten, dann vielleicht unsere Stiefel, dann den Hund; als aber aus dem schwarzen Himmel Graupelschauer niedergingen, gaben wir auf und gingen zu Bett. Da waren wir nun, allein am schönsten Ort, an dem wir uns je aufgehalten hatten, und hassten jede Minute.
Am Morgen erwachten wir von einem fürchterlichen Platzregen, den ein eisiger Wind antrieb. Wir mussten hier weg, und zwar schnell, und wenn es nur war, um irgendjemand anderen zu sehen. Wir rannten hin und her und beluden Pricey, während Boris sich im Führerhaus versteckte. Unsere Klamotten wurden immer schwerer vom Regen. Daran sieht man, wie naiv wir waren. Bei unserer so genannten Planung hatten wir nicht einmal daran gedacht, uns mit Regenkleidung auszustatten.
Weil wir dringend wegwollten, verschwendeten wir keine Mühe auf den Frühstückskaffee, doch ohne eine Mahlzeit am Abend vorher und jetzt am Morgen waren wir geschwächt. Als wir abfahren wollten, sah ich durch den Regenschleier eine Tasche, die wir vergessen hatten. Bridge kämpfte hart gegen die Tränen an, die ihr übers Gesicht rollten, weil wir alles wieder auspacken und mit der vergessenen Tasche neu einpacken mussten. »Ist das noch lustig?«, murmelte sie.
Der Regen verwüstete den Fahrweg. Pricey tuckerte durch dicken Schlamm, durch ausgewaschene Abschnitte und um umgefallene Bäume herum. Wir stellten die Heizung in der Fahrerkabine an, in der Hoffnung, so unsere Kleider zu trocknen. Dabei beschlugen alle Scheiben, sodass man gar nichts mehr sehen konnte. Nach 60 Kilometern trafen wir auf eine Teerstraße, und die Erleichterung war riesig, vor allem, weil wir eine Tankstelle am Straßenrand fanden und ein Café mit richtigen Menschen und einem Speisenangebot. An der Wand prangten Fotos mit Anglern, die Fische präsentierten, die größer waren als sie selbst. Manche Fotos zeigten zwei- oder dreijährige Kinder mit riesigen fetten Fischen, von denen wir einen Monat hätten leben können. Langsam entwickelte ich einen Minderwertigkeitskomplex.
Um die dringend benötigten Vorräte zu beschaffen, machten wir uns auf nach Port McNeil. Das ist eine der bedeutenden Holzfällerstädte auf Vancouver Island und eine kleine Hafenstadt mit 3000 Einwohnern. Boris stieß nach seinem Speck-und-Bohnen-Frühstück im Café giftige Dämpfe aus, daher war es unabdingbar, für ordentliches Hundefutter zu sorgen. Wir fanden einen so genannten Supermarkt und tourten die schmalen Regale entlang. Ein entgegenkommender Kunde bremste uns aus. Er schob ein schreiendes Kind in einem Einkaufswagen voller Coca-Cola und cheerios vor sich her.
Die Musikberieselung in der klimatisierten Luft hinter uns lassend, fuhren wir auf schlammigen Wegen westwärts durch den erschreckenden Saustall, den die Holzfällerfirmen dort angerichtet haben. Auf dem Weg nach Norden erblickten wir die riesigen kahlen Hänge der Abholzungen, die sich über tausende von Morgen auf einem Berg erstreckten, der ansonsten dicht mit Bäumen bewachsen war. Aus der Nähe sah er jedoch aus wie nach einer atomaren Katastrophe, die Landschaft übersät mit verbrannten Baumstümpfen und Gestrüpp aus nutzlosem Baumabfall.
Bei Regen kamen wir in Port Alice an, dem kleinen und gepflegten Städtchen an einer Bucht des Pazifischen Ozeans. Die Straße nach Westen war gesperrt, und unsere Stimmung so tief wie der Nebel, deswegen fragten wir im Büro einer Holzfirma um Rat. »Wollt ihr zelten, Leute?«, erkundigte sich ein ziemlich schräger Typ, dem man an der Nase ansah, dass er sich mit verwegener Lässigkeit und dem Kopf voran in etwas gestürzt hatte, das nicht nachgeben wollte. »Ja, sicher«, antwortete Bridge streng. »Na schön«, fuhr er fort, «das ist das verdammt kälteste Frühjahr seit 20 Jahren. Die Bären kommen grade aus dem Winterschlaf, Futter wächst noch keins, da haben die jetzt einen schönen Heißhunger!«
Die Straße nach Westen blockiert, im Osten schwerer Regen und überall ausgehungerte Bären – da fuhren wir lieber zur Fährstation nach Nanaimo, um ein Schiff zum Festland zu ergattern. Wir hatten gerade erst nasse und ziemlich schlaflose 14 Tage, 7 Stunden und 31 Minuten verbracht, zusammengekauert in einem Zelt, das sich als nicht im Mindesten wasserdicht erwies. Boris, da war ich sicher, plante heimlich, zum Tierasyl abzuhauen, und verfluchte den Tag, an dem ich ihn dort aufgelesen hatte. Bridge lechzte nach einem heißen Bad, drohte mit Meuterei und vermisste verzweifelt so alltägliche Dinge wie einen Tisch oder einen Spiegel. Ich war einfach zu müde, um mich für irgendetwas anderes zu interessieren als einen Styroporbecher, gefüllt mit dringend notwendigem Kaffee.