»Ich möchte hier ein kleines Feuer anzünden. Doch wenn ihr alle Wissen dazu gebt, so mag mit der Zeit ein Feuer daraus geschürt werden, das durch die ganze Welt leuchtet.«
»Etwas können ist gut. Denn dadurch entsprechen wir umso mehr dem Bild Gottes, der alles kann. [...] Es tut Not, dass wir alle lernen und das treu unseren Nachkommen mitteilen.«
Albrecht Dürer
Behutsam trugen vier Fremde, der Kleidung nach Männer aus Böhmen, mit Stangen einen riesigen, allerdings sehr schmalen Holzkasten von der Kirche San Bartolomeo, gleich hinter dem Fondaco dei Tedeschi, zur Anlegestelle. Der Blick der kräftigen Männer fiel kurz auf die Rialtobrücke, bevor sie den aufsehenerregenden Kasten auf das Ruderschiff verluden. Ihre Umsicht verriet selbst dem flüchtigen Beobachter, dass man ihnen eine kostbare Fracht anvertraut hatte.
Auf der Terra ferma erwarteten sie schwerbewaffnete Reiter, die sie auf ihrem Weg nach Prag eskortierten. Von allerhöchster Stelle war den Trägern für den Fall, dass die Fracht unterwegs Schaden nähme, mit drakonischen Strafen gedroht wurden. Deshalb hatten sie das 162 mal 194,5 cm große Altarbild in Teppiche gewickelt und mit Baumwolle gepolstert, schließlich in mehrere Tuchlagen eingeballt und in einen hölzernen Kasten gestellt. Die ungewöhnliche Entscheidung, das Gemälde von Trägern transportieren zu lassen, wurde gefällt, nachdem sich kein Fuhrmann bereitgefunden hatte, dafür zu garantieren, dass es unbeschadet in Prag einträfe. Die Befürchtungen, die der leidenschaftliche Sammler hegte, stützten genügend Gründe. Angesichts der Straßenverhältnisse wäre die Fracht beim Transport mittels Wagen oder Kutsche gehörig durchgerüttelt worden, so dass Farbschichten hätten abplatzen oder sogar sich hässliche Risse bilden können. Den Maler hatten seine Mitbürger schon vor über siebzig Jahren in Nürnberg zu Grabe getragen, so dass ihn keine Bitte mehr erreichen würde, Reparaturen an seinem Werk vorzunehmen.
Während sich die vier Böhmen durch die Alpen quälten, wartete in der Prager Burg ungeduldig Rudolf II., der begeisterte Mäzen und unterschätzte Kaiser, auf das »Rosenkranzbild«, das Albrecht Dürer genau einhundert Jahre zuvor in Venedig im Auftrag der deutschen Kaufmannschaft für die Kirche San Bartolomeo, die von ihnen genutzt wurde, gemalt hatte. Rudolf II. war ein echter Friedenskaiser, und so passte Albrecht Dürers venezianisches Altarbild wohl zu niemandem besser als zu dem kunstsinnigen Habsburger.
Nichts wussten die starken Knechte von dem Nürnberger, der im Jahre 1505 nach Venedig gereist war, zum zweiten Mal übrigens in seinem Leben, um just mit diesem Gemälde in der bedeutenden Metropole Zeugnis abzulegen, dass er nicht nur ein Zeichner und Kupferstecher von Weltrang war, sondern als Maler über nicht geringere Qualitäten verfügte.
Den äußeren Anlass für die Reise des Meisters gab damals der wohl erste Urheberrechtsprozess in der Geschichte, den er gegen den Stecher Marcantonio Raimondi anstrebte, um ihm das Plagiieren Dürer’scher Stiche gerichtlich untersagen zu lassen. Dürers Klagebegehren besaß durchaus Berechtigung. So war der Vorwand zwar einsichtig und willkommen, doch in Wahrheit trieb ihn der brennende Ehrgeiz, den er nur dem Finanzier der Reise, seinem Freund Willibald Pirckheimer verriet, nicht nur als genialer Zeichner, dessen Kupferstiche und Holzschnitte guten Absatz fanden und selbst in Italien als unübertrefflich gerühmt wurden, anerkannt zu sein, sondern darüber hinaus von den in Sachen Kunst und Bildung immer etwas überheblichen Italienern auch als vortrefflicher Maler gerühmt zu werden. Nur drei Städte eigneten sich für die künstlerische Demonstration, mit der er seinen Ruhm für alle Zeiten aufzurichten gedachte: Rom, Florenz oder Venedig. Er wählte die Serenissima, weil die Nürnberger in der Lagunenstadt über genügend politischen Einfluss verfügten und der Prestigeauftrag, der an ihn erging, sich ideal dafür eignete, die eigene Kunstfertigkeit unter Beweis zu stellen.
Das Bild also, das die Männer durch das Friaul, durch Kärnten, die Steiermark bis nach Prag schleppten, steht in mehrfacher Hinsicht geradezu paradigmatisch, im Grunde sogar symbolisch für Albrecht Dürer. Mit ihm begründete er tatsächlich seinen internationalen Ruf als Künstler, der nicht nur exzellent mit Feder, Stift, Griffel und Nadel, sondern auch mit Pinsel und Farbe umzugehen verstand. Ihm widerfuhr die einzigartige Ehre, als Humanist des Bildes gerühmt zu werden, wo doch als Medium der Humanisten allgemein das Wort und der Text und nicht die bildende Kunst zählte. Religiosität trifft sich in Dürers venezianischem Gemälde mit Selbstbewusstsein, denn der Maler, der rechts im Hintergrund in prächtiger Robe mit wallendem rötlichem Lockenhaar und kräftigem Bart vor einem Baum steht, schaut aus dem Bild hinaus auf die Betrachter, als wollte er sagen: »Sieh her, du unbekannter Betrachter. Das bin ich. Und ich bin es, der diese herrliche Szene und dieses großartige Bild geschaffen hat, in einer Art, wie es das nicht ein zweites Mal geben wird.«
Im Porträtieren seiner selbst hatte ihn immer wieder die Vorstellung vergnügt und auch motiviert, dass die Menschen sein Bild Jahrzehnt für Jahrzehnt, Jahrhundert für Jahrhundert betrachten, sich vor seinen Figuren und Farben drängen, leben und sterben würden, doch er – Albrecht Dürer – würde weiterhin dastehen und immer neuen Generationen in die Augen schauen, Äon für Äon, wenn man nur das rechte Firnissen von Zeit zu Zeit nicht vernachlässigte.
Die Szenerie selbst – Maria und der Jesusknabe teilen Rosenkränze aus, die von unermüdlichen Putten herbeigeschafft werden – wirkt heiter, freundlich und versöhnlich. Die Gruppe, die sich versammelt hat, repräsentiert zum einen die Gesellschaft des Heiligen Römischen Reiches, zum anderen meint man, zumindest in Teilen in eine Privatsoiree von Dürers damaliger venezianischer Bekanntschaft geraten zu sein. So verschränken sich – wie auch in der Natur des Künstlers – Ausgeglichenheit, Gottvertrauen, Lebensfreude und tiefe Religiosität, Privates, Persönliches mit Offiziellem und Politischem.
Dennoch trübt sich die Freude rasch ein, denn so sehr man sich es auch wünscht, steht man vor dem Bild, das Kaiser Rudolf II. voller Stolz, nachdem es endlich in Prag angekommen und auf dem Hradschin ausgepackt worden war, betrachtete, in Wahrheit vor einer Ruine, denn die Zeit, vor allem aber die Restaurierungsversuche haben Dürers Rosenkranzbild zerstört. Das rechte Firnissen wurde vergessen, die einzigartige Pracht des Gemäldes ist unwiederbringlich dahin. Der Betrachter steht nur noch vor einem dürftigen Abglanz verlorener Pracht. Und so muss uns das, was sich unserem Auge darbietet, fragwürdig werden.
Aber diese Frage trifft tiefer, greift schließlich die Patina der Geschichte an: Ähnelt das Bild, das wir uns von Albrecht Dürer machen, auf das wir schauen, in seinem Zustand nicht dem Rosenkranzfest? Wird aus einer Distanz von fünfhundert Jahren unser vermeintliches Wissen über den bekanntesten deutschen Maler nicht problematisch? Natürlich geht es nicht ohne Forschung und Recherche, ohne Wissen, aber all dies wäre nichts, wenn nicht etwas hinzukäme, das die deutsche Sprache mit einem langsam in Vergessenheit geratenen Ausdruck »sich ein Herz fassen« nennt. Zum Wissen, zum Forschen und zum Recherchieren müssen das Schauen und das Staunen treten. Doch wie man zur Vorstellung der ursprünglichen Gestalt des Bildes Stück für Stück zurückgelangt, so vermag man sich auch beherzt Dürer, dem Bekannt-Unbekannten, zu nähern.
Der Anblick der »Ruine« überrascht und verblüfft. Es ist niemand anderes als der Meister selbst, der uns anblickt. Unmittelbar. Direkt. Treten wir in das Gemälde hinein? Kommt er uns entgegen, tritt er gar aus dem Gemälde heraus? Begegnen wir einander in einem Zwischenraum, einem Ort absoluter Synchronität? Dürers Blick löst die Zeit auf. Nun liegt es einzig am Betrachter, ob es zur Begegnung kommt, einzig daran, dass er dem Blick standhält. Authentischer geht es nicht: Leibhaftig steht vor uns der Albrecht Dürer des Jahres 1506, man kann sogar den Tag angeben: nämlich den 8. September. Es ist die Stunde des autarken Künstlers, in der er selbstbewusst von den Italienern fordert, zum König der Maler gekrönt zu werden. In einer Haltung gelassener Strenge sagt er in die Runde: Wer einen Einwand dagegen vorzubringen hat, dass mir die Krone gebührt, der soll sich jetzt äußern, es mir ins Angesicht sagen oder für immer schweigen.
Dürer, der 34-jährige Künstler, fordert nicht nur heraus, er fordert auch Respekt. Das ist schon viel, aber er will mehr, er verlangt, mit dem Betrachter in Konversation zu treten. Sicher, die Nachwelt hat das berühmte und großartige Gemälde so gründlich verschandelt, dass die Kommunikation gestört ist. Doch Dürers Kunst erweist sich als stärker, und wohl auch die Kraft seiner Persönlichkeit, aus der diese einzigartige Kunst erwuchs. Dieser Persönlichkeit, ihren Lebenswegen nachzuspüren, sie – analog zum Bild – zu rekonstruieren, das soll auf den folgenden Seiten geschehen.
Eintausendvierhundertvierundachtzig Jahre waren seit der Geburt Christi vergangen, wie die offiziellen und die privaten Chroniken vermerkten. Albrecht Dürer zählte dreizehn Jahre und erlernte in der Werkstatt des Vaters das Goldschmiedehandwerk. In Nürnberg wie auch in den deutschen Landen gärte es. Wachsende Unsicherheit bei der Mehrheit der Christen, aber auch Hoffnung auf etwas Neues bei den Gebildeten unter ihnen griffen um sich. Der große Paradigmenwechsel, der nach und nach alle Bereiche des Lebens in seinen Sog zog und die Epoche hervorbringen sollte, die bis heute reicht, setzte mit aller Macht und allem Ungestüm ein.
Und wie immer ging Unerfreuliches in der Welt vor sich. In Rom wurde der ganz und gar nicht unschuldige Giovanni Battista Cibo durch kräftige Bestechung zum Papst gewählt und nannte sich in einem bei ihm weder vorher noch nachher beobachteten Anflug von Humor Innozenz VIII. Neben der selbst in der Ära des Nepotismus als dreist empfundenen exzessiven Förderung seiner Verwandten liebte er nichts mehr als das Geld und die Jagd, nicht aber auf Wildschweine wie später Leo X., sondern auf Hexen. Was ihm an Intelligenz fehlte, glich er mit Gerissenheit aus, von der er einen unerschöpflichen Vorrat zu besitzen schien. Unter seiner tatkräftigen Förderung entstand der Hexenhammer des Inquisitors Heinrich Institoris, eines Soziopathen in Dominikanerkutte, der sich rühmte, zweihundert Frauen ermordet zu haben, die er trickreich zuvor zu Hexen erklärt hatte. Damit schlug Europa nach einem überschaubaren Prolog das Hauptkapitel der großen Hexenverfolgung auf, die die folgenden zweihundert Jahre den Kontinent wie eine nicht enden wollende Epidemie verheerte. In einer Zeit wachsender Frömmigkeit erwies sich die offizielle Kirche, die Kurie, immer weniger willens und in der Lage, ihrer Aufgabe nachzukommen. Päpste wie Innozenz VIII. und Alexander VI. (Borgia) waren nicht die Männer, die dem wachsenden Frömmigkeitsbedürfnis der Christen beispielhaft vorangingen, im Gegenteil. Als durchtriebene Juristen hatten sie ausschließlich ihren Vorteil im Auge.1
Trotz Türkengefahr leisteten sich Kaiser Friedrich III. und der ungarische König Matthias Corvinus einen veritablen Krieg, der in diesem Jahr in die Schlacht bei Leitzersdorf mündete, die der Kaiser, der zur Passivität neigte, jämmerlich verlor, so dass die Ungarn vor der Einnahme Wiens standen.
Das alles nahm man in der Reichsstadt Nürnberg sehr wohl zur Kenntnis und es erreichte auch den Goldschmiedelehrling Albrecht, der allem, was in der Welt vorging, waches Interesse entgegenbrachte. Hexenhysterie und Hexenjagd allerdings unterband der kluge Rat allein schon, um den Bürgerfrieden zu bewahren. Fanatiker wie Institoris waren in der Bürgerstadt nicht gelitten, obwohl die Nürnberger wie die meisten Menschen dieser Zeit – und mit ihnen auch Albrecht – nicht an der Existenz und an den Umtrieben der Hexen, an ihrem Schadenzauber und der Buhlschaft mit dem Teufel zweifelten. Sehr konkret sahen sie sich einer Fülle von Gefahren, Misshelligkeiten und gesellschaftlichen wie auch privaten Katastrophen ausgesetzt, die der Teufel mit seinem großem Anhang hervorbrachte, gelegentlich auch die Juden. Auch der junge Albrecht glaubte an die Existenz der Teufel, Hexen, Zauberer, so wie ihm das Wirken Gottes und der Heiligen gewiss war. Der Glaube an Letzteres bedingte die Realität des Ersteren. Ohne Gott kein Teufel, ohne Teufel kein Gott. Für den Christen hieß das, immer aufs Neue Möglichkeiten zu finden, um für sein Seelenheil zu sorgen. Der Mensch befand sich in Hiobs Position.
In der Reichsstadt achtete der Rat jedoch streng auf ein aus seiner Sicht notwendiges Maß in der Verfolgung der Hexen und vermied alle Übertreibungen, obwohl er unnachsichtig und mit rigider Hand die öffentliche Ordnung ohne Ansehen der Person durchsetzte. Er schreckte auch nicht davor zurück, einen der seinen, Patrizier und Ratsmitglied, hinzurichten, als herauskam, dass er Ratsgelder unterschlagen hatte. Die Pointe von Peter Muffels Missetat bestand allerdings darin, dass er das Geld zum Zwecke des Ankaufs von Reliquien entwendet hatte. Alles in allem blieb die Zahl der unglücklichen Opfer, verglichen mit anderen Gebieten und Städten während der Hexenverfolgung, gering.2
Nürnberg hielt seit jeher eine enge Verbindung zum Kaiser, was für Albrecht Dürer wichtig werden sollte, und stand bis zur Reformation stets treu zum Reichsoberhaupt. Im Schutz der Mauern und Bollwerke der Stadt wurden seit 1424 die Reichskleinodien aufbewahrt, die Herrschaftsinsignien des Reiches, beispielsweise die Reichskrone, der Reichsapfel, das Reichsschwert und das Szepter3, das König Sigismund vor den aufständischen Hussiten in Böhmen in Sicherheit wissen wollte. Aus der Unmittelbarkeit zum Kaiser und aus der eigenen großen wirtschaftlichen Macht bezog Nürnberg seinen Stolz und seine städtische Freiheit und die Patrizier ihr unerschütterliches Selbstbewusstsein. Nürnberg war die deutsche Metropole des 15. Jahrhunderts – und das erschloss Dürers Handwerk einen erfreulich großen und soliden Absatzmarkt und sorgte für eine stabile Auftragslage. Wie eine »Spinne im Netz«, so empfanden es schon die Zeitgenossen, saß Nürnberg im Zentrum der großen europäischen Handelswege, die von Nord nach Süd, von Ost nach West die Reichsstadt kreuzten. Sie verband im wahrsten Sinne des Wortes den Orient mit dem Okzident, den Fernen Osten über Venedig mit dem Norden, den Hansestädten, mit Flandern Brabant, England und Skandinavien, Nowgorod mit Avignon. Damit ging vollkommen unaufwendig einher, dass die Stadt nicht nur Waren vermittelte, sondern mit ihnen auch Nachrichten. Der kleine Albrecht sah von Kindesbeinen an exotische Tiere und Pflanzen, fremd gekleidete und anders aussehende Menschen, hörte Geschichten aus der ganzen damals bekannten Welt und wurde hin und wieder eines Bildes, zumeist eines Holzschnittes, ansichtig. Und so verwundert es nicht, dass ausgerechnet in Nürnberg der Plan reifte, eine große Weltchronik als Enzyklopädie, die das Wissen über die Welt in einem großformatigen und mit 1802 Holzschnitten illustrierten Werk versammelte, zu produzieren. Ein Blick in das Buch der Chroniken zeigt das Wissen und die Vorstellungen, mit denen Albrecht in Kindheit und Jugend in Berührung kam.
In des Vaters Goldschmiedewerkstatt verkehrte naturgemäß die Oberschicht der Stadt. Die Dynastien der Nürnberger Kaufleute, die als Patriziat mit harter Hand und kalter Berechnung die Stadt beherrschten, mischten durch teils gewagte Operationen im Nah- und Fernhandel mit. Handelsprivilegien wie beispielsweise Zollfreiheit besaßen sie in fast achtzig Städten und Herrschaften. Kräftig investierten sie sehr zum eigenen Vorteil in die Montanindustrie und produzierten in der Oberpfalz mehr Eisen als irgendwo sonst in Europa hergestellt wurde. In der Stadt selbst blühte das metallverarbeitende Handwerk. Mittels Wassermühlen an der Pegnitz, wie sie Albrecht Dürer auf seinem berühmten Aquarell verewigen sollte, stellten sie beinah schon industriell Eisendraht her, der für allerlei Produkte von Haken und Ösen über Mausefallen bis hin zu Drahtbürsten, Ketten und Saiten en masse Verwendung fand. Gleichzeitig bildete in diesen Jahren, was Albrecht von Kindheit an erlebte, Nürnberg das Zentrum der Rüstungsindustrie im Reich, aber auch europaweit, denn vom Dolch über den Harnisch bis hin zu Neuerungen wie Kanonen, Hakenbüchsen und später Arkebusen rüstete man die großen Heerhaufen aus, die zunehmend das Bild des Schlachtfeldes bestimmten und die Ritter als Militärelite verdrängten.
Doch damit war der Elan der Reichsstädter nicht im mindesten erschöpft. Mit Hilfe des von Nürnbergern entwickelten Saigerverfahrens, bei dem durch Zugabe von Blei Silber aus dem Rohkupfer gelöst wurde, beutete die Reichsstadt das Mansfelder Land aus. Im mitteldeutschen Kupferrevier gaben die Nürnberger Saigergesellschaften den Ton an.4 Aber auch im Erzgebirge und in Böhmen waren die Nürnberger in der Montanindustrie nicht nur engagiert, sondern häufig auch deren Motor.
Spanische und portugiesische Seefahrer, und nicht nur sie, schätzten die Nürnberger Kompasse. In Nürnberg, dem politischen und kaisertreuen Zentrum, fanden Reichstage statt und nahm die erste Reichsregierung – das Reichsregiment – Anfang des 16. Jahrhunderts Quartier. Letzteres sollte aber auch Verdruss mit sich bringen. Im 15. und im beginnenden 16. Jahrhundert führte Nürnberg auch als Buchdrucker-Stadt, als Verlagsort und in der Papierherstellung. Diese Besonderheit prägte und förderte die Entwicklung Albrechts. Nürnberg besaß eine reiche Bürgerschaft und verfügte über weitgespannte und stabile Handelsverbindungen, gleichzeitig beherbergte es als Ort reichspolitischer Veranstaltungen die Großen des Reiches. So war die Stadt – nicht zuletzt mit Blick auf die Familie Dürer gesagt – auch ein Zentrum der Goldschmiedekunst und wetteiferte hierin mit dem burgundischen Hof Philipps des Guten, dem vornehmsten Mitte des 15. Jahrhunderts in Europa.
Zu den Patriziern, den ratstauglichen Geschlechtern wie den Tuchers, den Rummels, den Pirckheimers, den Muffels, den Stromers und den Löffelholz, um nur einige zu nennen, gehörten die Dürers nicht, dennoch wohnten sie im besten Viertel der Stadt mit ihnen in enger Nachbarschaft. Sie mochten zu den ärmeren Bewohnern eines allerdings reichen Viertels zählen. So subjektiv ist die Wahrnehmung, dass Albrecht Dürer von Kindesbeinen an seine Familie und sich für arm hielt, arm allerdings nur im Vergleich. Die Dürers hungerten nicht, sie lebten nicht in einem Verschlag oder in einem zwielichtigen Viertel, sie kleideten sich anständig, sogar gut, mit Anklängen an Luxus, aber natürlich konnte sich der Goldschmiedesohn nicht mit den Patriziersprösslingen Willibald Pirckheimer oder Christoph II. Scheurl gleichsetzen. Verglichen mit den Knaben, mit denen er auf der Straße spielte, stammte er tatsächlich aus dem ärmsten Haushalt. Diese Erfahrung aus Kindertagen dringt noch durch in dem Satz, den er später aus Venedig dem Freund Willibald Pirckheimer schrieb: »Hy pin jch ein her, doheim ein Schmarotzer etc.« (Hier – in Venedig – bin ich ein Herr, zu Hause ein Schmarotzer).5 Nein, Patrizier waren die Dürers nicht, aber des Vaters Profession stand an der Spitze der Handwerksberufe, eine Art Edelhandwerker, schließlich arbeitete er tagtäglich mit den kostbarsten Werkstoffen. Zu seinen Kunden zählten sogar Kaiser Friedrich III., weltliche und geistliche Fürsten.
Zunächst wohnten die Dürers in einem kleinen Domizil, das über die Hinterfront mit dem Pirckheimer’schen Anwesen an der Westseite des Herrenmarktes (heute Hauptmarkt) in der heutigen Winklergasse verbunden war und auch selbiger Familie gehörte.6 Dort kam Albrecht am 21. Mai 1471 im aufsteigenden Haus des Löwen, in dem Merkur sich zeigte, wie auch Venus im Haus des Merkurs sich zu jener Stunde aufhielt7, zur Welt – so beschreibt es jedenfalls Albrechts Jahre später von hoher Seite erstelltes Horoskop. Drei Schlüsselbegriffe fallen sofort ins Auge: Löwe, Merkur und Venus, Mut, Geschäftstüchtigkeit und Erfolg bei den Frauen.
Der Streit, in welcher Beziehung die jeweilige Stellung der Gestirne zum Leben der Menschen stand, tobte in Gelehrtenkreisen, wobei die weitaus meisten unter ihnen die Himmelskörper für ausschlaggebend hielten. Diese Vorstellung resultierte aus dem neuplatonischen Konzept der Welteinheit.
Später im Jahr sollten portugiesische Seefahrer den Äquator passieren, jene Grenze, die mit vielen Ängsten verbunden war, die Osmanen nach Zentralbosnien vordringen und der einflussreiche Mystiker Thomas a Kempis, dessen Schrift De imitatione Christi so tiefen Einfluss auf die Frömmigkeit und das Leben der Christen, besonders nördlich der Alpen, nehmen würde, im Kloster Agnetenberg bei Zwolle sterben. Nicht zu vergessen, dass man zum Ende des Jahres sogar einen Kometen beobachten konnte. Und da die Geschehnisse am Himmel eine Verbindung zu den Vorkommnissen auf der Erde besaßen, galt der Komet als beunruhigendes Vorzeichen großer Änderungen.
Mit dem Geburtshaus dürften sich, wenn überhaupt, für Albrecht nur wenige und dann eher schemenhafte Erinnerungen verbunden haben, denn bereits vier Jahre später, 1475, konnte der Vater, Albrecht Dürer der Ältere, es sich leisten, das Eckhaus in der Burgstraße »under der vesten«, also der Burg, für 200 Gulden für sich und seine Erben »zu niessen furbasser ewiglich«8, zum Nießbrauch, also in diesem Fall in Erbpacht, zu erwerben und aus dem Hinterhaus der Pirckheimers in das zwar schmale, aber prominent gelegene Haus im besten Viertel Nürnbergs, dem Sebald-Viertel, zu ziehen. Der Kauf wurde am »Freitag zu Sankt Pangratz nach Christi Geburt 1475«9 vor dem Rat beeidet. Durch Zufall hatte Albrecht der Ältere das Haus in der begehrten Lage jedenfalls nicht gefunden, sondern der Kauf wurde durch Albrechts Paten, Anthoni Koberger, vermittelt, der den befreundeten Goldschmied in seiner Nähe zu wissen wünschte. Denn es war Kobergers Onkel, Conrad Lindner, der Albrecht Dürer dem Älteren die Erbpacht des Hauses verkauft hatte. So spielte bei der Vermittlung Albrechts Gevatter eine wichtige Rolle.
Im Haus befand sich die Goldschmiedewerkstatt, in der Albrecht von seinem Vater auch Unterweisung im Zeichnen erhielt. Sicher konnte es nicht schaden, wenn ein Goldschmied, der nicht nur Gravuren herstellte, sondern auch Skizzen für Gegenstände anzufertigen hatte, wie beispielsweise Pokale, Tafelaufsätze und Trinkgeschirre, wenn man so will, Kleinarchitektur entwarf und herstellte, im Zeichnen geübt und bewandert war.
Legt man allerdings das etwa zur gleichen Zeit entstandene Selbstbildnis des Vaters neben das des 13-jährigen Sohnes, so springen die Umstände ihrer Entstehung sofort ins Auge und gewähren einen Einblick in das Verhältnis des Meisters zu seinem Sohn und Lehrling. Es erregt Aufmerksamkeit, dass der Vater den Sohn in der hohen Kunst, ein Selbstbildnis als Silberstiftzeichnung anzufertigen, unterwies. Da aber ein so komplexes Sujet nicht zu Beginn des Unterrichts im Zeichnen stehen kann, stellte diese Arbeit den Höhepunkt eines längeren Prozesses dar, der nicht erst mit dem Eintritt des Sohnes als Lehrling in die Werkstatt des Vaters seinen Anfang nahm. Zudem begann der Silberstift in Süddeutschland gerade erst gebräuchlich zu werden. In den künstlerisch tonangebenden Niederlanden mochte zwar kein Maler den Silberstift missen, und dort hielt sich die Überzeugung, dass Lukas die heilige Jungfrau Maria selbstverständlich mit dem Silberstift porträtierte, doch in Süddeutschland bevorzugte man noch Feder und Kohle. Und die Lehrlinge ließ man ohnehin sehr lange auf Wachstäfelchen üben. Der Silberstift ermöglichte Präzision und Feinheit und war deshalb eher demjenigen vorbehalten, der schon eine beachtliche Fertigkeit im Zeichnen erworben hatte. Weil er Korrekturen nicht zuließ, erlaubte er keine Fehler. Seinem 13-jährigen Sohn traute Meister Albrecht – wie man sieht zu Recht – die Arbeit mit dem wertvollen und feinen Werkzeug zu.
Der neunzehn Jahre ältere Leonardo da Vinci, dessen künstlerische Haltung, dessen Unbedingtheit, dessen Forscherdrang und dessen universale Interessen gut mit Albrechts vergleichbar sind, notierte in seinen in Spiegelschrift gehaltenen Aufzeichnungen zum Thema, wie der junge Künstler bei seinen Studien vorgehen soll: »Der Geist des Malers muss ununterbrochen so vielen Gedankengängen nachgehen, wie die Formen des sichtbaren Lebens sind, die vor seinen Augen erscheinen, und diese muss er festhalten und sie sich aufzeichnen und Regeln aus ihnen gewinnen, wobei er den Ort und die Umstände, Licht und Schatten zu berücksüchtigen hat.«10 Da Vinci sah im Maler die geglückte Verbindung zwischen Forscher und Handwerker, das Universalgenie, das sich mit allem zu befassen und dabei unablässig seine taktilen und sensorischen Fertigkeiten auszubilden hatte. Cennino Cennini beschränkte sich in seinem zu Beginn des 15. Jahrhunderts verfassten Lehrbuch über das Zeichnen mit dem Silberstift noch auf die rein handwerkliche Seite: »Dann beginne nach dem Vorbilde leichte Sachen zu entwerfen, so viel du vermagst, um deine Hand zu üben, und mit so leicht die Tafel berührendem Stift, dass kaum sichtbar ist, was du zu zeichnen beginnst.«11 Die unablässige Übung der Hand sollte dazu führen, dass sie kein Hindernis zwischen Auge und Papier oder Pergament mehr darstellte, sondern so gefügig war, als projiziere sich das Gesehene vom Auge direkt auf die Zeichnung.
Nicht anders ging Albrecht der Ältere in der Anleitung seines Sohnes vor. Bedenkt man, dass Papier teuer war, man also sparsam mit dem Material umzugehen hatte, wird deutlich, wie viel Geduld und Zeit die Übungen im Zeichnen verlangten. Nicht sofort zeichnete man auf Papier, sondern die Bewegungen der Hand wurden in einer Art »Trockenübung« ohne Spuren zu hinterlassen betrieben, dann erst kam es zu zarten und später erst zu erkennbaren Linien und Schraffuren. Im Mittelpunkt stand zu Beginn das Kopieren von Vorlagen, von Bildern anderer Maler, das »Abmachen«, wie Albrecht es nannte und selbst favorisierte, hierin im Gegensatz zu dem großen Kunsttheoretiker Leon Battista Alberti, der das Abzeichnen ablehnte, aber in vollkommener Übereinstimmung mit Leonardo da Vinci. Im Gegensatz zu Alberti waren Dürer und da Vinci nicht nur theoretische, sondern auch praktizierende Künstler von noch dazu großer Unbedingtheit.
Wenn die Beschäftigung mit dem Zeichnen und Entwerfen noch zur Lehre eines Goldschmiedes gehörte, so wohl kaum das Anfertigen eines Selbstporträts. In den Zeichenstunden fanden Vater und Sohn zueinander, trafen sie sich in einer gemeinsamen Leidenschaft. Wie innig diese Momente waren, erhellt die Tatsache, dass es beim Vater eine letztlich unausgelebte, den raren Augenblicken der Erfüllung vorbehaltene und beim Sohn eine erwachende Liebe war, der sie sich gemeinsam widmeten.
Es ist bezüglich Albrechts Entwicklung von großer Bedeutung, festzuhalten, dass die Liebe zum Zeichnen vom Vater herrührte. Eines Tages würde der Sohn vollenden, wovon der Vater nur geträumt hatte. Wenn Albrecht mit Blick auf die Nachwelt unbedingt mitteilen wollte, dass er aufgrund seines Fleißes und seiner Geschicklichkeit der Lieblingssohn seines Vaters war, stellte das nicht eine der oft anzutreffenden autobiographischen Rückprojektionen dar, in der sich ein Sohn der vermissten Liebe seines Vaters im Nachhinein zu versichern gedachte, sondern darf man ihm durchaus vollen Glauben schenken, denn die Aussage findet in beiden Bildern eine glanzvolle Bestätigung. Obwohl der Vater, ein hart arbeitender und fleißiger Mann, die Kunst, das Malen und das Zeichnen liebte, wäre ihm niemals in den Sinn gekommen, das einträgliche und sehr angesehene Goldschmiedehandwerk aufzugeben, nur um Maler zu werden. Dazu war er zu vorsichtig und zu realistisch. In dem Porträt, das sein Sohn von ihm hinterließ, drückt sich diese Verbindung von Realismus und Verträumtheit allerdings zugunsten des Wirklichkeitssinnes aus. Der Maler stand in der gesellschaftlichen Achtung und seinen Verdienstmöglichkeiten in der Regel unter dem Goldschmied. Fertigkeiten im Zeichnen benötigte aber auch der Goldschmied in seinem Handwerk. Das Konzept der Autonomie der Kunst bestand noch nicht, Maler und Bildhauer galten wie Goldschmiede und Tischler als Handwerker.
Mit seinem Sohn aber konnte Albrecht der Ältere in den raren und kostbaren Zeiten, die er hierfür freizuhalten vermochte, dieser Liebe frönen, immer auf dem Grat balancierend zwischen beruflicher Notwendigkeit und dem, was man Vergnügen nennt. Im Zeichnen war er der erste, obendrein begeisterte Lehrer seines Sohnes. Das Talent des Schülers trieb die pädagogische Leidenschaft des Lehrers an. So wundert es nicht, dass sie eine tiefe Zuneigung verband. Für Albrecht blieb der Vater immer die Autorität, selbst dann noch, als er ihn als Künstler bereits weit übertroffen hatte. Äußerlich unterschied sich ihr Verhältnis nicht von der typischen Vater-Sohn-Beziehung dieser Zeit, die ausgehend vom dritten Gebot des Dekalogs die Autorität des Vaters göttlich legitimierte. Der Vater galt in der Funktion des Familienvaters, des pater familias, als Rechtsinstitution und trug für all das, was in seinem Haus vorging, Verantwortung vor dem Rat und vor Gott. Doch zur formalen Autorität gesellte sich in diesem Fall eine tiefer gehende, die Liebe und Achtung des Sohnes, die aus einer Nähe herrührte, die in gemeinsamen, fast intimen Zeichenstunden entstand.
Den Blick in den Spiegel, das Erfassen der Besonderheiten, die Übertragung auf das Blatt mit dem Silberstift lehrte er ihn. Er machte es ihm Linie für Linie, Schraffur für Schraffur vor, wie durch Schatten und durch Schattierungen Plastizität erreicht wird. Lohn und Ansporn für die Anleitung gewährten ihm die raschen Fortschritte des Filius. Von entscheidender und oft übersehener, weil scheinbar selbstverständlicher Bedeutung für den jungen Albrecht war, dass er das Zeichnen nicht bei einem Maler, sondern bei einem Goldschmied erlernte, denn der Goldschmied zeichnete zur Vorbereitung figürlicher Darstellung. Er war es gewohnt, aus Gold und anderen Metallen Figuren zu schaffen. Sein Sinn ging von vornherein von der und auf die Dreidimensionalität aus, vom und auf den Körper. Die Zeichnung erfüllte die Funktion des Entwurfs und stellte nur den Versuch dar, die Körperlichkeit in allen ihren Proportionen zu planen. Im Falle von vielfigurigen Tischaufsätzen beispielsweise mussten die Größenverhältnisse der unterschiedlichen Figuren (Körper) zueinander vorausbedacht werden. Wie der Maler auch, erwies sich der Goldschmied im Entwurf. Er schuf Architekturen en miniature und musste dementsprechend wie ein Architekt entwerfen können. Ganz anders als heute, wo sich die Arbeit des Goldschmiedes in der Anfertigung von Schmuck, von Ringen, Ketten und Broschen erschöpft, stellte der Goldschmied künstlerische Gebilde her, wie man sie noch heute in Dresdens Grünem Gewölbe besichtigen kann. Im Grunde glich er in einigen Arbeiten einem Kleinplastiker.
Im Selbstbildnis hält der Vater einen von ihm geschaffenen Fahnenträger in der Hand. Aber auch er selbst wirkt wie eine Statue, die vor dem Bildhintergrund sitzt, weil die harten Konturen sie geradezu plastisch heraustreiben, er selbst geschaffen vom größten Goldschmied, nämlich von Gott, dem unfassbaren, numinosen Prinzip dieser Zeit. Gott besaß die Suprematie über das Leben der Menschen und war überall in ihrem Alltag konkret anwesend. Präsenter als Gott im Alltag war nur der Teufel, der sich wie das zahlreiche Ungeziefer, als deren Herr er ja auch sinnreich galt, in den Wohnstätten eingenistet hatte und dadurch zum Hausgenossen des Menschen geworden war. Die Häuser der Menschen entstanden um die Kirchen herum, die den geistigen, geistlichen, verwaltungstechnischen und topographischen Mittelpunkt der Ansiedlung darstellten. Die Stadtviertel trugen die Namen der entsprechenden Kirchengemeinden.
So plastisch das Selbstporträt des Vaters auch anmutet, so ist es als Zeichnung nicht ganz gelöst, die Perspektive nicht ganz geglückt. In der Zeichnung begegnet man dem Können und auch den Grenzen Albrecht Dürers des Älteren. Möglich, dass er das Selbstporträt nur begonnen hatte, um seinen Sohn darin zu unterweisen, entstanden beide Porträts doch zeitnah. Nachdem der Vater jedenfalls das Bild unter den aufmerksamen Blicken des Sohnes beendet hatte, machte sich dieser an die Arbeit. Sein Bild, dem man an den vielen Korrekturen anmerkt, dass der Knabe mit Konzentration, Hingabe und schonungsloser Selbstkritik daran gearbeitet hatte, die Aufgabe zu lösen, dem Vater in nichts nachzustehen, wirkt leichter, luftiger, zeichnerischer. Fast könnte man meinen, dass während der Arbeit ein Wettstreit zwischen beiden ausbrach.
Die außergewöhnliche Qualität der Zeichnung des Jüngeren blieb dem Älteren natürlich nicht verborgen. Der Stolz des Vaters auf seinen Sohn, der die Aufgabe mit so großer Perfektion gelöst hatte, ging auf den Sohn über. Und so klingt die Freude über das Lob des Vaters noch in den Worten durch, die der inzwischen über fünfzigjährige Maler 1524 auf das Blatt notierte: »Dz hab ich aws ein Spigell nach/mir selbs kunterfet im 1484 jar/do ich noch ein kint was/Albrecht Dürer« (Das hab ich aus einem Spiegel nach/mir selbst gemalt im Jahr 1484/als ich noch ein Kind war). Natürlich lassen sich kleine Mängel in den Proportionen wie beispielsweise der Länge des ausgestreckten Fingers feststellen, aber man hat es mit einer frühen Lehrlingsarbeit zu tun, die an Qualität zu überbieten so manchem Meister schwerfallen dürfte. Dass übrigens beide Bilder nach einem Spiegel gearbeitet worden waren, erkennt man an drei Details: erstens an der seitenverkehrten Darstellung, zweitens daran, dass die rechte, die zeichnende Hand im Ärmel verborgen wird, und drittens an der Augenstellung.
Nicht weniger aufschlussreich ist es, das Selbstbildnis des Vaters mit dem Porträt zu vergleichen, das der Sohn 1490, sechs Jahre nach den Selbstporträts, zu einem Zeitpunkt malte, als er die Malerlehre bereits beendet hatte. Sofort springt der fulminante Fortschritt ins Auge, den Albrecht in nur sechs Jahren erreichte, und mit dem er weit über den Vater hinausgegangen war. Dokumentiert das Selbstbildnis, wie der Vater sich sah, so wird in dem Porträt, das der Sohn von ihm anfertigte, dessen Sicht auf den Vater deutlich. Aus der Zeichnung Albrechts des Älteren, der die Arbeitskleidung des Goldschmiedemeisters trägt, spricht Nüchternheit, Fleiß, Liebe und unaufwendiger Stolz auf den eigenen Beruf. Die für einen Tischaufsatz bestimmte, filigran gearbeitete Figur des Fahnenträgers in seinen Händen ist Zeichen und Beweis seines Könnens. Er scheint ein schmächtiger Mann gewesen zu sein, kein lauter, kein auftrumpfender, sondern ein ruhiger, bescheidener, eher eigenbrötlerischer Mensch, der Feste und Feiern nicht allzu sehr schätzte und dem es eine immense Freude bereitete, mit seinen Händen etwas Wertvolles zu schaffen, einen Pokal, ein Trinkgeschirr, Ringe, Figuren aus Edelmetallen und auch Zeichnungen, letztere aber nur für sich. Die Liebe zum Material, dazu, aus dem Ungestalteten die Gestalt herauszuarbeiten, trieb seinen Fleiß immer wieder an. Auch wenn nur dieses eine Blatt überliefert wurde, so muss es viel mehr gegeben haben. Die Überlieferungssituation ist schlecht; obschon im Vergleich von Dürer mehr als von vielen seiner Zeitgenossen auf uns kam, ist es dennoch viel zu wenig.
Im Bildnis des Sohnes sehen wir den Vater nicht in der Arbeitstracht, nicht als Handwerker, sondern in teurem, gefüttertem Überkleide und mit einer gefütterten Mütze auf dem Kopf. Ein gestandener, gottesfürchtiger, angesehner Bürger der stolzen Reichsstadt, nicht überbordend reich, kein Brokat, keine Perlen, keine aufwendig gearbeiteten Stickereien, aber alles von gefälligem Wohlstande. Die Haare, in denen silberne Strähnen zu entdecken sind, schauen geordnet unter der Mütze hervor und nicht so unfrisiert, wild und wirr wie auf dem Selbstporträt des Vaters, auf dem sie die Handwerkerkappe kaum zu bändigen vermag. Stehen sie im Selbstporträt für die Konzentration auf den Arbeitsprozess, im Vergleich zu dem alles andere zweitrangig ist, so drücken sie im Bildnis des Sohnes Gesetztheit aus.
In der Hand hält er keine Figur, keinen Hinweis auf seine Profession, sondern einen Rosenkranz. Das ist erst einmal nichts Besonderes, sondern entspricht der Konvention der Zeit. Damit kennzeichnete Albrecht den Vater als ehrenwerten Bürger, der seine Pflichten gegenüber Gott erfüllt. Gottesfürchtig bedeutete damals das höchste und von allen akzeptierte Lob. Besseres konnte man über einen Menschen kaum sagen, fromm stand auf der gleichen Stufe, darüber ging nur noch heilig.
Fast wirkt der inzwischen sechs Jahre ältere Meister jünger als auf dem Selbstbildnis. Vom Leben und von der Arbeit gezeichnet mit dem leicht bitteren Zug um den Mund gewinnt man dennoch den Eindruck, dass in entspannten Momenten, wenn er mit dem Sohn zeichnete, vielleicht sogar auf dem Papier mit ihm wetteiferte, ein sanftes Lächeln mit einem leisen Schalk in den durch Anstrengung etwas geröteten Augen das Gesicht aufzuhellen vermochte, dass in diesem Moment sogar etwas Knabenhaftes auf dem Antlitz des 62-jährigen Mannes lag. Möglicherweise hat der junge Maler dieses Schmunzeln, das er als Knabe zuweilen erlebte, wenn er seine Arbeiten dem Vater zeigte, im Porträt eingefangen, nicht plakativ, sondern hintergründig, als Latenz. Das macht den Reiz dieses Bildes aus. Das Porträt drückt den Respekt und die Dankbarkeit des Sohnes gegenüber dem Vater aus ohne dadurch an Realismus einzubüßen oder gar symbolisch zu werden. Unter der faltig gewordenen Haut, den Furchen, die das Leben in das Antlitz grub, existierte, ein wenig verborgen zwar, dennoch etwas Jugendliches, Jungenhaftes, das Talent, die Unmittelbarkeit im Betrachten und im Schaffen. Der Vater hatte sich als ernsten Handwerksmeister bei der Arbeit konterfeit, dem Sohn glückte es, in dem Repräsentationsgemälde den verborgenen Humor Albrechts des Älteren wiederzugeben.
Über Albrecht den Älteren weiß man zu viel, um über ihn schweigen zu dürfen, und letztlich zu wenig, als dass es gelingen könnte, verlässlich sein Leben nachzuzeichnen. Doch im Hinblick auf die Biographie Albrechts des Jüngeren muss man es wagen, denn die Bedeutung des Vaters für den werdenden Künstler wird aufgrund des Mangels an Quellen und Zeugnissen gemeinhin unterschätzt bzw. ignoriert, was auf das Gleiche hinausläuft. Ein Grund für diese Ignoranz liegt nicht zuletzt darin, dass man sich das Vater-Sohn-Verhältnis eines werdenden Künstlers eigentlich nur konfliktträchtig und nicht harmonisch vorzustellen bereit ist. Schon angesichts Luthers ausgesprochen respektvollen Verhältnisses zu seinem Vater blamiert sich jede psychoanalytische Deutung.12 In der Beziehung zu ihren Vätern ähneln Albrecht Dürer und der gut zehn Jahre jüngere Martin Luther einander, auch in der Krise, die eine wichtige berufliche Weichenstellung betraf13, und in ihrer religiösen scrupulositas, den berühmt-berüchtigten Anfechtungen, den tentationes, die keine Besonderheit der Charaktere Martin Luthers oder Albrecht Dürers darstellten, sondern als wachsender Bestandteil die Religiosität großer Bevölkerungskreise nördlich der Alpen bestimmten.14
Das Verhältnis Albrechts des Jüngern zu Albrecht dem Älteren müssen wir uns hingegen als ausgesprochen harmonische Vater-Sohn-Beziehung vorstellen, in der der Vater, solange er es vermochte, den Sohn förderte und selbst in einem ausgesprochen kritischen Moment in der Lage war, über seinen Schatten zu springen. Albrecht der Ältere war mehr als ein Goldschmied, er war ein künstlerisch ambitionierter Mann, der wesentlich Einfluss auf die frühe und entscheidende Entwicklung seines Sohnes nahm. Man wird im Wesen des Sohnes eine produktive Mischung aus Harmonie und einem unbedingten Ehrgeiz, einem aus der Harmonie entspringenden Wirklichkeitsdrang entdecken, die im positiven Verhältnis zum Vater seinen Ausgang nahm. Als liebenswürdig wird Albrecht der Jüngere beschrieben. Niemals wird er die instinktive Sicherheit des geliebten Sohnes verlieren, wird diese emotionale Ausgeglichenheit Grundlage seines Selbstverständnisses sein. Eigenhändig setzte Albrecht der Jüngere vor des Vaters Chronik, die lediglich die Aufzählung der Geburt der Kinder und der Paten enthält, die Lebensgeschichte des Vaters, »wie er hercumen und blieben und geendet seeliglich«15, und ergänzte sie mit Leben und Tod der Eltern und Schwiegereltern und mit Notizen zu seiner Vita. Hierin eiferte er den Nürnberger Patrizier-Clans nach, für die es zum guten Brauch geworden war, Geschlechterbücher anzulegen, in denen sich die Familie darstellte. Der Wunsch, sich für die Ewigkeit vor aller Welt zu präsentieren, traf sich mit dem äußerst praktischen Effekt, dass ein Familienbuch, das die Geburten, ihre Reihenfolge, auch die Zugehörigkeiten zu den einzelnen Familienzweigen der Dynastien dokumentierte, bei Erbschaftsstreitigkeiten hilfreich war, denn ein amtliches Personenstandswesen existierte erst in Anfängen. Dass sich Albrecht der Jüngere der Mühe unterzog, zeigt zweierlei: Erstens war ihm die Familiengeschichte so wichtig, dass er die Chronik des Vaters überarbeitete und vervollständigte, zweitens besaß er Kenntnis von der Herkunft des Vaters. Sie erhielt er auf doppeltem Wege. Einmal sprach der Vater des Öfteren darüber und hinterließ dem Sohn auch Notizen, die dieser noch benutzte und die leider verloren gingen. Die Erinnerungen des Vaters wurden noch ergänzt von Nikolaus, Albrechts Vetter, der aus Gyula kommend bei seinem Onkel in die Lehre gegangen war. Als Albrecht Dürer der Jüngere 1520 in die Niederlande reiste, machte er bei seinem Vetter, der inzwischen in Köln wohnte, Station. Drei Jahre nach dieser Reise überarbeitete er die Chronik. So ist es mehr als wahrscheinlich, dass er auch mit seinem Vetter über die Heimat seines Vaters gesprochen hat, die Albrecht selbst nicht kennengelernt hatte, in der Nikolaus hingegen noch geboren worden war und die er erst als Lehrling verlassen hatte. Dass er über zwanzig Jahre nach dem Tod des Vaters noch mit dieser unmittelbaren Betroffenheit über ihn schreibt, verrät ihr enges Verhältnis, lässt ahnen, wie sehr er ihn vermisste. Es greift bei weitem zu kurz, Dürers Vater-Reminiszenzen allein der Konvention eines zeittypischen Memorialstrebens zuzurechnen, als Lug und Trug für die Ewigkeit. Mochte Dürer sich auch so für die Ewigkeit darstellen, dann liegt doch in der Selbst-Darstellung ein großes Moment der Darstellung des Selbst, zeigte sich Dürer nicht nur, wie er gesehen werden wollte, sondern auch wie er war.
Bereits die erste Frage, ob der um 1427 in Ungarn, im Komitat Békés, geborene Albrecht der Ältere deutscher oder ungarischer Abstammung war, lässt sich nicht klären. Das Beispiel Dürer zeigt, wie die Relevanz der Abstammung sich reduziert, wenn eine Identifikation mit den Werten gegeben ist. Albrecht Dürer der Ältere hatte seine Heimat hinter sich gelassen und sich vollkommen als Nürnberger und als Deutscher gefühlt. Vice versa wurde er von seinen Mitbürgern auch als Nürnberger und Deutscher gesehen. Erst später, im nationenbildenden 19. Jahrhundert, versuchte eine nationalbewusste Kunstgeschichtsschreibung in anachronistischer Manier Albrecht Dürer zu einem Enkel von in Ungarn lebenden Deutschen zu machen. Doch die Konstruktion hält keiner Nachforschung stand. Im Unterschied zu Nordungarn oder zu Siebenbürgen findet sich in dem südostungarischen Komitat kein nennenswerter deutscher Bevölkerungsanteil.16 Allerdings liegt die Stadt Großwardein zwei Tagesreisen entfernt, und hier wohnten Deutsche. Was die Hypothese einer ungarischen Abkunft nahelegt, ist die Tatsache, dass der Großvater in einem kleinen Dorf namens Ajtós in der Nähe des Städtchens Gyula (Jula) geboren wurde. Dass in diesem Dörfchen, das später von den Türken zerstört wurde und seitdem nicht mehr existiert, ausschließlich ungarische Bauern lebten, scheint doch mehr als wahrscheinlich. Die Familie wird kaum von deutschen Umsiedlern, die im 13. Jahrhundert nach Ungarn kamen, abstammen, da es sich bei diesen Einwanderern zumeist um Handwerker, nicht um Bauern handelte. An Handwerkern bestand in Ungarn ein Mangel, nicht an Bauern. Dürers Vorfahren aber waren Bauern. Und so beginnt die Geschichte der Dürers im wahrsten Sinne mit dem Sohn eines vermögenden Bauern, der vor allem Rinder hielt und Pferde züchtete, mit Anthoni. Die Hypothese einer ungarischen Herkunft erhärtet Dürers Eintrag im Familienbuch, der von einem Geschlecht spricht, das sich von Ochsen und Pferden ernährte. Der Begriff »geschlecht« verweist eindeutig auf eine längere Abstammung, auf einen Clan, der seit mehreren Generationen Viehhaltung und Pferdezucht betrieb.
Anthoni wurde in das unter der Herrschaft der Familie der Marothy aufblühende Städtchen Gyula17 in die Lehre eines Goldschmieds gegeben. Sein Lehrherr, der Meister Aurifaber, mochte deutscher Abkunft gewesen sein und einer Familie entstammen, die im 13. Jahrhundert nach Ungarn gekommen war. Dafür spricht doch recht überzeugend, dass Aurifaber eine zum Namen gewordene Berufsbezeichnung ist, denn Aurifaber ist lateinisch und bedeutet auf Deutsch Goldschmied. So konnte beispielsweise aus einem eingewanderten Handwerksmeister Johannes, ein Johannes der Goldschmied und später Johannes Aurifaber werden. Dass man es hier nicht mit einer Legende zu tun hat, die gern sprechende oder symbolische Namen verwendet, beweist, dass der Name Aurifaber in Gyula belegt ist. Zudem ist der Nachname Aurifaber im Ausgang des Mittelalters keine Seltenheit.
Sei es, dass es einen zweiten Anthoni in der Werkstatt gab oder dass man aus anderen Gründen ihn nur »den aus Ajtós« – Ajtósi – nannte, jedenfalls wurde Anthoni nun Anthoni Ajtósi gerufen. Anthoni scheint ein geschickter Goldschmied gewesen zu sein, er konnte es sich leisten, eine Familie zu gründen, und eröffnete wahrscheinlich eine Werkstatt. Seine Frau Elisabeth gebar ihm eine Tochter und drei Söhne. Wirft man einen Blick auf den weiteren Verlauf der Familiengeschichte, fällt auf, dass die Werkstatt nicht in Familienhand weitergeführt wurde, wenn nicht Katharina, Anthonis Tochter, einen Goldschmied geheiratet und die Werkstatt des Vaters übernommen hatte. So bleiben als biographische Alternativen Anthonis früher Tod oder die Möglichkeit, dass Anthoni Alt-Geselle bei seinem Lehrherrn Aurifaber, vielleicht sogar Teilhaber wurde. Im kleinen Gyula, auch wenn die Stadt prosperierte, war der Bedarf an Goldschmieden überschaubar. Die bekannten Daten der Familiengeschichte würden diese Hypothese sogar stützen: Der jüngste Sohn namens Johannes erhielt eine Ausbildung zum Priester und wurde Pfarrer in Großwardein, der mittlere Sohn, Ladislaus oder Lasslen, führte ebenfalls das Gewerbe des Vaters nicht weiter, sondern wurde Sattler. In Anbetracht dessen, dass die Vorfahren als Großbauern und Pferdezüchter in Ajtós saßen, eine kluge Berufswahl. Albrecht, der älteste Sohn, aber ging beim Vater oder bei Aurifaber in die Lehre.
Man hat Albrecht dem Älteren immer gute Deutschkenntnisse18 zugeschrieben, was die Hypothese der deutschen Herkunft der Familie unterstützte, aber Deutsch könnte er auch bei seinem deutschstämmigen Lehrmeister erlernt haben. Der könnte ihm zudem den Weg nach Norden gewiesen haben. Wohin auch sonst? Im Süden standen die Türken. Vielleicht stammte die Familie Aurifaber aus Nürnberg oder Köln. Und wie es üblich war, machte sich Albrecht der Ältere, nachdem er ausgelernt hatte, auf die Gesellenwanderschaft. Aber das wird letztlich Spekulation bleiben müssen, denn es besteht keinerlei Hoffnung auf Quellenfunde, die dieser Vorgeschichte Fakten beisteuern würden.
Auch warum Albrecht der Ältere, der einzige Goldschmied, der einzige in der Familie, der das Handwerk des Vaters erlernt hatte, nicht nach seiner Gesellenreise zurückkehrte, um die Werkstatt des Vaters zu übernehmen, kann nur vermutet werden. Die Dürer’sche Chronik vermerkt dazu nichts. Es scheint jedoch niemand mit Albrechts Rückkehr gerechnet zu haben. Auffallend ist allerdings, dass der Sohn des Sattlermeisters Ladislaus, Nikolaus, der Goldschmied wurde, sich nicht nur auf die Wanderschaft begab, sondern gleichfalls nicht zurückkehrte und sich nach einer Zeit in Nürnberg letztlich in Köln niederließ. Weil er aus Ungarn kam, wurde er Nikolaus Unger, Nikolaus der Ungar, genannt. Der Bedarf an Goldschmieden in Gyula scheint in der Tat gedeckt gewesen zu sein.