Kathy Reichs
Tote lügen nicht
Roman
Aus dem Amerikanischen übersetzt
von Thomas A. Merk
Um diesen Roman so exakt wie möglich zu gestalten, habe ich Experten aus verschiedenen Wissensgebieten befragt. Mein Dank gilt Bernard Chapais für seine Erläuterungen über die kanadischen Gesetze zur Haltung und Unterbringung von Labortieren; Sylvain Roy, Jean-Guy Hébert und Michel Hamel für ihre Hilfe auf dem Gebiet der Serologie; Bernard Pommeville für seine ausführliche Demonstration der Röntgenmikrofluoreszenzanalyse und Robert Dorion für seine Informationen über forensische Gebissuntersuchungen, Bissmarkenanalyse und den korrekten Gebrauch der französischen Sprache. Steve Symes möchte ich für seine grenzenlose Geduld beim Erklären der Spuren danken, die Sägen in Knochen hinterlassen können.
Besondere Dankbarkeit schulde ich John Robinson und Marysue Rucci, ohne die »Tote lügen nicht« niemals entstanden wäre. John hat Marysue auf das Manuskript aufmerksam gemacht, und sie hielt es für wert, veröffentlicht zu werden. Marysue und ihre Lektoratskolleginnen Susanne Kirk und Maria Reit arbeiteten sich durch die erste Fassung von »Tote lügen nicht« und trugen mit ihren Ratschlägen sehr zu ihrer Verbesserung bei. Ganz herzlichen Dank möchte ich auch meiner Agentin, Jennifer Rudolph Walsh, sagen. Sie ist großartig.
Zum Schluss noch eine persönliche Anmerkung: Ich danke den Mitgliedern meiner Familie, die den Roman im Embryonalstadium gelesen und mir wertvolle Kommentare dazu gegeben haben. Ich weiß ihre Unterstützung ebenso zu schätzen wie ihre Geduld.
Dr. Brennan,
Sie hatten Recht. Die Toten dürfen nicht ohne Namen bleiben. Dank Ihres Einsatzes haben ein paar tote Frauen jetzt ihren Namen wieder, und Leo Fortier kann niemanden mehr ermorden.
Wir sind die letzte Verteidigungslinie gegen das Verbrechen. Gegen die Zuhälter, die Vergewaltiger und die kaltblütigen Mörder. Es wäre mir eine Ehre, wenn ich in Zukunft wieder mit Ihnen zusammenarbeiten dürfte.
Luc Claudel
Weiter oben auf dem Berg erstrahlte das Gipfelkreuz in elektrischem Licht und schickte seine Botschaft hinunter ins Tal.
Claudel hatte Recht. Wir waren die letzte Verteidigungslinie.
Ich sah hinüber zu den Lichtern von Montreal. Sie schienen mich zum Bleiben einzuladen.
»À la prochaine«, sagte ich zu der Stadt dort unten in der Sommernacht.
»Was heißt denn das?«, wollte Katy wissen.
»Bis zum nächsten Mal.«
Meine Tochter sah mich fragend an.
»Komm, lass uns fahren.«
Ich dachte nicht mehr an den Mann, der sich in die Luft gesprengt hatte. Jetzt ging es nur darum, seinen Schädel zusammenzusetzen. Zwei größere Bruchstücke lagen vor mir auf dem Tisch, und ein drittes, das ich soeben aus mehreren Splittern zusammengeklebt hatte, stand zum Trocknen in einer mit Sand gefüllten Edelstahlschale. Damit hatte ich genügend Teile, um die Identität des Toten zu bestätigen. Der Leichenbeschauer würde zufrieden sein.
Es war der Spätnachmittag des 2. Juni 1994. Ein Donnerstag. Während ich darauf wartete, dass der Klebstoff fest wurde, ließ ich meinen Gedanken freien Lauf. Damals wusste ich noch nicht, dass es in ein paar Minuten an meiner Tür klopfen und sich mein Leben ebenso entscheidend verändern würde wie mein Wissen um die Abgründe menschlicher Grausamkeit. Ahnungslos genoss ich den herrlichen Ausblick auf den St.-Lawrence-Strom, der das einzig Erfreuliche an meinem viel zu kleinen und viel zu vollgestopften Büro ist. Irgendwie hat der Anblick von gleichmäßig fließendem Wasser immer eine belebende Wirkung auf mich. Mit stehenden Gewässern kann ich hingegen sehr viel weniger anfangen. Warum, weiß ich nicht, aber ich bin mir sicher, dass Sigmund Freud dafür eine plausible Erklärung gehabt hätte.
Gedanklich war ich mit dem kommenden Wochenende beschäftigt. Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, nach Quebec City zu fahren, aber ich hatte noch keine konkreten Pläne. Nur dass ich mir ein richtig touristisches Ziel suchen wollte, zum Beispiel die Plains of Abraham, wo ich Crêpes und Muscheln essen und mir billigen Schmuck von den Straßenhändlern kaufen wollte. Obwohl ich schon seit einem Jahr hier in Montreal als forensische Anthropologin arbeitete, war ich noch nie in Quebec City gewesen. Es wurde höchste Zeit, mir die Stadt einmal anzusehen. Außerdem sehnte ich mich danach, ein paar Tage lang keine Skelette, verwesten Körperteile oder Wasserleichen sehen zu müssen.
Ich bin ein Mensch, dem es eigentlich nie an Ideen mangelt, nur mit der Umsetzung hapert es oft. Normalerweise halte ich mir bei allen meinen Plänen ein Hintertürchen offen, so dass ich es mir jederzeit wieder anders überlegen kann. Dieser Wankelmut trifft allerdings nur auf mein Privatleben zu. Beruflich neige ich eher zu zielstrebiger Besessenheit.
Noch bevor er klopfen konnte, wusste ich, dass Pierre LaManche vor der halbgeöffneten Tür meines Büros stand. Für einen Mann von seiner Statur bewegte er sich erstaunlich leise, aber der Geruch nach kaltem Pfeifenrauch verriet ihn. LaManche, der seit fast zwei Jahrzehnten der Leiter des Laboratoire de Médecine Légale war, kam nie ohne einen triftigen Grund zu mir ins Büro. Deshalb schwante mir Böses, als er durch ein leises Klopfen auf sich aufmerksam machte.
»Hätten Sie vielleicht einen Augenblick Zeit für mich, Temperance?« , fragte LaManche, der mich als Einziger mit meinem vollen Vornamen anspricht. Alle anderen nennen mich Tempe. Vielleicht hat LaManche was gegen Tempe in Arizona, vielleicht nennt er mich aber auch nur deshalb Temperance, weil es sich so schön auf France reimt.
»Oui.« Nachdem ich fast ein Jahr hier in Montreal war, antwortete ich ganz automatisch auf Französisch. Anfangs hatte ich mit dem Français Québecois meine liebe Mühe gehabt, aber langsam fand ich mich immer besser damit zurecht.
»Ich habe gerade einen Anruf bekommen«, sagte LaManche und neigte den Kopf nach unten, um von einem rosafarbenen Notizblock etwas abzulesen. Immer wenn ich sein Gesicht mit den senkrechten Falten auf Stirn und Wangen, der kerzengeraden Nase und den länglichen Ohren sah, musste ich unwillkürlich an einen Bassett denken. Sein Gesicht hatte vermutlich schon in der Jugend älter gewirkt, als es war, und seine charakteristischen Züge hatten sich im Lauf der Jahre lediglich vertieft. Selbst heute war es nicht leicht, LaManches wirkliches Alter zu schätzen.
»Zwei Arbeiter von den Elektrizitätswerken haben heute ein paar Knochen gefunden«, meinte LaManche und warf einen kurzen Blick auf mein nicht allzu glückliches Gesicht, bevor er sich wieder dem Block in seiner Hand zuwandte.
»Die Fundstelle liegt nicht weit von dem alten Friedhof entfernt, der im vergangenen Sommer entdeckt wurde«, sagte er in makellosem, aber etwas steif klingendem Französisch. Ich habe nie gehört, dass er eine umgangssprachliche Wendung verwendet hätte, geschweige denn Dialekt oder gar Polizeijargon. »Sie waren doch damals bei der Ausgrabung dabei. Vielleicht handelt es sich ja bei den jetzt gefundenen Knochen um etwas Ähnliches. Auf jeden Fall brauche ich jemanden, der sich an Ort und Stelle davon überzeugt, dass es sich dabei nicht um einen Fall für den Leichenbeschauer handelt.«
Als er von seiner Notiz aufsah, fiel ihm das Nachmittagslicht schräg ins Gesicht und ließ dessen Falten noch tiefer erscheinen. Als LaManche zu einem säuerlichen Lächeln ansetzte, verschoben sich vier von diesen dunklen Schluchten ein wenig nach oben.
»Sie glauben also, dass es wieder ein alter Friedhof ist?«, fragte ich, um ihn hinzuhalten. Ein Leichenfund passte überhaupt nicht in meine Vorbereitungen fürs Wochenende. Wenn ich wirklich am Freitag wegfahren wollte, dann musste ich heute meine Sachen aus der Reinigung holen, ein paar Dinge aus der Apotheke besorgen, den Koffer packen, bei meinem Wagen den Ölstand überprüfen und Winston, dem Hausmeister, erklären, wann er meine Katze füttern sollte.
LaManche nickte.
»Okay«, sagte ich, obwohl ich die Sache ganz und gar nicht okay fand.
LaManche gab mir den Notizzettel. »Brauchen Sie einen Streifenwagen, der Sie hinbringt?«
»Nein, nicht nötig«, sagte ich mit betont niedergeschlagener Stimme. »Ich bin heute mit dem Wagen da.« Der Friedhof lag ohnehin auf meinem Nachhauseweg.
Pierre LaManche entfernte sich so leise, wie er gekommen war. Er trug gerne Schuhe mit Kreppsohlen und achtete darauf, dass er nichts in den Hosentaschen hatte, was klappern oder klirren konnte. Er bewegte sich nahezu lautlos, wie ein durchs Wasser gleitendes Krokodil, was viele seiner Untergebenen als ausgesprochen nervtötend empfanden.
Ich stopfte einen Overall und meine Gummistiefel in einen Rucksack, hoffte dabei aber insgeheim, dass ich beides nicht brauchen würde. Dann nahm ich den Laptop, meine Aktentasche und den bestickten Feldflaschenbezug, der mir in diesem Sommer als Handtasche diente und machte mich auf den Weg. Bis Montag, dachte ich, als ich mein Büro verließ, aber irgendetwas in meinem Hinterkopf sagte mir, dass das nur ein frommer Wunsch war.
Im Sommer erinnert mich Montreal immer an eine Rumbatänzerin in buntem Rüschenkleid, die mit nackten Schenkeln und schweißnasser Haut von Juni bis September durchtanzt.
Nach den langen und harten Wintern wird hier die heiß ersehnte warme Jahreszeit gefeiert: Straßencafés haben Hochkonjunktur, Fahrradfahrer und Rollerblader machen sich den Platz auf den Radwegen streitig, und auf den Gehsteigen wimmelt es von Menschen, die von einem Straßenfest zum nächsten zu ziehen scheinen.
Wie sehr unterscheiden sich die Sommer an den Ufern des St.-Lawrence-Stroms doch von denen in meiner Heimat North Carolina, wo man sich vorzugsweise am Strand, in den Bergen oder auf der eigenen Terrasse in der Sonne räkelt. In den Südstaaten ist es schwierig, ohne einen Blick auf den Kalender eine genaue Grenze zwischen Frühling, Sommer und Herbst zu ziehen, deshalb hat mich in meinem ersten Jahr hier oben im Norden das ungestüme Frühlingserwachen noch mehr überrascht als der bitterkalte Winter. Mit einem Schlag hat es das Heimweh vertrieben, unter dem ich während der langen Kälte und Dunkelheit oft litt.
Diese Gedanken beschäftigten mich, als ich unter der Jacques-Cartier-Brücke hindurchfuhr und nach Westen auf die Viger Avenue abbog. Links von mir lag am Ufer des Flusses das weitläufige Gelände der Molson-Brauerei, hinter dem sich das runde Hochhaus von Radio Canada erhob. Im Vorbeifahren musste ich an all die Leute denken, die in diesem Büroturm eingeschlossen waren wie Affen im Käfig. Ich stellte mir vor, wie sie hinter ihren Fenstern saßen und sehnsüchtig hinaus in die verlockende Junisonne starrten, wie sie an ihre Boote, Fahrräder oder Turnschuhe dachten und dabei immer wieder auf die Uhr sahen.
Ich fuhr die Fenster meines Wagens nach unten und schaltete das Radio ein.
»Aujourd’hui je vois la vie avec les yeux du coeur«, sang Gary Boulet. Ich übersetzte die Worte automatisch und sah dabei den empfindsamen Mann mit dem wilden Lockenkopf und den dunklen Augen vor mir. Er hatte so leidenschaftliche Musik gemacht und war mit vierundvierzig Jahren viel zu früh verstorben.
Ein alter Friedhof, dachte ich. Damit hatten wir forensischen Pathologen es immer wieder zu tun. Hunde, Bauarbeiter, Totengräber oder das Hochwasser legten ständig irgendwelche alten Knochen frei. Wenn es menschliche Knochen sind, interessiert sich dafür zunächst der Leichenbeschauer, der eine Art Oberaufseher über den Tod in der Provinz Quebec darstellt. Wenn jemand nicht in seinem Bett oder unter der Aufsicht eines Arztes stirbt, will der Leichenbeschauer wissen warum. Er interessiert sich für alle, die gewaltsam oder unter mysteriösen Umständen ums Leben gekommen sind oder deren ansteckende Krankheit eine Gefahr für andere darstellen könnte. Knochen aus historischen Friedhöfen hingegen gehen ihn selbst dann nichts an, wenn die Toten dort einem ungesühnten Verbrechen oder einer schrecklichen Seuche zum Opfer gefallen sind. Dafür ist ihr Ableben zu lange her. Ist das Alter solcher Knochen erst einmal zweifelsfrei bestimmt, dürfen sich die Archäologen darum kümmern. Ich hoffte inständig, dass das auch bei den Gebeinen der Fall sein würde, zu denen ich jetzt unterwegs war.
Ich quälte mich durch den zähfließenden Verkehr in der Innenstadt und erreichte fünfzehn Minuten später die Adresse, die auf LaManches Zettel stand. Es war das Grand Séminaire, ein Überbleibsel des riesigen Grundbesitzes der katholischen Kirche. Das alte Priesterseminar befindet sich auf einem großen Grundstück in der Innenstadt, ganz in der Nähe des Viertels, in dem ich wohne. Es ist eine kleine grüne Insel in einem Meer aus Wolkenkratzern und gleichzeitig ein stummer Zeuge dafür, wie mächtig die Kirche einst in dieser Stadt war. Graue Steinmauern mit Wachtürmen umgeben düstere, burgartige Gebäude, zwischen denen sich gepflegte Rasenstücke und verwilderte Freiflächen erstrecken.
Als die Kirche auf dem Höhepunkt ihrer Macht stand, wurden hier Tausende junger Männer zu Priestern ausgebildet. Ein paar Seminaristen gibt es hier auch heute noch, aber es sind längst nicht mehr so viele wie damals. Die größeren Gebäude sind jetzt vermietet und beherbergen Behörden und städtische Schulen, in denen mehr im Internet gesurft als das Wort Gottes studiert wird.
Vielleicht ist das ja eine gute Metapher für den Zustand unserer modernen Gesellschaft, dachte ich. Wir sind alle viel zu sehr damit beschäftigt, mit aller Welt zu kommunizieren, um uns um einen allmächtigen Schöpfer zu kümmern.
Ich hielt in einer kleinen Straße gegenüber dem alten Priesterseminar und blickte die Rue Sherbrooke entlang nach Osten, wo sich der jetzt an das Collège de Montréal vermietete Teil des Seminargeländes befindet. Als dort nichts Ungewöhnliches zu erkennen war, ließ ich den linken Ellenbogen aus dem Wagenfenster hängen und drehte mich nach hinten. Das staubige Metall der Wagentür war so heiß, dass ich den Arm blitzartig zurück ins Innere des Wagens zog.
Als ich schließlich aus dem Rückfenster blickte, entdeckte ich einen blau-weißen Streifenwagen mit der Aufschrift Police – Comunauté Urbaine de Montréal, der irgendwie nicht so recht zu dem alten, steinernen Turm dahinter passen wollte. Davor stand ein grauer Lastwagen der Hydro-Québec, von dem Leitern und anderes Gerät abstanden wie die Antennen einer Raumstation. Neben dem Laster stand ein uniformierter Polizist, der mit zwei Männern in Arbeitskleidung sprach.
Ich fuhr wieder los, bog nach links ab und fädelte mich in den nach Westen strömenden Verkehr auf der Rue Sherbrooke ein. Während ich einmal um das Seminargelände herumfuhr, hielt ich Ausschau nach Presseleuten, konnte aber zum Glück keine entdecken. Begegnungen mit der Presse sind in Montreal noch anstrengender als in anderen Städten, denn hier gibt es sowohl französische als auch englische Sender und Zeitungen. Ich hasse es ohnehin, mit Fragen bedrängt zu werden, wenn ich sie dann aber auch noch in zwei Sprachen beantworten muss, platzt mir ziemlich rasch der Kragen.
LaManche hatte Recht gehabt. Ich war im vergangenen Sommer schon einmal hier gewesen, als man bei der Reparatur einer defekten Wasserleitung auf Knochen gestoßen war. Ich weiß noch, was ich damals in meinen Bericht geschrieben hatte: Kirchengrundstück, alter Friedhof, Sargreste, Archäologen verständigt. Hoffentlich würde ich bald Ähnliches notieren können.
Als ich meinen Mazda vor dem Lastwagen abstellte, hörten die drei Männer zu reden auf und blickten in meine Richtung. Dann stieg ich aus, und der Polizist, der mich einen Augenblick lang nachdenklich angesehen hatte, kam auf mich zu. Sein Gesicht war nicht gerade freundlich. Es war Viertel nach vier, und seine Schicht war vermutlich schon längst zu Ende. Wahrscheinlich war er ebenso ungern hier wie ich.
»Bitte fahren Sie weiter, Madam. Sie dürfen hier nicht parken«, rief er mir zu und wedelte ungeduldig mit der Hand. Es sah aus, als wollte er eine Fliege vom Salat wegscheuchen.
»Ich bin Dr. Brennan«, sagte ich, während ich die Autotür zuschlug. »Vom Laboratoire de Médecine Légale.«
»Wie bitte? Sie wollen vom Leichenbeschauer kommen?« Sein Ton hätte einen Verhörspezialisten vom KGB geradezu vertrauensselig klingen lassen.
»Ja. Ich bin die antropologiste judiciaire«, erklärte ich langsam wie eine Lehrerin in der zweiten Klasse Volksschule. »Zuständig für Ausbettungen und Knochenbefunde. Und wenn ich mich nicht irre, dürfte es sich hier wohl um beides handeln.«
Ich gab dem Polizisten meinen Ausweis und las auf dem Namensschild über seiner Brusttasche: Constable Groulx.
Der Polizist besah sich das Foto in meinem Ausweis. Dann fiel sein prüfender Blick auf mich. Ich wirkte wohl wenig vertrauenserweckend. Weil ich wusste, dass das Zusammensetzen des Schädels Spuren hinterlassen würde, hatte ich mir meine ältesten Klamotten angezogen: eine ausgewaschene braune Hose und ein Jeanshemd, dessen Ärmel ich hochgekrempelt hatte. Meine nackten Füße steckten in Segelschuhen, und aus meinen hochgesteckten Haaren hatten sich im Laufe des Tages ein paar Strähnen gelöst. Zudem war ich mit getrockneten Klebstoffresten übersät. Ich musste aussehen wie eine gestresste Hausfrau in mittleren Jahren, die gerade eine Pause beim Tapezieren ihrer Wohnung macht, um ihr Kind von der Schule abzuholen.
Nachdem der Polizist meinen Ausweis lange angesehen hatte, gab er ihn mir kommentarlos zurück. Eine forensische Anthropologin hatte er sich wohl anders vorgestellt.
»Haben Sie die Knochen schon gesehen?«, fragte ich.
»Nein, ich sichere nur den Fundort.« Mit einer ähnlichen Wedelgeste wie vorhin deutete er auf die beiden Arbeiter, die ihre Unterhaltung eingestellt hatten und uns interessiert beobachteten.
»Die da haben die Knochen gefunden. Ich habe die Zentrale verständigt. Die bringen Sie hin.«
Ich fragte mich, ob Constable Groulx wohl auch in der Lage war, kompliziertere Sätze zu bilden. Noch einmal deutete er hinüber zu den Arbeitern.
»Ich passe auf Ihren Wagen auf.«
Ich dankte ihm mit einem Nicken, aber er hatte sich bereits von mir abgewandt. Also ging ich hinüber zu den Arbeitern, die mich stumm ansahen. Beide Männer hatten fast identische Schnurrbärte, die sich wie umgedrehte Us über ihren Mündern nach unten bogen.
Der Linke war schmächtig, dunkelhaarig und erinnerte mich an einen Terrier. Er war älter als sein Kollege, und sein Blick wanderte rastlos umher. Auch mich sah er nur ganz kurz an und wandte sich schnell wieder ab, als könnte er sich durch längeren Augenkontakt mit einem anderen Menschen auf etwas einlassen, was er später bereuen würde. Er trat unruhig von einem Fuß auf den anderen und zog alle paar Sekunden die Schultern ein.
Sein Kollege kam mir weitaus ruhiger vor. Er war einen Kopf größer, hatte ein wettergegerbtes Gesicht und lange, zu einem dünnen Pferdeschwanz zusammengebundene Haare. Als ich näher kam, grinste er mich an und zeigte dabei eine Zahnlücke. Irgendwie hatte ich sofort den Eindruck, dass er der Gesprächigere von beiden war.
»Bonjour. Comment ça va?«, fragte ich.
»Bien«, sagten beide fast gleichzeitig und nickten. Gut.
Ich zeigte ihnen meinen Ausweis und fragte, ob sie die Knochen gefunden hätten. Wieder nickten sie.
»Wie kam es dazu?«, fragte ich und zog ein kleines, spiralgebundenes Notizbuch aus meinem Rucksack. Ich klappte es auf, drückte die Mine aus meinem Kugelschreiber und lächelte die beiden aufmunternd an.
Der Mann mit dem Pferdeschwanz schien nur darauf gewartet zu haben, endlich sprechen zu dürfen. Die Worte strömten nur so aus seinem Mund. Für ihn schien die Sache ein richtiges Abenteuer zu sein. Ich musste schon genau hinhören, um sein Französisch zu verstehen, denn er ließ die Worte ineinanderfließen und verschluckte die Endungen, wie es weiter oben am St.-Lawrence-Strom üblich ist.
»Wir haben das Unterholz ausgelichtet. Das gehört zu unserem Job«, sagte er und deutete hinauf zu den Hochspannungsmasten. »Unter der Leitung dürfen keine Bäume wachsen.«
Ich nickte.
»Als ich zu der Senke da drüben kam …«, fuhr er fort und deutete auf ein Gehölz, das quer über das Grundstück lief, »… stieg mir ein komischer Geruch in die Nase.« Er hielt inne und blickte hinüber zu den Bäumen.
»Was verstehen Sie unter komisch?«
Er drehte sich wieder zu mir. »Na ja, vielleicht nicht direkt komisch«, meinte er und biss sich auf die Unterlippe, während er seinen Wortschatz nach dem richtigen Ausdruck durchforstete. »Eher tot«, sagte er schließlich. »Wissen Sie, wie etwas Totes riecht?«
Ich sagte nichts und wartete darauf, dass er weitersprach.
»Kennen Sie das, wenn sich Tiere irgendwohin verkriechen, um zu sterben?« Während er das sagte, zuckte er ganz leicht mit der Schulter und sah mich an, um von mir eine Bestätigung zu erhalten. Ich wusste genau, wovon er sprach. In meinem Job bin ich mit dem Geruch des Todes sozusagen per Du. Ich nickte.
»Ich dachte, dass vielleicht irgendwo in der Senke ein toter Hund oder Waschbär herumliegt, und stocherte mit dem Rechen ein bisschen im Laub herum. Auf einmal wurde der Geruch wirklich penetrant. Und dann sah ich, dass da ein paar Knochen waren.«
Schulterzucken.
»Verstehe«, sagte ich und verspürte ein mulmiges Gefühl in der Magengrube. Alte Gräber stinken nicht.
»Ich rief nach Gil …«, sagte der Arbeiter und blickte hinüber zu seinem Kollegen, der aber nur auf seine Fußspitzen starrte, »… und dann schaufelten wir zusammen Laub weg. Und was da zum Vorschein kam, sah nicht gerade wie ein Hund oder ein Waschbär aus.« Bei diesen Worten verschränkte der Arbeiter die Arme vor der Brust, senkte das Kinn und wippte auf seinen Fersen vor und zurück.
»Inwiefern?«
»Zu groß«, antwortete er und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Die Zungenspitze sah aus wie ein Regenwurm, der gerade aus der Erde kriecht.
»Ist Ihnen sonst noch etwas aufgefallen?«
»Wie meinen Sie das?«
»Haben Sie vielleicht noch etwas anderes außer den Knochen gefunden?«
»Ja. Und genau das ist ja das Merkwürdige.« Er breitete die Arme aus, um die Abmessungen des Fundes zu zeigen. »So einen großen Plastiksack, in dem das Zeug drinsteckte, und …« Er zuckte wieder mit den Schultern und verstummte mitten im Satz.
»Was und?«, fragte ich. Mein mulmiges Gefühl verstärkte sich.
»Une ventouse«, sagte er rasch und klang dabei peinlich berührt und aufgeregt zugleich. Gil schien ebenso perplex zu sein wie ich, denn jetzt flog sein Blick rasend schnell zwischen seinem Kollegen und mir hin und her.
»Wie bitte?«, fragte ich für den Fall, dass ich mich verhört haben sollte.
»Une ventouse. So ein Gummisauger, wie man ihn verwendet, wenn das Waschbecken verstopft ist.« Er umfasste mit seinen Händen einen unsichtbaren Stiel und bewegte sie auf und ab. Die makabre kleine Pantomime erschien mir vollkommen deplatziert und jagte mir einen Schrecken ein.
Gil gab ein düsteres »Sacré…« von sich und starrte wieder auf seine Füße. Hier stimmte was nicht. Ich schrieb schnell noch ein paar Worte ins Notizbuch und klappte es zu.
»Ist es feucht da unten?«, fragte ich, denn ich wollte Gummistiefel und Overall nur dann anziehen, wenn es wirklich nötig war.
»Eigentlich nicht«, sagte der Mann mit dem Pferdeschwanz und sah zu Gil hinüber, der zur Bestätigung den Kopf schüttelte, aber nicht aufsah.
»Na schön. Dann sehen wir uns die Sache einmal genauer an.« Ich hoffte, dass ich ruhiger wirkte, als ich in Wirklichkeit war.
Der Arbeiter mit dem Pferdeschwanz ging voraus in das Gehölz. Langsam stiegen wir in eine kleine, mit Bäumen und Gestrüpp bewachsene Senke hinab. Der Arbeiter bog die dickeren Äste für mich zurück, und ich gab sie an Gil weiter. Trotzdem konnte ich nicht verhindern, dass kleinere Zweige mir die Haare noch mehr durcheinanderbrachten. In der Senke roch es nach feuchter Erde und verrottetem Laub. Die Sonnenstrahlen, die durch das Blätterdach fielen, zeichneten ein Fleckenmuster auf den Boden, das aussah wie die Teile eines Puzzles. Kleine Staubpartikel tanzten im schräg einfallenden Licht. Insekten schwirrten mir ums Gesicht und summten in meinen Ohren, während irgendwelche Käfer oder Ameisen über meine nackten Knöchel krabbelten.
Als wir am Boden der Senke angekommen waren, musste sich der Arbeiter mit dem Pferdeschwanz kurz orientieren. Dann ging er nach rechts, und ich folgte ihm. Ich schlug nach Moskitos, bog Zweige zur Seite und spähte durch die herumtanzenden Wolken winziger Stechmücken nach vorn. Ab und zu flog mir eine von diesen Mücken direkt ins Auge, so dass ich heftig blinzeln musste. Bald stand mir der Schweiß in dicken Tropfen über der Oberlippe, und meine Haare klebten am Kopf. Um herumfliegende Strähnen brauchte ich mir nun keine Sorgen mehr zu machen. Gott sei Dank hatte ich keine besseren Klamotten angezogen.
Etwa fünfzehn Meter vom Fundort entfernt brauchte ich niemanden mehr, der mir den Weg wies. Jetzt nämlich durchdrangen die unverkennbaren Ausdünstungen des Todes das lehmige Aroma der vom Sonnenlicht erwärmten Walderde. Nichts auf der Welt riecht so schlimm wie verwesendes Fleisch. Dieser süßliche, übelkeiterregende Gestank verstärkte sich bei jedem meiner Schritte wie das Zirpen einer Grille, das langsam anschwillt, wenn man sich ihr nähert. Bald hatte er den Duft von Moos, Harz und Humus vollständig verdrängt.
Gil ließ sich immer mehr zurückfallen und blieb schließlich in ein paar Metern Entfernung stehen. Ihm genügte offenbar der Gestank, er musste nicht noch einmal einen Blick auf dessen Ursprung werfen. Sein Kollege hingegen ging noch ein paar Schritte weiter und deutete dann wortlos auf einen Laubhaufen, um den die Fliegen brummten und kreisten wie Akademiker um ein kaltes Büfett.
Als ich die Fliegen sah, krampfte sich mein Magen zusammen, und meine innere Stimme sagte: »Siehst du, ich habe es dir doch gleich gesagt.«
Voller böser Vorahnungen lehnte ich meinen Rucksack an einen Baumstamm und nahm ein paar Latexhandschuhe heraus. Dann tastete ich mich vorsichtig durch das dichte Geäst auf den Haufen zu. Beim Näherkommen entdeckte ich die Stelle, an der die beiden Arbeiter mit ihren Rechen das Laub weggeschoben hatten. Was ich dort sah, bestätigte meine schlimmsten Befürchtungen.
Aus dem Laub ragte ein Brustkorb heraus, dessen Rippen mich an die Überreste eines kleinen, gestrandeten Bootes erinnerten. Als ich vor dem Haufen in die Hocke ging, erhob sich laut brummend ein Fliegenschwarm. Die fetten Leiber glänzten grünlich im Sonnenlicht. Mit einem Stöckchen entfernte ich Laub und Erde, bis ich sah, dass die Rippen noch von einem Stück Wirbelsäule zusammengehalten wurden. Dann holte ich tief Luft, zog die Handschuhe an und machte mich daran, die Knochen von Blättern und Kiefernnadeln zu befreien. Vom Sonnenlicht erschreckt, ergriffen ganze Scharen von Käfern und Asseln die Flucht und verkrochen sich in die Lücken zwischen den einzelnen Wirbeln.
Es dauerte etwa zehn Minuten, bis ich den Laubhaufen abgetragen und die von Gil und seinem Kollegen gefundenen Knochen vollständig freigelegt hatte. Ich strich mir mit meinen latexumhüllten Fingern eine Haarsträhne aus dem Gesicht und hockte mich auf meine Fersen, um das Ergebnis zu begutachten.
Auf etwa einem Quadratmeter Fläche lag der teilweise skelettierte Oberkörper einer menschlichen Leiche, deren Brustkorb, Wirbelsäule und Becken noch immer von vertrockneten Muskeln und Bändern zusammengehalten wurden. Während das Gehirn und innere Organe oft innerhalb weniger Wochen von Bakterien und Insekten aufgefressen werden, setzt das Bindegewebe den Verrottungsprozessen sehr viel mehr Widerstand entgegen. So dauert es Monate und manchmal sogar Jahre, bis es vollständig verwest ist.
Auch an diesem Torso konnte ich bei näherem Hinsehen an den Brust- und Unterleibsknochen bräunliche Reste eingetrockneten Gewebes entdecken. Während ich so dahockte, die Schmeißfliegen brummen hörte und nachdenklich das Schattenspiel der Blätter auf dem sonnenbeschienenen Waldboden betrachtete, wurden mir zwei Dinge klar: Erstens konnte es sich bei diesen Knochen nicht um die Überreste eines Tieres handeln, und zweitens lagen sie noch nicht allzu lange hier im Gehölz.
Und noch etwas wusste ich genau: Der Mensch, dem dieser Brustkorb und dieses Becken einmal gehört hatten, war ermordet und zerstückelt worden. Dann hatte jemand den Torso in einen ganz normalen, haushaltsüblichen Müllsack gesteckt und hierhergebracht. Der Sack, der von den Arbeitern aufgerissen worden war, lag immer noch unter dem Leichenteil, an dem Kopf und Gliedmaßen ebenso fehlten wie irgendwelche Gegenstände, anhand derer man es hätte identifizieren können. Bis auf einen natürlich: den Gummisauger.
Er stand zwischen den Beckenknochen, und dass sein Holzgriff wie ein umgedrehtes Eis am Stiel direkt im Beckenausgang steckte, war bestimmt kein Zufall.
Als ich aufstand, taten mir vom langen In-der-Hocke-Sitzen die Knie weh. Aus Erfahrung wusste ich, dass aasfressende Tiere Leichenteile über beachtliche Entfernungen fortschleppen können. Hunde zum Beispiel verstecken ihre Beute gerne im dichten Unterholz, und Füchse, Dachse und Waschbären schaffen oft kleinere Knochen oder Zähne in ihren Bau. Also wischte ich mir die Hände ab und sah mich in der unmittelbaren Nachbarschaft des Torsos nach Tierspuren um.
Die Schmeißfliegen brummten, und weit, weit entfernt auf der Rue Sherbrooke hupte ein Auto. Bilder von anderen Wäldern, anderen Gräbern und anderen Knochen gingen mir wie zusammenhanglos aneinandergeklebte Schnipsel aus alten Filmen durch den Kopf. Aufmerksam suchte ich den Waldboden ab, und als ich dabei ganz langsam den Kopf drehte, meinte ich, im Muster des schattengefleckten Laubs ganz flüchtig etwas aufblitzen zu sehen. Es war mehr eine Ahnung als eine konkrete Sinneswahrnehmung gewesen und so flüchtig, dass ich es nicht hatte lokalisieren können. Ich drehte den Kopf noch einmal in dieselbe Richtung. Nichts. Obwohl ich mir schon nicht mehr sicher war, dass ich überhaupt etwas gesehen hatte, rührte ich mich nicht vom Fleck. Als ich die Insekten vor meinen Augen fortwedelte, bemerkte ich, dass es nicht mehr so warm war wie vorhin.
Mist. Noch immer starrte ich auf den Waldboden. Ein leichter Wind kam auf. Er fuhr mir durch die schweißnassen Haare und raschelte in den Blättern der Bäume. Und dann bemerkte ich es wieder. In einiger Entfernung blinkte etwas ganz schwach im Sonnenlicht. Unsicher machte ich ein paar Schritte darauf zu und konzentrierte mich dabei voll auf das zitternde Schattenmuster am Boden, wo aber beim besten Willen nichts zu sehen war. Vermutlich hatte ich mich doch getäuscht.
Aber dann bewegte ein Windstoß das Laub am Boden, und ich sah deutlich, wie das warme Nachmittagslicht ganz kurz von einer mattglänzenden Oberfläche reflektiert wurde. Mit angehaltenem Atem trat ich näher. Was ich fand, erstaunte mich nicht. Da haben wir die Bescherung, dachte ich.
Aus einem Hohlraum zwischen den Wurzeln eines Tulpenbaums schaute ein weiterer Plastiksack hervor. Rings um den Baum und den Sack wuchsen leuchtend gelbe Butterblumen, die aussahen, als wären sie soeben einer Illustration von Beatrix Potter entsprungen. Sie bildeten einen merkwürdigen Kontrast zu dem Müllsack, von dem ich schon jetzt wusste, dass er einen grausigen Inhalt bergen würde.
Laub raschelte, und kleine Zweige knackten unter meinen Füßen, als ich auf den Tulpenbaum zuging. Ich hielt mich mit einer Hand am Stamm fest und tastete mit der anderen nach dem Sack. Als ich genügend davon für einen sicheren Griff in der Hand hatte, zog ich vorsichtig daran. Der Sack bewegte sich nicht. Ich wand die Folie noch einmal um meine Finger, zog fester und spürte, wie er sich löste. Beim Ziehen merkte ich, dass etwas Schweres darin sein musste. Mücken schwirrten um mein Gesicht, und der Schweiß lief mir den Rücken hinab. Mein Herz hämmerte wie der Bass in einem Heavy-Metal-Song.
Nachdem sich der Sack mit einem letzten Ruck vollständig gelöst hatte, zog ich ihn ein Stück weit von dem Baum fort, um ihn zu öffnen. Irgendwie wollte ich das nicht zwischen den fröhlich blühenden Beatrix-Potter-Blümchen tun. An Form und Gewicht des Sacks hatte ich längst erraten, was er enthalten musste. Als ich den Knoten an der Öffnung des Sacks löste, schlug mir ein unerträglicher Verwesungsgeruch entgegen. Mit angehaltenem Atem zog ich die Plastikfolie auseinander.
Aus dem Müllsack starrte mir ein menschliches Gesicht entgegen. Weil die Plastikfolie es vor Insektenfraß geschützt hatte, waren seine Züge noch zu erkennen, auch wenn Hitze und Feuchtigkeit sie zu einer grausigen Totenmaske entstellt hatten.
Zwei kleine, eingeschrumpfte Augen starrten stumpf unter halbgeschlossenen Lidern hervor. Die Nase war umgeknickt und vom Gewicht des Kopfes so flach auf eine der eingefallenen Wangen gepresst worden, dass sich die Nasenlöcher in schmale Schlitze verwandelt hatten. Die dünnen Lippen waren zu einem ewigen Grinsen verzerrt und entblößten eine Reihe makelloser Zähne. Die teigig-weiße Gesichtshaut, die sich wie ein nasses Leintuch den Konturen der Schädelknochen anpasste, wurde umrahmt von vollem mattrotem Haar, dessen glanzlose Korkenzieherlocken von flüssig gewordener Gehirnmasse durchtränkt waren.
Erschüttert schloss ich den Sack und erinnerte mich auf einmal wieder daran, dass ich nicht allein in dem Gehölz war. Als ich mich nach den Arbeitern umdrehte, blickte mich der Mann mit dem Pferdeschwanz interessiert an. Sein Kollege wartete in einiger Entfernung. Er hatte die Schultern hochgezogen und seine Hände tief in den Taschen seiner Latzhose vergraben.
Ich zog die Latexhandschuhe aus und ging wortlos an den beiden vorbei. Auch sie sagten nichts, aber am Rascheln des Laubs hinter mir konnte ich hören, dass sie mir folgten. Ich verließ das Wäldchen und steuerte auf den Streifenwagen zu, der noch immer draußen auf der Straße stand.
Constable Groulx lehnte an der Kühlerhaube und rührte sich nicht, obwohl er mich auf sich zukommen sah. Ich hatte schon mit freundlicheren Beamten zu tun.
»Dürfte ich bitte mal Ihr Funkgerät benutzen?«, fragte ich in ziemlich kühlem Ton.
Groulx drückte sich mit beiden Händen in eine aufrechte Position und ging um den Wagen herum zur Fahrerseite. Er griff durch das geöffnete Fenster, nahm das Mikro aus seiner Halterung und sah mich fragend an.
»Die Mordkommission«, sagte ich.
Er warf mir einen überraschten Blick zu, den er aber gleich wieder zu bedauern schien. »Section des homicides«, sagte er mit ungerührter Miene ins Mikrofon. Es dauerte eine Weile, dann war durch das Rauschen des Funkgeräts die gereizte Stimme eines Beamten zu hören.
»Claudel hier. Was ist denn los?«
Constable Groulx gab mir das Mikro. Ich sagte, wer und wo ich war. »Ich habe ein Mordopfer entdeckt«, fuhr ich fort. »Dem ersten Anschein nach weiblich. Wahrscheinlich enthauptet. Vermutlich wurde sie woanders umgebracht. Sie sollten so schnell wie möglich die Spurensicherung vorbeischicken.«
Eine ganze Weile kam keine Antwort. Meine Nachricht, so schien es, wurde nicht gerade begeistert aufgenommen.
»Pardon?«
Ich wiederholte das Gesagte und bat Claudel, bei meinem Institut anzurufen und Pierre LaManche zu verständigen. Diesmal war es kein Fall für die Archäologen.
Ich gab Groulx, der alles mitangehört hatte, das Mikrofon zurück und fragte ihn, ob er schon die Aussagen der beiden Arbeiter aufgenommen habe. Als ihm dämmerte, dass sein Feierabend damit in noch weitere Ferne rückte, machte er ein Gesicht, als wäre er soeben zu einer langjährigen Haftstrafe verurteilt worden. Mein Mitleid mit ihm hielt sich in Grenzen, denn auch mit meinem Wochenende in Quebec City war es jetzt vorbei. Als ich später zu meiner Wohnung fuhr, hatte ich eine unbestimmte Ahnung, dass dieser Fall mir und anderen noch viele schlaflose Nächte bereiten würde. Schon bald sollten sich diese Befürchtungen als absolut berechtigt herausstellen. Was ich damals allerdings noch nicht ahnen konnte, war das Ausmaß des Grauens, das uns erwartete.