Wunder – Christophers Universum
Aus dem Englischen von André Mumot
Aktuelle Untersuchungen verändern unser Verständnis des Planetensystems, und es ist wichtig, dass unsere Nomenklatur für die Himmelskörper dies auch widerspiegelt. Dies betrifft insbesondere den Begriff der »Planeten«. Das Wort »Planet« bezeichnete ursprünglich »Wanderer«, die nur als bewegliche Lichter am Himmel bekannt waren. Die neuesten Entdeckungen haben uns zu einer Neudefinition veranlasst, die auf wissenschaftlichen Informationen beruht, die uns erst seit Kurzem zur Verfügung stehen.
Internationale Astronomische Union (IAU), Auszug aus der Resolution B5
Es ist so ein geheimnisvoller Ort, das Land der Tränen.
Antoine de Saint-Exupéry, »Der kleine Prinz«
Ich war zwei Tage alt, als ich Auggie Pullman zum ersten Mal begegnete. Daran kann ich mich selbst natürlich nicht mehr erinnern, aber meine Mom hat mir davon erzählt. Meine Eltern hatten mich damals gerade aus dem Krankenhaus nach Hause geholt, und bei Auggie und seinen Eltern war es genauso. Auggie war allerdings schon drei Monate alt. Er war länger im Krankenhaus geblieben, denn er hatte noch mehrmals operiert werden müssen, weil er sonst nicht hätte atmen und schlucken können. Atmen und Schlucken sind Sachen, über die die meisten Leute nie groß nachdenken, das geht ja alles ganz automatisch bei uns. Bei Auggie ging es jedoch nicht automatisch, als er zur Welt kam.
Meine Eltern nahmen mich mit zum Haus von Auggies Eltern, damit wir uns kennenlernen konnten. Auggie lag im Wohnzimmer und war an sehr vielen medizinischen Apparaten angeschlossen. Meine Mom hob mich hoch, sodass mein Gesicht ganz nah an das von Auggie herankam.
»August Matthew Pullman«, sagte sie, »das ist Christopher Angus Blake, dein neuer ältester Freund.«
Und dann applaudierten unsere Eltern und stießen zur Feier des Tages an.
Meine Mom und Auggies Mom – Isabel – waren schon vor unserer Geburt beste Freundinnen. Sie liefen einander in einem Supermarkt in der Amesfort Avenue über den Weg, gleich nachdem meine Eltern in das Viertel gezogen waren. Da beide bald Babys bekommen würden und direkt gegenüber voneinander in derselben Straße wohnten, beschlossen sie, eine Müttergruppe zu gründen. Das heißt, ein ganzer Haufen Mütter trifft sich regelmäßig, und die lassen dann ihre Kinder miteinander spielen. Anfangs waren noch ungefähr sechs oder sieben andere Moms in der Müttergruppe. Sie haben sich schon ein paar Mal getroffen, bevor die Babys geboren wurden. Doch nachdem Auggie zur Welt gekommen war, blieben nur noch zwei weitere Mütter in der Gruppe: die von Zachary und die von Alex. Was mit den anderen Müttern passiert ist, weiß ich nicht.
In den ersten zwei Jahren trafen sich die vier Moms aus der Gruppe – zusammen mit uns Babys – beinahe jeden Tag. Sie packten uns in die Kinderwagen und joggten zusammen durch den Park. Sie trugen uns in Wickeltüchern vor dem Bauch und machten lange Spaziergänge am Fluss. Und mittags setzten sie uns in unsere Babystühle und aßen gemeinsam in der Heights Lounge.
Auggie und seine Mom waren nur dann nicht dabei, wenn Auggie wieder einmal ins Krankenhaus musste. Er brauchte viele Operationen, denn genau wie mit dem Atmen und Schlucken gab es auch noch andere Sachen, die er nicht automatisch machen konnte. Er konnte zum Beispiel nicht essen. Er konnte nicht sprechen. Er konnte noch nicht mal seinen Mund richtig zumachen. Damit er all das tun konnte, mussten die Ärzte ihn operieren. Aber auch nach den OPs konnte Auggie nicht wirklich so essen oder reden oder den Mund zumachen wie Zack und Alex und ich. Auch nach den OPs war Auggie noch ganz anders als wir.
Ich glaube, erst mit vier Jahren hab ich so richtig verstanden, wie anders Auggie im Vergleich zu allen anderen war. Es war Winter. Auggie und ich waren in unsere Parkas und Schals eingepackt, und wir spielten draußen auf dem Spielplatz. Irgendwann stiegen wir die Leiter der Kletterburg hoch und warteten in der Schlange, um die große Rutsche runterzurutschen. Als wir fast an der Reihe waren, traute sich das kleine Mädchen vor uns nicht und wollte uns vorlassen. Sie drehte sich um, und in dem Augenblick sah sie Auggie. Sie bekam ganz große Augen, und ihr sackte die Kinnlade runter, und dann fing sie an, wie wild zu schreien und zu heulen. Sie war so durch den Wind, dass sie gar nicht mehr die Leiter runterklettern konnte. Ihre Mom musste raufkommen und sie holen. Auggie fing dann auch an zu weinen, weil er wusste, dass das Mädchen seinetwegen heulte. Schnell wickelte er sein Gesicht in seinen Schal ein, damit niemand es sehen konnte, und dann musste auch seine Mom das Gerüst raufklettern, um ihn zu holen. An alle Einzelheiten kann ich mich nicht mehr erinnern, aber ich weiß, dass es eine riesige Aufregung gab. Es hatte sich schon eine kleine Menschengruppe um die Rutsche versammelt, und die Leute tuschelten miteinander. Ich weiß noch, dass wir den Spielplatz ganz schnell verlassen haben. Und ich erinnere mich, dass ich auch in Isabels Augen Tränen gesehen habe, als sie Auggie nach Hause getragen hat.
Da habe ich zum ersten Mal erlebt, wie anders Auggie von allen anderen gesehen wurde. Es war aber nicht das letzte Mal. Mit dem Losheulen ist das bei den meisten Kindern nämlich genau wie mit dem Atmen und dem Schlucken: es kommt ganz automatisch.
Ich weiß nicht, warum ich heute Morgen an Auggie denken musste. Es ist jetzt ja schon drei Jahre her, dass wir weggezogen sind, und seit seiner Geburtstagsparty auf der Bowlingbahn im Oktober hab ich ihn nicht mehr gesehen. Vielleicht hab ich von ihm geträumt. Ich weiß nicht. Aber als Mom, ein paar Minuten nachdem ich meinen Wecker ausgestellt hatte, in mein Zimmer kam, dachte ich an ihn.
»Bist du wach, Spätzchen?«, fragte sie sanft.
Zur Antwort zog ich mir bloß das Kissen übers Gesicht.
»Zeit, wach zu werden, Chris«, sagte sie fröhlich und zog die Vorhänge an meinem Fenster auf. Selbst mit geschlossenen Augen und unter meinem Kissen merkte ich, dass mein Zimmer jetzt viel zu hell war.
»Mach die Vorhänge wieder zu!«, murmelte ich.
»Sieht aus, als würde es heute den ganzen Tag regnen«, seufzte sie, ließ die Vorhänge aber offen. »Na los, du willst doch nicht schon wieder zu spät kommen. Und heute musst du noch unter die Dusche.«
»Ich hab doch erst vor zwei Tagen geduscht!«
»Eben!«
»Urgh«, stöhnte ich.
»Na los, du Krümel«, sagte sie und klopfte auf mein Kissen.
Ich riss es mir vom Gesicht. »Okay!«, rief ich. »Ich steh auf. Bist du jetzt glücklich?«
»Du bist morgens so ein Miesepeter«, sagte sie und schüttelte den Kopf. »Was ist nur aus meinem süßen Viertklässler vom letzten Jahr geworden?«
»Lisa!«, gab ich zurück.
Sie hasst es, wenn ich sie mit ihrem Vornamen anrede. Ich dachte, das würde sie dazu bringen, mein Zimmer zu verlassen, aber stattdessen hob sie irgendwelche Klamotten vom Boden auf und stopfte sie in meinen Wäschesack.
»War gestern Abend eigentlich irgendwas los?«, fragte ich, immer noch mit geschlossenen Augen. »Ich hab mitgekriegt, dass du mit Isabel telefoniert hast, als ich ins Bett gegangen bin. Du hast dich so komisch angehört …«
Sie setzte sich auf meine Bettkante.
Ich rieb mir den Schlaf aus den Augen. »Was?«, fragte ich. »Ist es was Schlimmes? Ich glaub, ich hab heute Nacht von Auggie geträumt.«
»Nein, Auggie geht’s gut«, antwortete sie und verzog dabei ein bisschen das Gesicht. Sie strich mir die Haare aus den Augen. »Eigentlich wollte ich damit warten, bis …«
»Was?«, unterbrach ich.
»Ich fürchte, Daisy ist gestern Abend gestorben, Spätzchen.«
»Was?«
»Tut mir leid, mein Schatz.«
»Daisy!« Ich verdeckte mein Gesicht mit den Händen.
»Es tut mir leid, Spätzchen. Ich weiß, wie sehr du Daisy geliebt hast.«
Ich weiß noch genau, wie Auggies Dad damals mit Daisy aufgekreuzt ist. Auggie und ich spielten gerade Memory auf seinem Zimmer, als wir von unten plötzlich so ein hohes Quieken hörten. Das kam von Via, Auggies großer Schwester. Wir hörten auch Isabel und Lourdes, meine Babysitterin, wie sie ganz aufgeregt durcheinanderredeten. Also rannten wir die Treppe runter, um nachzusehen, was der ganze Aufruhr zu bedeuten hatte.
Nate, Auggies Dad, saß auf einem der Küchenstühle, und auf seinem Schoß zappelte ein ziemlich verrückt aussehender gelber Hund. Via kniete vor ihm und versuchte ihn zu streicheln, aber der Hund war total aufgekratzt und wollte ihr ständig die Hand lecken, die Via immer wieder zurückzog.
»Ein Hund!«, rief Auggie begeistert und rannte zu seinem Dad hinüber.
Ich wollte gleich hinterher, aber Lourdes hielt mich am Arm fest.
»Oh nein, Cariño«, sagte sie. Damals hatte sie gerade erst als Babysitterin bei uns angefangen, und ich kannte sie noch nicht so gut. Ich weiß noch, sie hat mir immer Babypuder in die Turnschuhe gestreut, was ich heute nach wie vor mache, weil es mich an sie erinnert.
Isabel hatte sich die Hände gegen die Schläfen gedrückt. Es war offensichtlich, dass Nate gerade eben erst zur Tür hereingekommen war. »Ich fasse es nicht, dass du das getan hast, Nate«, sagte sie immer wieder. Sie stand mit Lourdes neben dem Kühlschrank.
»Warum darf ich ihn nicht streicheln?«, fragte ich Lourdes.
»Weil Nate sagt, vor drei Stunden hat der Hund noch mit einem Obdachlosen auf der Straße gelebt«, entgegnete sie. »Das ist widerlich.«
»Sie ist nicht widerlich – sie ist wunderschön!«, sagte Via und küsste den Hund auf die Stirn.
»In meinem Land bleiben Hunde draußen«, sagte Lourdes.
»Er ist so niedlich!«, rief Auggie.
»Es ist eine Sie!«, korrigierte Via und knuffte Auggie in die Seite.
»Sei vorsichtig, Auggie!«, sagte Isabel. »Dass du die Zunge nicht ins Gesicht bekommst.«
Aber der Hund leckte Auggie bereits das gesamte Gesicht ab.
»Der Tierarzt sagt, dass sie völlig gesund ist, Leute«, sagte Nate zu Isabel und Lourdes.
»Nate, sie hat auf der Straße gelebt!«, erwiderte Isabel. »Wer weiß, was sie für Krankheiten hat.«
»Der Tierarzt hat ihr sämtliche Impfungen verpasst, sie ordentlich gebadet und überprüft, dass sie keine Würmer hat«, sagte Nate. »Unser kleiner Welpe hier hat ein perfektes Gesundheitszeugnis.«
»Das ist kein Welpe, Nate!«, stellte Isabel klar.
Sie hatte recht: Die Hündin war nicht so klein und weich und rundlich, wie Welpen es meistens sind. Sie war dürr und knochig, hatte einen ziemlich irren Blick, und ihre lange schwarze Zunge hing ihr seitlich aus dem Maul. Und ein besonders kleiner Hund war sie auch nicht gerade. Sie hatte dieselbe Größe wie der Labradoodle meiner Großmutter.
»Okay«, sagte Nate. »Dann ist sie eben, na ja, fast noch ein Welpe.«
»Zu welcher Rasse gehört sie denn?«, fragte Auggie.
»Der Tierarzt meint, sie ist ein Labrador-Retriever-Mischling«, erwiderte Nate. »Vielleicht steckt noch ein Chow-Chow mit drin.«
»Eher ein Pitbull, würde ich sagen«, sagte Isabel. »Hat er dir wenigstens sagen können, wie alt sie ist?«
Nate zuckte mit den Schultern. »Er war sich nicht ganz sicher«, erwiderte er. »Zwei oder drei Jahre? Normalerweise kann man das am Gebiss erkennen, aber ihre Zähne sind in keinem guten Zustand, weil … na ja, vermutlich hat sie ihr ganzes Leben lang nur Müll gefressen.«
»Abfälle und Ratten«, meinte Lourdes, als wäre das sonnenklar.
»Oh, Gott!«, murmelte Isabel und rieb sich mit der Hand übers Gesicht.
»Sie hat einen ziemlich fiesen Mundgeruch«, sagte Via und wedelte mit der Hand vor ihrer Nase.
»Isabel«, sagte Nate und schaute zu ihr auf. »Das Schicksal hat sie uns zugeführt.«
»Moment! Das heißt, wir behalten sie?«, rief Via aufgeregt und riss die Augen auf. »Ich dachte, wir passen nur auf sie auf, bis wir ein Zuhause für sie gefunden haben!«
»Ich denke, ihr Zuhause sollte hier bei uns sein«, sagte Nate.
»Echt, Dad?«, rief Auggie.
Nate lächelte und deutete mit dem Kinn auf Isabel. »Aber die Entscheidung liegt bei Mommy, Leute«, sagte er.
»Das kann ja wohl nicht dein Ernst sein, Nate!«, stieß Isabel aus, während Via und Auggie auf sie zustürzten, und die Hände vor ihr falteten, als würden sie beten.
»Bitte bitte bitte bitte bitte bitte bitte bitte bitte«, sagten sie wieder und wieder. »Bitte, dürfen wir? Bitte bitte bitte bitte?«
»Ich fasse es nicht, dass du mir das antust, Nate!«, sagte Isabel und schüttelte den Kopf. »Als wäre unser Leben nicht schon kompliziert genug!«
Nate lächelte und betrachtete die Hündin in seinem Schoß, die seinen Blick erwiderte. »Sieh sie dir doch nur mal an, Schatz! Sie hat gefroren und wäre fast verhungert. Der Obdachlose wollte sie mir für zehn Dollar verkaufen. Was sollte ich denn da machen – nein sagen?«
»Ja!«, erwiderte Lourdes. »Ganz einfache Sache.«
»Es gibt gutes Karma, wenn man das Leben eines Hundes rettet!«, entgegnete Nate.