1 Ein Schicksalstag
Vilnius, an einem Donnerstag im Januar 2011. Ich bin erst wenige Tage in der Stadt. Hier treffe ich Valdas Petrauskas. Er war am Ende des Zweiten Weltkriegs selbst noch ein Jugendlicher und erinnert sich an die »vokietukai«, die »kleinen Deutschen«, wie die Litauer beinahe schon liebevoll die Kinder aus Ostpreußen nannten, die hungernd durch das Land streunten. Aber noch wacher werden seine Augen, wenn er sich den Blutsonntag im Januar 1991 ins Gedächtnis ruft. Ein Schicksalstag sowohl für Litauen als auch für die Wolfskinder.
Damals besetzten sowjetische Panzer die Hauptstadt des freien Litauens. International anerkannt war die »Republik Litauen« zu diesem Zeitpunkt freilich noch nicht. Michail Gorbatschow hatte ein Ultimatum gestellt. Das Land sollte seine im Vorjahr ausgerufene Unabhängigkeit zurücknehmen. Die Situation in der noch jungen Republik war durch eine massive Wirtschafts- und Rohstoffblockade Moskaus prekär geworden. Wie schon so oft in der Geschichte des Kalten Krieges sollten Panzer einmal mehr den Zusammenhalt des – bereits zerfallenden – Ostblocks sichern.
Zu den Mutigen dieser historischen Stunde gehörte der eben erst gewählte Parlamentspräsident Vytautas Landsbergis, der sich mit den Abgeordneten in ihrem Dienstgebäude am Ģediminas Prospekt verschanzt hatte. In einer dramatischen Fernsehansprache appellierte Landsbergis an das Volk und bat es um Schutz. Zu Tausenden strömten Menschen zum Parlament und verdrängten so die vom KGB bestellten Demonstranten und Claqueure. Tag und Nacht bewachten sie ihr Parlament – bereit, für die neu gewonnene Freiheit zu sterben. Wie in alten Zeiten begleiteten Priester diesen Kampf, um den Gläubigen die Beichte abzunehmen und letzte Sakramente zu spenden. »Viele Litauer waren unter Stalin in der Verbannung in Sibirien gewesen. Fast jeder kannte solche Fälle aus der eigenen Verwandtschaft«, erzählt Valdas. »Und viele sind auch nicht mehr zurückgekommen.« Die damals vom Schicksal Verschonten hatten in dieser Stunde weit mehr zu gewinnen als zu verlieren. Der Fall der Mauer in Berlin hatte den Eisernen Vorhang einen Spalt geöffnet, und die Litauer schienen nicht mehr gewillt, diese einmalige Chance verstreichen zu lassen.
Nicht nur am Parlament versammelten sich die Menschen. Auch am Sendezentrum der Fernsehanstalt standen sie in dichten Reihen. Dort eskalierte die Situation. Panzer zielten über die Köpfe der Menge hinweg, Soldaten gingen brutal gegen die friedlichen Demonstranten vor, schlugen sie mit Gewehren und Eisenstangen nieder. Schließlich eröffneten sie das Feuer, schossen ohne Gnade. Unvergessen sind bis heute für die Litauer die Fernsehbilder. Angsterfüllt erstattete die Nachrichtensprecherin aus dem von innen verschlossenen Studio Bericht: »Jetzt hämmern sie gegen die Tür!« – Dann brach die Übertragung ab, ein sowjetischer Sender übernahm die Ausstrahlung.
Dennoch gelang es Landsbergis erneut, aus dem Parlament heraus sein Volk um Hilfe zu bitten. Etwa 150 000 Litauer bildeten eine undurchdringliche Mauer um das Gebäude, errichteten Straßensperren und verhinderten die Stürmung. 15 am Sendezentrum getötete Menschen und viele Schwerverletzte besiegelten durch ihr Opfer schließ-lich endgültig die Unabhängigkeit Litauens. Gorbatschow scheute ein weiteres Blutvergießen und zog die sowjetischen Truppen zurück.
An diesem Winterabend 2011 jährt sich der Schicksalstag für das baltische Land zum zwanzigsten Mal. Es ist der Nationalfeiertag. Die ganze Nacht hindurch brennen kleine Feuer in der Stadt, an denen sich die Menschen wärmen können, wie einst auf dem Platz vor dem Parlament und am Sendezentrum. Allgegenwärtig ist heute der verzaubernde Klang zahlloser Chöre. Was damals geschah, nennen sie die »Singende Revolution«, weil ab dem Ende der Achtzigerjahre zahlreiche Folklore- und Tanzgruppen die nationale Identität wachriefen und dadurch den Wandel begründeten.
Die Schatten der Torbögen und Einfahrten in der Altstadt sind furchteinflößend. Am Parlament zeigt mir Valdas die Betonbarrikaden, die zur Mahnung und Erinnerung geblieben sind und noch bis Ende 1992 das Parlamentsgebäude abriegelten. Heute sind sie hinter Glas, wirken mit den Graffiti und Bemalungen von einst wie Kunstwerke einer vergangenen Zeit. Valdas nimmt zum Abschied meine Hand bewegt in die seine. Es ist spät geworden.
Der Blutsonntag von Vilnius war global gesehen eine Randnotiz der Geschichte. Gerade hatte der Krieg am Golf begonnen und stand im Mittelpunkt des medialen Interesses. Doch für eine kleine Gruppe Deutscher, die seit 1945 in Litauen leben musste, öffnete sich erstmals die Tür zu einer Welt, die für sie ebenso weit entfernt wie unbekannt war – ins Land ihrer Väter.
Erst mit dem Ende des Kalten Krieges und der litauischen Revolution hatten die meisten der Wolfskinder überhaupt eine Chance, die abgerissenen Bande nach Deutschland erneut zu knüpfen. Die Hoffnungen waren groß. Die Bundesrepublik erschien als ein Sehnsuchtsort, dessen Name verheißungsvoll und wie das Paradies klang. Sicherlich, so dachten viele, würde man sie mit offenen Armen empfangen. Sie, die verlorenen Kinder, würden endlich ihren Platz finden und wieder dazugehören, denn sie waren ja zweifelsohne Deutsche.
Doch das vermeintliche Vaterland hatte seine Kinder zu diesem Zeitpunkt keineswegs im Blick. Noch waren im Osten Deutschlands 340 000 sowjetische Soldaten stationiert, waren die Zwei-plus-Vier-Verträge vom Obersten Sowjet nicht ratifiziert. Dies zog sich bis in den März 1991, und selbst noch im Juli des Jahres sprach Bundeskanzler Helmut Kohl von der »undifferenzierten Unterstützung der Unabhängigkeit einzelner Sowjetrepubliken« als »gefährlicher Dummheit«.
Es sollte also dauern, bis diplomatische Beziehungen aufgebaut waren. Doch erste Bande wurden geknüpft, und die Suchdienste von Rotem Kreuz und den Kirchen verzeichneten zunehmende Nachfragen.
Die wenigsten Wolfskinder fanden freilich ihre Eltern wieder. Etliche von ihnen waren im Laufe der Jahre bereits gestorben, einige ließen sich wegen Namensänderungen oder aus anderen Gründen nicht ermitteln. Wegen ihres unbegreiflichen Schicksals und seltsamen Auftretens wurden viele Wolfskinder zudem von ihren eben gefundenen deutschen Verwandten als peinlich wahrgenommen und verleugnet. In viele Fälle spielte zudem die Angst hinein, die »neuen armen Verwandten aus dem Osten« künftig versorgen zu müssen. Dabei war Geld für die wenigsten Wolfskinder vordergründig. Ihnen ging es in erster Linie um mehr Klarheit, was ihre Herkunft betraf, um Fotos der Eltern und der Geschwister aus der früheren Zeit.
Die unerwartete Ablehnung traf die Wolfskinder völlig unvorbereitet und traumatisierte sie ein weiteres Mal.
Fast alle von denen, die in Litauen geblieben waren, bewegt bis heute die Frage, wie wohl ihr Leben verlaufen wäre, wenn sie einst die Flucht nach Deutschland geschafft hätten. Oder, wie es Christel Scheffler, geboren 1939 in Königsberg, formuliert, »wenn ich nicht auf der Schattenseite des Lebens hängen geblieben wäre«.
Doch wie geht es den ehemaligen Wolfskindern, die schon seit Langem in Deutschland leben?
Gerhard Gudovius, der heute am Rande der Schwäbischen Alb lebt, hat viele Jahrzehnte nicht über sein Schicksal gesprochen. Erst als er im Frühjahr 2011 eine Buchbesprechung im Reutlinger General-Anzeiger liest, merkt er auf. Es geht um ein Jugendbuch, das vom Schicksal der Wolfskinder handelt. Doch als er erfährt, dass es keineswegs ein Sachbuch, sondern eine frei erfundene Geschichte ist, ist er enttäuscht. »Das ist ja ein rührseliger Kitsch! Und die Autorin hat nichts davon selbst erlebt!«, regt er sich noch Wochen später auf. Er schreibt einen Leserbrief und sucht auf diesem Weg Kontakt zu anderen »echten« Wolfskindern, die ebenfalls in der Region leben.
Als ich ihn das erste Mal treffe, wird mir schnell klar, dass es auch für ihn eine Frage gibt, die ihn bereits sein Leben lang begleitet. Der damals sechzehnjährige Kriegswaise Gerhard hatte nach einem halben Jahr des Bettelns in Litauen Aufnahme bei einer Bauernfamilie gefunden, die ihn wie den eigenen Sohn behandelte. Die Familie hatte Kinder in seinem Alter, und der halb verhungerte Junge passte sich rasch an. Gerhard erwies sich als geschickt und half tatkräftig in der Landwirtschaft mit. Bald schon wurde ihm eine wichtige Aufgabe anvertraut: Mit Pferd und Wagen brachte er täglich die Milch ins nahe gelegene Kalvarija.
»Fünf Jahre lebte ich dann schon bei der Familie. Sie nannten mich Gerhardas, und außer der Haarfarbe – ich war ein Blondschopf – unterschied mich nichts von ihnen.« Doch im Frühsommer 1951 kommen überraschend zwei Sowjetsoldaten und geben ihm die Order zur Ausreise. Alles geht ganz schnell, Gerhard weiß nicht, wie ihm geschieht. Am folgenden Tag schon soll er abgeholt werden. Als er seiner litauischen Familie vom Besuch der Staatsmacht erzählt, brechen alle in Tränen aus. Gerhard ist gerührt und wird sein Leben lang nicht vergessen, wie emotional der Abschied von der einzigen wirklichen Familie war, die er je hatte – an diesem seinem Schicksalstag.
»Was wäre wohl aus mir geworden, wenn ich damals in Litauen geblieben wäre?« Doch wer könnte ihm seine Frage beantworten? Ich schlage vor, dass wir gemeinsam die Wolfskinder aus Litauen auf ihrer Deutschlandreise treffen, um dieser Frage nachzugehen. Er sagt ohne Zögern zu.
Gerhard Gudovius lebt seit Mitte der Fünfzigerjahre in Reutlingen. Hier hat er seine Frau Gerlinde kennengelernt, hier kamen die Kinder zur Welt, hier hat er einen kleinen Garten auf der Anhöhe mit Blick über die Stadt. Auch wenn ihm die Schwaben im Wesen immer ein wenig fremd geblieben sind, findet er, dass der Ordnungssinn von Schwaben und Ostpreußen doch ganz gut zusammenpasst. Und dass er eigentlich Glück gehabt hat, am Ende ausgerechnet hierher gefunden zu haben. »Als ich bei der Ausreise hörte, dass es in die sowjetisch besetzte Zone geht, war mir klar, dass das nichts Gutes bedeutet und dass ich schauen muss, dass ich dort wegkomme.«
Seine Frau, die lange Jahre als Mesnerin bei der Kirchengemeinde gearbeitet hat, stammt ursprünglich aus dem Vogtland und ist wie ihr Mann in den Fünfzigerjahren nach Reutlingen gekommen. Gemeinsam hat das Ehepaar die Fremde zur neuen Heimat gemacht. »Wir hatten gute und weniger gute Zeiten«, sagt Gerlinde Gudovius. »Ein ganz normales Leben eigentlich.« Nur manchmal, da sei ihr Mann eben ein bisschen verschlossen gewesen, er habe über früher nicht reden mögen. Vielleicht sei er auch nicht immer ganz gerecht gewesen gegenüber den Kindern und habe mal einen über den Durst getrunken. Doch heute führen sie dem Anschein nach ein zufriedenes Leben. Das kleine Reihenendhaus in ruhiger Lage mieten sie zu einem guten Preis von der Gemeinde. Gemeinsam machen sie gerne Busreisen, um wenigstens im Alter noch ein bisschen von der Welt zu sehen. Es sind bescheidene Menschen, die ich hier treffe, denen es weder an Herzenswärme noch an Tiefe fehlt. »Aber es bleibt ein unbestimmtes Gefühl, das an einem nagt«, sagt Gerhard Gudovius schließlich. »Wäre das Leben, wäre alles vielleicht ein wenig einfacher gewesen, wenn ich damals hätte in Litauen bleiben können?«
Als wir an einem sonnigen Vormittag im Mai aufbrechen, um die Wolfskinder aus Litauen zu treffen, ist Gerhard Gudovius aufgekratzt. Er hat eine schlaflose Nacht hinter sich und versucht immer wieder in Gedanken zu rekonstruieren, wo genau die litauische Familie lebte, die ihn aufgenommen hatte. »Leider kann ich mich an keine Namen erinnern und auch nicht an das Dorf. Ich weiß, es war in der Nähe von Kalvarija, denn dorthin brachte ich ja immer die Milch zur Molkerei. Und dann war da so ein Teich, dort kühlten wir uns im Sommer ab.« Dann schweigt er. »Meinen Sie, dass auch jemand aus Kalvarija dabei ist?«, fragt er mich. Ich weiß es nicht, nehme aber an, dass bei 35 Teilnehmern die Chancen nicht schlecht stehen.
Als wir schließlich in der Nähe von Künzelsau auf die Gruppe treffen, kann er nicht mehr an sich halten. »Ist hier jemand aus Kalvarija?«, ruft er aufgeregt. Doch die Verständigung ist gar nicht so einfach. Die meisten der aus Litauen angereisten Wolfskinder sprechen nur noch wenig Deutsch. »Und wo haben sie ihre Männer gelassen?«, fragt mich Gerhard Gudovius. Es sind überwiegend Frauen, kaum Männer in der Gruppe. Eine nette Dolmetscherin kommt auf ihn zu: »Hier ist eine Frau aus der Nähe von Kalvarija«, sagt sie und stellt ihm Erna Schneider vor. Leider beherrscht diese ihre Muttersprache kaum noch, aber sie freut sich sichtlich, dass jemand in Deutschland die Region in Litauen kennt, aus der sie kommt. Bei Kriegsende, als sie ihre gesamte Familie verlor, war sie gerade neun Jahre alt. Mit den wenigen Angaben, die Gerhard Gudovius macht, kann sie ihm leider nicht weiterhelfen. Er findet aber verschiedene andere Wolfskinder, mit denen er sich, wenn auch begrenzt, austauschen kann. Den Nachmittag verbringt er überwiegend mit Rudi Lindenau, der heute in Šiauliai lebt. Beide sind 1932 in Königsberg geboren, und Rudi hat seit 1991 vielfältige Kontakte nach Deutschland gepflegt, sein Deutsch wieder aufleben lassen. Die beiden unterhalten sich über das alte Königsberg, die Zeit des Hungers und des Bettelns. Wie sie nach Litauen gekommen sind und über die Tricks, die ihnen als pfiffige Jugendliche das Überleben sicherten. Sie entdecken viele Gemeinsamkeiten, doch das Trennende bleibt die Ausreise von Gerhard Gudovius 1951. Rudi Lindenau ist nicht bitter. »Ich habe es immer ganz gut gehabt, auch in schweren Zeiten«, sagt er von sich. Doch auch seine fröhliche Art und sein freundliches Gesicht können Gudovius nicht darüber hinwegtäuschen, dass es kein einfaches Leben war, das Lindenau als Wolfskind in Litauen geführt hat. Besonders schockiert ihn die finanzielle Lage des Rentners. Die Armutsgrenze in Litauen liegt bei 700 Litas, umgerechnet 200 Euro. Kaum eines der Wolfskinder erhält mehr als 400 Litas Rente. Und auch die Frage nach den Männern klärt sich. Viele der Frauen sind Witwen. Die Lebenserwartung der litauischen Männer liegt mit knapp 65 etwa zehn Jahre unter dem deutschen Durchschnitt. Zu den großen Problemen des Landes gehören auch der weitverbreitete Alkoholmissbrauch sowie die höchste Selbstmordrate weltweit, erzählt uns die Dolmetscherin. Mit einem Schlag wird Gerhard Gudovius klar, dass seine Erinnerung an das idyllische Landleben in Litauen nichts mehr mit der Wirklichkeit zu tun hat. »Wahrscheinlich würde ich gar nicht mehr leben«, meint er nachdenklich, als ich ihn nach Hause fahre. Er ist dankbar für diese Begegnungen und hat für sich die vielleicht wichtigste Frage seines Lebens beantworten können.