Es gibt Dinge, die man lieber nicht tun sollte. Wie auf den Gleisen zu stehen, wenn ein Zug kommt, oder die Hand über eine offene Flamme zu halten. Schnell hin- und herwedeln wäre ja nicht schlimm, aber irgendwas treibt mich dazu an, die Hand einen Tick länger über das Feuer zu halten und noch einen und noch einen. Bahngleise und Mütter sind wie offene Flammen – zu lang, zu nah, schon kann es wehtun.
Wenn ich all die Dinge auf listen würde, die ich lieber nicht tun sollte, stünde die Aktion von heute ziemlich weit oben. Aber all diese Dinge ziehen mich eben an. Vielleicht will ich einfach wissen, was passiert, wem es wehtut?
Ganz gleich, wie oft mich vorher eine innere Stimme gemahnt hat fortzubleiben, wie sehr ich es mir vorgenommen hatte: Nicht mal ein verlorener Fahrschein und meine absichtlich unpassenden Klamotten konnten mich davon abhalten herzukommen. Ich wäre immer hier gelandet.
Wie lange ich bleibe und wie nah ich herangehe, ist eine andere Frage.
Im Moment jedenfalls stehe ich bibbernd auf einem Hügel über dem Krematorium. Ein roter Tupfer unter kahlen Bäumen an einem düsteren, farblosen Tag. Überlege, was ich tun soll.
Es fängt an zu regnen und ich empfinde Genugtuung. Sie hat den Regen gehasst. Die meisten Leute schimpfen zwar, wenn sie vom Schauer überrascht werden oder ihre Gartenparty ins Wasser fällt, aber sie hat den Regen wirklich gehasst. Fast als wäre sie nicht aus Sehnen, Muskeln und kantigen Knochen, sondern aus etwas, das weggespült werden könnte.
Womöglich hatte sie Angst, der Regen könnte die Maske abwaschen, die sie auf diesem Foto in der Zeitung trug. Das Foto, auf dem sie lächelnd neben einem Mann stand, den ich noch nie zuvor gesehen hatte. Lächelnd? Ich frage mich, ob sie in ihrem Sarg jetzt auch lächelt, ob man ihre Züge zu einer hübschen Lüge fürs Jenseits hergerichtet hat? Vielleicht um denjenigen, der die Himmelspforte öffnet, davon zu überzeugen, sie nicht mit einem Tritt in die Tiefe zu befördern? Aber möglicherweise war von ihrem Gesicht auch nicht mehr genug übrig.
Fahrzeuge kriechen die Straße hinauf. Der erste Wagen ist lang und schwarz, der Leichenwagen. Als er vor dem Krematorium hält, wird der Regen stärker. Logisch eigentlich. Es gießt in Strömen, Blitze zucken über den Himmel.
Ich frage mich, ob sie in ihrem Sarg jetzt auch lächelt, ob man ihre Züge für eine hübsche Lüge im Jenseits hergerichtet hat? Vielleicht um denjenigen, der die Himmelspforte öffnet, davon zu überzeugen, sie nicht mit einem Tritt in die Tiefe zu befördern? Aber möglicherweise war von ihrem Gesicht auch nicht mehr genug übrig.
Gerade habe ich noch gezögert, wie nah ich der Flamme kommen möchte, aber nun nimmt der Sturm mir die Entscheidung quasi ab. Geh weiter, Quinn. Du musst dich unterstellen.
Ein guter Vorwand. Denn in Wahrheit will ich mich nur davon überzeugen, dass sie wirklich tot ist.
Der Wind heult und stülpt den Schirm um, als ich aus dem Wagen steige. Kalter Regen peitscht mir ins Gesicht, klatscht auf die Hände. Innerhalb von Sekunden ist mein sorgfältig frisiertes Haar vom Wind völlig zerzaust. Tropfen wie Nadelstiche auf der Haut; ich konzentriere mich auf diesen Schmerz, um den anderen nicht fühlen zu müssen.
Dad hält eilig seinen Schirm über uns. Ich muss die ganze Zeit daran denken, wie der Regen auf den Sarg prasselt. Ob es darin hallt? Wird sie empört gegen den Deckel hämmern und zetern: He, kann mal jemand den Regen abstellen? Muss gerade ihre letzte Fahrt so enden, wo sie doch die Sonne so geliebt hat?
Trotz des eisigen Regens schreiten die Sargträger in kleinen, gemessenen Schritten voran; am liebsten würde ich brüllen: Beeilt euch, bringt sie ins Trockene!
Dads Hand ist kalt, ich drücke ein wenig zu fest zu. Dad und ich folgen dem Sarg – folgen ihr, folgen Mum, die darin liegt.
Dads Tante zischt missbilligend und streicht mir das Haar glatt. Ich werde nach vorn in die erste Reihe gezerrt, aber das bekomme ich kaum mit.
Still wiederhole ich die Worte. Meine Mutter ist tot. Meine Welt ist nicht mehr so, wie sie einmal war, nichts ist mehr, wie es einmal war. Ich weiß es, bloß fühle ich es nicht. Der Sarg wurde vorn abgestellt, er ist trocken. Hat ihn jemand abgetrocknet? Dort drinnen liegt sie, aber auch wieder nicht. Nur das, was noch von ihr übrig ist.
Nichts von dem, was ich weiß, hilft mir dabei, diesen Augenblick besser zu ertragen.
Innerlich zittere ich, Panik keimt in mir auf. Ich will schreien: Schluss mit dem Theater! Das ist doch alles nicht wahr.
Kann einfach nicht sein.
Konzentriere dich auf deinen Atem – ein, aus, ein, aus.
Nur scheint außer mir niemand das alles für Theater zu halten. Das erkenne ich in den Augen derer, die mich ansehen, und derer, die sich abwenden.
Schön atmen, Piper. Ein, aus, ein, aus. Ich darf jetzt nicht die Kontrolle verlieren. Nicht hier, nicht jetzt.
Denk an etwas anderes.
Forschend schaue ich mich um, lasse den Blick über die meisten Leute einfach hinweggleiten. Dads Familie, seine Kollegen, seine und Mums Freunde. Viele sind es nicht. Niemand von Mums Familie. Niemand von früher, aus der Zeit vor meiner Geburt. 17 Jahre ist das her.
Von meiner Schule sind richtig viele gekommen. In der Nähe meiner Freunde sitzt Zak – etwas abseits, was ihn auch sonst gut beschreibt. Sein Blick lässt mich an die Worte von gestern Abend denken: Ich bin für dich da. Ich tue alles für dich, was immer du willst, du brauchst es nur zu sagen. Und wie gestern werde ich gleich ruhiger. Die Panik lässt wenigstens etwas nach. Gerade genug.
Kurz vor Beginn der Trauerfeier gehen die Türen noch einmal auf und der gemietete Pfaffe hält inne. Ein Nachzügler? Hinter uns schnalzt Dads Tante missbilligend. Ich riskiere einen Blick. Eine schmale Gestalt. Ein Mädchen in rotem Mantel und dreckigen Stiefeln. Sie geht auf die leere Bank in der letzten Reihe zu. Ihr Haar steckt unter einem regenbogenfarbenen Schal, den sie sich tief ins Gesicht gezogen hat.
Wer könnte das sein?
Vielleicht …
Nein. Bestimmt nicht. Nicht hier, nicht jetzt.
Mein Puls geht schneller.
Wasser tropft von meinem Mantel und meinen Stiefeln. Der Schal um meinen Kopf ist klatschnass und ich bibbere.
Als ich mich setze, sehe ich aus den Augenwinkeln, dass sich ein Mädchen in der ersten Reihe umdreht. Ihr langes Haar hat sich schon halb aus der Hochsteckfrisur gelöst, aber deshalb starre ich sie nicht an. Es ist die Farbe. Ein leuchtendes Feuerrot.
Leuchtend feuerrotes Haar, wie meines.
In mir scheint alles stillzustehen. Mir wird schwindelig, fast vergesse ich zu atmen und schnappe schließlich nach Luft.
Damit habe ich niemals gerechnet. Eigenartig, nicht wahr? Doch mir ist es nicht ein einziges Mal in den Sinn gekommen, dass jemand wie sie, die geradezu alles verkörperte, was eine Mutter nicht sein sollte, die mich ihrer eigenen Drachen-Mutter auslieferte und nur ab und zu vorbeikam, um mit einem spitzen Stock durch die Stäbe meines Käfigs zu stochern, es noch einmal getan haben könnte.
Der Mann neben dem Mädchen könnte der aus der Zeitung sein. Ich greife in meine Tasche. Das Papier ist nass, die Wörter des Artikels ein wenig verlaufen, aber ich kann sie bereits auswendig:
Tragischer Tod: Frau von Hunden angefallen
Isobel Hughes (36) aus Winchester ging am späten Freitagabend mit ihrem Hund spazieren, als sie von einem Hunderudel angefallen wurde. Im Krankenhaus erlag die Frau ihren Verletzungen. Die Tiere waren aus einem nahe gelegenen Zwinger für Wachhunde ausgebrochen. Sie wurden beschlagnahmt, die Untersuchungen laufen noch.
Ohne das Foto hätte ich nicht gewusst, dass sie es ist. Ihr Vorname Isobel stimmt zwar, aber sie war immer eine Blackwood wie ich, wie meine Großmutter.
Und nur weil sie auf so schreckliche Weise umgekommen ist, haben die überregionalen Zeitungen darüber berichtet und eine Diskussion über Wachhunde und die Haltung gefährlicher Hunderassen angestoßen.
Sonst hätte ich gar nicht mitbekommen, dass meine eigene Mutter gestorben ist. Sie kam so selten zu Besuch, dass ich mich über ihr Fortbleiben nicht gewundert hätte. Ich hätte einfach gedacht, es kümmert sie nicht mehr, und mich hätte es auch nicht interessiert.
Der Mann auf dem Foto soll ihr Ehemann sein. Das Bild ist vom Regen aufgeweicht, dennoch sehe ich es mir genau an, vergleiche ihn mit dem Mann aus der ersten Reihe. Endlich dreht er mal den Kopf. Keine Frage, er ist es. Ihr Ehemann? Er sieht mindestens zwanzig Jahre älter aus als Isobel. Aber in dem Artikel stand nichts über sie, über das Mädchen neben ihm mit Haaren wie meinen.
Irgendwann ist der Gottesdienst vorbei, von dem ich ohnehin nichts mitgekriegt habe. Ich will, dass sie sich umdreht, damit ich sie anschauen kann, aber im Nullkommanichts haben sich so viele Leute zwischen uns geschoben, dass ich nur etwas rotes Haar aufblitzen sehe.
Meinen Schal nehme ich lieber nicht ab, auch wenn er komplett durchnässt ist. Das ist doch verrückt. Nichts wie weg hier, so weit und so schnell wie möglich.
Aber sie und der Mann an ihrer Seite – wahrscheinlich ihr Vater, wenigstens hat sie einen! – haben sich inzwischen an die Tür gestellt. Sie drehen mir den Rücken zu. Die Trauernden reihen sich vor ihnen auf, jeder bleibt stehen, schüttelt ihm die Hand, umarmt sie. So viele liebevolle Blicke und Worte. So viele Menschen nehmen Anteil. Die Ersten sehen nach Familie oder Freunden der Familie aus, gefolgt von Jugendlichen in meinem Alter, Mädchen und Jungen. Der Strom reißt gar nicht ab! Das müssen alles Freunde des Mädchens sein, jeder mit einem lieben Wort, einer Geste, einer Berührung. Dann tritt ein etwas älterer Junge zu ihr – dunkelhaarig und hochgewachsen –, der sich offenbar zurückgehalten hat, bis die anderen dran waren. Er umarmt sie. Küsst sie schnell, nimmt anschließend die Hand ihres Vaters und beugt sich vor, um etwas zu sagen. Ihr Vater wischt sich die Augen. Jemand reicht ihm ein Taschentuch.
Als ich mir ausgemalt habe, was passieren könnte, wenn ich bei der Trauerfeier aufkreuze, und wem es wohl wehtun würde, habe ich so gar nicht damit gerechnet, dass ich es sein könnte. Innerlich verkrampfe ich, schmerzhaft zieht sich in mir alles zusammen. Und der Schmerz ist mit noch etwas gepaart, einer Sehnsucht. Wonach eigentlich? Wie soll ich Dinge benennen, die ich nie gehabt habe?
Ich schaffe das nicht. Mit dem, was ich weiß, kann ich ihnen nicht einfach die Hand schütteln und ihnen dabei in die Augen sehen. Ich rutsche zurück in meinen Sitz, würde am liebsten darin verschwinden.
Die Stimmen verklingen. Eine Tür wird geräuschvoll geschlossen. Kann es sein, dass sie mich hier unbehelligt sitzen lassen?
Dann nähert sich mir jemand mit klackernden Absätzen. Bleibt stehen.
»Hallo? Kennen wir uns?« Die Stimme eines Mädchens. Ein offener, warmer Klang an diesem dunklen Tag.
Ich drehe mich zu ihr um, weiß, wer es ist.
Das Licht der hohen Fenster fängt sich in ihrem feuerroten Haar. Neugierig blickt sie mich aus klaren graublauen Augen an. Solche Augen können die Farbe ändern, je nach Licht, Stimmung oder dem, was sie trägt. Und ich weiß das so genau, weil es meine Augen sind. Ihre Haut ist bleich, blasse Sommersprossen sprenkeln ihre hohen Wangenknochen. Meine Sommersprossen, meine Wangenknochen. Es ist, als würde ich in den Spiegel schauen.
Mysteriöse Bemerkungen und zufällig aufgeschnappte Sätze, die damals noch keinen Sinn ergaben, schwirren mir durch den Kopf, prallen aufeinander. Mir ist schwindelig, ich ringe nach Atem.
»Geht’s dir nicht gut?«, fragt sie. »Soll ich einen Arzt rufen?«
Ich stehe auf, werfe den Schal ab und trete ins Licht.
Es ist, als würde ich in den Spiegel schauen. Selbst ihr Haar, das sie sich hinters linke Ohr gesteckt hat, fällt in einer weichen, feuchten Welle übers Gesicht, wie bei mir sonst. Der Schock in ihren Augen ist nicht gespielt. Sie hat es nicht gewusst?
»Wir sind Zwillinge«, flüstere ich und höre das Erstaunen in meiner Stimme.
Sie schluckt, leckt sich über die Lippen. »Ich weiß nicht … ich meine … wie …«
Ich strecke ihr die Hand hin. »Ich bin Piper.« Sie starrt nur darauf. »Und du bist?«
Sie fährt etwas zusammen. »Quinn. Ich heiße Quinn.« Dann gibt sie mir die Hand. Ihre ist kalt, eiskalt, und schnell wieder weg.
Ich schaue mich zur Tür um. »Dad sucht mich bestimmt schon. Wir können ihn nicht damit überfallen. Jetzt nicht.«
»Überhaupt nicht. Mach dir keine Sorgen, ich verschwinde sofort«, sagt Quinn und ist schon auf dem Sprung. Sie wirkt verängstigt, durcheinander, aber ich kann sie doch nicht so einfach gehen lassen. Jetzt nicht.
Überhaupt nicht.
»Nein! Das kannst du nicht machen. Bitte. Versprich mir, dass du kurz wartest. Ich hole schnell Zak, der kann dich dann …«
»Nein. Ich gehöre hier nicht her.« Sie weicht vor mir zurück.
Mir kommen die Tränen. Ich würde sie so gerne anfassen, in den Arm nehmen, aber ich habe Angst, dass sie sich mir wieder entzieht. »Bitte nicht. Ich will dich nicht auch noch verlieren. Nicht noch mal.«
Quinn zögert. »Du kennst mich nicht. Und ich kenne dich nicht. Uns verbindet nur das gleiche Gesicht.«
Nun rinnt mir eine Träne über die Wange. »Und eine Mutter, die wir gerade verloren haben. Bitte geh nicht.«
»Eine Mutter, die ich kaum gekannt habe.« Ihre Augen wandern zum Sarg. »Stimmt es … Ist sie wirklich …«
Ihr ungläubiger Blick bringt mich dazu, es endlich laut auszusprechen. »Ob Mum wirklich tot ist? Ja. Willst du sie sehen?«
»Was?«
»Ich kann das einrichten. Versprich mir einfach, dass du hierbleibst. Rühr dich nicht von der Stelle.« Bittend sehe ich sie an.
Sie ringt mit sich, ihr Blick schnellt zur Tür, dann seufzt sie und nickt schließlich. »Also gut.«
Zum Glück.
Die Tür fällt hinter ihr ins Schloss.
Willst du sie sehen? Hat sie das wirklich gerade gefragt? Gegen meinen Willen drehe ich mich um und schaue nach vorn zum Sarg. Nun, wo alle gegangen sind und ich allein in dem leeren Saal stehe, kommt mir der Sarg größer vor, beherrscht plötzlich den ganzen Raum. Mein Blick ist auf das glänzende Holz geheftet, und je länger ich hinschaue, desto stärker wird der Bann, der davon ausgeht; als wäre ich dem Sarg willenlos ausgeliefert, als würde er immer näher rücken. Doch in Wirklichkeit bin ich es, die mit unsicheren Schritten darauf zugeht.
Auf sie zugeht.
Will ich sie sehen?
Zumindest wüsste ich dann, dass sie auch wirklich tot ist. Ich bekomme einen trockenen Mund, versuche zu schlucken.
Jeden Augenblick kann sie zurück sein, diese Piper. Sind wir wirklich Zwillinge? Piper hat das Wort in den Mund genommen, aber obwohl ich ja gesehen habe, wie ähnlich wir uns sind, kann ich es nicht glauben. Wie kann ich, ohne es zu wissen, eine Zwillingsschwester haben? Zumindest äußerlich sind wir gleich. Ob Isobel uns auseinanderhalten konnte?
Vielleicht hat man uns deshalb getrennt. Ich habe das Gefühl, endlich aufgewacht zu sein und die Welt zum ersten Mal so zu sehen, wie sie wirklich ist. Und diese Erkenntnis ist so unglaublich, so unerwartet und so umfassend, dass sie mich für immer verändern wird. Was das genau für mich bedeutet, will ich aber gerade lieber nicht wissen.
Oder warum es so gekommen ist.
Besser, ich gehe jetzt. Jederzeit könnte jemand hereinkommen und mich hier finden. Wenn die mich den Sarg antatschen sehen, rufen die bestimmt gleich die Polizei. Oder schlimmer noch, sie merken, wem ich ähnlich sehe, und verkaufen die Geschichte an irgendeins von diesen Klatschblättern, die manchmal in dem Hotel, in dem ich arbeite, herumfliegen: Zwillinge begegnen sich zum ersten Mal auf Beerdigung der Mutter! Na, ganz kann das nicht stimmen. Bei der Geburt müssen wir ja wohl kurz hintereinander den ersten Atemzug genommen haben. Und davor haben wir uns neun Monate einen Bauch geteilt, eng aneinandergeschmiegt.
In ihrem Bauch.
Und was ist eigentlich mit Pipers Dad? Wenn wir Zwillinge sind, müssen wir auch den gleichen Vater haben. Ist er auch mein Vater?
Hinter mir öffnet sich die Tür, und als ich herumfahre, wird mir zu spät bewusst, dass ich mein Haar unter dem Schal hätte verstecken sollen. Aber es ist nur Piper.
Dicht vor mir bleibt sie stehen. Ihre Augen scheinen mich zu scannen und ich tue es ihr gleich, suche jede Einzelheit, jede Linie nach Unterschieden ab, ich kann nicht anders, doch ich finde keine. Piper ist ein wenig größer als ich, aber dann bemerke ich ihre hohen Absätze.
»Alles okay«, sagt sie leise. »Uns stört keiner. Ich habe ihnen gesagt, dass ich mit Mum einen Moment allein sein will. Und außerdem bewacht Zak die Tür. Der lässt niemanden rein.«
»Zak?«
»Mein Freund. Komm jetzt.« Sie macht einen Schritt auf den Sarg zu. Ihre Schultern sind gestrafft, als müsste sie sich innerlich wappnen, und da wird mir klar, dass diese Frau für Piper eine richtige Mutter war, ganz gleich, was sie mir bedeutet hat.
»Du musst das nicht tun. Schon okay.«
Sie hält inne, und als sie sich umdreht, zieht sie herausfordernd eine Augenbraue hoch. Genau wie ich. »Du auch nicht, wenn du nicht willst.«
Unwillkürlich straffe ich ebenfalls die Schultern, lasse sie dann aber schnell wieder locker. Ich mache einen Schritt und noch einen, bis wir beide am Sarg stehen.
Sie ist von Hunden angefallen worden. Wie mag sie wohl aussehen?
Und als könnte Piper meine Gedanken lesen, schüttelt sie den Kopf. »Wir durften sie schon einmal sehen. Der Bestatter hat sie ziemlich gut hergerichtet.«
Am Sargdeckel gibt es zwei Griffe. Piper schnappt sich den am Fußende und schaut zu dem anderen, wo Isobels Kopf liegen müsste. »Du musst mir vielleicht helfen.«
Ich packe den Griff. Das Metall ist kalt und glatt.
»Bereit?«, flüstert Piper.
Mir dreht sich der Magen um und eigentlich möchte ich sagen: Nein, jetzt nicht, überhaupt nie. Stattdessen nicke ich. Und auf ihr Zeichen hin ziehen wir beide.
Der Sargdeckel ist massiv und schwer, aber zu zweit schaffen wir es. Reibungslos lässt sich der Deckel aufklappen. Nun steht der Sarg offen.
Pipers Blick ist undurchdringlich, fixiert auf das, was dort drinnen liegt.
»Ich lasse dich einen Moment allein«, sagt sie und wendet den Kopf ab, indem sie ihren gesamten Körper wegdreht, so als könnte sie sich sonst unmöglich von dem lösen, was ich vielleicht gar nicht sehen will. Piper geht.
Ich starre auf den Boden, an die Wände, auf meine Händeüberall sonst hin. Natürlich habe ich schon tote Tiere gesehen, am Straßenrand oder wenn Kater einen Vogel oder eine Maus mitbringt. Einmal hat sich ein Fuchs an den Hühnern vergriffen, das war ein richtiges Gemetzel. Nachdem ich alles sauber gemacht hatte, plagten mich monatelang Albträume. Wird sie aussehen wie ein Huhn, das von einem Fuchs zerfleischt wurde?
Ich nehme all meinen Mut zusammen, hole tief Luft. Ob sie riecht? Wie lange ist sie denn bereits tot? Ach nein. Piper meinte ja, ein Bestatter hätte sich um sie gekümmert. Keine Ahnung, was die so genau machen, aber bis zur Beerdigung sollte sie sich halten.
Ich reiße mich zusammen und betrachte sie. Bei den Füßen fange ich an, die scheinen mir ungefährlicher. Sie trägt ein langes Kleid aus schwerem Stoff. Blau. War das ihre Lieblingsfarbe? Ich denke zurück. Bei ihren seltenen Besuchen hat sie oft blau getragen – ich weiß so wenig von ihr, nicht einmal das. Soll das Kleid die Hundebisse verbergen?
Meine Augen wandern nach oben. Ihre Hände liegen übereinander, eine sieht normal aus, die andere ist im Ärmel versteckt. Ich schlucke, zwinge den Blick höher und höher. Das Kleid ist sehr hochgeschlossen. Hat ihr einer der Hunde die Kehle durchgebissen? Wenn Hunde wie Füchse sind, stürzen sie sich auf die Kehle.
Und nun ist es so weit.
Ihr Gesicht.
Entspannt sieht sie aus, friedlich. Wenn man nicht allzu nah herangeht, könnte man meinen, sie schliefe. Hohe Wangenknochen, lange Wimpern. Ihr Haar ist nicht so rot wie Pipers und meines, sondern kastanienbraun und fällt ihr lose über die Schultern. Sie war schön. Das erkenne ich jetzt erst, weil sie mich nicht mehr mit gerunzelter Stirn, argwöhnisch oder verkniffen anschaut.
Auch mit geschlossenen Augen besteht kein Zweifel, dass sie es ist. Sie ist wirklich tot.
Ihr Gesicht ist stark geschminkt. Von Natur aus ist oder war sie eher blass und das Rouge ist zu viel. Irgendwie wirkt es schon fast clownsmäßig. Die Grundierung ist dick aufgetragen, kaum sichtbare Unebenheiten sind auszumachen, als hätte hin und wieder etwas aufgefüllt werden müssen. Wie gruselig. Geifernde Hunde, und gleich noch vier, stand es nicht so in der Zeitung? Die müssen sie zu Boden gerissen und sich dann auf sie gestürzt haben. Ohne Befehl hätten die Tiere das nicht tun dürfen, das hat auch der Trainer gesagt, als man ihn angeklagt hat. Er habe keine Ahnung, wie das passiert sei, wie die Hunde überhaupt hatten ausbrechen können. Aber irgendwie haben sie es geschafft und Isobel getötet.
Wenn ich früher wütend war, und das war ich oft, habe ich von ihrem Tod geträumt. Doch jetzt, wo ich vor ihrer Leiche stehe und mir das absolute und unwiederbringliche Ende ihres Lebens vor Augen steht, geht es mir schlecht.
Nun ist sie wirklich tot.
Äußerlich zittere ich. Innerlich habe ich das Gefühl zu ersticken.
Hinter mir ertönen Schritte, nähern sich. Eine Hand legt sich auf meine Schulter. »Komm. Wir gehen.« Sanfte Worte.
Piper und ich schließen den Deckel wieder. Das Gesicht unserer Mutter entschwindet, das war das letzte Mal, dass ich sie gesehen habe. Mit dem Griff in der Hand stehe ich da, unfähig, mich zu rühren.
Pipers Hände sind warm, behutsam. Sie löst meine Finger vom Sargdeckel, schiebt mir die Haare unter den Mantelkragen und wickelt mir den Schal vorsichtig um den Kopf, bindet ihn vorn zusammen und zieht ihn mir tief ins Gesicht, um zu verbergen, wer ich bin. Über die verräterischen Tränen in meinen Augen verliert sie kein Wort.
Tränen, die mir selbst ein Rätsel sind.
Warum sollte mich ihr Tod kümmern? Sie hat sich ja auch nicht um mich gekümmert. Nie war sie bei mir, wenn ich sie gebraucht hätte, wenn ich Angst hatte. Als ich mit sechs gestürzt bin und mir den Arm gebrochen habe. Oder als ich Jahre später krank war und in meinem Fieberwahn vor Furcht geschrien habe, weil ich überzeugt war, dass mich das Feuer verschlingen oder die Nachtgespenster zerfleischen würden.
Sie hat mich nie geliebt.
Und was noch viel schlimmer ist, sie wird mich auch nie mehr lieben.
Auf einmal ist sie still und gefügig, und als ich sie bitte zu warten, widerspricht sie nicht. Verwandelt man sich wieder in ein Kind, wenn man seine Mutter so sieht, auch wenn man sie kaum gekannt hat?
Trotz meiner guten Vorsätze hatte ich Mum doch wieder angeschaut. Ich wollte jede Einzelheit in mich aufsaugen, zu ihr in den Sarg klettern und ihren kalten Körper mit meinem warmen bedecken. Als wenn Wärme allein sie wieder zurückbringen könnte.
Ich öffne die Tür. Zak steht wie erwartet dort. Durch die gläsernen Doppeltüren hinter ihm sehe ich die anderen.
Lächelnd reicht Zak mir die Hand. »Dein Dad wartet auf dich«, sagt er. »Alles gut?«
»Ja, aber kannst du noch was für mich tun?«
»Klar. Was denn?«
Ich schiebe die Tür weiter auf, damit er Quinn sehen kann. »Kannst du vielleicht …« Ich gerate ins Stocken, ich will ihn nicht gerade jetzt damit konfrontieren, nicht vor all den Leuten hier, womöglich kann er seine Überraschung nicht verbergen. »Kannst du meine Freundin mit zu dir nehmen und bis nach der Trauerfeier dort auf mich warten?«
Zak ist überrascht. »Ich dachte, du wärst allein hier drinnen.«
»Erklär ich dir später. Hilfst du mir?«
»Natürlich.« Zak schlingt die Arme um mich. Einen Augenblick schmiege ich mich an ihn, wünschte, ich könnte die beiden begleiten und müsste mich nicht noch um den Rest kümmern. Gerade will ich nur mit Quinn zusammen sein. Genau wie Mum will ich sie ansehen und in mich aufsaugen. Als wenn nur ihr Anblick, ihr Gesicht alles andere ungeschehen machen könnte.
Seufzend schaue ich zu Zak auf. »Warte, bis wir alle weg sind. Okay?«
In seinen Augen sehe ich viele Fragen, aber er nickt bloß. »Okay. Wenn du das so willst«, sagt er. »Ich bringe sie zu mir und dann treffen wir uns anschließend bei dir.«
»Nein. Bleib lieber bei ihr. Sorg dafür, dass sie auf mich wartet.« Auch wenn es im Moment nicht so wirkt, ich habe Angst, dass Quinn doch abhaut, sobald der Schock nachlässt.
»Was? Auf keinen Fall. Ich bin dabei. Du warst für mich da und jetzt will ich für dich da sein.«
Ich schüttle den Kopf. »Hör zu, Zak. Helfen kannst du mir, indem du genau das tust, worum ich dich gerade bitte. Nimm Quinn und bleib bei ihr.« Quinn steht noch immer stumm da, den Kopf gesenkt und leicht abgewandt. »Ich komme, sobald ich kann. Bitte.«
Er sucht den Blickkontakt. »Ich versteh’s zwar nicht, aber wenn du’s unbedingt so willst.«
»Ja. Ganz genau so.«
»Deine Familie wird sich wundern, warum ich nicht da bin.« Er verdreht die Augen, und ich weiß, dass es ihm egal ist, was sie von ihm halten, solange sie mir deswegen keine Probleme machen.
»Ich sage einfach, dir geht es nicht gut oder so. Mach dir keine Sorgen.«
Noch einmal umarmen wir uns. Durch die gläsernen Doppeltüren sehe ich, wie Dad schon ganz ungeduldig auf der Stelle tritt. »Ich muss los. Ich lotse die anderen raus, dann könnt ihr ungesehen verschwinden.«
Ihre Worte dringen zwar an mein Ohr, aber ich nehme sie nicht richtig auf. Ich gebe mir Mühe zuzuhören. Da ist Pipers Freund Zak, den sie vorhin am Eingang geküsst hat. Soll er mich irgendwohin mitnehmen?
Piper, meine Zwillingsschwester. Selbst im Stillen klingt das Wort unwirklich.
Wie kann es sein, dass ich nichts davon gewusst habe? Was hat das zu bedeuten?
Piper schiebt sich nun durch die Glastüren, hinter der die anderen Trauergäste warten. Einen Moment lang ist Gemurmel zu vernehmen, dann fallen die Türf lügel zu und alles verstummt. Zak dreht sich zu mir um.
»Hi«, sagt er. »Ich bin Zak.«
Ich bin wie erstarrt, kann nicht mal den Blick heben.
»Hallo?«, sagt er wieder. »Bist du Quinn?«
Ich ringe mir eine Antwort ab. »Ja. Das bin ich.« Meine eigenen Worte klingen fremd, als kämen sie aus dem Mund eines anderen. Mühsam richte ich die Augen auf ihn und hole mich so in die Wirklichkeit zurück.
Lang ist er. Ein langer Kerl. Mit dunklem, fast schwarzem Haar und einer Haut wie helle Schokolade oder Milchkaffee. Neunzehn, höchstens zwanzig. Große braune Augen mit verschwenderisch dichten Wimpern. Breite Schultern, aber sehr schlank. Er steht da mit der lässigen Eleganz eines Sportlers. Einfach umwerfend, würde ich sagen, wenn ich nicht so neben der Spur wäre. Er sieht mich mit einer Mischung aus Neugier und Sorge an. Wahrscheinlich denkt er, man hätte ihm eine verrückte Verwandte angedreht, die auf seltsame Kopf bedeckungen steht.
Eine verrückte Verwandte? Unweigerlich verzieht sich mein Mund zu einem Grinsen und ich muss ein hysterisches Kichern unterdrücken. Bin ich das nicht auch?
»Warte mal kurz«, sagt er. »Ich gehe nachsehen, ob die anderen schon weg sind.«
Er späht durch die Tür und kommt zurück. »Die sind gerade dabei zu gehen. Wir warten noch einen Moment.«
Nachdem er zu denken scheint, dass gebührend Zeit verstrichen sei, gibt er mir ein Zeichen, und ich folge ihm nach draußen. Es regnet immer noch, aber nicht mehr so wolkenbruchartig wie vorhin. Die frische, kalte Luft und der Regen tun mir gut; mit jedem Schritt, den ich mich von diesem Ort des Todes entferne, fühle ich mich mehr wie ich selbst.
Auch wenn ich im Moment nicht so genau weiß, wer das ist. Eine Hälfte von einem Zwillingspaar?
Zak zieht einen Schlüssel hervor und entriegelt per Knopfdruck einen zerbeulten blauen Wagen. Wir steigen ein, und er fährt betont langsam vom Parkplatz und den Hügel hinab, obwohl niemand vor uns ist. Aber sobald er auf die Straße biegt, beschleunigt er so heftig, dass ich meinen Sicherheitsgurt noch mal kontrolliere.
Von der Seite wirft er mir einen Blick zu; ich drehe mich weg. »Und? Warum mussten wir dich da heimlich wie eine Agentin rausschleusen?«
Ich zucke mit den Achseln. »Das war Pipers Idee, nicht meine.«
Er schüttelt den Kopf. »Stimmt schon, das Mädchen hat manchmal schräge Einfälle, aber selbst sie würde so was nicht grundlos machen.«
Darauf erwidere ich nichts. Ich könnte ja einfach meinen Schal lösen, bloß bei dem Tempo möchte ich ihm keinen Schreck einjagen. Klingen unsere Stimmen eigentlich gleich? Sollte er sich darüber nicht wundern? Ich nehme mir vor, von jetzt an so wenig wie möglich von mir zu geben und mein Gesicht abzuwenden. Jedenfalls so weit, dass ich Zak dabei noch im Auge behalten kann.
»Wenn du es mir nicht sagst, muss ich mir wohl was ausdenken. Und ich habe ein blühende Fantasie.«
»Ach ja?«
»Und wie. Mal gucken.« Er legt den Kopf schief, nickt dann. »Du bist eine berühmte Schauspielerin, die unsterblich in Pipers Vater verliebt ist. Du kannst keine Minute von ihm getrennt sein, aber um keinen Skandal heraufzubeschwören, bist du inkognito zur Beerdigung gekommen und wartest ab, bis eine angemessene Trauerzeit verstrichen ist.«
»Interessant.«
»Oder du arbeitest für Isobels Lebensversicherung und willst herausfinden, ob sie wirklich tot ist.«
Auch hierzu sage ich lieber nichts. Abgesehen von der Versicherung hat er den Nagel doch auf den Kopf getroffen.
»Tut mir leid. War das irgendwie taktlos von mir? Woher kennst du Pipers Mum?«
»Hör einfach mit der Fragerei auf, du wirst es noch früh genug erfahren.«
»Oder bist du vielleicht aus einem Gefängnis ausgebrochen und hattest Lust auf eine Beerdigung?«
Nun muss ich aber doch grinsen. Als Gefängnis kann man den Ort, wo ich herkomme, durchaus bezeichnen, und irgendwie war es auch eine Art Ausbruch.
»Gib es auf«, sage ich. »Piper hat mich nicht ohne Grund heimlich wegbringen lassen und du kommst sowieso nie drauf. Kann das nicht warten, bis wir da sind, wo wir hinwollen?«
»Vielleicht sterbe ich ja vor Neugier. Also wenn du das mit deinem Gewissen vereinbaren kannst …«
»Damit kann ich leben.«
»Autsch. Wir sind gleich da, also überstehe ich das vielleicht gerade so mit Müh und Not.« Vor einer Reihenhaussiedlung hält er an und setzt rückwärts in eine winzige Lücke. »Hier ist es.«
Er joggt um den Wagen, um mir die Tür zu öffnen. Auf wundersame Weise hat es aufgehört zu regnen und nun scheint sogar die Sonne. Beim Aussteigen sieht er mir ins Gesicht und diesmal schaue ich nicht zu Boden oder wende mich ab. Zak reißt die Augen auf.
Er schließt die Haustür auf und lässt mich eintreten. Dabei nehme ich den Schal vom Kopf. Ich ziehe das nasse Haar aus dem Mantel und drehe mich zu ihm um.
Verwirrt schüttelt er den Kopf. »Piper?«
»Nein. Nicht Piper. Du hast doch gesehen, wie sie gegangen ist.«
»Das dachte ich. Aber du … und sie … Das kapier ich nicht.«
»Ich auch nicht. Ich bin zur Beerdigung meiner Mutter gegangen und plötzlich war Piper da.«
»Die Beerdigung deiner Mutter? Seid ihr Zwillinge?« Er sieht mich ungläubig an. »Ich fasse es nicht.« Sein Blick wandert zur Tür am anderen Ende des Zimmers. Ich horche auf; schon beim Hereinkommen war da dieses seltsame Geräusch zu vernehmen. Ich war nur zu abgelenkt, um genauer darauf zu achten, doch nun wird dieses hochfrequente Jaulen lauter. Dann bollert noch etwas gegen die Tür. Ist das etwa … kann das ein …
Wuff. Tatsache. Es ist ein Hund. Sofort stehen mir die Haare zu Berge.
»Warte mal kurz«, sagt Zak und läuft die paar Schritte zur Tür. Bevor ich meine trockene Zunge vom Gaumen gelöst habe und ihn davon abhalten kann, hat er bereits die Klinke runtergedrückt.
Ein schwarz-weißes Fellknäuel schießt durch den Türspalt und springt an Zak hoch, dann scheint es mich zu bemerken und hält inne. Der Hund dreht sich zu mir um und legt den Kopf schief.
»Bin gespannt, wie sie wohl auf dich –« Mitten im Satz bricht Zak ab; er sieht mein entsetztes Gesicht und dass ich mich hinter einem Tisch verschanzt habe. »Was hast du denn?«
Der Hund will auf mich zulaufen, aber Zak hält ihn am Halsband fest und nimmt ihn auf den Arm. »Hast du zufällig Angst vor Hunden?«
Auf Zaks Arm wirkt er – sie – viel kleiner und mir ist es irgendwie peinlich. Doch so gut ich meine Furcht auch zu verbergen versuche, mein Herz klopft wie verrückt. »Ich mache mir nur nichts aus Hunden«, antworte ich, was eine maßlose Untertreibung ist.
»Vor ihr brauchst du keine Angst zu haben. Sie ist ja noch ein Welpe, nicht mal voll ausgewachsen. Darf ich vorstellen? Das ist Ness.« Er nimmt ihre Pfote und winkt mir damit zu, dann taucht er mit dem Kopf hinter ihr ab und verstellt seine Stimme: »Schön, dich kennenzulernen!« Zur Bekräftigung bellt Ness einmal. Zak schaut hinter ihr hervor. »Dürfen wir ein wenig näher kommen?«
Ich schüttle den Kopf.
»Ness ist noch jung und verspielt. Sie ist ein Border Collie, sehr klug und freundlich, kein Stück aggressiv. Sie ist erst vier Monate alt. Die tut keiner Fliege was zuleide, sie leckt dir höchstens übers Gesicht. Wie wär’s, wenn du zu uns kommst?«
Die Hündin und ich mustern uns. Irritiert es sie, dass ich wie Piper aussehe, oder merkt sie das gar nicht? Um die Ohren und um die Augen ist ihr Fell schwarz, über Stirn und Schnauze verläuft ein weißer Streifen und mit ihren großen braunen Augen mustert sie mich neugierig. Mein Verstand sagt: Nicht besonders angsteinflößend, irgendwie niedlich. Dennoch wollen mich die Füße nicht weiter tragen und Ness schaut traurig.
»Tut mir leid, aber lieber nicht.«
»Okay. Willst du ein bisschen im Garten spielen, Ness?« Beim Wort Garten wedelt sie wie wild mit dem Schwanz. Zak trägt sie durch die Tür, die zur Küche führt. Dahinter geht es weiter in den Garten. Zak macht Ness an einer langen Leine fest und begleitet sie nach draußen, wo sie begeistert ihre Runden dreht. Als er sie schließlich im Garten zurücklässt, legt sie sich hin, die Schnauze auf den Pfoten, und sieht uns traurig durch die Scheibe an.
Zak setzt sich mit dem Gesicht zum Garten an den Küchentisch. »Ich muss sie im Blick behalten, falls sie sich in der Leine verheddert. Aber sie muss angebunden sein. Im Zaun gibt es Löcher und sie ist eine Meisterin im Entkommen.« Er bedeutet mir, ihm gegenüber Platz zu nehmen. Doch obwohl die Tür geschlossen und Ness ja erst ein Welpe ist, möchte ich ihr nicht den Rücken zudrehen. Stattdessen setze ich mich neben Zak, sodass wir beide in den Garten sehen.
»Tut mir leid, aber ich komme mit Hunden nicht klar.«
»Und ich dachte, eineiige Zwillinge wären gleich. Piper liebt alle Tiere und Hunde ganz besonders. Ness gehört eigentlich ihr.«
»Oh. Und warum hast du sie?«
Er zögert. »Ich kümmere mich einfach eine Weile um sie«, antwortet er und sieht mich an. »Das mit deiner Mutter tut mir wirklich leid.«
Mir ist es unangenehm, dass er mich so voller Mitgefühl ansieht. Wenn ich jetzt nichts sage, ist es wie eine Lüge.
Ich schüttle den Kopf. »Braucht dir nicht leidzutun. Meine Mutter und ich standen uns nicht nah. Ich habe sie kaum gekannt.«
Ness jault draußen und in dem Moment zähle ich eins und eins zusammen. »In den Zeitungen stand, dass Isobel mit ihrem Hund spazieren ging, als sie angegriffen wurde. War das Ness?«
»Ja. Irgendwie konnte Ness abhauen. Sie ist nach Hause gelaufen, die Leine im Schlepptau. Piper hat den Hund völlig aufgelöst im Vorgarten gefunden. Erst hat sie einfach nur gedacht, dass Ness durchgebrannt sei und ihre Mum sicher jeden Moment kommen würde. Ist sie aber nicht. Später hat die Polizei dann nach ihr gesucht und … na ja, den Rest kennst du ja anscheinend. Als sie gefunden wurde, war sie gerade noch so am Leben. Die Sanitäter haben sie ins Krankenhaus gebracht, aber da ist sie kurz darauf verstorben. Und deshalb kümmere ich mich um Ness. Im Moment wollen sie den Hund noch nicht im Haus haben.«
Während er redet, sieht er mich die ganze Zeit an. Seine Augen gleiten über mein Gesicht, mein Haar, über jede Faser; ich winde mich unter seinem durchdringenden Blick, erröte.
»Sorry, starre ich dich an? Du bist Piper so ähnlich. Warum hat mir keiner von dir erzählt?«
»Ich wusste bis vorhin selbst nicht, dass es Piper überhaupt gibt.«
»Aber wo warst du? Warum wart ihr nicht zusammen?«
»Keine Ahnung. Ich bin bei meiner Großmutter aufgewachsen. Isobel hat mich nur hin und wieder besucht. Und von einer Schwester hat sie nie was erzählt.«
»Ich kann es nicht fassen, dass Piper eine Zwillingsschwester hat, von der sie nichts wusste.« Zak wirkt aufgewühlt, genau wie ich.
In dem Moment wird mir etwas klar, das mir schon früher hätte auffallen sollen. Piper hat es gewusst! Denn irgendwie schien sie kaum schockiert, auch wenn sie ihre Augen ebenso wenig von mir lösen konnte wie ich meine von ihr. Sie muss von mir gewusst haben. Hat unsere Mutter ihr erzählt, dass sie noch eine Tochter irgendwo versteckt hält? Mir hat sie nie was gesagt, aber Piper schon. Der Tochter, die sie behalten hat.
Alle Ungereimtheiten ergeben plötzlich einen Sinn. Isobels Umgang mit mir. Und ihr Gerede, man müsse mich wegsperren, um die Dunkelheit in Schach zu halten, damit ich niemandem etwas antun könnte. Und es klang nicht so, als wollte Isobel damit der Menschheit einen Dienst erweisen, eher als ginge es um etwas Persönliches. Nie hat sie ausgesprochen, wem ich etwas antun könnte, doch bestimmt hat sie mich von meiner Zwillingsschwester fernhalten wollen.
Isobel hat dafür gesorgt, dass ich weit weg von Piper war. Deshalb wusste ich auch nichts von ihr, aber Piper von mir!
Kein Wunder, dass Isobel mich nicht gebraucht hat. Sie hatte ja Piper. Eine Kopie, nur eine, die häufiger lächelt. Eine, die nett ist und die alle mögen, die ihre Eltern und ein interessanter Typ wie Zak vielleicht sogar lieben.
Irgendwie hatten mich die Ereignisse heute berührt und innerlich weich gemacht, doch jetzt werde ich wieder hart. Habe ich doch recht gehabt mit meiner Mutter. Wen interessiert es schon, ob sie tot ist? Mich jedenfalls nicht. Ich bin froh darüber.
Und ganz gleich, wie Isobel alles eingefädelt hat, ihr Plan ist schiefgegangen. Ich bin nun doch in Winchester bei ihrer kostbaren Piper und sie kann nichts dagegen tun. Im Prinzip hat sie uns auch noch zusammengeführt durch ihren Tod.
Ich verschränke die Arme vor der Brust. »Da täuschst du dich. Piper hat davon gewusst. Ich nicht.«
Zak antwortet nicht, aber ich weiß, dass er mir nicht glaubt. Er kann sich einfach nicht vorstellen, dass Piper ihm so ein großes Geheimnis vorenthalten könnte.
Woher soll er auch wissen, dass ich niemals lüge. Außer mir selbst gegenüber und damit ist jetzt auch Schluss.
Mein Handy vibriert. Eine Nachricht. Ich ziehe es heraus. Zak hat geschrieben, nur ein einziges Wort in Großbuchstaben: WOW. Wahrscheinlich hat Quinn ihren Schal abgelegt.
Als ich das Telefon zurückstecke, wirft Dad mir einen fragenden Blick zu; er sitzt eingekeilt zwischen meinem Schulleiter und seinem Kanzleipartner. Jetzt befreit er sich und kommt zu mir herüber. »War das Zak?«
»Ja.«
»Ich fasse es nicht, dass er nicht hier ist, nach dem, was ihr letztes Jahr alles gemeinsam durchgemacht habt. Vorhin schien es ihm noch ganz gut zu gehen. Aber vielleicht hat ihm die Trauerfeier doch zu sehr zugesetzt?«
Seufzend versuche ich, mich auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren und das wundervoll verwunderte Gefühl zu verbergen, das durch meine Adern pulsiert. Meine Zwillingsschwester ist hier. »Daran liegt es nicht. Ihm ist schlecht, und du willst doch nicht, dass er hier alles vollspuckt. Muss wohl was Verdorbenes gegessen haben. Wenn er könnte, wäre er hier.« Dad legt den Arm um mich und ich lehne mich kurz an ihn. »Ist es okay, wenn ich nachher noch mal rasch bei ihm vorbeifahre?«
Nun kassiere ich doch einen Dad-Blick.
»Er hat sonst niemanden außer mir. Was, wenn er ernsthaft krank ist? Außerdem muss ich auch mal einen Augenblick raus.« Vor lauter Leuten ist es hier zu heiß, ihr Händeschütteln zu aufdringlich. Irgendwie kommt mir wieder alles so unwirklich vor, schlimmer noch als vorhin. Eigentlich sollte Mum hier bei Dad sein, stattdessen liegt sie still und starr im Sarg.
Dad drückt mir einen Kuss auf die Stirn, der leere Platz neben ihm ist deutlich spürbar. »Ich habe jetzt auch nur noch dich, mein Engel. Aber ich verstehe schon. Geh nur.«
»Ich warte noch ein bisschen, und dann tue ich einfach so, als würde ich ins Bett gehen. Du weißt ja jetzt Bescheid.«
Er nickt. Das schreckliche Duo hat heute das Kommando. Dads Tanten haben einen ausgeprägten Sinn dafür, was sich schickt.
Dad geht zur Tür, um einen Nachzügler zu begrüßen, mich zieht es zu meinen Freunden.
Die haben sich still in eine Ecke verdrückt, wirken verunsichert. Erin sieht mich kommen und stößt Jasmine an, die sich sofort herumdreht und bei mir unterhakt.
»Wie geht es dir? Geht’s einigermaßen, Pip?«, fragt sie. »Kann ich irgendwas für dich tun?«
Ich lehne den Kopf an ihre Schulter und sie nimmt mich in den Arm. »Mir reicht’s, dass du da bist.«
Tim tritt auf uns zu und grinst. »Pip und J eng umschlungen. Davon habe ich schon immer geträumt.«
»Also echt jetzt, Tim!«, sagt Jasmine kopfschüttelnd, aber damit hat er das Eis gebrochen. Endlich unterhalten sich die anderen wieder normal. Ich ziehe Jasmine beiseite, während Tim sich weitere Beschimpfungen gefallen lassen muss.
»Du kannst doch was für mich tun«, flüstere ich.
»Na klar. Was du willst.«
»Ich bin völlig fertig. Kannst du die anderen dazu bewegen, möglichst bald zu gehen? Die sind eh froh, wenn sie hier rauskommen.«
»Stimmt doch nicht. Wir sind nur einfach alle unsicher, wie wir uns verhalten oder was wir sagen sollen. Aber wenn du die anderen gerne los wärst, sorge ich schon dafür.«
»Danke, J.«
Die Zeit kriecht langsam voran. Meine Freunde verabschieden sich der Reihe nach, und auch die anderen Gäste verschwinden allmählich, bis es endlich so weit ist: Der Whiskey wird aus dem Schrank geholt. Dad sitzt zwischen seinem Bruder und seinem Cousin und schenkt ein, dabei kassiert er tadelnde Blicke von den Tanten.
»Soll ich anfangen abzuräumen?«, frage ich Tante Nummer 1, während ich mir die Augen reibe und ein Gähnen unterdrücke.
»Nein, nein, natürlich nicht, Schätzchen. Geh ruhig zu Bett. Ist ja ein langer und anstrengender Tag für dich gewesen.«
»Sicher?«
»Ganz sicher«, antwortet Tante Nummer 2. »Wir kümmern uns darum.« Beide nehmen mich in den Arm, geben mir einen Kuss und ich gehe die Treppe hoch.
In meinem Zimmer tausche ich dunkles Kleid und hohe Hacken gegen Jeans und Turnschuhe – Beerdigung gegen Familienzusammenführung. Ich stelle mir Quinn vor, um zu verhindern, dass in meinem Kopf wieder die Bilder von Mum auftauchenalt und zurechtgemacht im Sarg.
Über die rückwärtige Treppe gelange ich nach unten und verlasse das Haus durch die Hintertür.