Das Copyright © 2006 der Übersetzung des Werkes samt seines Vorwortes und der „Anmerkungen“ Herculanos liegt bei Rui von Angern.

Bei Interesse kann man mich unter:

Rui.von-Angern@arcor.de erreichen

Herstellung und Verlag:

BoD - Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN 978-3-7357-1382-7

VORWORT des ÜBERSETZERS

Nach dem Erscheinen meiner Übersetzung von Alexandre Herculanos „Eurico, der Presbyter“, die in einer kleinen Auflage im Selbstverlag gedruckt wurde, weil sich größere Verlage, auch wenn sie sich ansonsten mit iberischer oder südamerikanischer Literatur befassen, offenbar nicht mit Werken aus dem 19. Jahrhundert befrachten wollen, erhielt ich von den wenigen Lesern doch so viel Lob und Ermunterung, daß ich der ersten Übersetzung weitere nachfolgen lassen wollte.

Die Auswahl fiel zunächst auf „Lendas e Narrativas“ („Sagen und Erzählungen“), deren ersten Band ich nun in deutscher Übersetzung einem sicherlich wieder kleinen Publikum vorstellen möchte. Der zweite soll – wenn alles planmäßig verläuft – noch im Herbst dieses Jahres ebenfalls in Druck gehen. Statt den zweiten Teil des „Monasticon“, das neben dem „Eurico“ auch noch den „Zisterziensermönch“ umfaßt, gleich im Anschluß an den „Eurico“ zu übersetzen, habe ich mich zu diesem Einschub von „Lendas e Narrativas“ entschlossen, weil ich - im Gegensatz zu manch einem Literaturkritiker (und auch zu Herculano selbst) - der Ansicht bin, daß diese kürzeren Geschichten für die meisten „Neulinge“ auf dem Gebiet der portugiesischen Literatur des 19. Jahrhunderts einen besseren Einstieg darstellen als die späteren Werke und keinesfalls so dürftig sind, wie sie Herculano in seinen im Anschluß an dieses Vorwort beigefügten „Anmerkungen“ selbst einschätzt. Sicherlich sind Mängel festzustellen, von denen ich einige bei den Texten der Übersetzung zu beseitigen mich bemüht habe; auch habe ich die Lesbarkeit des deutschen Textes noch mehr als zuvor in den Vordergrund zu stellen versucht, was etwas zu Lasten der Genauigkeit der Übersetzung ging, aber – wie ich hoffe – keinesfalls die charakteristischen Eigenschaften Herculanos oder die Echtheit des Textes im allgemeinen berührte und in einem flüssigeren Stil resultierte, als es das Original zuweilen aufweist. Die Selbstkritik Herculanos – wie auch die Kritik durch andere - ist auch insofern „cum grano salis“ zu sehen, als Herculano sich hier besonders „bescheiden“ gibt, während er sich an anderen Stellen durchaus seines Wertes bewußt war. Außerdem hat der Lauf der Geschichte seine Kritiker, auch ihn selbst und seine Einschätzung anderer „hoffnungsvoller“ Talente zum größten Teil widerlegt, indem sie Herculano nach wie vor einen Platz auf der Empore der portugiesischen Literatur reservierte, von der die von ihm erwähnten Hoffnungsträger mittlerweile vollständig abgetreten sind.

Da sich im Jahre 2010 der zweihundertste Geburtstag Herculanos ereignet, der in Deutschland leider nach wie vor ein völlig unbeschriebenes Blatt geblieben ist, möchte ich mit diesen Übersetzungen, denen auch noch die Übersetzungen von „O Bobo“ und des „Monge de Cistér“ folgen sollen, dazu beitragen, die dichterische Palette dieses großen portugiesischen Dichters und Historikers dem deutschsprachigen Publikum etwas näherzubringen; seine historischen Abhandlungen mögen dann anderen Übersetzern vorbehalten bleiben.

Meinen großen Dank schulde ich meiner Frau, Anita, die mich auch bei diesem Buch vor allem dann durch Ermunterung bei der Stange gehalten hat, wenn sehr diffizile Passagen sich hartnäckig der Übertragung ins Deutsche widersetzten. Auch meinem Schwiegervater, Herrn B. Th. Hoffmann, gebührt mein Dank und meine Anerkennung, denn er steuerte neben Korrekturvorschlägen auch noch die vielen Illustrationen bei, die die Geschichten auflockern und bereichern. Den Lesern dieses Buches wünsche ich viel Vergnügen. Über Reaktionen (Kritik, Lob, Verbesserungsvorschläge) würde ich mich freuen. Meine Internet-Adresse steht weiter vorn.

Berlin, im Februar 2006

ANMERKUNG ZUR ERSTEN AUSGABE

Die kurzen Romane und Erzählungen, die in diesem Sammelband enthalten sind, wurden in schon mehr oder weniger zurückliegenden Zeiten in zwei periodischen Publikationen abgedruckt, dem Panorama und der Illustração, so wie auch die weiteren Geschichten, die im zweiten Band von „Lendas e Narrativas“ (Sagen und Erzählungen) zusammengefaßt wurden, in diesen oder anderen Zeitschriften erschienen sind; diese Sammlung wird – wenn dringlichere Arbeiten es zulassen – mit weiteren Bänden fortgesetzt werden, die solche Werke vollständig oder auch nur teilweise enthalten werden, die in nur skizzierter oder noch ungedruckter Form vorliegen und sich unter den Manuskripten des Autors befinden. Indem sie einer Korrektur und Neuauflage unterworfen werden und den ausführlicheren und weniger unvollkommenen Werken hinzugefügt wurden, die bereits in separaten Bänden der Öffentlichkeit vorgestellt wurden, wollten wir die Erstlinge des historischen Romans in portugiesischer Sprache, die in den Kolumnen von Zeitschriften veröffentlicht wurden, nur vor dem Vergessen bewahren, zu dem auf diese Weise publizierte Werke normalerweise früher oder später verurteilt sind. Als Anschauungsmaterial für die Bemühungen des Autors, ein in diesen unseren Zeiten in allen Ländern Europas ausgiebig gepflegtes Genre in unsere nationale Literatur einzuführen, ist dies ihr wichtigster oder vielleicht sogar ihr einzigster Verdienst, ein Titel, auf den sie sich berufen können, um nicht vollständig der Vergessenheit überantwortet zu werden. Die Einfachheit des Strickmusters, die mangelnde Sicherheit bei den Umrissen einiger Charaktere, die Defizite bei der Führung der Dialoge, Unvollständigkeiten, denen auch bei dieser neuen Ausgabe nicht immer abgeholfen werden konnte, offenbaren die unerfahrene Hand des Autors. In der Geschichte der literarischen Fortschritte Portugals, seitdem die politische Freiheit auch die Freiheit des Denkens mit sich brachte, und die Fabulierkunst auch ans Tageslicht treten konnte, ohne von den omnipräsenten Vertretern einer in ihrem Charakter genau so absurden wie in ihrer Anwendung dummen und in ihrer Auswirkung sterilisierenden Zensur unterworfen zu sein, in dieser geschichtlichen Umgebung meinen wir also, daß diese Ausgabe besonders im Hinblick auf ihre Absichten beurteilt werden und die Auswahl der einbezogenen Werke sowie die Notlage berücksichtig werden sollte, in der sich der Autor während des Schreibens bei der Erschaffung der Substanz und der Formen befand; denn für seine Arbeit fehlten jegliche nationalen Vorbilder.

Um gerecht zu sein, sollte die Kritik jedoch nicht nur diese Umstände berücksichtigen; sie sollte auch die Ergebnisse dieser Versuche hinzuziehen, die, wie man mit Fug und Recht unterstellen darf, anfangs weitere ähnliche Werke künstlerisch beeinflußten, wie zum Beispiel „Os Irmãos Carvajales“ und „O que foram Portugueses“ des Herrn Mendes Leal, und nach und nach die Mehrheit der großen Talente unserer Literatur dazu anregten, ähnliche Werke größeren Umfanges in Angriff zu nehmen, die besser entworfen und ausgeschmückt waren. Alle kennen den „Arco de Sanct´ Anna“, dessen letzten Band der erste portugiesische Dichter dieses Jahrhunderts gerade in Druck gegeben hat, das „Um anno na Corte“ des Herrn Corvo, dessen Veröffentlichung bevorsteht und das „O Odio velho não cansa“ des Herrn Rebello da Silva, einen Essay, der, wenn nicht dümmliche und geschmacklose Beredsamkeit in den akademischen Abhandlungen die mythologischen Anspielungen unanständig gemacht hätten, sich wohl mit dem Kampf mit dem Löwen von Kitheron1 vergleichen ließe, der der griechischen Nation den zukünftigen Halbgott in der Gestalt des jugendlichen Herakles enthüllte; denn im „Odio velho“ beginnt sich der Autor der „Mocidade de D. João V.“ zu offenbaren, einem Roman, von dem schon einige bewundernswerte Seiten gedruckt wurden, der aber in seinem noch ungedruckten Teil, der fast die Gesamtheit darstellt, einen Walter Scott ebenbürtigen Dichter verheißt. Schließlich wurde auch der „O Conde de Castella“ des Herrn Oliveira Marreca, ein umfassender, wenn auch noch unvollständiger Entwurf, eventuell von dem Vorbild dieser schwachen Vorversuche und denen, die der Autor mit dem „Eurico“ und dem „Monge de Cistér“ in größerem Umfang nachfolgen ließ, beeinflußt. Herr Marreca, ein ernster und sittenstrenger Mann, der der alten Zeiten würdig gewesen wäre und von der Vorsehung wie eine stumme Anklage mitten in eine verbrauchte und von vielen Arten der Korruption ausgemergelte Gesellschaft versetzt wurde, hat vor allem als Mann der Wissenschaft und des Gewissens diese hervorstechenden Gaben in das Feld des historischen Romans eingebracht, auf dem wahrscheinlich kein anderer wie er Portugal den Dienst erweisen konnte, den Du-Monteil Frankreich erwiesen hatte, das heißt, die Erforschung jener Teile des öffentlichen und privaten Lebens während der halb-barbarischen Jahrhunderte volktümlicher zu machen, die nicht in den Rahmen der sozialen und politischen Geschichte passen.

Solcherart waren unter anderen die Resultate der Einführung dieses Genres. Inmitten dieser weitreichenden Entwicklung einer neuen Art von Literatur im Lande verdient der Autor der folgenden Seiten vielleicht doch eine Entlastung, wenn er daran erinnert, daß diese literarischen Versuche, die den ihnen folgenden Veröffentlichungen qualitativ unterlegen waren, die Samenkörnchen waren, aus denen der Wald erwuchs. Es sei ihm daher gestattet, sich über diese Minderwertigkeit dadurch hinwegzutrösten, daß er denen in der Zeit vorangeschritten ist, die ihn in der Zuneigung der Leserschaft wahrscheinlich in Vergessenheit geraten lassen werden.

Überzeugt davon, daß er aus diesen Gründen ein Anrecht auf Nachsicht hat, entschloß er sich daher, das im Rahmen eines Buches zu veröffentlichen, was, nur für sich selbst betrachtet, vielleicht niemals verdient hätte, die Spalten einer vergänglichen Zeitschrift zu verlassen, um auf diese Weise nicht Werke zu retten, deren Bewertung einen breiten Raum in der Geschichte der Literatur beanspruchten, sondern einen bescheidenen und rohen Markierungsstein zu hinterlassen, der bei dieser Art von Literatur den Punkt bezeichnet, von dem aus aufgebrochen wurde.

(Die Einführung wurde von Herculano um das Jahr 1850 geschrieben; der Übersetzer)


1 Gemeint ist wohl der Nemeische Löwe, dessen Erlegung des Herakles erste Aufgabe aus dem Dodekathlos darstellte.

ANMERKUNG ZUR ZWEITEN AUSGABE

Die Anmerkung, die der vorangegangenen Ausgabe dieses Buches vorangestellt und hier mit eingebunden wurde, erklärt zur Genüge, warum die ersten Versuche in einem Genre von Schrifttum, das erst sehr spät in Portugal Verbreitung fand, in Büchern veröffentlicht wurden, obwohl sie vielleicht nicht die Kolumnen der Zeitschriften hätten verlassen sollen, in denen sie zunächst der Leserschaft vorgestellt wurden. Wir haben sie damals wie auch heute noch nur als grenzanzeigende Markierungen unserer literarischen Historie angesehen, Wegzeichen, die uns gegenwärtig noch unbestimmter als früher vorkommen; denn im gleichen Maße, in dem das Nachdenken und die Zeit unseren Geist weiterreifen ließen, haben die Mängel der Komposition und des Stiles in dem rückwärts gerichteten Blick unseres Gewissens immer größere Ausmaße angenommen. Indem sie jedoch heute wie vor acht Jahren als einfache Meilensteine betrachtet werden, spricht sich die vorliegende Auflage aus den gleichen Gründen frei, aus denen auch der vorangegangenen Ausgabe Nachsicht entgegengebracht werden sollte.

Wir hofften, und wir meinten dies ehrlich, daß diese noch verwirrten Versuche sehr bald in Vergessenheit gerieten, weil sie von den brillanten Kompositionen in den Schatten gestellt würden, die auf dem Weg, den wir eröffnet hatten, in großer Menge zu erscheinen begannen. Die Leserschaft hat jedoch anders entschieden. Ohne darauf zu verzichten, das Bessere wertzuschätzen, hat sie dennoch diese schlecht-entwickelten Entwürfe nicht vergessen, die in ihrer Erinnerung verblieben sind, wie die Phase unseres kindlichen Gestammels uns für die Tage unserer Sehnsucht verbleibt.

Fünfzehn bis zwanzig Jahre sind vergangen, seitdem ein Schritt gegangen wurde, der, wenn auch noch zögerlich, dennoch entscheidend war, um die Traditionen des „Allivio de Tristes“ und des „Feliz Independente“ zu brechen, Tyrannen, die ohne Rivalen und ohne Auflehnungen die Provinz des portugiesischen Romans regierten. In diesen fünfzehn oder zwanzig Jahren wurde eine Literatur erschaffen, und man darf behaupten, daß kein Jahr verging, das ihr nicht einen Fortschritt bescherte. Welch ein weiter Raum wurde von den „Lendas e Narrativas“ bis zu dem Buche „Onde está a Felicidade?“durchmessen!

Und dennoch: wer weiß, trotz des riesigen Talentes, das sich in den zeitnächsten Kompositionen offenbart, ob sich unter den Namen, die gerade an den literarischen Horizonten zu erblühen beginnen, nicht bald einer zum Vorschein kommt, der auch die in den Schatten stellt, die uns nur einen sehr bescheidenen Platz gelassen haben?

Ich hoffe, daß es so komme. Die, die uns in diesem ruhmreichen Kampfe besiegt haben, werden es mit Fassung ertragen, so wie auch wir uns in unser Schicksal ergeben haben.

Ajuda, im Mai 1858.

DER ALKALDE VON SANTARÉM

(950 – 961)

I.

Der Guadamellato ist ein Bach, der, von der äußerst steinigen Einöde der Sierra Morena herabfließend, ein bergiges und waldreiches Gebiet durchströmt, bis er an der rechten Uferseite, etwas oberhalb von Córdova, in den Guadalquivir einmündet. Es gab eine Zeit, in der eine zahlreiche Bevölkerung diese jetzt verlassenen Gebiete bewohnte: dies war die Periode der sarazenischen Vorherrschaft in Hispanien. Seit der Herrschaftszeit des Emirs Abd-ul-Khatar war der Bezirk von Córdova an die arabischen Stämme des Jemen und Syriens vergeben worden, die edelsten und zahlreichsten unter all jenen Volksgruppen aus Afrika und Asien, die anläßlich der Eroberung der Halbinsel oder kurz danach hier ihren Wohnsitz aufgenommen hatten. Die Familien, die sich an den südlichen Hängen der langen Bergketten ansiedelten, die in der Antike Marianische Berge genannt wurden, bewahrten noch längere Zeit die nomadisierenden Gewohnheiten der Hirtenvölker. So kam es, daß deren Aussehen in der Mitte des zehnten Jahrhunderts eher einer Einöde glich, obwohl diese Region recht stark bevölkert war; denn man konnte auf jenen Bergkuppen und in jenen Tälern weder irgendwelche Spuren von Kultur entdecken, noch tauchte auch nur ein einziges Gebäude zwischen den Hügeln auf, die von den reißenden Wassern der Sturzfluten ungleichmäßig aufgerissen oder von wilden und dunklen Wäldern bedeckt waren. Bisweilen entdeckte man an dem einen oder anderen Tage am Saum eines saftigen Weidelandes zufällig das weiße Zelt eines Schäfers, das am nächsten Tag bereits dort nicht mehr aufzufinden wäre, wenn man es denn suchen sollte.

Es gab jedoch beständige Ansiedlungen in jenen Einöden; es gab menschliche Behausungen, aber nicht von Lebenden. Die Araber legten ihre Friedhöfe an den traurigsten Plätzen dieser Einsamkeiten an, an den südlichen Abhängen der Hügel, dort, wo die Sonne beim Untergang mit ihren letzten Strahlen die flachen Steinplatten der Grabstätten durch die vom Wind gepeitschten blühenden Zweige des Dickichts flüchtig streifte. Dort war es, wo sie sich nach jahrelangem unablässigen Umherstreifen einer bei dem anderen sanft zur Ruhe betteten, um den langen Schlummer zu schlafen, der von den Flügeln des Engels Azrael auf ihre Lider herabgeschüttelt worden war.

Die Rasse der Araber, unruhig, unstet herumirrend und frei wie keine andere menschliche Familie, liebte es, jene mehr oder weniger prächtigen Mahnmale des Unterworfenseins unter den Tod und seine Starre über das Land zu verstreuen, vielleicht um das Gefühl der grenzenlosen Unabhängigkeit während ihrer Lebenszeit besonders herauszustreichen.

Am Hang eines schroffen Berges, der sich am Rande einer ausladenden Heide befand, die von den Ufern des Guadamellato nach Nordosten anstieg, war ein solcher Friedhof angelegt, der dem jemenitischen Stamm der Benu-Homair gehörte. Wenn man vom Fluß her aufwärts stieg, konnte man von weitem die Grabsteine wie einen großen Trockenplatz für Wäsche weißlich aufleuchten sehen. Drei einsame Palmen, die auf der Kuppe des Hügels angepflanzt worden waren, waren der Grund dafür, daß ihm der Name Al-Tamarah2 gegeben wurde. Überstieg man die Kuppe nach der östlichen Seite, traf man auf einen jener Scherze der Natur, für die die Wissenschaft nicht immer eine Erklärung kennt; hier lag ein Granitwürfel riesigen Ausmaßes, der den Anschein erweckte, er sei von Hunderten von Männern dorthin verbracht worden, weil nichts ihn mit dem Untergrund verband. Von der Oberseite dieser Art von natürlichem Wachtposten waren nach allen Seiten weite Horizonte zu erkennen.

Es war der Nachmittag eines Tages: die Sonne sank schnell, und die Schatten fingen auf der östlichen Seite bereits an, die Landschaft in der Ferne in ungewisse Dunkelheit zu tauchen. Auf dem Rand des viereckigen Felsens saß ein Araber vom Stamme der Benu-Homair, der mit einer langen Lanze bewaffnet war und seine aufmerksamen Augen mal über die nördliche, mal über die östliche Richtung schweifen ließ: danach schüttelte er seinen Kopf wie in einem negativen Zeichen, wobei er sich zur entgegengesetzten Seite des großen Felsens neigte. Vier Sarazenen warteten dort, ebenfalls in verschiedenen Haltungen sitzend und in Schweigen vertieft, das nur von einigen schnellen Worten an den Träger der Lanze unterbrochen wurde, auf die er immer auf die gleiche Weise und mit Schütteln seines Kopfes antwortete.

Die Aufständischen warten auf Al-Muulin

 

„Al-Barr“, sagte zuletzt einer der Sarazenen, dessen Bekleidung und Haltung eine große Überlegenheit über die übrigen verriet, „es scheint, daß der Alkalde von Chantaryn3 seine Schmähung genauso vergessen habe wie der Wali von Zarkosta4 seinen Ehrgeiz nach Unabhängigkeit. Sogar die Anhänger der Hafsun, dieser hartnäckigen Krieger, die so oft von meinem Vater besiegt wurden, vermögen nicht zu glauben, daß Abdallah die Versprechen einhalten werde, die Du mich ihnen zu geben veranließest“.

„Emir Al-Melek5“, erwiderte Al-Barr, „es ist noch nicht spät: die Boten können durch irgendein unerwartetes Ereignis zurückgehalten worden sein. Glaube nicht, daß der Ehrgeiz und die Rache so leicht im menschlichen Herzen einschlafen. Sage, Al-Athar, schworen sie Dir nicht bei der heiligen Kaaba6, daß die Boten mit der Nachricht ihres Aufstandes und des Einmarsches der Christen heute noch vor Einbruch der Nacht an diesem vereinbarten Ort eintreffen würden?“.

„Sie schworen es“, antwortete Al-Athar; aber welchen Glauben verdienen Männer, die sich nicht scheuen, feierliche Gelübde zu brechen, die sie dem Kalifen geleistet haben und außerdem noch den Weg für die Ungläubigen freizumachen, damit das Blut der Gläubigen vergossen wird? Emir, ich habe Dir bei diesen dunklen Intrigen treu gedient; denn Dir schulde ich, was ich bin; aber ich hoffe sehr, daß die Erwartungen, die Du hinsichtlich Deiner verborgenen Bündnisgenossen hegst, nicht in Erfüllung gehen mögen. Ich hoffe, daß das Blut nicht die Straßen von Kórthoba7 verfärben und daß für den von Dir ersehnten Thron nicht das Grab Deines Bruders den Fußtritt abgeben muß!“.

Al-Athar verdeckte sein Gesicht mit den Händen, so als ob er seine Verbitterung verstecken wollte. Abdallah schien von zwei entgegengesetzten Leidenschaften erschüttert zu sein. Nachdem er für einige Zeit schweigsam verharrt hatte, rief er aus:

„Wenn die Boten der Aufständischen nicht bis zum Hereinbruch der Nacht kommen sollten, laßt uns nicht mehr darüber sprechen. Mein Bruder, Al-Hakem, wurde gerade als der Erbe des Kalifates anerkannt: ich selbst habe ihn, wenige Stunden bevor ich mich zu dem Treffen mit Euch hierher auf den Weg machte, als künftigen Herrn angenommen. Wenn das Schicksal es so will, dann geschehe der Wille Gottes! Stelle Dir vor, Al-Barr, daß Deine ehrgeizigen Träume und meine nur eine Kassideh8 waren, die Du nicht zu vollenden vermochtest, wie jene, die Du vergebens in der Gegenwart der Botschafter des Frandjat9 vorzutragen versuchtest und die Ursache dafür wurde, daß Du dem Mißfallen meines Vaters und Al-Hakems anheimfielst und jetzt diesen Haß gegen sie nährst, den schlimmsten Haß auf dieser Welt, den der verletzten Eigenliebe“.

Ahmed Al-Athar und der andere Araber lächelten, als sie diese Worte Abdallahs vernahmen. Die Augen Al-Barrs jedoch sprühten Funken vor Zorn.

„Du entgiltst mir die Gefahren schlecht, Abdallah“, würgte er mit einer Stimme hervor, die ihm im Hals steckenzubleiben drohte, „denen ich mich aussetzte, um Dir die Erbschaft des schönsten und mächtigsten Reiches des Islam zu erringen. Du zahlst mit schimpflichsten Anspielungen denen, die ihren Kopf beim Henker verwetten, um auf Deinen eine Krone zu setzen. Fürwahr, Du bist der Sohn Deines Vaters! ... Es spielt keine Rolle. Ich sage Dir nur noch, daß es für die Reue bereits zu spät ist. Glaubst Du etwa, daß eine so Vielen bekannte Verschwörung geheim bleiben kann? An dem Punkt, an dem Du angekommen bist, findest Du beim Zurückweichen erst recht den Abgrund!“

Im Gesicht Abdallahs zeichnete sich das Mißfallen und die Unsicherheit ab. Ahmed wollte gerade reden, vielleicht um zu sehen, ob er dem Prinzen noch einmal von dem gewagten Unterfangen abraten könnte, seinem Bruder, Al-Hakem, die Krone streitig zu machen. Ein Ruf des Wachtpostens unterbrach ihn jedoch. Leichtfüßig wie ein Blitz hatte ein Schemen den Friedhof verlassen, den Hang bis zur Kuppe erklommen und sich unbemerkt angenähert: er kam in einen dunklen Burnus eingewickelt, dessen Kapuze seine Gesichtszüge fast vollständig verhüllte, so daß man nur den schwarzen und ungekämmten Bart sehen konnte. Die vier Sarazenen sprangen mit einem Satz auf und zogen hastig ihre Schwerter.

Als er diese Bewegung sah, tat der gerade Angekommene nichts anderes als seine rechte Hand vorzustrecken und mit der Linken die Kapuze des Burnus zurückzuschlagen: darauf senkten sich die Schwerter, als ob ein elektrischer Strom die Arme der vier Sarazenen eingeschläfert hätte. Al-Barr hatte ausgerufen: „Al-Muulin10, der Prophet! Al-Muulin, der Heilige!...“

„Al-Muulin, der Sünder“, unterbrach der Neuankömmling; „Al-Muulin, der arme, bußfertige Fakir2, der fast blind ist, weil er sein eigenes Verschulden und die Vergehen der Menschen beweint, dem aber Gott dafür, bisweilen, die Augen der Seele erleuchtet, damit er die Zukunft voraussehen oder im Innersten der Herzen der Menschen lesen kann. Ich habe in Euren gelesen, Ihr Männer des Krieges, Ihr Männer des Ehrgeizes! Ihr werdet zufrieden gestellt! Der Herr hat Dich, Abdallah, und Deinen Bruder, Al-Hakem, auf der Waage des Schicksals gewogen; er wurde als leichter befunden. Dir, den Thron; ihm, das Grab. Es steht geschrieben. Geh´; halte in Deinem Lauf nicht inne, denn es ist Dir nicht gestattet anzuhalten! Kehre nach Kórthoba zurück. Dringe in Deinen Palast von Merwan ein: es ist der Palast der Kalifen Deiner Dynastie. Es steckt ein Geheimnis dahinter, daß Dein Vater ihn Dir zum Aufenthalt gegeben hat. Steige auf den Dachboden11 des Turms. Dort wirst Du Briefe des Alkalden von Chantaryn vorfinden, aus denen Du erkennen wirst, daß weder er noch der Wali von Zarkosta noch die Benu-Hafsun Wortbruch üben werden an dem, was sie Dir geschworen haben!“.

„Heiliger Fakir12“, erwiderte Abdallah, der gläubig war wie alle Moslems in dieser Zeit lebendigen Glaubens und sichtbar verwirrt, „ich glaube, was Du sagst, weil nichts Dir verborgen ist. Die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft beherrscht Du mit Deinem erhabenen Verstand. Du sicherst mir den Sieg zu; aber kannst Du mir auch die Vergebung meines Verbrechens zusichern?“.

„Wurm, der Du Dich frei fühlst!“, fiel ihm der Fakir mit feierlicher Stimme ins Wort. „Wurm, dessen Schritte, dessen Wille selbst nichts anderes ist als ein schwaches Werkzeug in der Hand des Schicksals und der Du wähnst, Täter eines Verbrechens zu sein! Wenn der von einem Bogen abgeschossene Pfeil den Krieger tödlich verwundet, erbittet er vielleicht von Gott Vergebung für sein Verbrechen? Staubkorn, das vom göttlichen Zorn gegen ein anderes Staubkorn geschleudert wird, das es vernichten wird, frage eher, ob es in der Schatztruhe des Barmherzigen Vergebung gibt für sinnlosen Stolz!“.

Er legte jetzt eine Pause ein. Die Nacht sank rasch herab. Im Zwielicht konnte man gerade noch erkennen, wie ein behaarter und abgemagerter Arm, der aus dem Ärmel des Burnus hervorkam, in die Richtung von Córdova wies. In dieser Haltung verzauberte die Gestalt des Fakirs. Indem er die Silben zwischen den Lippen durchsickern ließ, wiederholte er dreimal:

„Nach Merwan!“

Abdallah senkte den Kopf und entfernte sich langsam, ohne nach hinten zu blicken. Die anderen Sarazenen folgten ihm. Al-Muulin blieb allein zurück.

Aber wer war dieser Mann? Alle kannten ihn in Córdova; wenn Ihr jedoch in jener Zeit gelebt und in jener Stadt mit mehr als einer Million Einwohnern danach gefragt hättet, keiner wäre imstande gewesen, es Euch zu sagen. Sein Vaterland war wie seine Abstammung und sein Herkunftsort ein Rätsel. Sein Leben verbrachte er auf den Friedhöfen oder in den Moscheen. Für ihn waren die Hitze der Hundstage, der Schnee oder der Regen im Winter wie nicht vorhanden. Selten sah man ihn anders als in Tränen aufgelöst. Er floh vor den Frauen, als ob sie Gegenstände des Schreckens wären. Was ihm jedoch allgemeinen Respekt oder eher Furcht einbrachte, war die Gabe der Prophetie, die ihm niemand streitig machte. Aber er war ein schrecklicher Prophet; denn alle seine Vorhersagen bezogen sich einzig auf kommende Übel. Am gleichen Tage, an dem an den Grenzen des Reiches die Christen einen Einfall verübten oder irgendeine Ortschaft zerstörten, verkündete er das Ereignis öffentlich auf den Plätzen von Córdova. Wenn irgendein Mitglied des zahlreichen Clans der Benu-Umeyyas in den entferntesten Provinzen des Reiches, selbst in denjenigen des Maghreb oder Mauretaniens, unter dem Dolch eines unbekannten Mörders verstarb, beweinte er ihn in der gleichen Stunde, manchmal sogar im gleichen Augenblick, wobei er seine gewöhnlichen Klagen und Tränen verdoppelte. Der Schrecken, den er verbreitete, war so groß, daß seine Anwesenheit inmitten eines Volksauflaufs genügte, um alles in eine tödliche Stille verfallen zu lassen. Die überspannte Vorstellungskraft des Volkes hatte aus ihm einen Heiligen gemacht, einen Heiligen in der Art, wie der Islam sie sich vorstellt; das heißt, als einen Mann, dessen Worte und Anblick vor Schrecken lähmen.

Als er an ihm vorbeiging, drückte ihm Al-Barr die Hand, wobei er ihm mit fast unhörbarer Stimme zuflüsterte:

„Du hast mich gerettet!“.

Der Fakir ließ ihn sich entfernen, und indem er eine Geste tiefster Verachtung machte, murmelte er:

„Ich?! Ich wäre Dein Komplize, Erbärmlicher?!“.

Danach erhob er die geöffneten Hände in die Luft und begann, die Finger rasch zu bewegen, wobei er ein lustloses Lachen hören ließ.

„Arme Hampelmänner!“, ließ er sich vernehmen.

Als er genug davon hatte, mit den Fingern die Spottgedanken darzustellen, die ihm in seinem Inneren zulächelten, lenkte er seine Schritte längs des Friedhofs ebenfalls in die Richtung von Córdova, wobei er einen anderen Seitenweg wählte.


2 Arabisch für: Dattel(palme);[Der Übersetzer].

3 Santarém.

4 Gouverneur des Bezirks von Saragossa.

5 Königlicher Prinz.

6 Der berühmte Steinquader von Mekka.

7 Córdova

8 Ein Gedicht mit dreißig Versen, das unter den Arabern sehr geläufig war, und das in gewisser Weise unseren Oden entsprach.

9 Die christlichen Königreiche in den Pyrenäen.

10 Al-Muulin bedeutet: der Traurige.

11 Sotuho: das oberste Stockwerk. Unsere Schriftsteller haben dieses Wort in einer offenbar falschen Bedeutung übernommen, als sie es verwendeten, um einen unter- oder ebenerdigen Raum zu bezeichnen.

12 Fakih oder faquir, eine Art von Bettelmönch unter den Moslems.

II.

In der königlichen Residenz von Azzahrat, dem herrlichen Al-Kasr13 der Kalifen von Córdova, war bereits vor vielen Stunden das Getöse eines großen Festes verebbt. Der Mondschein einer sanften Aprilnacht flutet durch die Gärten, die sich vom Al-Kasr bis zum Guad-al-kebir14 ausdehnen, und spiegelt sich fahl und zittrig auf den verwinkelten grauen Pfaden wider, in die die kleinen Wäldchen von Sträuchern eingebettet erscheinen, die üppigen Anpflanzungen wildwachsender Bäume, die Wiesen voller Tausendschönchen, die duftdurchfluteten Gärten, in denen die Orangen-, die Zitronen- und die anderen Obstbäume, die von Persien, von Syrien und China herangebracht wurden, die unterschiedlichen Düfte ihrer Blüten verstreuen. Dort in der Ferne erholt sich Córdova, die Hauptstadt des moslemischen Spaniens, von den Mühen des Tages; denn es weiß, daß Abd-ur-Rahman III., der erlauchte Kalif, die Sicherheit des Reiches hütet. Die riesige Stadt liegt in tiefem Schlaf, und das kaum wahrnehmbare Geräusch, das wie mit leichtem Flügelschlag über ihr zu schweben scheint, ist nur die langsame Atmung ihrer riesigen Lungen, das regelmäßige Pochen ihrer kräftigen Adern. Von den Minaretten ihrer sechshundert Moscheen ertönt nicht eine einzige Muezzinstimme, und auch die Glocken der mossarabischen Kirchen wahren das Schweigen. Die Straßen, die Plätze, die Suks oder Märkte sind verlassen. Nur das Gemurmel von neunhundert Quellen und öffentlichen Bädern, die den rituellen Waschungen der Gläubigen dienen, unterstützt das nächtliche Summen der verschwenderischen Rivalin von Bagdad.

Was war das für ein Fest, das einige Stunden vor dem Aufgang des Mondes zu Ende gegangen war, bevor sein fahlweißes Licht die beiden riesigen Umrisse von Azzahrat und Córdova ausbleichte, die sich aus der Entfernung von fünf Meilen gegenseitig anblicken wie zwei riesige, in weite Leichentücher gehüllte Gespenster? Am Morgen des gerade zu Ende gegangenen Tages war Al-Hakem, der älteste Sohn Abd-ur-Rahmans, als Mitregent auf den Thron erhoben worden. Die Walis, Wesire und Khatebs der Monarchie der Benu-Umeyyas waren gekommen, ihn als Wali-al-ahdi anzuerkennen, das heißt, als den zukünftigen Kalifen von Andalusien und des Maghreb. Hiermit war ein von dem alten Beherrscher der Gläubigen seit langer Zeit liebevoll gehegter Plan in Erfüllung gegangen, und der Jubel Abd-ur-Rahmans hatte sich in einem jener Feste ausgelassen, die sozusagen fabelhaft waren, und die im zehnten Jahrhundert nur der verfeinerteste Hof Europas, vielleicht sogar der ganzen Welt, auszurichten vermochte, der des sarazenischen Herrschers von Hispanien.

Den Palast von Merwan, der nahe bei den Mauern von Córdova liegt, erkennt man im unsteten Licht der Nacht durch seine massige und rechtwinklige Gestalt, und seine geschwärzte Farbe, die er dem Hauch der Jahrhunderte verdankt, der die Bauwerke in Trauer taucht, sie aber auch heiligt, kontrastiert mit den luftigen und vergoldeten Kuppeln der Gebäude, mit den schlanken und leichten Minaretten der Moscheen und mit den christlichen Glockentürmen, deren zart bläßliches Äußeres der milde Mondschein noch sanfter gestaltet, der sich auf jenen schmalen Streifen weißen Steines bricht, von denen er nicht reflektiert wird, sondern faul und schläfrig auf die Erde tropft. Schweigsam und anscheinend ruhig wie Azzahrat und Córdova, erweckt der Palast von Merwan, der alte Wohnsitz der ersten Kalifen, düstere Gedanken, während das Aussehen der Stadt und der imperialen Residenz ausschließlich ein Gefühl der Ruhe und des Friedens hervorruft. Es ist nicht nur die Schwärze seines weitläufigen Gemäuers, die diese Verengung des Herzens bei demjenigen bewirkt, der ihn so unbewohnt und finster dastehend betrachtet, sondern auch der rötliche Widerschein, der aus der höchsten der seltenen Scharten dringt, die auf der äußeren Seite seines Bergfriedes angebracht wurden, des höchsten Turmes unter allen, die ihn umgeben, der den Ausguck auf das Feldlager freigibt. Dieses Licht, das am höchsten Punkt des großen und dunklen Umrisses des Turms austritt, ist wie das Auge eines Dämons, der zornig den tiefen Frieden des Reiches betrachtet und erwartungsvoll den Tag herbeisehnt, an dem die Kämpfe wieder ausbrechen und die Zerstörungen, deren Schauplatz die blutige Erde Hispaniens über zwei Jahrhunderte lang war.

Jemand wacht, vielleicht, am Hofe des Schlosses von Merwan. In Azzahrat wacht jemand mit Sicherheit, auch wenn kein Licht auf den Hunderten von Veranden flakkert, auf den Ausgucken, auf den Säulenhallen und den Balkonen, die seinen riesigen Umfang wie Spitzen besetzen.

Der als Saal des Kalifen benannte Raum, der geräumigste unter den so zahlreichen Gemächern, die jene Königin der Gebäude einschließt, sollte zu dieser tiefen Nachtzeit verlassen sein, ist es aber nicht. Zwei Leuchter mit vielen Flammen hängen von vollendet gedrechselten Vertäfelungen herab, die - sich in rechten Winkeln kreuzend - als Rahmen dienen für die Deckenfüllung in Blau und Gold, die die Wände und die Decke verkleiden. Das Wasser einer beständig sprudelnden Quelle plätschert, wobei es in einen Behälter aus Marmor fällt, der in der Mitte des Raumes erbaut wurde, und an der Stirnseite des Saals erhebt sich der Thron Abd-ur-Rahmans, der mit den reichsten Teppichen des Landes Fars15 ausgekleidet ist. Abdur-Rahman ist allein hier. Der Kalif wandert, mit unruhigem Blick, von einer Seite zur anderen, und von Augenblick zu Augenblick hält er inne und lauscht, als ob er ein weitentferntes Geräusch vernehmen wollte. In seinem Ausdruck und Gehabe zeichnet sich lebhafte Unruhe ab; doch das einzige Geräusch, das seine Ohren verletzt, ist das seiner eigenen Schritte über das buntgefärbte Schachbrettmuster, das den Bodenbelag des riesigen Raumes ausmacht. Nachdem einige Zeit vergangen ist, öffnet sich eine Tür langsam, die hinter den Brokatstoffen verborgen ist, die die Seiten des Thrones einfassen, und eine weitere Person erscheint. Im Gesicht Abd-ur-Rahmans, der sie näherkommen sieht, drückt sich noch lebhaftere Beunruhigung aus.

Der Neuankömmling bot einen bemerkenswerten Kontrast in seinem Gesichtsausdruck und seiner Kleidung zu der Pracht des Ortes, in den er eindrang, und zu dem majestätischen Anblick Abd-ur-Rahmans, der trotz seines Alters und der grauen Haare, die sich seinem langen und dichten schwarzen Bart beizumischen begannen, immer noch schön war. Die Füße des gerade Eingetretenen verursachten ein nur geringfügiges Geräusch auf dem Marmorboden. Er war barfuß. Seine al-jarabia oder Tunika war aus grobgestrickter Wolle, der Gürtel ein Seil aus Halfagras. Der Ungezwungenheit seines Gehens und der Sicherheit seiner Bewegungen konnte man jedoch entnehmen, daß all jene Pracht bei ihm keinerlei Erstaunen hervorrief. Er war nicht alt; und dennoch war seine von den Unbilden des Wetters gegerbte Gesichtshaut von Runzeln durchfurcht, und ein roter Rand umsäumte seine schwarzen, eingefallenen und stechenden Augen. Als er beim Kalifen anlangte, der regungslos stehen geblieben war, kreuzte er die Arme und begann, ihn schweigend zu betrachten. Abd-ur-Rahman war der erste, der das Schweigen brach:

„Du hast lange auf Dich warten lassen und warst weniger pünktlich als sonst, wenn Du Dein Kommen zu einer festen Stunde ankündigst, Al-Muulin! Ein Besuch von Dir ist immer traurig, wie Dein Name. Du bist niemals im verborgenen in Azzahrat eingetreten, außer um mich mit Bitternis zu überhäufen: aber dennoch werde ich nicht unterlassen, Deine Gegenwart zu segnen; denn Al-Ghafir – alle sagen es, und ich glaube es – ist ein Mann Gottes. Was kommst Du, mir zu verkünden, oder was willst Du von mir?“.

„Emir Al-Muminin16, was kann ein Mann von Dir fordern, dessen Tage im Schatten der Gräber und auf den Friedhöfen vergehen, und für dessen Nächte des Gebetes die Säulenhalle eines Tempels ausreichenden Schutz bietet, dessen Augen die Tränen verbrannt haben, und der nicht einen Augenblick vergißt, daß alles in dieser Verbannung, der Schmerz und der Genuß, der Tod und das Leben, dort oben niedergeschrieben ist? Was komme ich, Dir zu verkünden? ... Ein Übel; denn es gibt auf Erden nur das Übel für den Menschen, der lebt, wie Du, wie ich, wie wir alle, zwischen der Begierde und dem Haß, zwischen der Welt und Eblis, also zwischen seinen ewigen und unerbittlichen Feinden!“.

„Du kommst also, mir ein Unheil zu verkünden?! ... Der Wille Gottes geschehe. Ich regiere seit nahezu vierzig Jahren, immerzu mächtig, siegreich und geachtet. Alles, wonach ich strebte, wurde mir gewährt, alle meine Wünsche erfüllt; und dennoch war ich in dieser langen Abfolge von Ruhm und Wohlstand nur vierzehn Tage meines Lebens vollständig glücklich17. Ich dachte, daß dieser der fünfzehnte Tag würde. Muß ich ihn letztendlich aus dem Verzeichnis löschen, in dem ich die Erinnerungen an sie verwahre, und in das ich ihn bereits hineingeschrieben hatte?“.

„Du kannst ihn auslöschen“, antwortete der Fakir grob: „Du kannst sogar alle noch unbeschriebenen Blätter zerreißen, die in ihm noch übrig sind. Kalif! Siehst Du diese von den Tränen ausgefurchten Wangen? Siehst Du diese von ihnen verbrannten Augenlider? Hart wäre Dein Herz, härter als meines, wenn in Kürze Deine Augenlider und Deine Wangen nicht meinen ähnelten!“.

„Das Blut verfärbte das helle und leicht blasse Gesicht Abd-ur-Rahmans: seine Augen, heiter wie der Himmel, mit dem sie in der Farbe übereinstimmten, nahmen den schrecklichen Ausdruck an, den er ihnen im Verlauf der Kämpfe zu geben pflegte, ein Blick, der allein schon genügte, die Feinde in die Flucht zu schlagen. Der Fakir rührte sich nicht und fing ebenfalls an, mit starrem Blick auf ihn zu schauen.

„Al-Muulin, der Erbe der Benu-Umeyyas mag vor Gott seine Fehler unter Tränen bereuen; wer aber behauptet, es gebe auf dieser Welt ein Unglück, das ihm eine Träne zu entreißen vermag, dem sagt er, daß er lügt!“.

Die Mundwinkel Al-Ghafirs kräuselten sich unter einem fast nicht wahrnehmbaren Lächeln. Eine lange Stille trat ein. Abd-ur-Rahman unterbrach sie nicht. Der Fakir fuhr fort:

„Emir Al-Muminin, welchen Deiner beiden Söhne liebst Du mehr? Al-Hakem, den Thronfolger, den guten und edelmütigen Al-Hakem, oder Abdallah, den weisen und kriegerischen Abdallah, den Liebling des Volkes von Kórthoba?“.

„Ah“, erwiderte der Kalif lächelnd, „ich weiß schon, was Du mir sagen willst. Du hättest voraussehen sollen, daß Deine Neuigkeiten zu spät eintreffen, und daß sie mir schon bekannt sein würden ... Die Christen überschritten zur gleichen Zeit die Grenzen im Norden und im Osten. Mein alter Onkel, Almoddhafer, hat sein siegreiches Schwert bereits niedergelegt, und Du glaubst, es sei nun notwendig, das Leben eines von ihnen den Angriffen der Ungläubigen auszusetzen. Du kommst, mir den Tod desjenigen vorauszusagen, der abreist. Ist es nicht so? Fakir, ich glaube an Dich, weil Du vom Herrn auserwählt wurdest; aber mehr noch glaube ich an den Stern der Benu-Umeyyas. Wenn ich einen mehr liebte als den anderen, zögerte ich nicht bei der Wahl: diesen würde ich losschicken, nicht in den Tod, sondern zum Triumph. Wenn Deine Voraussagen jedoch so lauten – und sie müssen in Erfüllung gehen ... Gott ist groß! Was für ein besseres Sterbebett kann ich meinen Söhnen wünschen als ein Schlachtfeld, bei dem sie beim Djihad18 gegen die Ungläubigen fallen?“.

Al-Ghafir hatte Abd-ur-Rahman ohne das geringste Zeichen der Ungeduld zugehört. Als er zu reden aufgehört hatte, wiederholte er ruhig die Frage:

„Kalif, welchen Deiner beiden Söhne liebst Du mehr?“.

„Wenn das reine und heilige Bild meines guten Al-Hakem sich meinem Geiste darstellt, dann liebe ich Al-Hakem mehr; wenn ich mit den Augen der Seele das edle und stolze Antlitz, die breite und intelligente Stirn meines Abdallah sehe, dann liebe ich ihn mehr. Wie kann ich Dir also antworten, Fakir?“.

„Und dennoch ist es notwendig, daß Du heute noch, in diesem Augenblick, zwischen dem einen und dem anderen die Auswahl treffest. Einer von ihnen muß in der kommenden Nacht ehrlos sterben, an diesem Hof, vielleicht sogar an dieser Stelle, ruhmlos unter dem Beil des Henkers oder dem Dolch des Mörders“.

Abd-ur-Rahman war beim Hören dieser Worte zurückgewichen: der Schweiß fing an, ihm in großen Tropfen von der Stirn zu rinnen. Auch wenn er eine vorgetäuschte Sicherheit gezeigt hatte, hatte er gespürt, wie sich ihm das Herz verengte, seit der Fakir zu sprechen begonnen hatte. Der Ruf eines Erleuchteten, der Al-Muulin voraneilte, der abergläubische Charakter des Kalifen, und mehr noch die Tatsache, daß sich all die schrecklichen Prophezeiungen erfüllt hatten, die er ihm im Verlaufe vieler Jahre gemacht hatte, all das trug dazu bei, den Fürsten der Gläubigen in Entsetzen zu stürzen. Mit zittriger Stimme entgegnete er:

„Gott ist groß und gerecht. Was habe ich ihm angetan, daß er mich an meinem Lebensende zu ewigem Kummer verdammt, zu sehen, wie das Blut meiner geliebten Söhne in Unehre oder durch Niedertracht vergossen wird?“.

„Gott ist groß und gerecht“, unterbrach der Fakir. „Hast Du etwa niemals ungerechterweise Blut vergossen? Niemals aus rücksichtlosem Haß das Herz eines Vaters, eines Bruders, eines Freundes vernichtet?“.

Al-Muulin hatte das Wort Bruder mit einer besonderen Betonung hervorgehoben. Abd-ur-Rahman, der von ungezügeltem Schrecken besessen war, achtete jedoch nicht darauf.

„Kann ich einer so ungewöhnlichen – ich möchte eher sagen: so unglaublichen Prophezeiung glauben“, rief er zuletzt aus, „ohne daß Du mir die Art und Weise erklärst, wie dieses schreckliche Ereignis eintreten soll? Wie soll das Eisen des Mörders oder des Henkers innerhalb der Mauern von Azzahrat das Blut eines der Söhne des Kalifen von Kórthoba vergießen können, dessen Name – es sei mir gestattet, es auszusprechen – der Schrecken der Christen und der Ruhm des Islam ist?“.

Al-Muulin nahm eine gebieterische und feierliche Haltung an, streckte seine Hand in Richtung des Thrones aus und sagte:

„Setze Dich auf Deinen Thron und höre mir zu, Kalif; denn um des zukünftigen Geschickes von Andalusien willen, des Friedens und des Wohlstandes des Reiches, des Lebens und der Ruhe der Moslems komme ich, Dir ein großes Verbrechen anzuzeigen. Ob Du strafen oder verzeihen magst, dieses Verbrechen muß Dich einen Sohn kosten. Nachfolger des Propheten, Imam19 der göttlichen Religion des Koran, höre mir zu; denn es ist Deine Pflicht, mir zuzuhören“.

Die inspirierte Stimme, mit der Al-Muulin sprach, die tiefe Nachtstunde und das dunkle Geheimnis, das in den Worten des Fakirs eingeschlossen war, hatten die tiefgläubige Seele Abd-ur-Rahmans bezwungen. Mechanisch bestieg er den Thron, kreuzte auf dem Stapel von Kissen, die obenauf lagen, die Beine und sagte, indem er sein entstelltes Gesicht auf seiner Faust aufstützte, mit gepreßter Stimme:

„Du kannst sprechen, Suleyman-ibn-Abd-al-Ghafir!“.

Al-Ghafir, der Traurige, nahm nun eine demütige Haltung ein, und indem er die Arme vor der Brust kreuzte, begann er seine Erzählung auf die folgende Weise:


13 befestigtes Schloß, Burg.

14 Guadalquivir („der große Fluß“).

15 Persien.

16 Herrscher der Gläubigen; die dem Kalifen angemessene Anrede.

17 Historisch belegt.

18 Heiliger Krieg.

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