Phantastisches Abenteuer
von Freder van Holk
Der Umfang dieses Buchs entspricht 769 Taschenbuchseiten.
Dieses Buch enthält folgende Bände:
Der Kaiser von Afrika
Der steinerne Wald
Telenergie
Die Diamantenklippe
Die Bände der Sun Koh Leihbuch-Sammlung enthalten jeweils 4-5 (von insgesamt 37) Sun Koh Abenteuern in der Version der Leihbuch-Ausgabe aus den 1950er Jahren. Diese unterscheidet sich von der 37bändigen Sun Koh Taschenbuch-Ausgabe (aus den 1970er Jahren) durch einen erheblich höheren Umfang pro Roman. Beide Versionen des Stoffes weisen wiederum inhaltliche Differenzen zu der 150bändigen Heft-Erstausgabe in den 1930er Jahren auf.
Sun Koh - Er war der Sohn der Sonne, dazu ausersehen, das Erbe eines sagenhaften Kontinents anzutreten. Die berühmte phantastische Abenteuerserie aus den dreißiger Jahren erscheint jetzt wieder neu. SUN KOH hat Millionen begeistert, er wird auch die heutige Generation mit seinen atemberaubenden Abenteuern in seinen Bann schlagen. Denn SUN KOH ist von zeitloser Aktualität - so zeitlos wie die Sonne, aus der er kommt.
Die phantastische Abenteuer-Serie SUN KOH von Freder van Holk erschien zum ersten Mal in den 1930er Jahren und wurde nach dem zweiten Weltkrieg in jeweils unterschiedlich bearbeiteten Heft- und Buchausgaben neu herausgebracht – zuletzt in einer Taschenbuchausgabe Ende der 1970er Jahre.
Sprachgebrauch und Wertvorstellungen entsprechen der Entstehungszeit der Romane und unterlagen seitdem einem steten Wandel. So ist beispielsweise eine der Hauptpersonen Schwarzafrikaner und wird durchgängig als "Neger" bezeichnet. Heute wird dieser Begriff von vielen als diskriminierend empfunden. Bis in die 1970er Jahre hinein war das jedoch nicht so. Das Wort "Neger" entsprach dem normalen Sprachgebrauch und wurde nicht als herabsetzend angesehen. Selbst der schwarze Bürgerrechtler Martin Luther King sprach in seinen Reden häufig von der "Emanzipation der Neger." Für den deutschen Sprachraum markiert der DUDEN das Wort erstmalig in seiner Ausgabe von 1999 mit der Bemerkung "wird heute meist als abwertend empfunden" und trug damit dem in der Zwischenzeit gewandelten Sprachgebrauch Rechnung.
Da die Romane nur vor dem Hintergrund ihrer Zeit in sich stimmig sind, wurde auf eine sprachliche Glättung ebenso verzichtet wie auf eine Anpassung heute nicht mehr zeitgemäßer Wertvorstellungen oder inzwischen widerlegter wissenschaftlicher Ansichten.
Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books und BEKKERpublishing sind Imprints von Alfred Bekker
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© dieser Ausgabe 2018 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen in Arrangement mit der Edition Bärenklau, herausgegeben von Jörg Martin Munsonius.
Mit freundlicher Unterstützung des Heinz Mohlberg-Verlages, 2018
Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und nicht beabsichtigt.
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Ein Mann kehrt sterbend aus dem Innern Afrikas zurück, in einer Bar von Mozambique taucht der splitternde Tod auf, zwei Gauner wittern Diamanten, und Nimba stolpert über einen Pflug. Die Walomba finden ihren freien Willen zurück, ein Mädchen verfolgt Sun Koh, Afrika wurde in Harlem geboren und Sun Koh lernt John Ferblack kennen. Der kommende Kaiser von Afrika versucht, die europäischen Kolonien von einst zu einem mächtigen zentralafrikanischen Reich zusammenzufügen. Sun Koh stößt damit auf die geheimste und stärkste politische Bewegung von heute und morgen, die sich heute schon zwischen den Zeilen der Tageszeitungen verrät, aber für ihn bleibt sie am Rande des Abenteuers, das ihn durch den Bereich des schwarzen Kaisers hindurchführt.
Wen das Schicksal nun schon einmal verdammt hatte, in Mozambique sein zu müssen, der sorgte wenigstens dafür, dass er um die Zeit des nachmittäglichen Gewitters bei Bolissa saß. Die Terrasse von Bolissa war so ungefähr der einzige Fleck an dieser mörderischen Küste, an der man sich wieder entsinnen konnte, dass man zu Besserem geboren war, als in Mozambique zu verfaulen.
Bolissa, ein Portugiese zweifelhafter Herkunft, hatte lange genug zwischen Sambesi und Rowuma gelebt, um zu wissen, worauf es ankam. Er hatte damals sein Hotel entsprechend gebaut und es vom ersten Tage an so geführt, dass es ohne große Anstrengungen zum täglichen Sammelpunkt aller derer geworden war, die sich als Europäer fühlten, fühlen konnten und zu fühlen wünschten. Man genoss die leichte Brise, die den Fieberdunst vergessen ließ, man kämpfte mit eisgekühlten Getränken gegen die erschlaffende Hitze und man war vor allem unter sich. Das Letztere traf besonders für die östliche Hälfte der Terrasse zu, die von der westlichen durch einen vorgebauten Servierraum getrennt war. Man konnte sich auf Bolissa verlassen, dass er nur Leute auf diese Seite der Terrasse ließ, die gewissen berechtigten Ansprüchen genügten.
An diesem Nachmittag waren nicht übermäßig viele Gäste anwesend. Sie saßen gruppenweise an verschiedenen Tischen und unterhielten sich ungeniert, wenn auch im Allgemeinen gedämpft. Einige der Anwesenden waren Portugiesen, einige Spanier, aber man sah auch neben Engländern noch Angehörige verschiedenster Nationen. Bolissa hätte von jedem eine Geschichte erzählen können, die des Anhörens wert gewesen wäre. Keiner dieser Männer hatte seinen Rang oder Wohlstand geschenkt bekommen, sie waren samt und sonders in gutem oder schlechtem Sinne Abenteurer. Das wurde schon dadurch bewiesen, dass sie sich in Mozambique befanden.
Manuel Graneros, die Rechte Hand des Gouverneurs, hatte gerade die Pointe eines gepfefferten Witzes heraus, als der stets geschniegelte Bolissa zwei neue Gäste auf die Terrasse führte. Sie nahmen neben dem Tisch, an dem Graneros saß, Platz und bestellten Eislimonaden.
Das war immerhin ungewöhnlich, zumindest ebenso wie die Erscheinung der beiden Fremden. Es konnte nicht verwundern, dass die Gespräche bis auf ein kärgliches Minimum zurücksanken und die Anwesenden mehr oder minder auffällig jene beiden unter die Lupe nahmen. Fremde zählten nun einmal auch in diesen Tagen noch zu seltenem Gut.
Sun Koh unterhielt sich leise mit Hal Mervin und kümmerte sich wenig um die neugierigen Blicke, die ihnen zugeworfen wurden. Er war es gewöhnt, dass man ihn immer wieder anstarrte. Hal Mervin regte sich freilich jedes Mal von neuem darüber auf.
"Neugierige Bagage", flüsterte er seinem Herrn zu. "Passen Sie auf, wenn einigen die Augen aus dem Kopfe fallen."
"Das darfst du ihnen nicht übel nehmen", lächelte Sun. "Diese Stadt hat zwar als Hafen eine ganze Menge Verkehr, aber sie bedeutet trotzdem für die besseren Europäer eine Art Verbannung. Die Ankunft von Fremden, die als gesellschaftlich gleich gewertet werden, bleibt ein Ereignis. Es wird nicht lange dauern, so wird man eine Annäherung versuchen."
Hal ließ seine Augen herumwandern.
"Hier sitzt auch mancher, dem ich nicht gerade über den Weg trauen würde. Sehen Sie die beiden dort in der Ecke?"
Sun nickte.
"Vermutlich Glücksritter, wie man sie in allen Hafenstädten findet. Nach ihren Händen dürften sie Spieler sein."
Manuel Graneros erhob sich von seinem Stuhl und schritt auf die beiden Fremden zu. Man erwartete das von ihm, weil man es gewöhnt war, dass Graneros die Verbindung mit solchen Ankömmlingen herstellte. Erstens pflegte er sie sehr oft von Amts wegen schon zu kennen, und zweitens besaß er ein besonderes Geschick, sich heranzuschlängeln.
Er verbeugte sich mit der ihm eigenen Eleganz.
"Erlauben Sie bitte, dass ich mich vorstelle und Sie gleichzeitig in Mozambique begrüße. Ich heiße Manuel Graneros."
Sun Koh und Hal Mervin nannten ihre Namen und schüttelten die gebotene Hand.
"Sie werden mich für neugierig halten", fuhr Graneros mit gewinnender Freundlichkeit fort. "Offen gestanden, ich bin es auch. Fremde Europäer sind seltene Vögel in dieser Stadt, gewissermaßen Boten der fernen Heimat. Und Ihr Erscheinen ist immerhin überraschend, da heute eigentlich kein Schiff eingelaufen ist, mit dem Sie hätten ankommen können?"
"Wir sind mit dem Flugzeug gelandet", gab Sun bereitwillig Auskunft.
Graneros zeigte sich lebhaft interessiert.
"Was Sie nicht sagen? Da kommen Sie wohl gar von Kapstadt her?"
"Von Australien."
Der andere riss die Augen auf.
"Von Australien? Das finde ich erstaunlich. Da haben Sie wirklich einen fabelhaften Flug hinter sich. Würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn ich Sie bäte, an unseren Tisch überzusiedeln?"
Er hätte es wohl fertig gebracht, Sun Koh in eine allgemeine Unterhaltung hineinzuschieben, wenn nicht ein Zwischenfall eingetreten wäre. Von der Tür her kam eine tiefe, etwas raue Stimme, die über den ganzen Raum hinwegschallte.
"Ah, Graneros, natürlich stecken Sie hier. Hätte ich mir denken können. Und der Doktor ist ja auch gleich mit dabei. Das passt mir ausgezeichnet."
Alles blickte zur Tür. Dort stand ein schwerer, massiger Mann mit alkoholischem Gesicht, der lächerlicherweise eine winzige, schwarze Fliege am Kinn trug. Die Einheimischen kannten ihn alle, wenn er auch nicht allzu häufig nach Mozambique kam. Es war Pirollo, der fünfhundert Kilometer weit drinnen im Land ein ausgedehntes Gut besaß und zu den vermögendsten Leuten der Kolonie gehörte.
Graneros stand auf und eilte ihm entgegen, wobei er seine Hand weit vorstreckte.
"Ah, Pirollo, sieht man Sie auch wieder einmal. Herzlich willkommen! Wie geht es Ihnen?"
Pirollo wies auf seine staubbedeckten Kleider.
"Dreckig genug, wie Sie sehen. Habe fünfhundert Kilometer ohne abzusetzen hinter mir."
"Mit dem Wagen?"
"Glaubten Sie etwa, dass ich zu Fuß gekommen bin?", polterte der Farmer. "Genügt auch so gerade. Will froh sein, wenn ich auch die Rückfahrt geschafft habe."
"Hoho, das klingt ja gerade, als wollten Sie schon wieder ausreißen?"
"Will ich auch. In einer halben Stunde geht's fort, und ich hoffe, der Doktor wird mich begleiten. Wo steckt denn Bolissa? Will er mich verdursten lassen? Also hören Sie zu, ich muss Ihnen da eine interessante Geschichte erzählen."
Während der Wirt davonhastete, setzte sich Pirollo an den Tisch Graneros'. Mehrere Minuten lang dauerte es, bis er alle seine Bekannten begrüßt hatte. Inzwischen brachte man ihm ein Getränk, das er mit sichtlichem Behagen schlürfte. Dann begann er zu erzählen, und zwar so laut, dass alle anwesenden Gäste daran teilnehmen konnten.
"Also, Doktor", wandte er sich an einen der anwesenden Männer, "in erster Linie muss ich Sie beschlagnahmen. Ich habe da einen Mann bei mir draußen, der dringend Ihrer Hilfe bedarf."
Der Angeredete pendelte mit seinem hageren Kopf leicht hin und her. Besonders erfreut schien er nicht zu sein.
"Wollen Sie mich im Ernst zu sich hinausschleifen oder haben Sie nur die Absicht, mir den Appetit zu verderben? Sie haben doch in den letzten Jahren keinen Arzt gebraucht? Ich will nicht übertreiben, aber ich denke, so viel wie ich verstehen Sie auch. Wenn ich Ihnen ein paar Medikamente mitgebe, dann …"
"Nichts zu machen", winkte Pirollo ab. "Für die Nigger genügen meine Kenntnisse, aber in diesem Falle möchte ich doch nicht die Verantwortung übernehmen. Ich habe da nämlich einen Europäer aufgelesen. Der Mann ist so herunter, dass Sie sich schon selbst um ihn kümmern müssen."
"Ein Europäer?", fragten verschiedene Stimmen durcheinander.
Pirollo nahm einen langen Schluck.
"Ich denke mir, dass es ein Engländer oder ein Deutscher ist. Zwei von meinen Viehknechten fanden ihn weit draußen am Lugallavoorwerk. Sie wussten nicht genau, ob er noch lebte, aber sie schleppten ihn zu mir. Wie gesagt, er lebt, ich weiß aber nicht, ob er nicht heute oder morgen abkratzen wird."
"Wie ist er denn in Ihre Gegend gekommen?", erkundigte sich Graneros.
Pirollo hob die Schultern.
"Ja, schwer zu sagen. Ich vermutete eigentlich, dass er den Njassa heruntergeschwommen wäre, aber später änderte ich meine Meinung. Der Mann fantasiert viel, aber zwischendurch redet er auffallend klar. Er spricht dann sehr vernünftig und sehr sachlich. Wissen Sie, was er dann in solchen Minuten verlangt?"
"Na?"
"Weiter nichts als ein Flugzeug."
"Hoho, kein schlechter Spaß", lachten die anderen auf.
Pirollo lachte erst mit, wurde dann aber sehr ernst.
"Also, ich habe so ungefähr zuerst das Gleiche gedacht wie Sie, zumindest, dass der Mann fantasierte. Dann habe ich aber eine Stunde lang bei ihm gesessen, und ich kann Ihnen sagen, dass mir das Lachen vergangen ist. Nach allem, was ich herausgehört habe, ist der Mann mit einem Kameraden zusammen weit drin im Innern gewesen, vermutlich im Lualaba-Distrikt. Zu welchem Zweck, ist mir nicht ganz klar geworden, aber wahrscheinlich sind die beiden auf Abenteuer ausgegangen. Sie haben in jener Gegend einen Volksstamm getroffen, von dem auch bei uns gelegentlich Gerüchte umgegangen sind. Erinnern Sie sich, was vor zwei Jahren hier über die weißen Neger erzählt wurde? Außerdem sind sie – immer nach den Reden des Mannes – auf ausgedehnte Schätze gestoßen, vor allem auf Diamantenlager. Sie haben sich die Feindschaft irgendwelcher Leute zugezogen – konnte mir die Namen nicht merken – und mussten fliehen. Der Kranke sprach zum Beispiel sehr oft über einen Kaiser von Afrika, zwischendurch wieder von einer schrecklichen Erfindung, dann zur Abwechslung von einer riesengroßen Gefahr, die für alle Europäer in Afrika bestände. Also kurz und gut, die beiden müssen zur Küste geflohen sein, wobei sich der eine das Bein gebrochen haben muss oder etwas Ähnliches. Er soll noch jenseits des Schire irgendwo im Urwald liegen. Und der Mann, den ich bei mir habe, drängt im Fieber wie im Wachen ununterbrochen, man möchte seinen Kameraden durch eine Expedition oder durch ein Flugzeug holen lassen." Die Zuhörer schüttelten allgemein die Köpfe. Graneros machte sich für alle zum Spötter:
"Nehmen Sie es mir nicht übel, Pirollo, aber was Sie mir da erzählen, das klingt doch etwas allzu stark nach Fieberfantasien. Ich glaube, der Doktor wird eine ganze Masse Beruhigungsmittel mitnehmen müssen."
"Wirr genug ist es", gab der Portugiese zu, "aber glauben Sie ja nicht, dass der Mann nur fantasiert. Sie müssten ihn hören, dann würden Sie genauso wie ich denken, dass allerhand Wahres an den Andeutungen sein muss."
"Na, na", klang es von verschiedenen Seiten zweifelnd auf, und der Arzt sagte sarkastisch:
"Dass der Fremde bei Ihnen liegt und krank ist, daran zweifelt natürlich niemand. Ich werde wohl oder übel daran glauben müssen. Aber was Sie da sonst noch erzählen – pah, man darf das Gerede dieses Burschen doch nicht ernst nehmen. Weiße Neger, der Kaiser von Afrika, Erfindungen und Diamanten kommen in jedem Räuberroman vor. Der Mann packt vielleicht im Fieber seine Jugenderinnerungen aus."
Man lachte beifällig, nur Pirollo nicht. Er griff in die Tasche und holte einen Gegenstand heraus, den er mitten auf den Tisch legte.
"So", sagte er ruhig, "und was meinen Sie dazu?"
Die Männer rissen die Augen auf, beugten sich vor. Graneros griff als Erster nach dem Stein und murmelte ungläubig:
"Das ist doch ein Diamant?"
Pirollo nickte nachdrücklich.
"Gewiss, und zwar einer von schätzungsweise fünfhundert Karat, und wissen Sie, wo ich den gefunden habe?"
"Doch nicht bei dem Fremden?"
"Doch. Er fiel ihm aus der Tasche, als wir ihn auszogen."
Unverkennbar machte diese Mitteilung einen sehr starken Eindruck auf die Männer. Sie waren alle keine Fachleute, aber es gehörte keine Spezialkenntnis dazu, um festzustellen, dass man es mit einem außerordentlich wertvollen Stein zu tun hatte. Diamanten besaßen aber auch für diese Männer ihre Zugkraft, denn Diamanten bedeuteten alles, wofür sie einst ihr abenteuerliches Leben begonnen hatten. Die Augen blitzten auf, die Lippen öffneten sich leicht, die Köpfe reckten sich mit einem Ausdruck von Gier nach vorn.
Ein Diamant?
Mit einem Schlage gewann der wirre Bericht Pirollos an Bedeutung. Wenn dieser Fremde, der halbtot im Urwald aufgelesen worden war, tatsächlich auf blaue Erde gestoßen war, dann …
Pirollo griff abermals in die Tasche, zog einen Zettel heraus und legte ihn mit bedeutsamer Geste auf den Tisch.
"Ich denke, schon durch den Diamanten bekommt die Angelegenheit ein ernstes Gesicht. Doch nun sehen Sie sich mal dieses Papier an und sagen Sie mir, was Sie dazu meinen?"
Wieder griff Graneros als Erster zu. Er teilte sein Urteil allen anderen laut mit.
"Hm, ich würde diese Linien hier für einen Plan halten. Wenn ich nicht irre, soll das Wasser hier ganz rechts der Njassa sein, ganz links vielleicht der Bangweolo."
"Stimmt auffallend", fiel Pirollo ein, "aber die Rückseite ist interessanter. Dieser Plan soll nach dem Reden des Kranken die Stelle angeben, an der er seinen Kameraden zurückgelassen hat. Doch achten Sie auf die Rückseite."
Graneros drehte das Blatt.
"Hm, was soll das sein? Eine Reihe von Zahlen und Formeln, aus denen kein Mensch klug wird."
"Kann ich mir denken", lachte Pirollo kurz auf. "Das Blatt ist nämlich aus einem ganzen Bündel ähnlicher Blätter herausgerissen, das der Fremde bei sich führt. Ich kann Ihnen aber versichern, dass dieses Paket Blätter vollkommen den Eindruck macht, als seien darauf die Einzelheiten einer Erfindung niedergelegt. Das ist nämlich der zweite Grund, warum ich die Rederei des Fremden für mehr halte als für bloße Rederei. Er spricht von Diamanten und hat ein ganz seltenes Exemplar bei sich, er spricht von einer Erfindung, und ich entdecke in seiner Brusttasche einen ganzen Stoß von Papieren, wie ihn ein Abenteurer sonst eigentlich nicht im Innern des Landes herumzuschleppen pflegt. Doch passen Sie auf!"
Er griff zum dritten Mal in seine Tasche. Diesmal legte er einen breiten, goldenen Armreifen heraus.
"Sie sind ja die reinste Raritätenkammer!", meinte der Arzt und griff gleichzeitig nach dem Reifen. "Haben Sie das auch in der Tasche des Fremden gefunden?"
"Ja."
Ferrada prüfte mit auffälliger Sorgfalt, wobei seine Augenbrauen scharf zusammengezogen waren.
"Hören Sie", sagte er nach einer ganzen Weile langsam, "Sie wissen doch, dass ich einiges von solchen Dingen verstehe. Ich sage Ihnen, wenn der Mann das aus dem Innern des Landes mitgebracht hat, dann ist das der erste greifbare Beweis dafür, dass es tatsächlich jene sagenhaften Stämme im Innern gibt, die nicht zu den Negern gehören. Das ist kein Negerschmuck."
"Sondern?"
Der Arzt gab den Reif weiter.
"Tja, so weit reicht mein Wissen anderseits auch nicht. Manches erinnert an Benin, aber ich will damit nichts gesagt haben. Jedenfalls ist es kein Negerschmuck."
Sun Koh hatte selbstverständlich wie alle anderen aufmerksam gelauscht. Er erhob sich jetzt, trat einen Schritt heran und warf aus unmittelbarer Nähe einen Blick auf den goldenen Reifen. Dann setzte er sich wieder. Er hatte eine außerordentlich interessante Beobachtung gemacht, aber er sah keine Veranlassung, darüber zu sprechen.
Pirollo griff inzwischen zum vierten Mal in seine Tasche. Mit besonderem Nachdruck legte er einen Gegenstand auf den Tisch, der eine flüchtige Ähnlichkeit mit einem Browning besaß. Es war nicht viel mehr als eine Ähnlichkeit, die im Material und im Vorhandensein eines kurzen Laufes lag, sonst waren die Abweichungen größer als die Übereinstimmungen. Zweifellos handelte es sich jedoch um eine Waffe unbekannter Konstruktion.
"Das ist das Letzte und vielleicht das Interessanteste", sagte der Portugiese, "was ich Ihnen mitgebracht habe. Wofür halten Sie das?"
"Eine Waffe?", tippte Graneros. "Auch aus den Taschen des Fremden?"
"Seien Sie vorsichtig", warnte Pirollo. "Der Kranke sprach wiederholt vom ›Splitternden Tod‹, und ich nehme an, dass er dieses Ding meinte. Ich habe es noch nicht probiert und kann Ihnen noch nicht einmal sagen, ob es geladen ist."
Graneros war außerordentlich interessiert. Er wendete die Waffe hin und her und ging prüfend ihre einzelnen Teile durch.
"Hm", murmelte er nachdenklich, "das werden wir gleich heraushaben. Hier ist der Lauf, ich denke, wenn man hier drückt, dann …"
"Sie sind verrückt", fuhr Pirollo hoch. "Wenn das Ding losgeht."
Graneros lächelte beruhigend.
"Keine Sorge, ich schieße niemand über den Haufen."
Er richtete den Lauf zum Fenster hinaus, auf das offene Wasser, probierte etwas herum und zog dann eine Art Abzugshahn durch. Daraufhin kam ein kurzer, harter Knall. Aus dem Lauf war ein Schuss herausgefahren.
"Verdammt", schrie Graneros auf und schüttelte sein Handgelenk, "das war aber ein Rückstoß."
"Es ist also doch eine Art Pistole", bemerkte einer der Herren.
"Schade, dass man die Schusswirkung nicht beobachten kann", meinte ein anderer. "Wie wäre es, wollen Sie nicht mal gegen die Wand schießen?"
"Können wir machen", stimmte Graneros bei. "Passen Sie auf, ich …"
Sun Koh sprang auf.
Mit einem Satz stand er neben Graneros und riss ihm die Waffe aus der Hand.
"Sie werden alle Experimente damit unterlassen", sagte er kurz und herrisch und gab dann die Waffe an Pirollo weiter.
"Hier ist die Waffe. Sie sind verantwortlich dafür, dass niemand weiterhin Versuche anstellt."
Graneros war erst sprachlos, dann brauste er auf:
"Herr, was erlauben Sie …"
"Verzeihen Sie meine Heftigkeit", bat Sun Koh ruhiger, "aber Sie waren im Begriff, alle Anwesenden zu töten."
Unwillige Rufe klangen durch den Raum. Man setzte selbstverständlich Zweifel in diese Behauptung. Graneros selbst wahrte nur mühsam die Verbindlichkeit.
"Wie können Sie Derartiges überhaupt sagen?", fragte er scharf. "Ich wollte selbstverständlich auf eine Stelle richten, an der sich niemand aufhielt."
Sun Koh wies auf das Wasser hinaus.
"Ich weiß nicht, ob Ihre Augen scharf genug sind, um das Boot dort draußen beobachten zu können? Es wurde von Ihrem Schuss getroffen."
"Ich sehe kein Boot", lehnte Graneros unwillig ab.
"Dann empfehle ich Ihnen, sich ein Fernglas zur Verfügung stellen zu lassen", erwiderte Sun kalt. "Die Entfernung ist für Ihr unbewaffnetes Auge zu groß, sie war es jedoch nicht für die Kugel, die Sie abfeuerten."
Graneros zeigte wie alle anderen Unsicherheit, aber zugleich auch ablehnendes Misstrauen.
"Lächerlich, eine Revolverkugel kann nicht so weit tragen. Sie ist ins Wasser gefallen."
"Ihnen fiel selbst der starke Rückstoß auf", erinnerte Sun Koh. "Das Boot wurde jedenfalls getroffen. Man wird Sie freilich für den Tod der vier Leute nicht unbedingt verantwortlich machen können."
Graneros wurde gelbgrün im Gesicht. Sun Koh blieb unerschütterlich ruhig. "Es befanden sich vier Männer in dem Boot, die allesamt lebten. Kurz nach dem Schuss fielen sie zusammen und rühren sich seitdem nicht mehr. Das ist eine Tatsache, die mich veranlasste, den zweiten Schuss zu verhindern."
Graneros rang nach Luft. Verschiedene Stimmen riefen nach einem Fernglas. Bolissa kam schon mit einem solchen gerannt. Einer der Gäste hielt es an die Augen, suchte kurz und ließ es dann sinken, während er flüsterte:
"Verdammt, ich glaube, das war ein böser Schuss."
Graneros riss ihm das Glas aus der Hand. Lange starrte er hinaus. Die Männer sahen, wie seine Hände immer mehr ins Zittern kamen, einer fing schließlich das fallende Glas auf.
Der unglückliche Schütze sank in einen Stuhl.
"Herrgott, es sieht tatsächlich so aus, als ob Tote in dem Boot treiben. Ich …"
Er sprang jäh hoch und stürzte hinaus. Sie sahen ihn kurz darauf in eines der Motorboote springen.
Lange herrschte bedrücktes Schweigen bei den Zurückbleibenden. Pirollo war der Erste, der wieder sprach. Er wandte sich an Sun Koh.
"Sie sahen tatsächlich, dass die Leute in dem Boot getroffen wurden?"
Sun Koh hob die Schultern.
"Ich sah, dass die Leute kurz nach dem Schuss zusammensanken, als ob sie getroffen seien. Da der Herr in jene Richtung zielte, lag es auf der Hand, einen Zusammenhang zu schaffen. Schließlich kennen wir ja die Eigenschaften dieser uns unbekannten Waffe nicht und müssen also damit rechnen, dass es wirklich möglich ist, mit ihr auf solche Entfernungen gleichzeitig vier Menschen zu töten oder zu verletzen. Es wäre zumindest leichtsinnig gewesen, ihn hier schießen zu lassen."
"Sie haben vollkommen recht", nickte Pirollo. "Ich selbst warnte ihn ja. Anderseits tut es mir natürlich leid, wenn er auf diese Weise Menschen verletzt haben sollte. Tja, diese verfluchten Erfindungen."
Es war nicht viel dazu zu sagen. Die Männer sprachen leise miteinander in kärglichen Sätzen und warteten im Übrigen auf die Rückkehr des Mannes, der sich von seiner eigenen unglücklichen Tat überzeugen wollte. Man gab ihm keine Schuld, denn damit, dass die Waffe so weit tragen würde, hatte ja niemand gerechnet. Die Waffe selbst schielte man mit misstrauischen Blicken an. Mancher hätte sie gern in die Hand genommen, aber jeder unterließ es – erstens wegen der Gefahr und zweitens deshalb, weil Pirollo nicht so aussah, als ob er sie zum zweiten Male aus der Hand geben würde.
Das Motorboot kam zurück. Graneros stieg aus. Er war sehr bleich, seine Lippen lagen fest aufeinander, sein Gang zeigte eine gewisse Starrheit.
Alles schwieg, als er die Terrasse wieder betrat und mit heiserer, aber fester Stimme erklärte:
"Caballeros, die Beobachtungen dieses Herrn waren leider richtig. In dem Boot befanden sich vier Makua, und sie sind allesamt tot. Sie machen den Eindruck, als seien sie an Schlangengift gestorben. Ich habe sie untersucht, soweit ich konnte, und festgestellt, dass ihre Gesichter und Körper mit winzigen Punkten bedeckt sind. Es sieht fast aus, als ob sie eine sehr feine Schrotladung bekommen hätten. Das Nähere wird sich durch die behördliche Untersuchung ergeben. Ich zweifle jedenfalls nicht mehr, dass ich unglücklicherweise die Leute mit jener Waffe tötete. Sie werden mir nachfühlen können, wie mir zumute ist. Seien Sie versichert, dass ich mich den Folgen meiner Tat nicht entziehen werde. Ich habe die Absicht, mich unverzüglich dem Gouverneur selbst zur Verfügung zu stellen. Leben Sie wohl."
Diese männliche Erklärung machte unverkennbar Eindruck auf die Anwesenden, von denen mancher vielleicht anders gehandelt hätte.
Sun Koh stand neben Graneros, bevor sich dieser noch richtig zum Gehen gewendet hatte. Warm und herzlich sagte er, während er dem Manne gleichzeitig die Hand hinstreckte:
"Erlauben Sie mir zu sagen, dass ich den Vorfall ebenso bedaure wie Sie und dass ich Sie trotzdem für einen ehrenwerten Menschen halte. Sie sind das Opfer eines unglücklichen Zufalls, und niemand wird Ihnen daraus eine Schuld andichten. Ich hoffe, dass auch Ihre Behörde in diesem Sinne entscheiden wird."
Der Portugiese drückte dankbar die gebotene Hand und wollte etwas erwidern, doch schon stand auch Pirollo neben ihm und schüttelte ihm die andere Hand.
"Dasselbe möchte ich Ihnen auch sagen, Graneros", erklärte er laut. "Der Fehler lag bei mir, weil ich das Teufelsding überhaupt herausgab. Ich hätte es in den nächsten Sumpf werfen sollen."
Nun drängten sich die anderen Männer auch heran, um ihre Meinung zu bezeugen. Graneros hatte Mühe, sich der vielen Hände zu erwehren und für die mitfühlenden Worte zu danken. Endlich war er so weit, dass er seinen Vorsatz wahrmachen und gehen konnte. Doch nun hielt ihn Pirollo fast gewaltsam auf. Er nahm ihn bei der Schulter und zog ihn zum Tisch hin.
"So geht das natürlich nicht, mein lieber Graneros", brummte er. "Sie sind der Sekretär des Gouverneurs, und ich brauche Sie. Ins Untersuchungsgefängnis kommen Sie immer noch zeitig genug. Sie haben anscheinend ganz vergessen, dass ich Ihretwegen hierher gekommen bin."
Graneros nahm wohl oder übel Platz.
"Wieso meinetwegen?", fragte er geistesabwesend.
Pirollo wies auf die verschiedenen Dinge, die vor ihm lagen.
"Nun, wir unterhielten uns doch von dem Fremden, der bei mir liegt. Glauben Sie, dass ich das Zeug hier vorzeigte, um Sie zu unterhalten? Ich sagte Ihnen doch schon, dass der Kranke keinen sehnlicheren Wunsch kennt, als dass seinem Kameraden geholfen wird. Das ist aber eine Sache für Sie beziehungsweise für den Gouverneur. Ich kann keine Expedition ins Hinterland schicken, zumal wir dabei auf englisches Gebiet kommen würden.
Das müssten Sie schon veranlassen. Vor allem aber kann man dem Mann anscheinend nur helfen, wenn man schnell hilft. Der Versuch müsste mit einem Flugzeug gemacht werden. Sie wissen, dass ich keins zur Verfügung habe, aber Sie könnten vielleicht von Amts wegen eine Maschine anfordern."
Graneros schüttelte den Kopf.
"Wenden Sie sich an den Gouverneur! Es wird nicht möglich sein."
Pirollo beugte sich vor und knurrte ärgerlich:
"Seien Sie vernünftig. Ich weiß so gut wie jeder andere, dass sich der Gouverneur auf Ihr Urteil verlässt. Sehen Sie, an sich liegt es mir nicht, einen Menschen so einfach aufzugeben, der irgendwo im Urwald liegen geblieben ist und auf Hilfe wartet. Das gilt selbst, wenn es sich um einen dieser heruntergekommenen Abenteurer handelt. Ich war selbst einmal in einer ähnlichen Lage. Aber nun liegen die Dinge hier doch noch ein bisschen anders. Die Leute mögen Abenteurer sein, aber sie wissen über einige Dinge, von denen man zumindest mehr erfahren möchte. Sie sehen den Diamanten, Sie sehen die Aufzeichnungen, den Goldreif und schließlich diese Waffe – wahrhaftig, ich möchte es nicht erleben, dass der Mann bei mir stumm wird und der andere im Urwald verrecken muss. Ich verlasse mich auf Sie, dass Sie das Regierungsflugzeug auf die Suche schicken, und bin bereit, sämtliche Kosten aus meiner Tasche zu bezahlen."
Graneros schüttelte abermals den Kopf.
"Sie missverstehen mich. Ich verkenne durchaus nicht die Bedeutung der ganzen Angelegenheit, aber ich kann Ihnen trotzdem wenig Hoffnung machen. Das Regierungsflugzeug befindet sich augenblicklich in Sofala. Sie waren in den letzten Tagen nicht hier, sonst würden Sie wissen, dass dort die Tanks in die Luft geflogen sind und dabei den Maschinenbestand ruiniert haben. Von den paar Flugzeugen, die uns hier an der Küste zur Verfügung stehen, ist gerade noch eins intakt, und das kann einfach nicht entbehrt werden. Die Reparatur der anderen, auch unserer Maschine, wird noch Tage oder gar Wochen dauern. Und Privatflugzeuge gibt es nicht in Mozambique."
Pirollo stieß einen Fluch aus, den man seinem gemütlichen Gesicht gar nicht zugetraut hätte.
"Verdammt, das hat mir gerade noch gefehlt. Kein Flugzeug zu bekommen? Natürlich, wenn man schon eins braucht!"
Wieder legte sich Schweigen über den Raum.
Graneros blickte zu Sun Koh hinüber.
Dieser hatte das Abenteuer schrittweise herankommen fühlen. Mozambique war ursprünglich für ihn nur eine Zwischenstation, um nach dem langen Flug den Körper wieder strecken zu können. Die fiebergelben Gesichter der Gäste, der geschmeidige Wirt, das ganze Mozambique sollte schon am nächsten Tage zur Episode geworden sein. Dann aber kam Pirollo mit seiner Erzählung.
Der Diamant, für viele der Anwesenden das Wichtigste, ließ Sun Koh gleichgültig. Auch das formelnbedeckte Papier erregte ihn nicht. Aber der Armreif mit seinen merkwürdigen Zeichnungen und Runen ließ ihn sehr aufmerksam werden. Und auch die Waffe schien ihm der Beachtung wert zu sein.
Er war schon lange entschlossen, mehr über die Abenteuer des kranken Fremden zu erfahren, als Pirollo davon verraten konnte. Und jetzt trat gebieterisch die Forderung auf, einem Unglücklichen zu helfen. Ein Flugzeug konnte ihn retten. Es gab kein Flugzeug in Mozambique außer jenem, in dem Sun Koh gekommen war.
Er trat an Pirollo heran.
"Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen. Ich bin im Flugzeug hier angekommen und bereit, auf die Suche nach dem Mann im Urwald zu gehen."
Der Farmer sprang auf.
"Sie haben ein Flugzeug da und wollen – ah, das ist ja großartig! Seien Sie versichert, dass ich Ihnen alle Auslagen …"
"Danke, ich lebe auf eigene Kosten", wehrte Sun Koh verbindlich ab. "Würden Sie mir bitte den Plan zur Verfügung stellen?"
"Aber gern. Übrigens – ich heiße Pirollo. Es wäre gut, wenn Sie vorher selbst mit dem Kranken sprechen würden."
"Eben das wollte ich Ihnen vorschlagen", erwiderte Sun und nannte seinen Namen. "Legen Sie Wert darauf, in Ihrem Wagen zurückzufahren? Ich würde Sie sonst bitten, gleich meine Maschine zu benutzen. Auch dieser Herr, den Sie wohl als Arzt benötigen, könnte gleich mitfliegen."
Pirollo war sichtlich freudig erregt.
"Großartig, ganz großartig", freute er sich. "Meinen Wagen bringt mein eingeborener Fahrer natürlich ebenso gut nach Hause, bloß – mit der Landefläche wird es etwas hapern."
"Darüber machen Sie sich keine Sorgen", beruhigte Sun. "Ich schlage vor, dass wir gleich aufbrechen. Wir können uns unterwegs noch unterhalten."
Pirollo schüttelte ihm zum dritten Male die Hand.
"Das lasse ich mir gefallen. Schnell und bestimmt. Sie sind der richtige Mann für solch eine Sache. Also von mir aus kann's losgehen. Doktor, wie weit sind Sie?"
Ferrada hob ein Bündel in schwarzem Wachstuch hoch.
"Meine Tasche liegt wie gewöhnlich bereit. Für Ihren Patienten wird es genügen. Wahrscheinlich braucht er mehr Ruhe und Nahrung als Instrumente."
"Kann auffallend stimmen. Hm, doch sagen Sie, verehrter Herr, ist es nicht etwas gewagt, in der Dunkelheit auf unbekanntem Gelände zu landen?"
Sun Koh sah nach der Uhr.
"Haben wir nicht noch über eine Stunde bis Sonnenuntergang?"
"Das allerdings, aber wir brauchen doch mindestens zwei Stunden? Es sind rund fünfhundert Kilometer."
Sun schüttelte den Kopf.
"Wir werden vor Anbruch der Dunkelheit auf Ihrem Gut eintreffen. Bitte vergessen Sie die Waffe nicht!"
Pirollo hatte die verhängnisvolle Waffe tatsächlich noch auf dem Tisch liegen, während er das andere bereits zu sich gesteckt hatte. Jetzt nahm er sie misstrauisch in die Hand.
"Hm", meinte er bedenklich, "ich bin zwar gerade kein Angsthase, aber besonders angenehm ist es mir nun nicht mehr, das Mordwerkzeug bei mir zu tragen. Sie ist doch nicht mehr gesichert. Graneros, wissen Sie nicht mehr …?"
Sun Koh nahm ihm die Waffe aus der Hand.
"Sie erlauben bitte. So, jetzt dürfte sie gesichert sein. Wenn es Ihnen lieber ist, nehme ich sie zu mir."
"Gott sei Dank", atmete Pirollo auf. "Nun wollen wir aber fort."
Er begann ziemlich lärmend von den Umstehenden Abschied zu nehmen. Inzwischen drängte sich einer der Männer heran, die Sun eine Weile vorher Hal gegenüber als Spieler bezeichnet hatte.
"Erlauben Sie eine Frage", sagte er höflich. "Könnten Sie es ermöglichen, mich mit zu Pirollos Gut zu nehmen?"
Sun Koh warf einen forschenden Blick auf das zermergelte und insgesamt durchaus nicht angenehme Gesicht.
"Das ist mir leider nicht möglich", entgegnete er ruhig. "Mein Flugzeug verträgt keine größere Belastung. Haben Sie besondere Gründe, dass Sie dringend dorthin müssen?"
"Nicht unbedingt", lächelte der andere verbindlich. "Ich interessiere mich nur ganz allgemein für den Fremden, weil ich annehme, dass er ein Bekannter, genauer gesagt ein Verwandter von mir sein könnte. Aber da Sie mich nicht mitnehmen können, bitte ich Sie, die Belästigung entschuldigen zu wollen."
Er zog sich zurück. Sun Koh fand es etwas merkwürdig, dass dieser Mensch plötzlich einen Verwandten in jenem Kranken vermutete, aber er dachte nicht weiter darüber nach. Pirollo war fertig, sämtliche Hände durchzuschütteln, Ferrada desgleichen, sie konnten die Terrasse und Mozambique verlassen.
Eben kam Hal Mervin von der Tür zurück und flüsterte:
"Er landet schon."
Dieser ›Er‹ war natürlich Nimba mit dem Flugzeug. Kurz nach der Meldung Hals erlebten die Gäste Bolissas das sensationelle Schauspiel, dass ein in seiner Konstruktion völlig fremdartig anmutendes Flugzeug wie im Fahrstuhl dicht vor der Terrasse senkrecht niederschwebte und sich weich wie eine Daunenfeder auf die Straße setzte.
Wenige Minuten später stieg es mit Sun Koh und den anderen an Bord wieder auf.
*
Am nächsten Morgen in der neunten Stunde saßen bei Bolissa auf der Terrasse nur zwei Gäste, nämlich die beiden Spanier, die Sun Koh und Hal Mervin bereits wegen ihrer Gesichter aufgefallen waren. Man konnte sie selbst für Mozambique nicht als sonderlich angenehme Erscheinungen ansprechen, obgleich sie gut gekleidet waren. Dass ihre Gesichter die Spuren überstandener Fieberanfälle zeigten, dass die Wangen hohl waren und die Augen tief lagen, konnte für dieses Klima als selbstverständlich gelten. Aber die Augen besaßen jenen falschen, listigen Schimmer, den nur ein harmloses Gemüt übersehen konnte, und um die Lippen lagen gewisse Züge, die zur Vorsicht mahnten.
Sie saßen dicht beieinander und flüsterten, obgleich das gar nicht nötig gewesen wäre, da sie ohnehin niemand hören konnte.
"Es ist zwecklos, Lobo", sagte eben der eine, der wahrscheinlich sogar einen Schuss Negerblut in seinen Adern hatte. "Wir fallen auf und können doch nichts erreichen."
"Verdammt", fuhr der andere hoch, "meinst du, dass es durch deine Unkerei besser wird? Ich habe den Wagen bestellt. In einer Stunde fahren wir zu Pirollo hinaus. Wir müssen an den Mann herankommen. Wo er den einen Diamanten gefunden hat, finden sich auch noch andere, verstanden? Hier ist Gelegenheit, ein Vermögen zu machen. Seit wann hast du dazu keine Lust, Caide?"
"Lust, Lust?", murrte der andere. "Ich fürchte nur, wir geben unser Geld zwecklos aus. Wir werden dann auf dem Trocknen sitzen. Ist ohnehin schlechter Boden hier. Die Leute halten mehr vom Trinken als vom Spielen."
Lobo grinste.
"Wir werden unser Lebtag nicht mehr spielen, wenn uns der Schlag gelingt. Ein paar dieser Diamanten, und wir sind gemachte Leute."
"Hoffentlich", setzte Caide an, brach aber gleich wieder ab, da die Tür zur Terrasse geöffnet wurde. Bolissa erschien, an seiner Seite schritt eine junge Dame, die auch an anderen Flecken als Mozambique Aufsehen erregt hätte.
Sie trug einen hellen Schutzanzug, eine Art Overall, wie er bei Fliegern üblich ist. Das beeinträchtigte freilich ihre Schönheit nicht im Mindesten, gab ihr allenfalls eine kecke, verwegene Note. Man sah auch so, dass sie schlank war, merkte an ihrem Gang, wie ihre Glieder federten. Ihr Gesicht erhielt seine Note vom Haar, das sich in einem eigenartig satten Rot lockig um das Gesicht legte. Dieses Gesicht verriet nicht nur ihre Jugend, sondern auch einen herben und dabei doch fröhlichen Charakter. Man war versucht, an einen hübschen Jungen zu denken, der seine Haare hatte länger wachsen lassen. Erst wenn man in die eigentümlich blaugrauen Augen mit ihrem braun schimmernden Untergrund blickte, begriff man, dass dieses Geschöpf doch eine Frau war.
Sie warf einen flüchtigen Blick durch den Raum. Die beiden Gäste schien sie kaum zu bemerken. Sie wandte sich sofort an Bolissa.
"So, das ist also Ihre berühmte Terrasse. Na schön, soll sie es bleiben. Bringen Sie mir bitte etwas zu trinken, ich habe dann mit Ihnen zu reden. Alles andere hat Zeit bis später."
Der Wirt verschwand und kam wieder. Auf einen Wink nahm er neben der jungen Dame Platz. Sie begann sofort zu fragen, und zwar laut genug, dass Lobo und Caide mühelos dem Gespräch zu folgen vermochten.
"Also", sagte die junge Dame, nachdem sie getrunken hatte, "vor allem möchte ich von Ihnen wissen, ob gestern oder vorgestern ein Flugzeug hier eingetroffen ist, das von Australien her kam. Man konnte mir auf dem Fleck, den Sie hier Flugplatz zu nennen belieben, keine gescheite Auskunft geben, empfahl mir jedoch, mich an Sie zu wenden. Vermutlich gelten Sie als lebendes Tageblatt."
Wenn die Bemerkung aus anderem Munde gekommen wäre, hätte sich Bolissa wohl beleidigt gefühlt. Er war jedoch ein Verehrer schöner Frauen und lächelte daher nur geehrt.
"Ich freue mich, Ihnen dienen zu können. Es ist gestern ein Flugzeug von Australien her hier angekommen."
Über das Gesicht der jungen Dame flog ein freudiger Schimmer.
"Ah, das ist ausgezeichnet. Wissen Sie zufällig den Namen des Besitzers?"
"Er heißt Sun Koh, wenn ich recht verstanden habe."
Sie atmete tief auf.
"Gott sei Dank, also hatte ich doch richtig getippt. Wissen Sie, ich bin ihm nämlich von Australien her mit dem Flugzeug gefolgt und war bis jetzt im Zweifel, ob er wirklich diese Richtung einhalten würde."
Die beiden in der Ecke stießen sich an. Sie begriffen beide sofort, dass sich ihnen hier eine Chance bot.
Bolissa zog ein betrübtes Gesicht.
"Es tut mir leid, Ihnen sagen zu müssen, dass der Herr bereits nicht mehr anwesend ist."
Sie schrak zusammen.
"Ist er schon weiter geflogen?"
Bolissa begann über die Vorfälle des gestrigen Nachmittags zu berichten. Es war geradezu erstaunlich, wie ausführlich er das tat, obwohl er sich doch eigentlich die wenigste Zeit auf der Terrasse aufgehalten hatte. Die Eingeweihten wussten freilich, dass Bolissa nichts entging.
Die junge Dame lauschte, abgesehen von einigen kurzen Zwischenfragen, ohne Unterbrechung, ihre Augen leuchteten, ihre Stimme klang freilich wieder sachlich, als sie anschließend an Bolissas Bericht sagte:
"Das ist der Herr, den ich suche. Er befindet sich also augenblicklich auf dem Gut jenes Pirollo?"
"Wenn er nicht schon weiter ins Innere ist."
"Das werde ich an Ort und Stelle sehen. Beschreiben Sie mir bitte den Weg."
Bolissa blickte sie einigermaßen verdutzt an.
"Das – das ist wohl kaum möglich. Sie müssten sich eine genaue Karte besorgen oder einen Führer nehmen."
Sie zog die Brauen leicht zusammen.
"Gut, dann werde ich mir eine Karte besorgen. Bringen Sie mir bitte irgendetwas zu essen. Recht bald."
Bolissa ging hinaus; gleichzeitig erhob sich Lobo, kam nach vorn und verbeugte sich vor der jungen Dame.
"Verzeihen Sie", meinte er höflich, "ich hörte zufällig, dass Sie zu Pirollo hinaus wollen und in Verlegenheit wegen des Weges sind. Vielleicht wäre es möglich, dass wir uns gegenseitig verständigen könnten. Ich heiße Lobo."
"Erklären Sie sich näher."
Die junge Dame überlegte einen Augenblick.
"Ganz genau", versicherte Lobo, "auch vom Flugzeug aus."
Der Spanier fühlte sich entlassen und ging zu seinem Kameraden zurück. Die beiden hatten in der nächsten halben Stunde eine ganze Masse zu bereden. Das taten sie allerdings nicht mehr bei Bolissa, sondern während einer Hetzfahrt durch die Stadt.
Das Flugzeug stand draußen vor der Stadt auf dem Flugplatz. Es war eine hervorragende neue Maschine, für die Belmore in London verantwortlich zeichnete. Neben ihr stand wartend ein untersetzter Mann in der Mitte der Dreißig, der ähnlich wie Evelyn Roth Pilotenkleidung trug.
August Lehmann, dessen Gesicht mehr Gutmütigkeit und weniger Schläue verriet, als tatsächlich in ihm steckten, schüttelte den beiden die Hand. Freudig erregt war sein Gesicht nicht gerade dabei, im Gegenteil, er ließ die beiden von Anfang an nicht im Zweifel darüber, dass sie ihm nicht sonderlich sympathisch waren.
Zwei Stunden später standen sie vor Pirollo, der sie teils überrascht, teils erstaunt begrüßte. Als höflicher Mann stellte er von sich aus keine Fragen, sondern gab seiner Freude über die unerwarteten Gäste Ausdruck. Evelyn Roth jedoch war noch nie ungeduldiger gewesen als jetzt und zögerte keine Minute.
"Nein", erwiderte Pirollo erstaunt, "er ist bereits in das Innere des Landes weitergeflogen."
"Ich habe Pech, immer ist er einige Stunden voraus. Können Sie mir sein Ziel angeben?"
"Ja und nein; das ist nicht so einfach. Doch wollen Sie nicht näher treten? Falls Sie sich wirklich für den Aufenthalt jenes Herrn interessieren, muss ich Ihnen eine ganze Menge erzählen."
"Also, der Herr, den Sie treffen wollen, ist bereits weiter", begann Pirollo umständlich. "Ich weiß nicht, ob Sie orientiert sind, warum er überhaupt hierher kam?"
Er nickte.
"Was wollen Sie damit sagen?"
Die beiden Spanier zuckten sichtlich zusammen.
"Allerdings", bestätigte der Gastgeber. "Er muss unbekannte Feinde gehabt haben. Aber vielleicht ist es auch nicht ganz richtig. Man hat ihn wohl nur zum Schweigen bringen wollen. Es wäre sonst nämlich kaum erklärlich, dass auch auf Senor Sun Koh ein nächtlicher Überfall verübt wurde. Gott sei Dank konnte dieser ihn vereiteln."
"Wir sind eigentlich zu einer anderen Meinung gekommen", widersprach Pirollo ruhig. "Der Diamant befand sich nämlich in der Tasche des Kranken und ist dort drin geblieben. Man hat ihn nicht mitgenommen, also konnte es nicht um den Diamanten gehen. Es ist wahrscheinlicher, dass es den Leuten auf die Papiere und auf die Waffe ankam. Diese beiden hatte glücklicherweise Sun Koh bei sich."
"Sagen Sie, können Sie mir nicht genaue Angaben machen, wo ich meinen Partner finden kann?"
"Das kann ich leider nicht. Mit einer allgemeinen Angabe ist Ihnen ja nicht gedient. Aber warum wollen Sie nicht einfach hier warten, bis er zurückkehrt? Er hat die Absicht, den Geretteten hierher zu bringen. Das kann unter Umständen noch heute geschehen, spätestens morgen. Machen Sie mir die Freude und bleiben Sie wenigstens bis dahin als mein Gast hier."
Sie entschied sich zu bleiben.
Sie saßen beide am Spätnachmittag in einer stillen Ecke beieinander und brüteten über einem Plan, der nichts zu wünschen übrig ließ. In dieser Stunde konnte man sie beim besten Willen nicht mehr als Engel bezeichnen.
Caide wurde etwas ärgerlich.
Lobo grinste verächtlich.
"Nee", knurrte Caide.
"Und du denkst, dass das Mädchen dir die Maschine so ohne weiteres zur Verfügung stellen wird?"
"Schafskopf! Wir werden sie selbstverständlich nicht fragen. Fliegen können wir beide, wir brauchen also weiter nichts zu tun, als uns hineinzusetzen. Anhalten kann uns niemand."
"Hm, wir wollen also aufs Ganze gehen?"
Der andere leckte sich die Lippen. Seine Augen lagen mit einem merkwürdigen Ausdruck auf dem jungen Mädchen, das draußen eben unter dem Fenster vorbeiging.
Lobo stieß einen Pfiff aus.
"Wenn wir schon einmal aufs Ganze gehen …"
Caide zwinkerte ihn an.
"Kurz vor Morgengrauen, dachte ich."
Evelyn Roth wandelte ahnungslos auf und nieder.