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Cardigan Bay, Mai 2012
Nick war die ersten zwei Stunden durchgefahren und hatte sie einem dösenden Halbschlaf überlassen. Als Ally sich ans Steuer setzte und eine Cara-Dillon-CD einlegte, protestierte Nick.
»Bei der Musik kommen mir die Tränen. Erzählst du mir jetzt, warum du nicht nach Wales wolltest?« Er stellte einen Radiosender ein, der die aktuellen Charts spielte.
Ally umfasste das Lenkrad fester und starrte auf die blinkenden Rücklichter vor ihr. Sie waren bereits auf der Autobahn nach Bristol, wo sie über die Severn Bridge nach Wales fahren würden. Allein der Gedanke an die Brücke mit dem atemberaubenden Blick über die Bucht brachte alles zurück. Sie räusperte sich. »Es ist nicht leicht für mich, Nick.«
»Wir haben Zeit.« Er streckte die langen Beine aus und warf ihr einen aufmunternden Blick zu.
Sie hatten schon bei verschiedensten Aufträgen zusammengearbeitet, und Ally schätzte seine unkomplizierte Art. Dabei war er ein hervorragender Fotograf und erfahrener Reisebegleiter, den so schnell nichts aus der Ruhe brachte. Mehr als einmal hatte sie sich bei dem Gedanken ertappt, ob aus Freundschaft mehr werden könnte, doch irgendetwas hatte sie immer zurückgehalten. Sie schätzte ihn zu sehr, entschuldigte sie ihr Zögern, und wollte nicht riskieren, den Freund zu verlieren, wenn die Liebesbeziehung scheiterte. Doch im Grunde hatte sie Angst. Sie fürchtete sich davor, sich ihren Gefühlen und Ängsten zu stellen, und das würde passieren, wenn sie sich auf jemanden wie Nick einließ.
»Wie lange kennen wir uns schon, Ally?«
Sie konnte ihn aus den Augenwinkeln lächeln sehen. Dabei bildeten sich kleine Grübchen neben seinen Mundwinkeln. »Lange genug.«
»Habe ich dein Vertrauen jemals missbraucht?«
»Nein.«
»Ich habe mich immer gefragt, warum du oft so verloren und traurig wirkst, was an dir nagt, dich so verletzlich macht, dass du dich mit einem undurchdringlichen Schutzpanzer umgibst. Anfangs dachte ich, dass es ein Mann gewesen ist, aber das ist nicht der Grund, oder?«
In der Redaktion des Inside-Travel-Magazins wusste nur Meg von ihrer Vergangenheit, aber sie schuldete Nick zumindest eine kurze Erklärung.
»Als Kind bin ich mit meinen Eltern in den Ferien nach Wales gefahren. Jeden Sommer haben wir in Cardigan Bay verbracht. Es war Tradition, dass wir nach dem Überqueren der Severn Bridge Rast gemacht haben. Mein Bruder liebte diesen kleinen Rastplatz mit den Holz…«
»Du hast einen Bruder?«, unterbrach Nick sie überrascht.
»Simon. Sechs Jahre jünger als ich. Ich habe ihn meinen kleinen Professor genannt, weil er unglaublich klug war. Er kannte jeden englischen König und jeden Kreuzzug. Sein Steckenpferd war die Gralslegende.«
Sie fühlte Nicks Blick auf sich ruhen und redete weiter. Wenn sie jetzt eine Pause machte, würde sie nicht mehr sprechen können, sondern nur noch weinen. »Er hatte ein Ritterkostüm und sogar ein richtiges Schwert und einen Schild. Ich habe ihn gerne auf die Mittelalterfeste begleitet, weil ich die Musik mochte.«
Dicke Regentropfen klatschten gegen die Windschutzscheibe, und Ally schaltete die Scheibenwischer ein. Sie fuhren mit Nicks Range Rover, dem man ansah, dass er schon einige abenteuerliche Touren überstanden hatte, doch der Motor lief tadellos. Nick hatte das Radio leiser gedreht.
Nach einem tiefen Seufzer fuhr Ally fort: »In jenem Sommer war ich sechzehn und zum ersten Mal verliebt. Wir hatten, wie meist, ein kleines Ferienhaus in Aberaeron gemietet. Meine Eltern waren mit Freunden unterwegs, und Simon und ich sind mit dem Bus in die Bucht zum Strand gefahren. Er tat sehr geheimnisvoll und wollte unbedingt alleine los. Es hatte etwas mit einer seiner Gralsgeschichten zu tun. Mehr wollte er nicht sagen.«
Sie schluckte und blinzelte mehrmals. »Ich hätte ihn niemals allein gehen lassen dürfen! Aber ich war so verliebt, wollte David unbedingt sehen, und er ist nicht einmal gekommen. Ich war so dumm, so egoistisch! Simon war schlau und ging öfter allein in Museen oder Bibliotheken, aber das ist keine Entschuldigung! Ich hätte ihn nicht allein gehen lassen dürfen.« Ally schluchzte.
Nick strich ihr über die Schulter. »Er hatte einen Unfall?«
Plötzlich sah sie ihn an, die Augen tränennass und geweitet. »Das sagte die Polizei. Er wurde in der Bucht unterhalb der Klippen von Morlan House gefunden. Sie haben behauptet, er wäre ertrunken …« Sie schluchzte. »Aber er war ein so guter Schwimmer! Er wäre niemals ertrunken, niemals! Wir sind oft in unbekannten Gewässern schwimmen gegangen. Er wusste, worauf man achten muss.«
»Okay. Fahr dort vorn ran. Wir machen eine Pause.«
In der Parkbucht stiegen sie aus, und Ally weinte in Nicks Armen, bis ihre Augen brannten und ihr Magen schmerzte. Ein Therapeut hatte ihr empfohlen, den Schmerz herauszulassen, aber das Weinen machte es nicht leichter, im Gegenteil. Sie musste sich dazu zwingen, aufzuhören und nicht zu schreien. Es tat so weh, auch nach zehn Jahren war der Schmerz so frisch wie damals, als der Polizist zu ihnen gekommen war. Den Blick ihrer Eltern würde sie nie vergessen – ein einziger Vorwurf. Damals war sie gestorben. Sie war mit Simon gestorben, nur durfte sie nicht mit ihm gehen, sondern musste weiterleben, ihren Körper bewegen und wie ein Roboter funktionieren.
»Es ist meine Schuld, Nick. Verstehst du? Es ist meine Schuld, dass er tot ist! Ich hätte ihn niemals allein lassen dürfen! Ich war doch für ihn verantwortlich!«, schluchzte sie verzweifelt.
Nick hielt sie so weit von sich, dass er ihr in die Augen sehen konnte. »Nein, Ally. Deine Eltern waren für ihn verantwortlich.«
»Ich war sechzehn und kein Kind! Sie haben mir vertraut, und ich habe sie enttäuscht.« Sie hatten es nie ausgesprochen, doch der Vorwurf drohte stets wie eine Gerölllawine, die jeden Moment auf sie niedergehen konnte. Nein, dachte Ally, sie war schon lange von den Steinen begraben worden.
Sie hatte die Schule mit siebzehn beendet und war danach ins Ausland gegangen, hatte in Neuseeland und Australien gejobbt. Mit jedem Kilometer, den sie zwischen sich und ihre Eltern gebracht hatte, wuchs die Hoffnung, dass es leichter würde. Stattdessen brach der Kontakt bald gänzlich ab, und aus einem Jahr wurden drei. Kurz vor ihrem einundzwanzigsten Geburtstag kehrte sie nach London zurück und fand ihre Mutter allein in einer halbleeren Wohnung. Ihre Eltern hatten sich getrennt. Ihr Vater, Harold, ein Steuerberater, war nach Manchester gezogen. Grace, ihre Mutter, hatte sich eine kleine Wohnung in Greenwich gesucht und opferte sich in einem Kinderhospiz auf.
»Ally, hör mir zu. Wir fahren jetzt dahin und machen unsere Arbeit. Wenn du es nicht mehr aushältst, fährst du zurück, und ich bring das allein zu Ende. Oder willst du jetzt schon …?« Nick kramte ein Taschentuch aus seiner Hosentasche und hielt es ihr hin.
»Danke«, murmelte Ally und wandte sich ab, um sich die Nase zu putzen. Als sie das Gefühl hatte, sich wieder unter Kontrolle zu haben, sagte sie: »Wir fahren hin. Und ich bin froh, dass ich es dir erzählt habe.«
»Gut.« Er hielt das Gesicht in den Regen. »Wir sollten einsteigen, bevor wir klatschnass sind.«
Am späten Nachmittag erreichten sie Cardigan. Die malerisch an der Mündung des Teifi gelegene Hafenstadt hatte der Bucht ihren Namen gegeben. Nick parkte oberhalb der Stadt in einer Kurve.
»Cardigan Bay …«, flüsterte Ally und trat an die kleine Steinmauer, die Touristen daran erinnern sollte, dass die Klippen mancherorts überraschend steil und abrupt abfielen.
Die dunklen Regenwolken waren an der Küste vom Wind vertrieben worden, doch hier schimmerte blauer Himmel nur stellenweise hervor. Der raue Seewind wehte Ally die Haare ums Gesicht, doch sie genoss den salzigen Geschmack auf ihren Lippen und sog die frische Luft tief in ihre Lunge.
»Hier beginnt laut meinem Reiseführer der Pembrokeshire Coast National Park«, sagte Nick neben ihr. »In fünf Tagen kann man von hier zu Fuß bis hinauf nach Borth wandern. Ich kann das Meer hören! Herrlich! Habt ihr das damals gemacht?«
»Was?«
»Seid ihr mal die ganze Küste hochgewandert?«
»Nein.« Während sie ihren Gedanken nachhing, holte Nick seine Kamera hervor und schoss in rascher Folge Fotos von Cardigan, wie es sich verschlafen zwischen dichtem Blattwerk um die Flussmündung schmiegte.
»Im neunzehnten Jahrhundert war das eine der größten Hafenstädte. Kann man sich nicht mehr vorstellen.« Nick verstaute seinen Fotoapparat. »Komm, lass uns weiterfahren. Auf diesen kurvigen Küstenpfaden braucht man für zwanzig Kilometer glatt eine Stunde, und mir knurrt der Magen. Im Talbot soll es ein sehr gutes Restaurant geben.«
»Na dann … Bestimmt ist das so ein seelenloser Designerschuppen, wie sie jetzt überall wie Pilze aus dem Boden schießen«, murrte Ally, setzte sich auf den Beifahrersitz und schlug die Wagentür zu.
»Ts, du hast dich überhaupt nicht vorbereitet. Das Talbot ist seit drei Generationen im Besitz der Darbys. Sohn Robert Darby hat das ziemlich runtergewirtschaftete Hotel vor einigen Jahren übernommen und mit einem Geschäftspartner komplett umgebaut.«
Ally hörte nur mit halbem Ohr hin, als Nick weiter über das Hotel plauderte, dessen Restaurant in irgendeinem Feinschmeckerblatt gelobt worden war. Er redete, um sie abzulenken, und sie war ihm dankbar dafür, doch die Schönheit der wildromantischen Küstenlandschaft wurde schier unerträglich. Als sie auf einem Hinweisschild »Morlan House, 2 Meilen« las, schloss sie die Augen und atmete konzentriert ein und aus.
»Wir müssen gleich da sein!« Nick klopfte ihr munter auf die Schulter.
»Ich weiß.«
Er ließ sich von ihrer Einsilbigkeit nicht beirren, sondern warf einen Blick auf die Dünen, die sich unterhalb der Steilküste entlangzogen. »Ich hätte mein Surfbrett mitnehmen sollen. Mann, was für eine Brandung!«
»Das Wasser ist doch noch viel zu kalt.« Ally zog sich die Strickjacke enger um den Körper und blinzelte in die untergehende Sonne, welche die Bucht in glühende Rot- und Orangetöne tauchte. Ihre Mutter war oft mit einer kleinen Staffelei und ihren Aquarellfarben an den Strand gegangen und hatte die verschiedenen Stimmungen eingefangen. »Das glaubt mir keiner«, hatte Grace lachend gesagt, »das ist so schön kitschig, das glaubt mir doch niemand!« Später hatte ihre Mutter all ihre Malutensilien fortgeworfen und die Bilder zerrissen. Hatte sie ihre Mutter seit jenem furchtbaren Sommer jemals wieder lachen gesehen?
»Ally, wir sind da!« Nick stellte den Motor ab und sprang aus dem Wagen. »Ah!« Er stemmte die Arme in die Hüften und schaute über die Kaimauer des kleinen Hafens von Aberaeron. Der Wasserstand war niedrig, Segelboote und Motoryachten dümpelten nebeneinander her. Auf der anderen Seite des Hafens zog sich wie eine bunte Perlenkette eine Häuserreihe den Hügel hinauf. Die Häuserfassaden leuchteten in kräftigem Kobaltblau, Rot und Grün und wirkten wie frisch gestrichen. Möwen hockten auf Pollern oder stritten sich um heruntergefallene Pommes frites.
Langsam kletterte Ally aus dem Wagen und sah sich um. In zehn Jahren hatte sich einiges in dem kleinen Hafenstädtchen verändert. Der Charme des neunzehnten Jahrhunderts war noch immer zu spüren, doch es gab zahlreiche Neubauten, vor allem die Verwandlung von winzigen Fischerhäuschen in teils protzige Ferienhäuser fiel ins Auge. Ally rümpfte die Nase und erblickte die dunkelblaue Fassade des zweistöckigen Hotels, das nun den Hafen dominierte. THE TALBOT prangte in schneeweißen Lettern auf der Front.
»Nicht zu übersehen«, meinte Ally und zog ihre Reisetasche vom Rücksitz.
»Ich find’s nicht schlecht. Da hat sich jemand was getraut. War es denn vorher schöner?« Nick packte einen Fotokoffer und eine Tasche und schloss den Wagen ab.
»Ziemlich runtergekommen, aber irgendwie hat es hergepasst, und wir haben oft vorn auf der Terrasse gesessen und Tee getrunken.« Sie seufzte.
»Alles okay mit dir, Ally?«, fragte Nick besorgt.
»Hör auf, mich das dauernd zu fragen!« Sofort bereute sie ihre Heftigkeit und fügte freundlicher hinzu: »Tut mir leid. Lass uns einfach hineingehen.«
Sie überquerten die Straße, die kaum befahren war, da sie in einer Sackgasse vor der Hafenanlage endete. Ein junges Paar schlenderte an ihnen vorbei Richtung Meer. Ally erinnerte sich nur zu gut an die romantische Kulisse der Hafenanlage, wenn man zum Strand hinunterspazierte. Wie oft hatte sie sich gewünscht, dass sie ihr Verhalten von damals ändern könnte, dass sie sich nicht mit dem Studenten verabredet hätte, in den sie verliebt gewesen war. Wenn ihr jemand die Möglichkeit gäbe, eine Zeitreise zu unternehmen, um eine Sache anders zu machen, eine zweite Chance … Aber die gab es nicht.
Zur Rezeption gelangte man durch denselben Eingang, der auch in eine belebte Bar führte. Angeregt plaudernd saßen Gäste in Sesseln und auf Hockern, im Hintergrund war ein riesiger halbkreisförmiger Tresen zu sehen, sanfte Jazzmusik untermalte die entspannte Atmosphäre. Im Vorbeigehen nahm Ally moderne Gemälde und Fotografien wahr und revidierte ihre anfängliche Abneigung gegen das modernisierte Hotel.
»Nett, oder?« Nick ging voraus und wandte sich lächelnd zu ihr um.
»Lass mich erst das Zimmer und das Restaurant sehen.« Zu schnell sollte man sich nie bekehren lassen, dachte Ally.
Lounge und Rezeption waren in Weiß und Naturholztönen gehalten, und durch die großen Sprossenfenster sahen sie direkt auf das Meer. Eine große, blonde Frau kam mit einem professionellen Lächeln energisch auf sie zu.
»Sind wir offiziell vom Magazin angemeldet?«, flüsterte Ally Nick von hinten zu.
Dieser nickte und streckte der attraktiven Blondine die Hand entgegen. »Nick Bellamy, und das ist meine Kollegin Ally Carter.«
»Paige Darby, ich vertrete meinen Mann, der geschäftlich unterwegs ist und sich entschuldigen lässt.« Sie lächelte gewinnend und machte eine einladende Handbewegung zu einer Sitzgruppe. »Was darf ich Ihnen anbieten, oder möchten Sie zuerst Ihre Zimmer sehen?«
Nick warf Ally einen fragenden Blick zu, und als diese die Schultern hob, sagte er: »Einen Drink können wir vertragen.«
»Wir führen exzellenten Malt Whisky. Wäre das etwas für Sie?« Als Nick und Ally nickten, gab die Frau des Inhabers einem Kellner kurze Anweisungen und setzte sich zu ihnen. »Hatten Sie eine problemlose Fahrt? Haben Sie uns gleich gefunden? Manchmal verfahren sich Gäste, weil sie die Abzweigung hinter Swansea verfehlen.«
»Ich war schon oft hier«, sagte Ally und fügte leiser hinzu: »Aber das ist lange her.«
»Sicher haben Sie die Ferien hier verbracht? Es gibt viele Gäste, die als Kinder hier waren und später zurückkehren, wenn sie selbst eine Familie haben oder einfach weil sie ihre Erinnerungen auffrischen wollen.« Paige strahlte, sie schien ganz in ihrem Element.
Allys Miene wurde immer düsterer, und Nick räusperte sich und wechselte das Thema: »Sie haben eine Menge aus dem Hotel gemacht. Die Lage ist ja auch phantastisch! Und Morlan House ist ganz in der Nähe? Das steht ebenfalls auf unserem Plan.«
»Oh ja, der alte Kasten mit seinen Gespenstergeschichten ist eine Attraktion hier, obwohl ich das alles für überzogen halte. Architektonisch ist das Haus interessant, aber sonst – es steht seit Jahren leer, weil kein Investor Geld in ein Fass ohne Boden werfen will.« Sie hob vielsagend die Augenbrauen.
»Man könnte ein Country-Hotel daraus machen. Häuser mit Geschichte sind doch sehr beliebt«, schlug Nick vor.
»Das böte sich an. Mein Mann und sein Geschäftspartner haben sich das sogar selbst angesehen, aber die Auflagen vom Denkmalschutz sind unmöglich«, erwiderte Paige Darby.
Der Kellner servierte den Whisky zusammen mit Mineralwasser und kleinen Sandwiches. Sie erhoben gerade ihre Gläser, als Paige jemandem zuwinkte. »Das passt ja gut, da kommt Roberts Geschäftspartner. Er kann Ihnen alles über den Umbau sagen. Er ist der Architekt.« Paige warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. »Ich muss meine kleine Tochter von einer Geburtstagsparty abholen.« Sie erhob sich.
Höflich standen Ally und Nick ebenfalls auf und drehten sich nach dem angekündigten Herrn um.
»David, dich schickt der Himmel!« Überschwänglich begrüßte Paige einen dunkelhaarigen Mann.
In einem grauen Sweatshirt, Jeans und Segelschuhen schien er gerade von einem der Boote im Hafen zu kommen. Begleitet wurde der Mann von einem triefend nassen Jagdhund, der Anstalten machte, sich zu schütteln.
»Henry, benimm dich. Wir müssen uns von unserer besten Seite zeigen. Sie sind doch vom Inside-Travel-Magazin? David Gowans.«
Der Irish Setter setzte sich gehorsam, und David drückte Allys Hand. Sie war schon beim Klang seiner Stimme zusammengezuckt. Das durfte doch alles nicht wahr sein! Als ihre Blicke sich trafen, entzog sie ihm ruckartig die Hand.
Nach all den Jahren traf sie ihn ausgerechnet hier wieder. Warum war er hierher zurückgekehrt? Er hatte doch in Edinburgh studiert und immer betont, wie sehr er Schottland liebe. Ally starrte ihn an und brachte keine Silbe über ihre zitternden Lippen. Die schwarzen Haare waren kürzer, an den Schläfen zeigten sich erste graue Strähnen, aber seine faszinierenden braunen Augen weckten genauso beunruhigende Gefühle in ihr wie damals. Er wirkte sportlich, kräftiger, und an seinem Kinn war dieses Grübchen, das ihm etwas unverschämt Jungenhaftes verlieh. Sie hätte ihn überall erkannt. Der traurige Blick seiner dunklen Augen am Strand hatte sie in ihren Träumen verfolgt. Sie hatte ihn nie vergessen, und wie es schien, war er genauso geschockt von dem unerwarteten Wiedersehen wie sie selbst.
»Ally …«, murmelte er.
Das Schweigen dehnte sich aus, bis Nick hüstelte und einfach Davids Hand ergriff. »Alte Bekannte?«
David Gowans fasste sich und lächelte, ohne den Blick von Ally zu wenden. »Ich hätte nicht gedacht, dass ich dich jemals wiedersehe.«
»Hätte ich gewusst, dass du hier bist, wäre ich nicht gekommen«, sagte Ally mit heiserer Stimme.
Paige stieß einen theatralischen Seufzer aus. »Bitte, setzen Sie sich doch, trinken Sie einen Schluck Whisky, der wirklich gut ist und über den Schock hinweghilft. Wir sind doch alle erwachsen. David, mein Guter, kann ich dich jetzt allein lassen? Ich muss Rosie abholen! Robert hat mich im Stich gelassen.«
Sie tätschelte Davids Unterarm und bemühte sich, den nassen Hund nicht zu berühren. Ihr heller Hosenanzug war makellos, genau wie ihre Föhnfrisur. »Henry kann doch auch draußen bleiben, wie oft muss ich das sagen …«
Henry senkte seine Schlappohren und gähnte.
»Das werde ich Rosie erzählen!«, grinste David und ließ sich in Paiges Sessel gleiten.
Schon auf dem Sprung, sagte Paige: »Natürlich sind Sie heute Abend im Restaurant unsere Gäste. Und falls Sie etwas in die Reinigung geben möchten«, ihr anklagender Blick traf Henry, »geht das aufs Haus. David, bitte …«
»Schon gut, es ist alles in Ordnung. Ich mach das schon«, scheuchte er die leicht gereizte Frau seines Partners weg.
Ally fühlte ihr Herz bis zum Hals schlagen und fand, dass überhaupt nichts mehr in Ordnung war. Ihr sorgsam aufgebautes Leben fiel gerade in sich zusammen wie ein Kartenhaus.