Anne Goldmann
Das Leben ist schmutzig
Ariadne Krimi 1194 · ISBN 978-3-86754-194-7
»Anne Goldmann beweist gleich mit ihrem Erstling, dass sich auf dem weiten Feld des Kriminalromans immer noch ein neues Pflänzchen ziehen lässt. Das Leben ist schmutzig ist ein vielstimmiges Porträt eines Mietshauses. Anne Goldmann malt ihr Bild von den Rändern her, langsam füllt sie die Umrisse aus. Kriminell wird es erst spät, aber gern ist man auch vorher schon stiller Mitbewohner in diesem Wiener Haus.« Sylvia Staude, Frankfurter Rundschau
»Ein Krimi für Krimiverweigerer: die Nase reinstecken in den liebevoll beschriebenen Makrokosmos der vom Leben gebeutelten Kleinbürger. Gut!« Wienerin
»Sehr präzise, sehr liebevoll und mit einer ganz eigenwilligen Spannung, die nicht aus der erzählten Geschichte, sondern aus den Eigentümlichkeiten des Lebens selber zu stammen scheint. Anne Goldmann gelingt mit ihrem lustvoll im Behäbigen wühlenden Ton ein paradoxes Meisterstück – ein Provinzroman aus der voll entschleunigten Metropole Wien.« Günther Grosser, Berliner Zeitung
»Melancholisch und kriminell: Mief, Hader, Spitzeleien, Schikanen, Kleinkriege und üble Nachrede gehören zu einem ordentlichen Mietshaus wie die Leiche in den Krimi. Anne Goldmann schildert verständnisvoll, wenn auch spitzzüngig, Einsamkeit und Überforderung, Widersprüche und Brüche … Ein Roman über das Verstreichen des Lebens in den kleinen Wohnwaben der Stadt.« Thomas Klingenmaier, Tages-Anzeiger
»Es gibt in diesem Buch keine tragende Ermittlergestalt, keine kunstvoll aufgebaute Kulisse der Bedrohung, keine ausgiebigen Schilderungen von Gewaltexzessen. Das Leben ist schmutzig spielt in einer Welt, die von deutschsprachigen Schriftstellern in den vergangenen Jahren fast völlig ausgeblendet wurde. Kaleidoskopartig und in mitunter an Trägheit grenzender Ruhe schildert Goldmann das Leben ihrer Figuren. Ihr Blick ist warmherzig, menschenfreundlich, geradezu sensationell unzynisch.« Sebastian Hammelehle auf Spiegel online
Herbjørg Wassmo
Deutschenkind
Literaturbibliothek · ISBN 978-3-88619-490-2
Nachkriegszeit auf einer kleinen Fischerinsel im Norden Norwegens. Tora wächst mit dem Stigma heran, Kind eines Soldaten der verhassten Besatzungsmacht zu sein. Das macht aus ihr praktisch Freiwild …
Sie war Tora. Da war nichts dran zu ändern. Elisif hatte ihr mehr als einmal gesagt, dass sie nicht verstehen könne, dass eine so schöne und gut gebaute Frau wie Ingrid sie bekommen habe. Es müsse das fremde Blut sein und der Sünde Sold, die das bewirkt hätten.
Tora verstand allmählich, was sie meinte, und wurde rot bis zu den Ohrläppchen.
Das fremde Blut war das Schlimmste, das gehörte zum Krieg, von dem die Mutter niemals sprach. Das mit der Sünde Sold nahm Tora nicht so schwer. Da konnte man schummeln, das hatte sie gesehen. Aber wenn auch der Spiegel über dem Ausguss Tora erzählte, wer sie war, so lebte sie doch ihr eigenes geheimes Leben unter dem Federbett in ihrer Kammer. In der Dunkelheit und allein mit sich war sie die, die sie sein wollte. Da streifte sie unter dem kleingeblümten Bettbezug ihre Haut ab, wärmte sich mit ihren eigenen kalten Händen, liebkoste sich selbst, während sie eine andere Tora heraufbeschwor. Wenn sie allein zu Hause war, konnte sie die eigentliche Tora vollständig vergessen.
Für eine Weile konnte alles, was am Tag an ihr nagte, verschwinden, als ob es nie da gewesen wäre. Die Gefahr? Die verschwand auch.
Deutschenkind ist Band 1 der berühmten Tora-Trilogie, einer Romanfolge, die für das kaum zu Ertragende eine großartige Sprache findet. Herbjørg Wassmo schildert einen historischen sozialen Kosmos – den Alltag der auf den Fischfang angewiesenen Inselbewohner Nordnorwegens in den 1950er Jahren. Mal drastisch, mal komisch, mal erschütternd entfaltet sich die Erlebniswelt eines Kindes an der Schwelle zur jungen Frau. Ein zeitloser Roman, für den Herbjørg Wassmo mit dem norwegischen Kritikerpreis geehrt wurde.
Dagmar Scharsich
»Von erstaunlicher schriftstellerischer Meisterschaft und umwerfend originell.« Stiftung Lesen
Der grüne Chinese
Ariadne Krimi 1180 · ISBN 978-3-86754-180-0
Marie Baer ist Antiquarin in Berlin Mitte. Kiezbewohner gehen bei ihr ein und aus; sie kauft, verkauft und unterhält Touristen mit Anekdoten. Eines Tages bekommt sie ein paar uralte Romanhefte angeboten: Wanda von Brannburg, Deutschlands Meisterdetectivin. Eine weibliche Heldin in einer Groschenheft-Serie aus der Kaiserzeit? Da gab es doch noch gar keine Detektivinnen! Aber das Manuskript, das Marie dann in die Hände fällt, ist von 1909 und anscheinend das Tagebuch einer jungen Baronesse, die in einen hochdramatischen Polit-Thriller verstrickt wird. Ist Wanda eine literarische Figur, oder hat sie wirklich gelebt?
In Dagmar Scharsichs filigranem Zwei-Zeiten-Roman sieht man förmlich, wie der erste Zeppelin über der Hauptstadt kreist: ein kriminell-berauschendes Sittenbild des alten und neuen Berlin.
Die gefrorene Charlotte
Ariadne Krimi 1048 · ISBN 978-3-88619-548-0
Berlin, August 1989, die letzten Wochen der DDR. Die stille Cora bekommt zum 30. Geburtstag sechs Gefrorene Charlotten, zarte Porzellanwesen aus Tantes kostbarer Puppensammlung. Dann plötzlich droht Pfändung, Cora trifft einen Antiquitätenexperten – ein Mord geschieht! Zugleich spitzt sich ringsum die Atmosphäre zu: In Berlin wächst der politische Unmut, bürokratischer Stellungskrieg und Verdächtigungen blühen. Wem kann Cora jetzt noch trauen?
»Ein ›Wendekrimi‹ über Antiquitäten, Stasi, Flucht, DDR-Alltag. Intensive Spannung!« Sender Freies Berlin
Nora Miedler
Die Musenfalle
Ariadne Krimi 1190 · ISBN 978-3-86754-190-9
Lilly, arbeitslose Schauspielerin, wittert ihre große Karrierechance – doch plötzlich steht sie unter Mordverdacht. Ob die Theaterkommune der illustren Frieda Bernhard etwas mit dem Verbrechen zu tun hat? Lilly schleust sich undercover dort ein. Ein gewagtes Unterfangen …
»Das ist die Geburtsstunde einer neuen österreichischen Krimi-Serie. Fix ist das noch keineswegs, aber es muss einfach so sein. Denn für einen einzigen Roman ist Lilly Sommer zu schade. Zu wild. Zu ausgefeilt.« Peter Pisa im Kurier
»Die angenehm alltagstaugliche Heldin macht genüsslich Kleinholz aus allen Brave-Mädchen-Klischees: Sie ist impulsiv und unsensibel, laut, aggressiv und promisk, ein wunderbar gelungenes Großmaul.« Literaturhaus Wien (www.literaturhaus.at)
»Ein Twist folgt dem anderen, unwahrscheinliche Konstellationen treffen auf radikale Lösungen, und der Schluss ist so finster, wie man sich das nur wünschen kann. Ein neuer Höhepunkt der deutschsprachigen Krimiszene.« Buchkultur, Schmauchspuren von Peter Hiess
Warten auf Poirot
Ariadne Krimi 1182 · ISBN 978-3-86754-182-4
Charlie führt ein stilles Leben und verachtet sich selbst. Ein Urlaub mit Freundinnen soll Abwechslung bringen, doch der Trip auf die Berghütte verläuft anders als geplant. Es gibt Schneesturm, die Handys sind tot. Geheimnisse vergiften die Stimmung. Ein Leben endet gewaltsam, und weit und breit ist kein rettender Detektiv in Sicht … Packendes Verwirrspiel um Illusion und Selbstzerstörung.
»Ein verlockendes, witziges und spannendes Stück Kriminalliteratur: Miedler führt uns mit sicherer Hand durch ein Kriegsgebiet und heil wieder heraus.« Krimicouch
»Klassischer Whodunnit wandelt sich unversehens zum mit Survival-Horror-Elementen abgeschmeckten klaustrophobischen Thriller … eine gute Geschichte, und die auch noch gut erzählt.« Evolver
Ein Häuschen im Grünen, eine Zuflucht, eine kleine heile Welt. Viele haben diesen Traum. Dass man das Unheile aber in sich trägt und an den Zufluchtsort mitnimmt, das ist der Stoff, aus dem intelligente Thriller sind. Hitchcock wusste das filmisch in Szene zu setzen, Anne Goldmann erzählt es literarisch, als Geschichte von heute – sinnlich, sehr direkt, ja intim. Feinfühlig und akkurat zeigt sie beschädigte Egos, die sich in eine abgesicherte Identität zu coachen versuchen, wie man es heutzutage als braver Konsument tun soll. Männer und Frauen in verzweifeltem Rollentanz: Regina Aigner wählt den Rückzug und sucht einen Schutzwall aus Wohnqualität zu errichten, Paul Marek strebt nach einer Bindung, die ihm Sinn verleiht. Angst, nicht zu genügen, Versagensangst, Angst vor Nähe, Angst vor Verlust: das Hier und jetzt als Puzzle aus Selbstentfremdung, Vereinzelung und Ohnmachtsverhältnissen. Die Menschen machen ihre Geschichte nicht aus freien Stücken, aber sie machen sie selbst. Und der Einzige, der sich dem inneren Gefängnis zu entziehen vermag, ist ein Mörder … Anne Goldmanns klarer, melancholischer Thriller späht in die Kluft innerhalb des gesellschaftlichen Subjekts, und sogar angesichts all dieses selbstgestrickten Elends ist ihre Erzählkunst einfach ein Genuss.
Else Laudan
Die Autorin:
Anne Goldmann, geboren 1961, wuchs in einer Großfamilie auf dem Land auf. Sie jobbte als Kellnerin, Küchenhilfe und Zimmermädchen, um sich die Ausbildung zur Sozialarbeiterin zu finanzieren. Einige Jahre arbeitete sie in einer Justizanstalt, derzeit betreut sie Straffällige nach der Haft. Anne Goldmann begann früh zu schreiben, gewann zwei Literaturwettbewerbe, veröffentlichte ein paar Texte, verwarf dann alles und entdeckte erst vor wenigen Jahren das Schreiben wieder neu. Für ihr Romandebüt Das Leben ist schmutzig (2011 bei Ariadne) erhielt sie hymnische Kritiken. Triangel ist ihr zweiter (im weitesten Sinn) Kriminalroman.
Anne Goldmann
TRIANGEL
Ariadne Krimi 1202
Argument Verlag
Ariadne Krimis
Herausgegeben von Else Laudan
www.ariadnekrimis.de
Deutsche Originalausgabe
Alle Rechte vorbehalten
© Argument Verlag 2012
Glashüttenstraße 28, 20357 Hamburg
Telefon 040/4018000 – Fax 040/40180020
www.argument.de
Umschlag: Martin Grundmann
Fotomotiv: © Findus2000 – Fotolia.com
Lektorat: Else Laudan
Satz: Iris Konopik
ISBN 9783867549363
Zweite Auflage 2012
1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2013
Auf dem Heimweg kaufte Hassler Rosen. Er wickelte sie aus dem Papier und legte sie vorsichtig auf die Ablage, während er aus seinen Schuhen schlüpfte und sie ordentlich nebeneinander abstellte. Er hörte Stimmen aus dem Wohnzimmer, blickte unschlüssig auf die Blumen, griff dann danach und drückte die Türklinke nieder.
Alle verstummten und sahen ihn an: Yvonne, das Ehepaar aus der Nebenwohnung, rüstige Pensionisten in sportlicher Freizeitkleidung, die ihn abfällig musterten – und zwei Polizisten. Er sah von einem zum anderen, nachdem er vergeblich versucht hatte, Yvonnes Blick auf sich zu ziehen. Seine Frau biss sich auf die Lippen. Ihr linkes Auge war zugeschwollen und verfärbt.
»Ist er das?«, fragte der jüngere Polizist und deutete mit dem Kinn auf Hassler.
Yvonne nickte, ohne ihn anzusehen.
Die Polizisten traten auf Hassler zu. »Wir nehmen Sie mit.«
Hasslers Blick ging zu Yvonne, die ihm nun kühl entgegensah. Ihr Puppengesicht war sorgfältig geschminkt. Die Schwellung zog sich über die Schläfe und ihr rechtes Auge.
»Yvonne, es tut mir so leid«, erklärte Hassler, machte einen Schritt auf sie zu und hielt ihr die Rosen entgegen. Die Polizisten stellten sich ihm in den Weg.
»Gib mir die Schlüssel.« Yvonnes Stimme klang fest und abweisend. Er legte den Schlüsselbund auf die Kommode.
»So ein roher Mensch«, empörte sich der Nachbar und wandte sich an Hassler: »Schämen Sie sich.« Seine Frau nickte und starrte ihn herausfordernd an. Die beiden Beamten blieben an Hasslers Seite.
»Ihre Frau hat bereits ausgesagt«, erklärte der ältere dicke Polizist, den Hassler für den angenehmeren hielt. Er wies Hassler an, unter Aufsicht des jüngeren eine Tasche mit dem Notwendigsten zu packen. Er begleitete die beiden ins Schlafzimmer und blieb an der Tür stehen, die Hand wie beiläufig an der Waffe.
Hassler steckte hastig einige Kleidungsstücke in eine schwarze Sporttasche.
»Duschgel, Zahnpasta und Rasierzeug hat Ihre Frau bereits gepackt. Hier.« Der Beamte wies aufs Bett.
Hassler legte das Necessaire in die Tasche, zögerte und nahm noch zwei Handtücher aus dem Schrank.
»Das bedeutet, dass ich in Haft komme?«
»Es bedeutet, dass Sie hier nichts mehr zu suchen haben.« Er sprach ein Betretungsverbot aus.
»Gehen wir«, forderte der Jüngere Hassler auf. Er wirkte plötzlich nervös. »Auf die Inspektion. Für die Vernehmung. Dann schauen wir weiter. Machen Sie keinen Blödsinn, Herr Hassler. Es liegt in Ihrem Interesse, dass das alles ohne Probleme abläuft.«
Hassler nickte. Trotzdem legte man ihm Handschellen an. Der ältere Beamte griff nach seiner Sporttasche. Hassler warf keinen Blick zurück, als die Wohnungstür hinter ihm zufiel.
Das Stiegenhaus war leer. Im Hof wandten sich die Beamten nach links. Sie lotsten ihn durch einen Nebenausgang auf die Straße und bugsierten ihn in den Streifenwagen. Ein paar Schaulustige blieben stehen. Die üblichen Pensionisten, Vormittagssäufer, Hausfrauen. Hassler hielt den Kopf oben und starrte zurück.
Sie fuhren durch ein Labyrinth aus Einbahnen. Der Polizeifunk rauschte, unterbrochen von monotonen Durchsagen, die er nicht verstand. Hassler schaute aus dem Seitenfenster auf Passanten, Schulkinder, Hunde, Frauenbeine, auf Hausfassaden und Straßenbahnen, in andere Autos, dann wieder auf die Nacken der Polizisten vor sich.
Es ist vorbei, dachte er. Sie werden mich nicht mehr gehen lassen. Mich in Untersuchungshaft nehmen. So kurz nach meiner Entlassung wieder ein Vergehen. Einschlägig, dachte er: Mord. Körperverletzung. Beides Delikte gegen Leib und Leben.
Er fühlte nichts. Sein linkes Bein wippte wie unter Strom auf und ab. Ein Kurzschluss, dachte Hassler. Ich muss das erklären.
Ruckartig fuhr der Wagen wieder an. Hassler fühlte Übelkeit aufsteigen. Wenn er erst in Haft war, würde er bleiben. Man wird die bedingte Entlassung widerrufen! Er legte sein Gesicht in die Hände und schloss die Augen.
Der Wagen hielt. Der ältere Beamte fasste ihn sofort am Oberarm. »Kommen Sie!«
Der zweite trat von rechts an ihn heran. Er hielt die Hand nahe an seiner Waffe.
Einen kurzen Augenblick dachte Hassler daran, ihn zur Seite zu stoßen und loszurennen. Aber: die Handschellen! Ich komme nicht weit. Sie werden auf mich schießen.
Er musste es auf sich zukommen lassen.
Die Beamten schoben ihn vor sich her in die Inspektion. Zwei, drei Uniformierte schauten auf, einer nickte und erhob sich. Telefone klingelten. Rasch durchquerten sie das Wachzimmer, bogen in einen Gang ab und betraten ein karg eingerichtetes, mit Papier zugemülltes Büro. Der ältere Beamte wies ihm einen Platz zu und setzte sich an den Schreibtisch. Ein weiterer Polizist in Zivil trat ein und begann, als wäre er allein im Raum, zu schreiben und in verschiedenen Schubladen herumzukramen. Wieder öffnete sich die Tür einen Spalt und ein dicker Weißhaariger schob den Kopf herein. »Und?«
Hasslers Beamter nickte. Hinter ihm auf der Wand hingen Urkunden und Fotos, peinliche Bürosprüche mit zerfranstem Rand und das Foto einer hübschen jungen Frau.
»Ich schau später noch einmal vorbei.«
»Ist gut.« Der Beamte wandte sich zu seinem Rechner um und loggte sich ein.
Hassler straffte sich.
»Nimm ihm die Achter ab.«
Hassler streckte die Hände vor. Der jüngere Polizist nahm ihm die Fesseln ab. Ein gutes Zeichen? Hassler rieb sich die Handgelenke und traf eine Entscheidung.
»Es tut mir leid«, sagte er laut und deutlich. »So etwas darf nicht vorkommen. Eine Kurzschlusshandlung. Ich liebe meine Frau.«
»Schon gar nicht bei jemandem, der gerade erst aus einer lebenslangen Haft entlassen worden ist. Aber … da hat der Richter das letzte Wort.«
Der Beamte am Nachbarschreibtisch hatte mit seiner Sache nichts zu tun! Hassler fuhr herum. Im letzten Moment schluckte er eine scharfe Antwort hinunter.
»Dazu kommen wir noch«, begann der ältere Polizist wieder. »Ich brauche Ihnen nicht viel zu erklären. Sie kennen sich aus. Als Beschuldigter müssen Sie nicht aussagen. Im Gegensatz zu einem Zeugen dürfen Sie unwahre Angaben machen. Sie können einen Anwalt beiziehen. Es gibt einen Journaldienst. Das kann aber dauern.«
Hassler nickte. »Passt schon«, erklärte er. »Ich habe nichts zu verbergen.«
»Gut. Ich habe Sie über Ihre Rechte belehrt. Wir kommen jetzt zu Ihren Daten: Edgar Hassler, geborener Svoboda, geboren 26.10.1970, verheiratet, wohnhaft an der Adresse Ihrer Ehefrau, stimmt das?«
»Ja.«
»Eltern?«
»Mutter – Maria Svoboda, geborene Neubauer, verstorben; Vater unbekannt.«
»Familienstand, Sorgepflichten?«
»Verheiratet mit Yvonne Hassler –«
»Dem Opfer«, warf der jüngere Beamte ein, der an der Wand lehnte und Hassler fixierte.
»Keine Sorgepflichten«, ergänzte Hassler betont ruhig. Er wusste, wie das lief. Er durfte sich nicht provozieren lassen.
»Einkommen, Schulden?«
»Nein«, erklärte Hassler. »Keine Schulden. Ich bin auf Arbeitssuche.«
»Also ohne Beschäftigung. Sie beziehen Arbeitslosengeld?«
Hassler nickte.
»Sich von der Frau aushalten lassen und sie dann auch noch verprügeln«, murmelte der langhaarige Kerl in Zivil hinter ihm. Laut genug, dass Hassler es hören musste. Er reagierte nicht.
»So, jetzt erzählen Sie mir von Anfang an, wie es zu diesem Vorfall gekommen ist«, erklärte der Polizist vor ihm und nahm die Hände von der Tastatur.
»Es war eine Kurzschlussreaktion. Es war das erste Mal. Es wird nicht wieder vorkommen. Ich liebe meine Frau …«
»Heben Sie sich das für die Verhandlung auf. Ich brauche Fakten. Also – Sie waren beide in der Wohnung.«
»Ja. Nein. Yvonne arbeitet Teilzeit als Friseurin. Ich kümmere mich, solange ich noch keine Arbeit habe, um unseren Haushalt. Einkaufen, Kochen, Aufräumen. Gestern war ich länger unterwegs.«
»Mit der Straßenbahn … zu Fuß?«
»Mit Yvonnes Auto. Ich habe Vorstelltermine, sie braucht es nicht. Sie arbeitet ganz in der Nähe …« Hassler sprach hastig.
»Sie haben einen Führerschein, Herr Hassler?«, mischte sich der jüngere Beamte ein.
Hassler brach der Schweiß aus allen Poren. Er schluckte. »Nein«, gestand er.
»Weiß sie davon?«
»Nein«, erklärte Hassler, »nein.« Er musste es nicht noch komplizierter machen.
»Da haben wir also noch eine unbefugte Inbetriebnahme.«
Hassler erstarrte.
»Das ist Ihr geringstes Problem, Herr Hassler«, übernahm sein Beamter. »Sie kamen also nach Hause. Später als sonst. Ihre Frau war schon da.«
»Später als ausgemacht«, korrigierte Hassler. »Ich hatte mich verspätet, und sie war ärgerlich. Hat mir Vorhaltungen gemacht, dass ich mich nicht genug bemühe, eine Arbeit zu finden. Ich habe ihr gesagt, dass das nicht stimmt. Sie wollte wissen, wo ich war. Mit wem ich gesprochen habe. Ich bin in die Küche gegangen, um mir ein Glas Wasser zu holen. Sie ist mir gefolgt. Hat sich weiter beschwert.«
Hinter ihm ging die Tür.
»Gut. Warten Sie. Ich halte also fest …« Der Beamte begann zu schreiben. »Am 23. Juli kam ich später als ausgemacht, so gegen …« Er sah Hassler an.
»Fünfzehn Uhr.« Hassler räusperte sich.
»… fünfzehn Uhr nach Hause. Ich war mit dem Auto meiner Gattin … ich schreibe jetzt Ihre bisherige Aussage nieder. Wir gehen das Ganze dann Punkt für Punkt noch einmal durch.« Er tippte rasant mit zwei Fingern, korrigierte mehrmals.
Hassler nickte. Er schwieg. Er musste sich konzentrieren. Das Richtige sagen. Kurz und knapp. Sich nicht provozieren lassen, das vor allem. Ihnen vermitteln, dass er nicht der Typ Mann war, der bei der geringsten Kleinigkeit die Nerven verlor. Es hatte angefangen wie schon so oft: Über eine Stunde nervte Yvonne ihn mit ihren Nachfragen, wo er schon wieder mit ihrem Auto gewesen sei. Sie schaute ihn mit ihren großen Augen an, die beim geringsten scharfen Wort zu schwimmen begannen. Anders als sonst ließ sie diesmal nicht locker. Eifersucht, dachte Hassler. Sie merkt, dass ich mich ihr mehr und mehr entziehe. Mir keine Mühe mehr gebe. Yvonne stand wie immer zu nahe. Er roch ihr Parfum, ihren Haarspray, ihren Raucheratem, den sie mit Minzebonbons zu kaschieren versuchte. Sie bedrängte ihn mit ihren Fragen, mit ihrem üppigen Körper, und als sie schließlich zu weinen begann, ohne Grund, schlug er sie. Er hätte nie gedacht, dass sie die Polizei anrufen, ihn anzeigen würde.
Wieder ging die Tür auf. »Ich übernehme jetzt. Du kannst gehen«, erklärte der Polizist in Zivil von vorhin, und der jüngere Uniformierte, der Hassler hierher eskortiert hatte, verließ das Zimmer.
»Hat er gestanden?«, fragte der in Zivil, als wäre Hassler nicht im Raum.
»Wir sind mittendrin. Herr Hassler, wie ging es weiter?«
»Wir standen in der Küche. Ich habe sie am Morgen sauber verlassen. Nun war die Arbeitsfläche schmutzig. Im Abwaschbecken stapelte sich das Geschirr. Wir gerieten in Streit. Ich musste mir eine Stunde lang ihre Vorwürfe anhören. Ich war ärgerlich und wies sie darauf hin, dass sie mir Unrecht tut. Dass ich Arbeit suche. Den ganzen Haushalt mache. Dass ich ständig hinter ihr herputzen muss. Ich habe ihr vorgehalten, dass sie schlampig ist. Da hat sie mich … geschubst. Es ging alles ganz schnell. Es war ein Reflex. Es tut mir leid. Ich wollte das nicht.«
»Dann sind Sie weggegangen?«
»Ja. Ich wollte nicht, dass die Situation weiter eskaliert. Ich wollte, dass wir beide uns beruhigen.«
»Sie hat Sie geschubst, sagen Sie«, mischte sich der andere Beamte ein. »Wie?«
Hassler wandte sich um. »Sie hat mit der Faust gegen meine Brust geschlagen. Sie ist ja kleiner als ich.«
»Mit der Hand oder mit der Faust?«
Hassler dachte nach. »Ich glaube, mit der Faust. Ich kann es nicht mit Sicherheit sagen.«
Der Uniformierte nickte. »Haben Sie Verletzungen davongetragen?«
»Nein.«
»Ihre Frau hat ein blaues Auge und Abschürfungen am Jochbein und im Bereich der Schläfe.«
»Ich wollte das nicht«, wiederholte Hassler.
»Wie oft haben Sie zugeschlagen?«
»Einmal.«
»Mit der Faust?«
»Nein. Nein. Ich glaube, es war …« Er versuchte sich zu erinnern. »Mit dem Handrücken.«
»Tragen Sie einen Ring?«
»Nein.«
»Keinen Ehering?«
»Nein.« Hassler wollte etwas erklären, besann sich aber.
»Gut, fassen wir zusammen …« Der Beamte begann wieder zu schreiben. Diesmal brauchte er länger. Einmal stand er auf und verließ den Raum. Der Weißkopf von vorhin trat ein und tuschelte mit dem Zivilen. Hassler verstand kein Wort. Er wurde immer nervöser. Nach Abschluss der Vernehmung würde die Staatsanwaltschaft entscheiden, ob er in Untersuchungshaft kam.
Nun war sein Beamter wieder da und machte weiter. Er hatte sich einen Kaffee geholt und trank in großen Schlucken. In der Folge ging es um Details. Hassler hatte den Eindruck, dass ihm das Ganze nicht mehr wichtig war. Auch der Zivile hinter ihm ignorierte ihn nun völlig.
»Ich möchte noch festhalten«, sagte Hassler, »dass ich regelmäßig bei meinem Bewährungshelfer bin. Und bei meinem Therapeuten.«
War die Entscheidung bereits gefallen? Würde er in Haft kommen? Er konnte sich nicht konzentrieren.
Schließlich druckte der Polizist das fertige Vernehmungsprotokoll aus und reichte es Hassler zur Unterschrift. Hassler las und unterschrieb unten auf jeder einzelnen Seite.
Wieder verließ der Beamte den Raum. Jetzt rief er den Staatsanwalt an, war sich Hassler plötzlich sicher. Er versuchte die Sprüche auf der Pinnwand hinter dem Schreibtisch zu entziffern und ruhig weiterzuatmen. Die Tür ging auf. Der Beamte trug einen Packen Papier zum Schreibtisch, streifte Hassler mit einem Blick, den er nicht zu deuten vermochte, und griff zum Telefon.
»Ja. Nein. Ist fertig, ja. Brauchst du ihn noch für die erkennungsdienstliche Behandlung? Machen wir das da oder muss er in den zweiten? Ja. Gut, ist mir recht.« Er wandte sich zu Hassler um. »Sie können gehen.« Hassler blieb wie betäubt sitzen. »Sie haben ein Betretungsverbot. Der Kollege hat Ihnen erklärt, was das bedeutet. Einmal in der Nähe der Wohnung, ein Kontaktversuch mit Ihrer Frau, und Sie sind in Haft. Verstanden? Sie melden sich einmal die Woche hier. Wenn Sie ausbleiben, geht ein Haftbefehl hinaus.«
»Verstanden«, sagte Hassler. »Danke.« Er biss sich auf die Zunge. Er war schweißgebadet.
Der Beamte ignorierte seine ausgestreckte Hand.
Als Hassler wenig später mit seiner Sporttasche auf der Straße stand, regnete es. Sein Kopf war leer. Er ging geradeaus weiter, ohne etwas zu sehen.
Sie traf in der Torwache auf Paul. Er sah müde und mitgenommen aus.
»Ich muss mich entschuldigen.«
Regina blickte ihn kühl an. Sie fühlte nichts. Sie verabschiedete sich von den Kollegen und ging stumm neben ihm her zum Ausgang. Paul blieb an ihrer Seite, hielt aber etwas Abstand. Sein Blick tastete ihr Gesicht ab. Ihre Autos standen nicht weit voneinander entfernt. Regina lehnte sich an ihren Clio. Paul blieb stehen.
»Tut mir leid«, wiederholte er. »Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist. Ich wollte dich nicht erschrecken. Es war nur – der Typ. Ich … nun, ich war eben eifersüchtig. Ich hab mir gedacht, dass du …«
»Es ist aus, Paul.« Er setzte zu einer Antwort an, aber sie unterbrach ihn sofort. »Ich hab mich geirrt. Wir passen nicht zusammen. Ich vertrage das nicht: Kontrolle. Eifersucht. Jemanden, der …« Sie zögerte. Der Satz blieb unvollendet stehen. »Wir werden einander nicht mehr sehen. Ich möchte, dass du auch in der Anstalt Abstand hältst. Es war ein Irrtum. Aus. Fertig.«
Paul kam näher. Sie verschränkte die Arme vor der Brust. »Regina, ich …«
»Es ist aus, Paul«, wiederholte sie langsam. »Lass es doch einfach gut sein. Ich trage dir nichts nach. Ich will einfach nicht mehr. Wir passen nicht zusammen. Akzeptier das.«
Er presste die Lippen aufeinander. »Hast du … gibt es einen anderen?«, stieß er dann hervor.
»Nein.«
»Der Mann, der letztens –«
»Hat damit nichts zu tun«, erklärte sie hastig. Sie stieß sich vom Auto ab und kramte in ihrer Tasche nach dem Schlüsselbund. Dann schaute sie auf.
Paul war bleich, sein Gesicht verzerrt. Er atmete heftig. »Ich kenne dein Geheimnis«, sagte er dann. »Die drei Mädchen. Der Brief.« Sonst nichts.
Die Eisschicht zersplitterte. Sie schluckte. Paul schwieg. In seinem Blick lag etwas Lauerndes. Regina krampfte ihre Hand um die Autoschlüssel, bis es schmerzte. »Ich weiß nicht, wovon du sprichst«, sagte sie mit fremder Stimme. Sie befeuchtete ihre trockenen Lippen und räusperte sich. Er blufft nur, beruhigte sie sich. Er weiß nichts. Nichts.
Paul ließ nicht locker. »Es passt nicht zusammen«, erklärte er. »Miss Moral und der Typ. Nichts passt zusammen.« Seine Augen wurden schmal. Er fixierte sie. »Ich glaube nicht, dass du die Spielregeln vorgeben kannst, mich ein- und ausknipsen wie eine Lampe.«
Regina schwieg. Jetzt kein falsches Wort, dachte sie. Es war alles nur ein dummer Zufall. Er reimte sich etwas zusammen, bluffte, versuchte sie zu verunsichern.
»Ich denke, wir sollten es noch einmal miteinander probieren. Was meinst du? Wenn wir uns beide ein bisschen bemühen …« Er strich ihr leicht übers Haar.
Sie zuckte zurück. »Du hast nichts verstanden, Paul. Nichts.«
Er sah ernst aus. »Du verstehst nicht. Du kannst nicht einfach gehen, nach allem, was war, Regina. Ich hatte das schon. Ich hab genug von Spielchen. Ich bin kein dummer Junge mehr. Ich will eine Beziehung. Ich liebe dich. Ich will mit dir leben.«
Nein!
Regina schwieg, zog mit dem rechten Fuß kleine Kreise auf dem Asphalt und wartete. Es soll aufhören, dachte sie wie ein Kind. Aufhören! Wieder war da der hohe Pfeifton, der ihre Gedanken zerschnitt. Sie sah Pauls besorgten Blick, sah ihn sich vorbeugen und hob abwehrend die Hand, aber da küsste er sie schon auf die Wange.
»Denk noch einmal darüber nach. Ich komme übermorgen zu dir raus. Dann schauen wir weiter.« Er drehte sich um und ging zu seinem Wagen. Winkte, als er losfuhr. Sie hob mechanisch den Arm, immer noch unter Schock, immer noch unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen.
Sie blieb eine Weile im Auto sitzen, den Kopf auf dem Lenkrad, starr vor Entsetzen, bis jemand an die Scheibe klopfte und besorgt fragte, ob alles in Ordnung sei, ob sie Hilfe brauche.
»Danke«, sagte sie. »Danke. Es geht mir gut.«
Der Regen wurde stärker und Hassler floh in ein Lokal. Die drei Männer an der Theke verstummten. Musterten ihn. Hassler sah in vom Leben und vom Alkohol gezeichnete Gesichter. Er stutzte. Der da in der Mitte …
»Svoboda!« Der Mann löste sich von der Theke und kam steifbeinig und leicht schwankend auf Hassler zu. Hassler zermarterte sich das Hirn. Der Name seines Gegenübers fiel ihm nicht ein. »Was machst du denn da?«
Hassler wechselte die Sporttasche in die linke Hand und klopfte dem anderen auf die Schulter. Er zuckte die Achseln. »Es regnet«, sagte er.
Der Mann kniff die Augen zu. Branntweingeruch schlug Hassler ins Gesicht. Er wich zurück. »Ein großes Bier, einen doppelten Schnaps«, orderte der Betrunkene. Hassler hob abwehrend die Hand, aber der Wirt griff bereits nach einem Glas, hielt es prüfend gegen das Licht und zapfte ein Bier. Hassler wurde nach vorne geschoben. Die beiden anderen Männer rückten schweigend ein Stück zur Seite.
Hassler stellte die Tasche ab, hob sein Glas und prostete dem Spender zu. Den Schnaps ließ er stehen. Er fühlte sich unbehaglich. »Und du?«, fragte er, um etwas zu sagen. »Seit wann bist du draußen?«
»Seit drei Monaten«, erklärte sein Gegenüber. Der Mann starrte eine Weile dumpf vor sich hin, bevor er den Blick wieder hob und Hassler mit wässrigen Augen musterte. »Immer noch der große Schweiger«, stellte er fest.
Hassler nickte. »Ich suche was zum Wohnen«, sagte er unvermittelt. »Nur für ein paar Tage.«
So kam er zu dem spartanisch eingerichteten Zimmer in einer schäbigen kleinen Pension, die wochenweise oder auch für mehrere Monate an Haftentlassene und andere am Rand der Gesellschaft Gestrandete vermietete. Hassler bezog ein Zimmer im zweiten Stock. Er tat die ganze Nacht kein Auge zu. Der Nachbar hinter der Wand schnarchte. Die Matratze war durchgelegen und das hektisch blinkende Licht einer Reklametafel machte ihn nervös. Durch die schlecht isolierten Fenster hörte er die Lkws vorüberdonnern.
Er vertrug keinen Alkohol. Dennoch hatte er zuletzt auch den Schnaps getrunken und selber zwei Runden ausgegeben. Ihm war schlecht. Das Bett wankte. Er schwor, nie wieder einen Tropfen zu trinken. Er brauchte einen klaren Kopf. Mehr denn je. Vorsichtig befühlte er die Pistole unter seinem Kopfkissen, eine Walther PPK.
Hassler erwachte mit einem pelzigen Geschmack im Mund. Sein Nacken war steif, der Rücken tat ihm weh. Sofort meldeten sich starke Kopfschmerzen. Das Zimmer sah trostlos aus. Über dem Bett, das bei jeder Bewegung ächzte, hing ein ausgeblichener Landschaftsdruck. Die Vorhänge, verwaschene Lappen, hatten die Farbe von Erbrochenem. Sie hielten die gleißende Helle nur notdürftig ab.
Hasslers Magen krampfte. Ganz unten, dachte er. Nun bist du ganz unten. Eine Kurzschlusshandlung hatte genügt, um ihn dahin zu bringen. Augenblicklich regte sich Zorn. Warum, zum Teufel, hatte sie die Polizei gerufen? Ihn angezeigt? Wo war da die große Liebe, die sie ständig beschwor? Sie hatte ihn provoziert, nicht locker gelassen. Sie kannte ihn mittlerweile gut genug, um zu wissen, wann es besser war zu schweigen. Sie hatte, verdammt, ihren Teil dazu beigetragen, dass die Situation eskaliert war! Es war nicht in Ordnung, eine Frau zu schlagen, gut, aber … Hassler griff zum Handy, besann sich und legte es wieder hin. Er öffnete die Nachttischlade, die klemmte und schließlich mit einem Ruck nachgab. Eine Bibel, natürlich. Überall gingen sie auf Seelenfang. In den Gefängnissen, Asylen, in Krankenhäusern und Altenheimen. Versprachen Hoffnung, Rettung und Heil. Schöne Worte, dachte Hassler. Und wo war Gott, wenn man ihn brauchte? Ein hartes Lachen entfuhr ihm. Humbug, dachte er dann. Alles Humbug. Man lebte. Man starb. Man machte es besser. Oder schlechter. Man starb nicht anders als ein Tier. Man wehrte sich ein bisschen. Begriff dann. Und ergab sich.
Hassler erhob sich und ging zum Waschbecken. Eine verquollene, misslaunige Visage blickte ihm entgegen. Er wusch sich, klatschte sich kaltes Wasser ins Gesicht, putzte sich die Zähne. Draußen tobte der Verkehr. Aus dem Nebenzimmer hörte er Stimmen, dann das rhythmische Quietschen eines Bettes und schließlich professionelles Stöhnen. Wie die Tiere. Ihn ekelte. Er zog hastig frische Kleidung an und stopfte seine verschwitzten, verqualmten Klamotten in den sauberen Müllsack aus dem Papierkorb. Fluchtartig verließ er das Zimmer. Im Stiegenhaus, auf dem Weg nach unten, stockte er: die Pistole!
Sie lag unter dem klumpigen Kissen. Hassler nahm sie an sich.
Eine halbe Stunde später saß er in einem gemütlichen kleinen Café mit roten Sitzbänken, ein gutes Stück vom Elend der letzten Nacht entfernt, und bestellte ein Frühstück. Die Kellnerin lächelte ihn an, als sie das Tablett vor ihn hinstellte. Sofort fühlte er sich besser. Er nahm vorsichtig einen Schluck Kaffee und entspannte sich.
Menschen hasteten am Fenster vorbei. Hassler beneidete sie. Sie wussten, was sie als Nächstes tun würden, hatten eine Aufgabe zu erledigen, ein Ziel vor Augen. Vor ihm lag ein langer Tag. Nichts von dem, was ihm nach der Haft Halt gegeben hatte, war noch da. Jemand wie er – einen geregelten Tagesablauf gewöhnt – brauchte Struktur, um sich sicher zu fühlen. Da hatte der Therapeut ausnahmsweise recht. Mit einem Schlag hatte er alles verloren. Er spürte einen Anflug von Selbstmitleid, der gleich in Wut umschlug. Während die eine in ihrer Wohnung hockte, aus der sie ihn hatte wegschaffen lassen, und die andere im Haus, das ihr nicht zustand, wusste er nicht, wo er heute Abend unterkommen sollte.
Das Haus, dachte Hassler, wäre ein Anfang. Sein Startkapital. Dann konnte er weitersehen. Sie schien nicht gewillt zu zahlen. Er würde ihr noch eine Chance geben. Er tastete nach seiner Pistole, die er in die Innentasche seiner Jacke geschoben hatte. Er hatte keine Wahl.
Nach einer knappen Stunde verließ Hassler das Lokal.
Diesmal kam ihm der Weg weit vor. Der Bus schlich durch die Landschaft, und Hassler starrte auf die Wiesen und Felder, ohne sie zu sehen.
Wieder und wieder überlegte er sich, wie er vorgehen sollte. Seine Anrufe gingen ins Leere. Sie hob nicht ab. Er verstand nicht, warum seine Drohungen keine Wirkung mehr zeigten. Sie ignorierte ihn, stellte sich tot. Hatte sie die Nummer gewechselt? War sie verreist, untergekrochen bei einer Freundin in der Hoffnung, er würde loslassen, aufgeben? Vielleicht war es ja so einfach. Hassler glaubte es nicht. Genauso wenig, wie er ihr die Geschichte von ihrem Mann abnahm. Er würde hinfahren, sehen, ob sie da war, den Druck verstärken. Es machte ihn verrückt, dass die Dinge seiner Kontrolle entglitten. Dazu kam: Er hatte keinen klaren Plan. Er musste sich erneut darauf verlassen, in der Situation das Richtige zu tun.
Der Bus blieb mit einem Ruck stehen und riss Hassler aus seinen Gedanken. Zwei Frauen stiegen zu. Sie musterten ihn. Er beeilte sich zu grüßen. Schlecht, dachte er. Ganz schlecht. Je öfter ich hierherkomme, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass sich jemand mein Gesicht merkt, sich später an mich erinnert. Nun konnte er nicht mehr zurück.
An der Endstelle wendete der Bus, und Hassler ging langsam hinter den anderen her Richtung Dorfplatz.
Das Gemeindeamt hatte geöffnet. Er studierte das Anschlagbrett, bis sich die Leute verlaufen hatten, und betrat dann das Gebäude. Er klopfte und öffnete die Tür zur Amtsstube. Ein dünner Mann, der leidend wirkte, blickte ihm entgegen. Hassler bekundete Interesse an zwei, drei Häusern oder Grundstücken, die möglicherweise zum Verkauf standen, und begehrte Einblick ins Grundbuch. Es war ganz einfach. Er musste sich weder ausweisen, noch schien der Mann – was Hassler befürchtet hatte – an einem Gespräch interessiert. Er wandte sich gleich wieder seiner Arbeit zu und kaute gedankenverloren an einem Zwieback, den er in eine Tasse Tee tauchte.
Hassler brauchte eine Weile, bis er das Grundstück gefunden hatte. Sie hatte nicht gelogen. Sie war seit gut eineinhalb Jahren als rechtmäßige Besitzerin eingetragen. Auch das Nachbargrundstück gehörte ihr. Was hatte er erwartet?
»Brauchen Sie einen Auszug?«, erkundigte sich der Sekretär, als Hassler aufsah. Ein Stück feuchten Zwiebacks klebte an seinem Kinn. Hassler konnte den Blick nicht davon lösen, obwohl ihn ekelte.
»Ja.« Er bat um Ausdrucke aller vier nebeneinanderliegenden Grundstücke, die an der Zufahrtsstraße zum ehemaligen Haus seiner Wahltante lagen. Man musste es nicht so offensichtlich machen. Er wollte keine Spuren legen.
Es klopfte. Die Tür flog auf und knallte gegen den Türstopper. Hassler fuhr herum.
»Grüß Gott.« Ein fettleibiger Mann in Trachtenjanker und festen Schuhen betrat das Büro. Er verhielt den Schritt, kam dann mit ausgestrecktem Arm auf Hassler zu und schüttelte ihm die Hand. »Raufer«, stellte sich der Mann vor. »Ich bin hier der Vizebürgermeister. Wenn Sie etwas brauchen …«
Hassler starrte fassungslos in das feiste, lachende Gesicht mit den flinken Augen, die das seine abtasteten, während die offene Linke des Lokalpolitikers auf seinen Oberarm eindrosch. Gleich darauf wurde der Blick unruhig, das breite Lachen erstarb und die Hand erschlaffte in Hasslers rechter.
»Edgar? Edgar Svoboda? Was … was verschlägt dich hierher?«
Augenblicklich erkannte Hassler seine Chance. »Muss doch einmal schauen, wie es den alten Freunden so ergangen ist. Ob sie mehr Glück gehabt haben als man selber.«
Raufer wurde der Kragen eng. Er öffnete den obersten Kopf. Er schwitzte. »Na ja, man lebt. Es muss gehen.«
Der Sekretär war zu ihnen getreten und übergab Hassler die Auszüge.
Er nahm sie rasch an sich. »Wie viel bin ich schuldig?«
Raufer griff nach seiner Brieftasche. »Lass. Ich mach das schon.«
Der Sekretär zuckte die Schultern und ging zum Schreibtisch zurück.
»Vizebürgermeister also«, sagte Hassler, als hätte der andere nichts gesagt, und lächelte. »Hast du den Hof übernommen? Und die Tankstelle?«
»Viel Arbeit«, erklärte Raufer. »Aber es wirft nichts mehr ab. Man kann kaum seine Familie ernähren.«
Der Sekretär blickte überrascht auf. Hasslers Lächeln wurde breiter.
»Trinkst du einen Kaffee mit mir?«, fragte Raufer nun freundlich, obwohl sein ganzer Körper Abwehr signalisierte, Flucht.
»Gern.« Hassler begann das Ganze zu genießen. »Ein paar Erinnerungen austauschen, warum nicht?«
Er folgte Raufer in den Nebenraum, ein geräumiges Büro mit einer beeindruckenden Urkundensammlung, wo Raufer – mittlerweile schweißgebadet – sich zunächst ungeschickt an einer Kaffeemaschine zu schaffen machte, Hassler und sich dann einen Schnaps einschenkte und sich schließlich hinter einem wuchtigen Schreibtisch verschanzte. »Du bist also wieder draußen?«, stellte er fest und kippte den Schnaps in einem Zug. Die Kaffeemaschine zischte.
Hassler ließ den Blick schweifen und schwieg. »In Freiheit, ja. Wie du und Selinger die ganze Zeit über«, stellte er dann fest.
Raufer sprang auf und goss ihnen Kaffee ein. Die Tasse klirrte, als er sie vor Hassler hinstellte. »Zucker? Milch?«
Hassler dankte. Beide rührten sie in ihren Tassen, als erfordere dies ihre ganze Konzentration.
Hassler nahm noch Milch nach. »Hast du dich eigentlich immer sicher gefühlt?«, begann er dann. »Nie einen Gedanken daran verschwendet, ich könnte zu erzählen beginnen? Man hat viel Zeit zum Nachdenken in Haft, weißt du? Man überlegt, warum einen die Freunde vergessen haben. Nicht schreiben, kein Geld schicken.«
Raufer blickte starr vor sich hin. Sein linkes Augenlid zuckte.
»Man fragt sich, warum sie einen dort verrotten lassen«, fuhr Hassler fort, »und selber weiterleben, als wäre nichts geschehen.«
»Wenn du eine Starthilfe brauchst, Arbeit, etwas Geld«, unterbrach Raufer, »musst du es nur sagen. Ich habe freilich nicht viel.«
Hassler fixierte sein Gegenüber. »Ich rede nicht von Almosen, Herr Vizebürgermeister. Ich spreche von einer Abgeltung für mein Schweigen all die Jahre. Dafür, dass du ungeschoren davongekommen bist. Denk nur, die Schande: der Großbauernsohn im Gefängnis. Ein Verbrecher. Ein Mörder. Der Hof ohne Erben. Das sollte dir schon etwas wert sein.«
»Willst du mich erpressen?«
»Wir wollen nicht übertreiben.« Hassler hielt seinem Gegenüber auffordernd die Tasse entgegen und ließ sich Kaffee nachschenken. »Ich will eine Abgeltung. Nicht mehr, nicht weniger.«
Raufer schien zu einem Entschluss gekommen zu sein. »Und wenn ich dich anzeige?«
»Wirst du viel zu erklären haben.« Hassler stand auf und begann auf und ab zu gehen. Er würdigte Raufer keines Blicks, während er sprach. Seine Stimme klang kühl, neutral, wie die eines Nachrichtensprechers. »Beide Mädchen wurden mehrfach missbraucht. Man kann so etwas feststellen, weißt du? Ich habe die medizinischen Gutachten gelesen, die des Pathologen. Sperma von drei verschiedenen Männern. Es ist ein Leichtes, den Fall wieder aufzurollen. Immerhin geht es um Mord. Man kann Proben nehmen. Vergleichen. Die Gerichtsmedizin ist heute viel weiter als damals.« Abrupt wandte er sich um.
Raufer sah ihn hasserfüllt an. »Sie haben beide gelebt, als wir gegangen sind, Selinger und ich.«
»Ach ja? Vielleicht haben wir sie ja auch gemeinsam getötet? Ich glaube mich daran zu erinnern, dass du die Idee dazu hattest?«
Der Mann vor ihm verfiel. Sein Gesicht war grau, sein Atem kam stoßweise.
Hassler blieb stehen, stützte sich auf dem Schreibtisch ab und beugte sich zu Raufer vor, dessen Blick zu flackern begann. Hasslers Ton wurde sanft. »Der Großbauernsohn wollte vertuschen, dass er ein Verbrechen begangen hat. Zwei Mädchen, Raufer, beide noch jung. Die Arzttochter. Die Kleine des Lehrerehepaares. Das ist etwas anderes, als wenn man auf dem Feuerwehrfest eine Häuslertochter schwängert. Das eine lässt sich mit Geld aus der Welt schaffen. Das andere nicht.« Er kniff die Augen zusammen. »Das dritte Mädchen wurde nie gefunden, wie du weißt.«
»Ich habe nichts mit der Sache zu tun«, stieß Raufer hervor. »Selinger kann bezeugen –«
»Selinger.« Hassler lachte. »Sein Sperma. Deins. Gut, und meines. Wer sie getötet hat? Nun, ich erinnere mich …«
Mit einem Satz war Raufer bei ihm und fasste ihn an der Gurgel. Er keuchte. Schweiß troff ihm von der Stirn. Hassler hielt den Atem an und versuchte, Raufers Griff zu lösen.
»Du Arschloch«, zischte Raufer nach einem gehetzten Blick zur Tür, »du gottverdammtes Arschloch willst mir da etwas anhängen. Warum? Du weißt genau, dass ich damit nichts zu tun habe. Du, du – Lügner! Du – Mörder!«
Hassler sah ihn kühl an. »Wir sind Komplizen, Raufer. Und nur einer von uns dreien hat gebüßt. Kannst du dir vorstellen, wie das ist, im Gefängnis? Eingesperrt zu sein wie ein Tier? Unter Tieren?«
Raufer ließ von ihm ab und wankte zum Schreibtisch. Seine Arme hingen schlaff herab.
»Deine Freiheit sollte dir etwas wert sein. Mach mir ein Angebot.«
Raufer schüttelte den Kopf. »Arschlöcher wie du kriegen den Hals nie voll. Du wirst wiederkommen. Mehr fordern. Wieder drohen.« Er wirkte regelrecht verzagt.
Hassler spürte ein Gefühl von Macht und stellte fest, dass er es genoss. Dieser Blick eines Menschen, der begriffen hatte, dass er in der Falle saß. Nicht mehr auskam. Dem Gegenüber, das er hasste, abgrundtief hasste, auf Gedeih und Verderb ausgeliefert.
»Selinger und ich haben sie festgehalten. Die Kleine, die dir so gefallen hat. Erinnerst du dich? Selinger war der Zweite. Das weißt du doch noch? Danach hast du geheult. Und dann deinen Freund verprügelt. Und dich bei ihr entschuldigt. Entschuldigt! Du hast dich angeschissen vor Angst, dein Vater könnte davon erfahren. Du hast –«
»Hör auf!«, brüllte Raufer.
»Und am zweiten Abend warst du es, der ihre Freundin zum Blockhaus gelockt hast. Das weißt du doch noch?«
»Du hast mich gezwungen. Ich, ich hatte Angst … ich war betrunken.«
»Sie hat gemerkt, was gespielt wurde, und wollte weglaufen. Mach was, Edgar, hast du gesagt. Kann gut sein, dass mir wieder einfällt, dass du es dann selber getan hast.«
Raufer hatte die Hände vorm Gesicht. Er gab keinen Laut von sich.
»Anstiftung zum Mord. Oder Mord. Wir werden sehen. Es sei denn …« Hassler lächelte.
»Sie haben beide noch gelebt, als wir gegangen sind«, flüsterte Raufer heiser.
»Das behauptest du«, erklärte Hassler kühl. »Ich sage, dass wir beide es waren. Du und ich.«
»Selinger …«
»Selinger hat immer getan, was du verlangt hast. Ich wette, das hat sich nicht geändert. Ein schwacher Zeuge, unser Komplize.«
Raufer straffte sich. »Du lügst, Svoboda. Und das weißt du. Das hast du immer getan. Du hast alle drei getötet und warst zu Recht dafür in Haft.«
»Ach ja, die Dritte. Lindas Freundin.« Hassler lächelte versonnen. »Die nie gefunden wurde. Hattet ihr nicht eine Auseinandersetzung, bevor sie verschwand? Auf dem Kirchplatz, oder? Linda hat mir davon erzählt. Es wird genügend Leute geben, die sich daran erinnern. Du hattest Kratzer im Gesicht und ein blaues Auge. Sie war eine kleine Wilde, die sich gewehrt hat, wenn sie etwas nicht wollte.«
Raufer starrte vor sich hin, hob dann den Kopf. »Besser, du gehst jetzt. Es ist absurd, was du behauptest. Niemand wird dir glauben. Warum solltest du all die Jahre sitzen und schweigen? Und erst jetzt, wo du in Freiheit bist, mit der« – er betonte das Wort übertrieben – »Wahrheit herauskommen?«