Cover

Das Buch

In China beschließt man, in den Verwaltungsbehörden mehr Akademiker einzustellen. Einer dieser jungen, idealistischen Professoren ist Song Cheng, der in der Antikorruptionsbehörde schnell Karriere macht. Eines Tages stößt er auf einen Skandal, der sich wie ein Geschwür durch die ganze zentralchinesische Provinz Henan zieht: Industriebosse, Parteikader und Verwaltungsbeamte auf allen Ebenen sind darin verstrickt. Als Song Cheng aber kurz davor ist, den Skandal aufzudecken, wird er ins Gefängnis geworfen. Mächtige Gegenspieler wollen ihn für immer loswerden. Doch dann kündigt sich ein seltsamer Besucher bei Song Cheng an und erzählt ihm Dinge über den Skandal und aus Song Chengs Leben, die eigentlich niemand wissen dürfte und die nur einen Schluss zulassen: dieser Mann weiß alles. Aber wie ist das möglich, und was hat der geheimnisvolle Supercomputer mit der kosmologischen Simulationssoftware zu tun? Die Konsequenzen dieser Unterredung sind allerdings noch viel weitreichender, als Song Cheng jemals hätte ahnen können …

Mit seiner Novelle Spiegel erweist sich Cixin Liu, Autor des Weltbestsellers Die drei Sonnen, einmal mehr als scharfer Beobachter der chinesischen Gegenwart und als literarischer Visionär der Welt von morgen.

Dieses Buch enthält eine Leseprobe aus Der dunkle Wald, dem Nachfolger zu Die drei Sonnen, sowie ausführliche Anmerkungen zur Übersetzung und ein Nachwort.

Der Autor

Cixin Liu ist einer der erfolgreichsten und produktivsten chinesischen Science-Fiction-Autoren. Er hat lange Zeit als Software-Ingenieur in einem Kraftwerk gearbeitet, bevor er sich ganz seiner Schriftstellerkarriere widmete. Seine Romane und Erzählungen wurden bereits mehrfach prämiert. Cixin Lius erfolgreichster Roman Die drei Sonnen wurde mit dem Galaxy Award, dem bedeutendsten Genre-Preis Chinas, und 2015 als erster chinesischer Roman überhaupt mit dem Hugo Award ausgezeichnet und wird international als ein Meilenstein der Science-Fiction gefeiert.

Mehr über Cixin Liu und sein Werk auf:

www.diezukunft.de

Cixin Liu

SPIEGEL

Novelle

Aus dem Chinesischen von

Marc Hermann

Mit Anmerkungen des Übersetzers

und einem Nachwort von Sebastian Pirling

Deutsche Erstausgabe

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Die Novelle »Spiegel« ist unter dem Titel (Jìngzi) erschienen und
wurde 2004 mit dem Galaxy Award ausgezeichnet. Sie ist in dem
Sammelband (Shíjiān yímín) enthalten.
Übersetzung »Die drei Sonnen«: Martina Hasse
Übersetzung »Der dunkle Wald«: Karin Betz
Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
Redaktion: Sebastian Pirling
Copyright © 2004 by Liu Cixin
German rights authorized by FT Culture (Beijing) Co., Ltd.
Copyright © 2017 der deutschsprachigen Ausgabe
und der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: Das Illustrat, München
Umschlagillustration: Jeremy Paillotin
Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach
ISBN: 978-3-641-21966-6
V002
www.diezukunft.de

Inhalt

Spiegel

Anmerkungen

Nachwort

Leseprobe aus »Die drei Sonnen«

Leseprobe aus »Der dunkle Wald«

SPIEGEL

Tiefer und tiefer dringt die Forschung der Menschheit. Man entdeckt, dass Quanteneffekte bloßes Wellengekräusel auf der Oberfläche des Meeres der Materie sind. Sie sind lediglich Schatten von Störeffekten, die aus den grundlegenden Gesetzen der Materie erwachsen. Je deutlicher diese Gesetze zutage treten, desto mehr gewinnt das Bild einer schwankenden Realität, das uns die Quantenmechanik suggeriert, wieder stabile Konturen. Feste Determinanten treten wieder an die Stelle von Wahrscheinlichkeiten.

In diesem neuen Modell des Universums feiern die bereits tot geglaubten Kausalketten klarer denn je ihre Wiederauferstehung.

1

Die Fahndung

Im Büro waren die Flaggen der Volksrepublik China und der Kommunistischen Partei gehisst. An dem breiten Schreibtisch saßen zwei Männer einander gegenüber.

»Ich weiß, Sie sind sehr beschäftigt, Genosse Kommandant, aber über diese Angelegenheit muss ich Sie informieren. Etwas Derartiges habe ich wirklich noch nie erlebt«, sagte der Mann vor dem Schreibtisch. Er trug die Uniform eines Polizeioberkommissars und war schon an die fünfzig, aber seine Haltung war stramm und seine Gesichtszüge energisch.

»Xufeng, mir ist klar, was für ein Gewicht dein letzter Satz hat. Schließlich bringst du dreißig Jahre kriminalistische Erfahrung mit.« Der Kommandant blickte auf den rot-blauen Bleistift, den er langsam zwischen seinen Fingern drehte, als wollte er die geschärfte Spitze begutachten. Er pflegte seinem Gegenüber nur höchst selten in die Augen zu sehen – soweit Chen Xufeng sich erinnerte, hatte ihn der Kommandant in all den Jahren nur dreimal eines direkten Blicks gewürdigt, und jedes Mal war dieser Blick mit einem Schlüsselmoment in Chens Leben zusammengefallen.

»Immer wenn wir Maßnahmen gegen die Zielperson ergreifen wollen, entkommt sie uns. Sie weiß stets, was wir vorhaben.«

»Aber so was erlebst du doch gewiss nicht zum ersten Mal.«

»Zugegeben, das allein wäre noch nichts Besonderes. Wir haben auch sofort an ein internes Leck gedacht.«

»Aber bei deinen Untergebenen ist das eher unwahrscheinlich …«

»Es ist mehr als unwahrscheinlich. Gemäß Ihren Anweisungen haben wir den Kreis der Kollegen, die an diesem Fall arbeiten, auf ein Minimum beschränkt. Unsere Sondereinheit umfasst nicht mehr als vier Leute, und nur zwei davon sind tatsächlich mit allen Hintergründen vertraut. Trotzdem war ich auf das Schlimmste gefasst und wollte eine Besprechung einberufen, um alle Beteiligten der Reihe nach zu überprüfen. Ich wies Chenbing an, unser Team zusammenzurufen. Sie kennen ihn, ein zuverlässiger Mann von der elften Abteilung. Er hat sich um die Sache mit Song Cheng gekümmert … Aber dann ist etwas Merkwürdiges passiert. Bitte glauben Sie mir – was ich sage, ist kein Unsinn! Es ist die reine Wahrheit …« Chen lachte verlegen, als wäre ihm seine Rechtfertigung peinlich. »Genau in dem Moment rief er uns an – unsere Zielperson! Auf meinem Handy hörte ich ihn sagen: ›Die Besprechung könnt ihr euch sparen. Unter euch ist kein Verräter.‹ Dabei hatte ich keine dreißig Sekunden davor erst zu Chenbing gesagt, dass ich eine Besprechung einberufen wollte!«

Der Bleistift erstarrte in der Hand des Kommandanten.

»Vielleicht denken Sie jetzt, wir wurden belauscht, aber das ist ausgeschlossen. Als Ort für unsere Unterhaltung habe ich willkürlich die Halle einer Regierungsbehörde gewählt. Wir standen mittendrin, während um uns herum gerade ein Chor für den Nationalfeiertag probte. Wir mussten uns direkt ins Ohr sprechen … Immer wieder ist es danach zu solchen seltsamen Vorfällen gekommen. Achtmal hat er uns angerufen, und jedes Mal hat er Dinge gesagt, die wir gerade erst besprochen oder getan hatten. Das Schlimmste ist, dass er nicht nur alles hören kann – er sieht auch alles! Einmal wollte Chenbing eine Hausdurchsuchung bei den Eltern der Zielperson durchführen. Zwei Mitglieder unserer Sondereinheit waren gerade aufgestanden, um sich auf den Weg zu machen, aber sie hatten noch nicht mal die Büros unserer Abteilung verlassen, da bekamen sie einen Anruf von ihm. ›Ihr habt den falschen Durchsuchungsbefehl eingesteckt‹, sagte er. ›Meine Eltern nehmen solche Dinge sehr genau, womöglich halten sie euch noch für Betrüger.‹ Daraufhin warf Chenbing noch mal einen Blick auf den Durchsuchungsbefehl – er hatte tatsächlich den falschen mitgenommen, Genosse Kommandant!«

Der Kommandant legte seinen Bleistift sachte auf den Tisch und wartete schweigend darauf, dass sein Untergebener weitersprach, aber Chen hatte seinen Bericht offenbar beendet. Als sich der Kommandant eine Zigarette nahm, klopfte Chen hastig seine Hemdtaschen nach einem Feuerzeug ab, doch ohne Erfolg.

Eines der zwei Telefone auf dem Schreibtisch klingelte.

»Das ist er«, flüsterte Chen nach einem flüchtigen Blick auf die angezeigte Nummer. Der Kommandant blieb gelassen. Auf seinen Wink hin drückte Chen auf die Taste für die Freisprechanlage. Im nächsten Moment hörten beide eine Stimme, die auffallend jung und matt klang.

»Das Feuerzeug ist in der Aktenmappe.«

Chen wechselte einen Blick mit dem Kommandanten und blätterte die Mappe durch, die auf dem Tisch lag, ohne etwas zu finden.

»Es steckt in einer Akte. In der über die Reform des städtischen Einwohnermeldewesens.«

Chen nahm die Akte heraus, und das Feuerzeug fiel klirrend auf den Tisch.

»Das ist ein edles Stück, ein französisches Luxusfeuerzeug von S.T. Dupont aus massivem Palladium mit dreißig Diamanten auf jeder Seite, das kostet … ich schaue mal nach … 39.960 Yuan.«

Der Kommandant rührte sich nicht, während Chen den Kopf hob und das Büro musterte. Es war nicht das Büro des Kommandanten, sondern eines, das sie willkürlich unter den Räumen des Gebäudes ausgewählt hatten.

Die Zielperson fuhr fort mit ihrer Machtdemonstration: »Herr Kommandant, in Ihrer Schachtel Chunghwa-Zigaretten sind nur noch fünf Stück, und in Ihrer Hemdtasche haben Sie nur noch eine von den Mevacor-Tabletten zur Cholesterinsenkung. Sie sollten sich von Ihrer Sekretärin Nachschub besorgen lassen.«

Chen hob die Zigarettenschachtel vom Tisch auf, während der Kommandant die Tablettenpackung aus seiner Hemdtasche zog. In beiden Fällen erwiesen sich die Behauptungen der Zielperson als wahr.

»Hört auf, nach mir zu fahnden«, fuhr die Zielperson fort. »Ich sitze in der Klemme. Ich weiß nicht, was ich tun soll.«

»Können wir das in einem persönlichen Gespräch erörtern?«, fragte der Kommandant.

»Glauben Sie mir, das würde für beide Seiten in einer Katastrophe enden.« Damit legte er auf.

Chen atmete auf. Nun hatten seine Worte eine Bestätigung gefunden. Dass der Kommandant seine Worte als Unfug abtun könnte, hatte ihn mehr beunruhigt als die Kapriolen seines Gegenspielers. »Es ist gespenstisch …«, sagte er mit einem Kopfschütteln.

»Ich glaube nicht an Gespenster«, erwiderte der Kommandant. »Aber ich sehe Gefahr im Anzug.«

Zum vierten Mal in seinem Leben sah Chen den Blick des Kommandanten auf sich gerichtet.

2

Der Häftling und die Zielperson

Im Untersuchungsgefängnis Nr. 2 am Stadtrand

Song Cheng wurde in eine Zelle überführt, die bereits mit sechs Gefangenen belegt war. Die meisten von ihnen waren schon seit längerer Zeit in Haft. Kalte Blicke musterten ihn, und kaum hatte der Wärter die Tür hinter ihm geschlossen, erhob sich ein schmächtiger Kerl und baute sich vor ihm auf.

»He, Schweineschwarte!«, schrie er Song an. Als er die Verwirrung im Gesicht des Neuen sah, erklärte der Schmächtige: »Unsere Regeln hier besagen: Wir haben Große Schwarte, Zweite Schwarte, Dritte Schwarte … Und ganz zuletzt kommt Schweineschwarte, das bist du. He, glaub bloß nicht, wir schikanieren dich, weil du neu bist.« Er zeigte mit dem Daumen hinter sich auf einen vollbärtigen Mann, der in der Ecke lehnte. »Bao ist erst vor drei Tagen hierhergekommen, aber er ist schon Große Schwarte. Du dagegen bist vielleicht vorher ein ziemlich hohes Tier gewesen, aber hier bist du bloß ein Stück Dreck!« Er drehte sich zu dem Bärtigen um und fragte ihn respektvoll: »Wie sollen wir ihn empfangen?«

»Stereo«, war die gleichgültige Antwort.

Zwei Gefangene, die auf ihren Pritschen gelegen hatten, sprangen auf, packten Song an den Knöcheln und hoben ihn kopfüber in die Luft. Sie hielten ihn über das Klo und ließen ihn langsam hinunter, bis sein Kopf zum Großteil in der Kloschüssel hing.

»Sing uns was vor!«, kommandierte der Dünne. »Das bedeutet Stereo. Sing uns irgendein Schwulenlied wie ›Linke Hand, rechte Hand‹!«

Als Song nicht sang, lockerten sie ihren Griff, sodass sein Kopf ganz im Becken untertauchte und er zu Boden stürzte.

Mühsam zog er seinen Kopf wieder aus der stinkenden Brühe. Im nächsten Moment musste er sich heftig erbrechen. Die Geschichte, die man ihm angehängt hatte, machte ihn zur Zielscheibe der allgemeinen Verachtung, das wusste er nun.

Plötzlich zerstreuten sich seine fröhlichen Mitgefangenen und zogen sich flink zurück auf ihre Pritschen. Die Tür ging auf, und der Wärter von eben kam wieder herein. Angeekelt betrachtete er Song, der vor dem Klo kauerte. »Halt deinen Kopf mal unter den Wasserhahn! Du hast Besuch.«

Nachdem Song seinen Kopf gewaschen hatte, folgte er dem Wärter in ein geräumiges Büro. Sein Besucher erwartete ihn schon. Er hatte ein hageres Gesicht, wirres Haar und eine große Brille, und er wirkte noch sehr jung. In der Hand trug er einen großen Aktenkoffer. Song setzte sich teilnahmslos und ohne den Besucher eines Blickes zu würdigen. Weil der andere schon zu diesem Zeitpunkt die Erlaubnis zu einem Besuch erhalten hatte – und das hier und nicht im Besuchsraum mit der gläsernen Trennwand –, war sich Song sicher, auf welcher Seite sein Besucher stand. Umso überraschter hob er den Kopf, als sein Gegenüber mit den Worten begann:

»Ich heiße Bai Bing. Ich bin Ingenieur im Zentrum für Wettersimulation. Sie fahnden nach mir aus dem gleichen Grund wie bei Ihnen.«

Verwundert über die Art, wie sein Besucher redete, sah Song ihn an – statt zu flüstern, sprach Bai in einer normalen Lautstärke, als hätte er nichts zu verbergen.

Bai schien Songs Misstrauen zu bemerken. »Vor zwei Stunden habe ich den Kommandanten angerufen. Er wollte sich mit mir treffen, aber ich habe abgelehnt. Danach sind sie mir bis hierher gefolgt. Nur aus einem Grund haben sie mich noch nicht verhaftet: Sie sind neugierig auf unser Gespräch. Sie wollen wissen, was ich Ihnen sagen will. In diesem Moment belauschen sie gerade unsere Unterhaltung.«

Song ließ den Blick von seinem Besucher zur Decke wandern. Er konnte diesem Mann schwer glauben, und im Übrigen interessierte ihn die ganze Angelegenheit auch gar nicht. Selbst wenn er mit viel Glück der Todesstrafe entgehen sollte – seine geistige Hinrichtung war schon vollstreckt worden. Er war seelisch tot und brachte für nichts mehr Interesse auf.

»Ich kenne die ganze Wahrheit«, sagte Bai.

Über Songs Mundwinkel huschte der Anflug eines spöttischen Grinsens. Niemand kennt die Wahrheit außer denen, dachte er, aber er hatte keine Lust, es auszusprechen.

»Vor sieben Jahren begannen Sie für die Disziplinarkommission der Provinz zu arbeiten, und vor nicht mal einem Jahr hat man Sie in Ihre gegenwärtige Position befördert.«

Song hüllte sich weiter in Schweigen. Er war wütend, weil Bais Worte von Neuem die Erinnerungen heraufbeschworen, die er so angestrengt zu verdrängen suchte.