Walter Messner, geboren in Trossingen, lebt seit 30 Jahren am östlichen Bodensee, arbeitet dort als Yogalehrer und tanzt seit langer Zeit Tango. Für das Portal »Tango am Bodensee« schreibt er den Newsletter. Darüber hinaus verfasste er auch schon Beiträge für die Zeitschrift »Tangodanza«. Seine Lebensstationen waren Zürich, Wiesbaden und München. Während seiner Reisen besuchte Messner zahlreiche Milongas, die ihm unter anderem den Stoff für dieses Buch lieferten.
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© 2017 Walter Messner
Satz, Umschlaggestaltung, Herstellung und Verlag:
BoD - Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN: 978-3-7460-4096-7
Ich hätte es wissen müssen. Dennoch überraschte mich die klirrende Kälte, als ich aus dem Bahnhof Gare du Nord ins Freie trat. Bei klarem Himmel zeigte mir Paris an diesem Tag ein ungewohnt uncharmantes Gesicht.
Im Winter nach Paris zu fahren ist eigentlich keine gute Idee – zumal man als Tourist nicht vor Ostern die französische Hauptstadt besucht. Nämlich dann, wenn Paris im Frühling aufblüht, die steigenden Temperaturen nicht nur die Natur wecken, sondern auch die Menschen mit neuem Elan beleben. Doch ich in meiner spontanen Eigensinnigkeit entschied mich anders, denn meine Sehnsucht nach dieser Stadt war stärker als meine Vernunft. Also reiste ich zur »Unzeit« nach Paris, als die Natur noch schlief und die Pariserinnen ihre Reize unter ihren Mützen und Wintermänteln verbargen. Eine Entscheidung aus dem Bauch heraus oder gar die Führung des Schicksals, der ich unbewusst gefolgt bin?
»Warum fährst du immer wieder nach Paris, du kennst doch schon alles« wurde ich des Öfteren gefragt.
Es ging mir nach all den Jahren nicht mehr um die Sehenswürdigkeiten, die Paris zur Schau stellt – es war vielmehr die innige Beziehung, die ich zu dieser Stadt aufgebaut hatte und die ich vertiefen wollte.
Auch Berlin ist unbestritten eine interessante Stadt, doch den Winter dort bräuchte ich nicht. Berlin hat die Spree, Paris die Seine. Was macht den Unterschied?
Nach stundenlangem Sitzen im Zug war ich froh, mich endlich bewegen zu können. Ich ging in sportlichem Tempo durch die Viertel der Bahnhöfe Gare du Nord und Gare de l’Est in Richtung meines Hotels, das in einer kleinen unscheinbaren Seitenstraße lag. Den Weg dorthin kannte ich bereits. Als Quartier hatte ich mir dasselbe Hotel wie letztes Mal ausgesucht. Als ich eintrat, erkannte mich der Herr an der Rezeption gleich wieder. Auch die Bedienung meines Bistros, das sich in einer Straße zwischen meinem Hotel und der nächsten Metrostation befand, freute sich jedes Mal, wenn ich wieder vorbeikam. Diese kleine Geborgenheit brauchte ich, gerade in Paris. In Berlin ist es nicht anders, da hat man seinen Kiez, in dem man bekannt ist.
Ganz ungewohnt im Wintermantel ging ich noch am selben Tag auf Entdeckungsreise. Unbekannte Viertel zogen mich magisch an, aber auch meine Lieblingsplätze wollte ich wieder aufsuchen, mit denen ich besondere Erinnerungen verband. So zum Beispiel letzten Sommer die zufällige Begegnung mit einer jungen Spanierin aus Barcelona, die mich auf dem Cimetière Montparnasse angesprochen hatte. Sie bat mich um Hilfe, als sie auf der Suche nach den Grabstätten von Jean Seberg und Serge Gainsbourg war. An Ort und Stelle sollte ich sie fotografieren, wie sie vor den Gräbern posierte. Wir schrieben uns danach noch ein paar Wochen lang, bis irgendwann der Kontakt versiegte. Ein glücklicher Zufall führte mich am selben Tag, es war wohl gerade der richtige Zeitpunkt, zur Eglise St. Germain de Prés. Denn als ich eintrat, hörte ich einen Jazzpianisten spielen, der in dieser sakralen Atmosphäre für ein Konzert übte. Ich setzte mich in eine Bank und wünschte mir, er möge nicht mehr aufhören. Seine traumhaften Improvisationen ließen mich die Zeit vergessen. Einen Tag später hätte ich ihn gerne wieder gehört, doch da fand in der Kirche eine Hochzeit statt.
Diese außergewöhnlichen Momente genoss ich sehr. Nichts, aber auch gar nichts konnte ich festhalten, diese Begebenheiten waren einmalig. Das hatte mich auch der Tango Argentino gelehrt, denn jeder Moment erzeugt eine neue Situation, auf die man sich einzulassen hat, und wenn einem das gelingt, ist man im Kontakt mit dem Leben. »Man kann nicht zweimal in den gleichen Fluss steigen.« Diese Weisheit geht auf den Philosophen Heraklit zurück und will einem sagen, dass sich alles im Wandel befindet. Genieße den Augenblick, denn er wird sich nicht wiederholen!
Für den letzten Abend meines Aufenthaltes in Paris hatte ich mir vorgenommen, auch in dieser Stadt endlich einmal eine Milonga zu besuchen. Noch zu Hause recherchierte ich im Internet nach einer entsprechenden Veranstaltung. Ich hatte Glück, wurde fündig und notierte mir die Adresse.
Die von mir ausgewählte Location lag verkehrsgünstig, ich hatte nur zweihundert Meter von meinem Hotel zur Metrostation. Die Linie 4 brachte mich, ohne umsteigen zu müssen, bis zur Station »Alésia«.
Meine ersten Tänze auf französischem Boden standen mir nun bevor. Nur das Winterwetter drückte auf meine Stimmung. Die Kälte hatte allerdings etwas nachgelassen, als ich den Metroausgang verließ und nach ein paar Minuten Suche die richtige Adresse fand.
Diese Milonga befand sich im Hinterzimmer einer Brasserie. Als ich diese betrat, lockten mich die Klänge der Tangomusik in den hinteren Bereich des Lokals. Ich war, wie so oft, zu früh dran. Die Milonga hatte noch nicht begonnen. Außer dem DJ und einer älteren Dame an der Kasse befand sich noch niemand im Raum. So setzte ich mich an einen Tisch in unmittelbarer Nähe des Hinterzimmers und bestellte eine Kleinigkeit zum Essen. Während die Tänzer nach und nach eintrafen, versuchte ich mit meinen bescheidenen französischen Kenntnissen mit dem freundlichen Garçon, der mich in Paris willkommen hieß, ins Gespräch zu kommen. Das hob ein wenig meine Stimmung und irgendwann hielt ich den Zeitpunkt für gekommen, meinen ersten Tango auf einem Pariser Parkett zu tanzen.
Mein Puls reagierte mit einer etwas höheren Frequenz, als ich an der Kasse den Eintritt bezahlte. Nach kurzem Abschätzen des Raumes setzte ich mich auf die strategisch günstig gelegene Sitzbank an der Wand. Die ersten Minuten in einer fremden Milonga sind immer besonders spannend, denn es ist der Moment der Orientierung. Mit gleichmäßigen Atemzügen versuchte ich meine Nervosität in Grenzen zu halten. Doch kaum hatte ich damit begonnen, begegneten meine Blicke denen einer blonden Tänzerin, die an der gegenüberliegenden Wand lehnte. Ich nickte ihr zu, sie nickte ebenfalls, und gleich darauf standen wir beide auf der Tanzfläche. Ein gelungener Cabeceo!
Es ist immer wieder erstaunlich, dass das Tangotanzen überall auf der Welt so gut funktioniert, denn sie ließ sich mühelos von mir führen. Nur schade, dass wir uns sprachlich kaum verständigen konnten.
Danach saß ich wieder auf der Bank, gemeinsam mit anderen Tangueros. Wir Männer waren in der Überzahl. So warteten wir, mehr oder weniger geduldig, auf die nächste Tanda. Meine Augen suchten bereits nach einer neuen Tanzpartnerin – und wurden fündig.
Als dann die Tanda mit einem Tango begann, eilte ich zu ihr. Sie saß ein paar Meter links von mir, eine für mich typische Pariserin: Blasser Teint, schwarzhaarig, mit vollen roten Lippen. Diesmal harmonierte es noch besser, trotz einiger lustiger Missverständnisse, die sie mit einem charmanten »oh, là, là« kommentierte.
Restlos zufrieden mit dem bisherigen Verlauf des Abends nahm ich erneut auf der Bank Platz. Ich konnte mit meinen ersten Tänzen zufrieden sein, dementsprechend locker und entspannt sah ich der weiteren Entwicklung entgegen. So blieb ich sitzen, genoss den Moment, die Musik und schaute den Tanzpaaren zu. Man kannte sich in dieser Milonga. Anscheinend kam die Mehrzahl der Tänzerinnen und Tänzer aus diesem Viertel.
Plötzlich stand sie vor mir. Sie kam wie aus dem Nichts. Wieso habe ich diese schöne Frau nicht schon vorher entdeckt? Mit dem Nicken ihres Kopfes und dem festen Blick ihrer grünen Augen machte sie deutlich, dass sie mit mir tanzen möchte. Sekunden später standen wir auf der Tanzfläche und mit den ersten Tönen des Vals’ »Desde el Alma« umfasste ich sie. »Marie«, hauchte ihre sanfte Stimme in mein Ohr. Wie lieblich und rauchig zart klang der Name dieser Frau, als sie sich mir vorstellte! Als ich ihr meinen Namen nannte, hörte er sich deutscher an denn je. Doch das schien sie nicht zu stören. Ihr sinnlicher Mund sprach ihn nach und ich erkannte meinen Namen kaum wieder, so wohlklingend und schwebend hörte er sich auf Französisch an: »Pohl«.
Nur kleine Schrittkombinationen waren auf dieser überfüllten Tanzfläche möglich, aber sie bot für uns genügend Raum für eine innige Einstimmung miteinander. Die Zeit hörte auf zu exisitieren, denn diese Tanda dauerte eine gefühlte Ewigkeit. Nie zuvor erlebte ich beim Tanzen einen solchen Hochgenuss. Maries Duft umhüllte uns wie einen Kokon und ihr Körper schien elektrisch geladen.
Doch die nächste Cortina riss uns gewaltsam aus unserer Umarmung, denn wir hätten noch ewig so weitertanzen können, bis zur letzten Tanda. Diese Gelegenheit wurde von einem Mann ausgenutzt, den Marie wohl gut kannte. Dieser drängte sich vehement zwischen uns, machte seine Besitzansprüche geltend und bestürmte sie mit mehr als nur den üblichen drei Küssen. Ungestüm zerstörte er das zarte frische Pflänzchen unseres Kennenlernens. Mir an den Kragen zu gehen, wäre wohl sein nächster Schritt gewesen. Seine verhärtete Miene verriet mir überdeutlich sein Gewaltpotenzial.
Unsicher und unvertraut mit den Verhältnissen in dieser mir fremden Umgebung, zudem noch als Ausländer, verhielt ich mich in dieser Situation zurückhaltend. Zwar war ich innerlich aufgewühlt, zeigte es aber nicht nach außen hin. Notgedrungen zog ich mich zurück und widmete mich anderen Tänzerinnen. In den Tanzpausen trafen sich immer wieder unsere bedauernden Blicke. Anscheinend erging es Marie ähnlich wie mir. Das verriet mir die Mimik, die ihr Missfallen über diesen Vorfall deutlich ausdrückte. Meine anfangs euphorische Stimmung an diesem Abend sank tief in den Keller und ich sehnte mich nach der im Hotel deponierten Flasche Corbière.
Deprimiert verließ ich, anscheinend von allen unbemerkt, diese Milonga und ging zur Metrostation »Alésia«. Es hatte inzwischen zu regnen begonnen, was meiner Stimmung entsprach.
Sieben Minuten Wartezeit wurde für die nächste Metro in Richtung »Porte de Clignancourt« angezeigt.
Welcher Fremde wird in Paris um Mitternacht von hinten umarmt? Ein Überfall? Ich drehte mich erschrocken um, bereit, mich zur Wehr zu setzen. Doch ich blickte in die strahlenden Augen einer schönen Frau. »Paul!«, formulierte ihr sinnlicher Mund, kaum hörbar.
»Marie, du hier?«, stammelte ich überrascht, aber auch erfreut.
Die Metro brauste heran. Marie zog mich reaktionsschnell durch die geöffnete Tür, als ob wir uns einer Verfolgung entziehen müssten. Rationale Überlegungen spielten jetzt keine Rolle mehr, wir beide überließen uns der Führung der Metro. Marie hielt mich fest an der Hand. Türen gingen auf, gingen zu.
Einmal mehr öffneten sich die Türen der Metro – Akkordeonklänge!
Spontan reagierte ich und zog Marie auf den Bahnsteig. Er, jung, schwarzgelockt, in seine Musik versunken, spielte den wunderschönen Vals »Les Forains«. Ich schaute Marie an, sie nickte und wir begannen zu tanzen. Beim folgenden Amélie-Walzer verschmolzen wir dann endgültig in unserem Tanz auf dem Bahnsteig. Nur wenige Passanten nahmen Notiz von uns, manche hielten kurz inne, was wir aber kaum bemerkten. Einfühlsam wählte unser Musiker sein Repertoire aus, denn er merkte, was er mit seinem Spiel bewirkte.
Bevor wir weitergehen wollten, zog ich einen Schein für ihn aus der Hosentasche, meine andere Hand wurde von Marie gehalten.
Sie übernahm nun die Führung in Richtung Sortie »Boulevard Saint-Denis«. Wir stiegen die Treppen hinauf und standen glückselig mitten im nächtlichen Paris.
Es roch nach Regen, die Kälte hatte etwas nachgelassen. Die Lichter der Straßenlaternen spiegelten sich im nassen Asphalt. Auf dem Gehweg stapelte sich der Müll des Tages. Die Rollläden der Geschäfte waren heruntergelassen, großflächig mit Graffiti beschmiert. Kaum jemand war unterwegs – eine triste unromantische Atmosphäre, die wir aber in unserem Glück so nicht wahrnahmen.
Marie und Paris zogen mich in ihren Bann. Wir ließen uns treiben, scheinbar ziellos. War es Zufall oder unbewusste Führung? Mir kam die Gegend auf einmal bekannt vor.
Irgendwann später, bereits nach Mitternacht, saßen wir beide in einem dieser alten Stadtviertel-Bistros, in Gesellschaft von anderen Nachtschwärmern.
Immer noch aufgedreht vom Tanzen und den Ereignissen dieser Nacht kamen wir nicht zur Ruhe.
Das Getanzte, Gehörte, Erlebte ließ uns nicht los, wir wollten weitertanzen – immer weiter, hinein in einen zeitlosen Raum.
Ähnlich wie uns ging es anscheinend auch einem Straßenmusiker, der sich mit seiner Tageseinnahme einen Vin Rouge genehmigte. Vorsichtig, fast zärtlich setzte der bärtige Alte sein Akkordeon auf dem Stuhl neben sich ab. Doch diesem Straßenmusiker wurde kein Feierabend gegönnt. Es wurden Rufe laut »Spiel, spiel!«
Und er spielte, nachdem er vom Wein getrunken hatte, voller Hingabe vor einem dankbaren und nachtseligen Publikum. Die Wirkung des Weines schien seine Musettes zu beflügeln und wir wussten, wir waren zur richtigen Zeit am richtigen Ort.
Marie traute sich zu fragen: »Monsieur, spielen sie auch Tango?«
Er schaute kurz zu ihr auf, lächelte und begann zu spielen – einen Tango, den ich nicht kannte.
Zwischen Tischen und Stühlen fanden wir eine kleine Fläche zum Tanzen. Wie zuvor bei unseren Tänzen auf dem Bahnsteig fanden wir uns. Raum und Zeit existierten nicht mehr – was geschah, sollte geschehen. Die Musik, sie, ich, unser Tanz, eine Einheit, alles untrennbar miteinander verbunden!
War dies die Erfüllung meiner jahrelangen Bemühungen, Schritte und Figuren zu lernen? Ich konnte nicht darüber nachdenken. Ich konnte überhaupt nicht mehr denken; eine geheimnisvolle Energie schien mich zu bewegen.
Irgendwann später waren wir in meinem bescheidenen Hotelzimmer angekommen und noch ganz außer Atem vom Treppensteigen, hinauf in den 3. Stock. Ich küsste Marie, ihren Kopf in meinen Händen haltend, während sie ungeduldig die Knöpfe meines Wintermantels öffnete. Schicht um Schicht entfernten wir gegenseitig unsere Kleidungsstücke, ließen sie zu einem Häufchen auf den Boden gleiten und waren begierig darauf, unsere Entdeckungsreise fortzusetzen. Jeden freiwerdenden Körperteil begrüßten wir mit unseren begierigen Händen, Lippen und Zähnen.
Verführerische schwarze Spitzendessous trennten mich zuallerletzt von Maries Körper. Ich ließ mir genüsslich Zeit damit, den Verschluss ihres BHs zu öffnen. Als dieser dann zu Boden fiel, ließ sich Marie mit ausgebreiteten Armen rücklings auf das Bett fallen und lud mich mit einer eindeutigen Geste ihrer Hand ein, näherzukommen. Ich lächelte, kniete mich vor ihr nieder und zog ihr die hochhackigen Schuhe aus. Auch ließ ich mir Zeit, sie von unten her zu liebkosen. Marie wand sich vor Lust, wollte aber selbst aktiv werden, was auch ihrem Temperament entsprach und zog mich zu sich hoch – wild und fordernd, diese attraktive Frau entpuppte sich mehr und mehr als Verführerin par excellence.
Zum Schutz gegen die Kälte zog ich die Decke über uns und überließ mich dieser unerwarteten Fügung meines Schicksals. Glücklich und erschöpft sanken wir irgendwann in den Schlaf.
Nach dem späten Aufwachen am nächsten Morgen musste ich mich erst einmal orientieren.
Ich lag im Bett eines Pariser Hotels. Soweit stimmte meine Wahrnehmung. Aber stimmte auch meine Erinnerung an das, was ich gestern erlebt hatte? War alles nur ein schöner Traum?
Marie war nicht mehr hier. Sie musste sich leise, früh am Morgen, aus dem Hotelzimmer geschlichen haben, während ich noch schlief. Ihr schwarzer BH lag neben meinem Kopf auf unserem gemeinsamen Kissen, daneben ein Blatt Papier, hastig beschrieben:
»Mon Cher, sorry, aber ich muss arbeiten. Möchte dich unbedingt heute Nachmittag sehen. Komm bitte um zwei Uhr in den Pavillon zwischen der Metrostation »Luxembourg« und dem Palais im Park. Danke für die schöne Nacht! Bis bald, Marie.«
Diese Nachricht ließ mich in Sekundenschnelle hellwach werden. Im Rekordtempo duschte ich, packte meine Sachen, gönnte mir auf die Schnelle noch meinen üblichen Morgenkaffee im Frühstücksraum und checkte aus. Meinen Koffer wollte ich nicht in den Jardin du Luxembourg mitschleppen und brachte ihn daher mit dem Taxi zum Bahnhof Gare du Nord, in die Gepäckaufbewahrung.
Jetzt hatte ich noch etwas mehr als eine Stunde Zeit, um zum Treffpunkt zu gelangen, und etwa fünf Stunden bis zur Abfahrt meines Zuges.
Die Metroverbindung war günstig, und so kam ich, ohne umsteigen zu müssen, vom Bahnhof zur Station »Luxembourg«.
Durch meine Eile hatte ich auf mein Frühstück im Hotel verzichtet und aß, inzwischen hungrig geworden, in einem der zahlreichen Cafés zwischen dem Park und dem Pantheon ein Croissant.
Überpünktlich machte ich mich auf den Weg nach dem angegebenen Treffpunkt und hatte keine Mühe, den Pavillon zu finden. Wie ich erkennen konnte, trafen sich dort auch andere Paare.
Das Wetter hatte sich nicht geändert, auch heute war es wieder unangenehm feuchtkalt. Die Aufregung über das Wiedersehen mit Marie erhitzte meinen Körper und machte ihn unempfindlich gegen Regen und Kälte.
Auf der anderen Seite des Parks, zur Orangerie hin, übte eine Gruppe Tai Chi, doch deren innere Ruhe konnte sich nicht auf mein aufgewühltes Gemüt übertragen. Unzählige junge Menschen in klassischen, kurzen und schwarzen Mänteln, mit ebenfalls schwarzen, in Schlingen gebundenen Schals, schlenderten von der Sorbonne kommend vorbei. In nahezu jeder dunkelhaarigen Frau sah ich Marie, die unverständlicherweise auf sich warten ließ. In immer größer werdenden Radien zog ich meine Kreise um den Pavillon. Mein Herzklopfen wurde immer stärker. Doch es half nichts, ich verlor allmählich die Kraft meiner Hoffnung.
Inzwischen war der von ihr vorgeschlagene Zeitpunkt längst verstrichen. Meine Freude auf ein Wiedersehen mit Marie schwand zusehends und verwandelte sich zunehmend in Traurigkeit und Enttäuschung, bis ich mir eingestehen musste, dass aus unserer Verabredung nichts mehr wird. Ich war mir sicher, sie wäre gekommen, hätte er es nicht verhindert! Wir hatten seine Existenz gestern Abend verdrängt. Hat er heute seine Besitzansprüche einmal mehr deutlich gemacht?
Ich hatte keine Möglichkeit, mit ihr in Kontakt zu treten. Wir hatten es versäumt, unsere Handynummern auszutauschen. Was für ein Fehler!
So nahm ich die letzte Gelegenheit wahr, um meinen Zug nach Berlin doch noch zu erreichen. Denn am nächsten Tag hatte ich einen wichtigen Auftrag zu erledigen.
Der sehnsuchtsvolle Schmerz tat weh, sehr weh sogar, doch die Vernunft bestimmte letztendlich mein Handeln. In der Gewissheit, im Moment nichts anderes tun zu können, fuhr ich schweren Herzens nach Berlin zurück, in der Hoffnung, dass das Schicksal uns beide bald wieder zusammenführen würde.
Während meiner stundenlangen Zugfahrt fuhren meine Gefühle Achterbahn. Meine Gedanken spielten turbulent eine Szene nach der anderen durch, kamen jedoch über ein erfolgloses Grübeln nicht hinaus. Was geschehen war und was dies für die nächste Zeit bedeuten würde, ging mir nicht mehr aus dem Kopf.
Niemals zuvor habe ich mich so auf Lore, meine WG-Mitbewohnerin, gefreut, denn in ihr hatte ich einen Menschen, mit dem ich über mein Pariser Abenteuer reden konnte. Wir hatten uns auf einer Milonga in der Villa Kreuzberg kennengelernt – auch sie war vom Tango fasziniert. Kurze Zeit später zogen wir in eine 3-Zimmerwohnung in Berlin-Mitte, ganz in der Nähe des Rosenthaler Platzes. Lore war ebenso wie ich geschieden, und wir beide waren bemüht, das Beste aus unserer Situation zu machen.
Der Bus vom Hauptbahnhof hätte mich bis vor die Tür gebracht, doch ich stieg schon eine Haltestelle früher aus, um für mich mehr Zeit zum Ankommen zu haben. Ich ging den Rest der Strecke zu Fuß. Die gewohnte Umgebung meines Viertels tat mir gut, obwohl mich ein typisch grauer, schneefreier Berliner Wintertag empfing. Dieser trübe Himmel passte ganz gut zu meiner Stimmungslage, als wenn sich mein Pariser Erlebnis und das Wetter in Berlin miteinander abgesprochen hätten.
Die kluge, einfühlsame Lore, der ich schon während der Rückfahrt am Telefon von Marie erzählt hatte, fing mich in meinem bedürftigen Zustand so verständnisvoll auf, wie ich es mir gewünscht hatte. Zu meiner Freude und ganz im Gegensatz zum tristen Grau des Himmels hatte sie eine blaue Vase mit roten und gelben Tulpen auf den Wohnzimmertisch gestellt. Es schien, als hätte sie alle Zeit der Welt für mich. Sie zündete Kerzen an, schenkte Tee ein und ließ mich erzählen.
Ihr Fazit, nachdem sie sich alles angehört hatte: »Ich habe das Gefühl, dass eure Geschichte noch lange nicht zu Ende ist, und du noch viel Geduld brauchen wirst. Den nächsten Schritt wird sie tun müssen und ich bin gespannt darauf, wie er ausfallen wird.«
In einer Nacht von Samstag auf Sonntag.
Ich war noch am Lesen, als Lore nach Hause kam.
Sie klopfte an meine Zimmertür: »Paul, bist du noch wach?«
»Ja!«
»Kannst du bitte mal rüberkommen?« Ihre Stimme klang anders als sonst – es musste wichtig sein.
Ich zog mir schnell etwas an und ging durch den Flur hinüber in unser Wohnzimmer. Lore erwartete mich. Sie wirkte irgendwie anders und schaute mich mit ernster Miene an.
»Ja, was ist?«
»Setz dich bitte und beschreibe mir, wie Marie und ihr Lover aussehen.«
Mir wurde plötzlich ganz heiß. War Marie etwa in Berlin und suchte mich?
»Du hast sie doch nicht gesehen, oder?«
Lore bremste meine aufkeimende Hoffnung mit einer Handbewegung.
»Ich weiß es nicht, vielleicht. Wie sieht sie denn aus?«
Marie zu beschreiben war für mich eine Wohltat. Ich hatte ein deutliches Bild vor meinem geistigen Auge.
»Sie sieht der Schauspielerin Audrey Tautou ähnlich, ist etwas kleiner als du, schlank, hat schwarzes, schulterlanges Haar, Mittelscheitel, einen blassen Teint und ein hübsches Gesicht mit vollen, roten Lippen. Sie ist ein auffälliger Typ und hat eine lebhafte, anziehende Ausstrahlung.«
»Ist sie so um die vierzig?«
»Ja, und fast immer schwarz gekleidet.«
»Und ihr Partner? Er spricht spanisch und scheint dem Aussehen nach Argentinier zu sein.«
»Ja, er ist etwa gleich groß wie sie, schlank, mit langen, glatten, brünetten Haaren, die zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden sind. Seine Ausstrahlung ist eher unangenehm. Als Filmregisseur würde ich ihm die Rolle eines Schurken geben.«
»Okay, halte dich fest – die beiden sind in Berlin!«
»Das darf doch nicht wahr sein! Du hast sie tatsächlich gesehen – und wo?«, fragte ich aufgeregt und ungeduldig.
»Ich war doch noch im ›Tango tanzen macht schön‹. Von der Garderobe aus habe ich mitbekommen, wie sie an der Kasse versucht haben, sich mit Spanisch und teilweise Englisch verständlich zu machen.«
»Hast du denn etwas über sie erfahren, zum Beispiel wo sie wohnen und wo sie morgen hingehen werden?«
»Nein, das leider nicht. Aber vielleicht könntest du die beiden morgen Abend im Max und Moritz antreffen. Ich denke, eher dort als woanders. Falls nicht, musst du die anderen Milongas in Berlin abklappern, und das sind sonntags nicht gerade wenige.«
»Gut – wenn sie noch hier ist, werde ich sie finden!«
Nun war ich doch etwas erleichtert. Ich setzte mich zu Lore und drückte sie dankbar.
›Mein Gott, mein Gott!‹ In dieser Nacht konnte ich kaum schlafen. In solchen Situationen scheint der Zeiger der Uhr stehenzubleiben. An diesem Sonntag konnte mich auch gar nichts auf andere Gedanken bringen, denn ich fieberte dem Abend entgegen. Ich wusste nicht, was ich in diesen vielen Stunden bis zum Beginn der Milonga mit mir anfangen sollte.
Gegen neun machte ich mich dann endlich auf den Weg und kam etwa eine halbe Stunde später mit der U 8 in Kreuzberg an.
In großer Anspannung durchquerte ich den vorderen Teil des Wirtshauses. Immer deutlicher wurden die Klänge der Tangomusik, als ich mich dem Tanzsaal näherte. Nachdem ich an der Kasse bezahlt hatte, hielt ich inne, um mit meinen Augen den Raum nach Marie abzusuchen.
Wir sahen uns gleichzeitig!
Ihr Aufschrei übertönte die Musik. Marie ließ ihren Tanzpartner mitten auf der Tanzfläche stehen und kam auf mich zugestürmt, umarmte und drückte mich, dass mir fast die Luft wegblieb. Ich muss wohl dagestanden sein wie ein Ölgötze, überrascht von dieser überwältigenden Situation und dieser ungestümen Frau, die ich mir doch so sehr herbeigewünscht hatte.
»Mein lieber Paul – endlich habe ich dich gefunden!«
Tief in seinem Stolz gekränkt blieb ihr eifersüchtiger Tanzpartner verloren auf der Tanzfläche zurück. Seine Wut stand ihm ins Gesicht geschrieben.
Bevor ich endlich reagieren und auch liebe Worte zu Marie sagen konnte, stürmte er auf uns zu, riss uns gewaltsam auseinander und bedrohte mich mit seinem Messer. Seine aggressiv artikulierten Sätze in Spanisch konnte ich zwar nicht verstehen, aber mir war klar, was er mir sagen wollte: Ich soll verschwinden und Marie für immer in Ruhe lassen.
Sicherheitshalber machte ich einen Schritt nach hinten und schaute ihn grimmig an. Doch in Anbetracht seiner Gewaltbereitschaft zog ich es vor, mich nicht auf eine Konfrontation einzulassen. Trotzdem oder gerade deswegen entstand in mir eine Entschlusskraft, die mir sagte, beim nächsten Zusammentreffen würde er keine Chance mehr haben, denn mit Gewalt konnte er Marie letztendlich nicht an sich binden.
Bei meinem erzwungenen Abgang musste ich eine weinende und verstörte Marie mit diesem Widerling zurücklassen. Mein Herz tat mir weh bis in den hintersten Winkel.
Welches Gefühlschaos ich innerhalb von fünf Minuten erleben musste: Anspannung, Freude, Angst und am Ende auch Trauer! Das musste ich erst einmal verdauen. Aufgewühlt und zitternd landete ich in einer der zahlreichen Kneipen in der Oranienstraße. In dieser lauen Frühlingsnacht saß man draußen auf den Gehsteigen. Drinnen oder draußen, egal, ich wollte mich betrinken und allein sein.
Hinterher war mir jedenfalls nicht mehr klar, wie ich es überhaupt geschafft habe, nach Hause zu kommen. Meine Erinnerung daran blieb jedenfalls auf der Strecke.
Ziemlich angesäuselt und mit schwerer Zunge berichtete ich noch in der Nacht Lore, die aufgeblieben war, von meinem Abenteuer. Sie runzelte nachdenklich ihre Stirn, was so viel bedeutete, dass sie bereits auf der Suche nach einer Lösung war.
»Du brauchst jemanden, der dir hilft!«
»Wie meinst du das?«
»Sollten sich die beiden noch ein paar Tage in Berlin aufhalten, so werden sie vermutlich am Dienstag ins Clärchens Ballhaus gehen. Wenn du wieder so hingehst wie heute, wirst du ein weiteres Desaster erleben. Also musst du es anders anstellen. Vielleicht kann ich dir helfen, besser gesagt, ein Leibwächter könnte dir helfen.«
»Ein Leibwächter, ist das nicht etwas übertrieben? So jemanden bei einer Security Firma zu engagieren, das kann ich mir nie und nimmer leisten.«
»Klar, aber ich kenne einen, der in so einer Firma arbeitet und mir noch etwas schuldig ist. Vielleicht hat er ja Zeit und begleitet dich.«
Lore telefonierte lange mit einem gewissen Olaf und verhandelte zäh. Danach berichtete sie mit Siegermiene, dass er kommen würde. Am Dienstag um 21 Uhr wollte mich dieser Olaf abholen.
Er kam pünktlich. Ein Respekt einflößender Herr, etwas größer als ich, stand vor mir. Er trug einen eleganten grauen Nadelstreifenanzug, hatte sehr kurz geschnittene Haare und war geschätzte 45 Jahre alt, also etwas jünger als ich.
»Guten Abend Herr Berger oder darf ich Paul sagen?« Ich grüßte ebenfalls und sagte: »Klar doch!«
»Mein Name ist Olaf. Wir sollten unsere Vorgehensweise besprechen.«
Ich führte ihn in mein Zimmer. Lore war natürlich auch zu Hause und setzte sich zu uns. Während des Gesprächs lernten wir einander kennen und hatten gleich einen guten Draht zueinander. In seiner Begleitung dürfte nichts schiefgehen, dachte ich mir. Denn so einen wie ihn möchte ich nicht als Gegner haben, das war zumindest mein Eindruck von ihm: Direkt, sportlich, souverän, kräftig, gutaussehend und mit einem gewissen Charme.
Wir spielten mehrere Situationsvarianten durch und waren schließlich bereit für unsere Aktion, wobei sich trotz sorgfältigster Planung immer noch Unvorhergesehenes ereignen könnte. Doch das war für Olaf als Personenschützer ja nichts Neues.
Nur ungern blieb Lore zurück. Sie wünschte uns viel Glück mit beidseitigem Daumendrücken.
»Passt gut auf euch auf!«
Mit entschlossenen Schritten gingen wir hinunter durch das Treppenhaus zu seinem Fahrzeug, das im Parkverbot am Straßenrand parkte.
Die ersten Schritte unseres Vorhabens waren klar. Wir fuhren mit seinem eleganten schwarzen Porsche Cayenne, dem Fuhrpark seines Arbeitgebers entliehen, zum Ballhaus. Olaf parkte direkt vor dem Eingang. Er würde aus strategischen Gründen keinen Meter zu weit entfernt parken, Strafzettel hin oder her.
Auf dem Weg durch den Vorgarten bis zum Eingang fühlte ich mich aufgehoben wie in Abrahams Schoß. Trotzdem vibrierte mein ganzer Körper vor Aufregung, als wir am Eingang des Saales ankamen.
Olaf hielt sich wie abgesprochen etwas abseits von mir, denn wir sollten erst mal nicht in Beziehung zueinander gebracht werden, so unsere Taktik.
Mein Herz schlug heftig, als ich Marie mit dem Argentinier tanzen sah. Sie entdeckte mich noch vor ihm, hielt sich heute aber klug zurück. Doch keine Minute später fiel sein Blick auf mich. Er löste sich von Marie, ließ sie auf der Tanzfläche stehen und kam mit hasserfüllter Miene auf mich zu, während er gleichzeitig ein Messer zückte. Olaf schob sich, aus dem Nichts kommend, wie eine Wand zwischen uns, drehte blitzschnell den Arm des Gegners nach hinten und nahm ihm das Messer ab. Das musste sehr wehtun, offenbarte zumindest der Stöhnlaut, den er von sich gab, als er in die Knie ging, um dem Schmerz auszuweichen. Olaf ließ ihn in dieser demütigenden Haltung und redete währenddessen auf Französisch eindringlich auf ihn ein.
Seine anwesenden Landsleute waren nicht bereit, sich mit ihm zu solidarisieren, denn er war ein Messerstecher, mit dem sie nichts zu tun haben wollten, was ihrem Ruf auch geschadet hätte.
Wie vereinbart nahm ich Marie an der Hand und wir drei liefen so schnell, wie ihre hochhackigen Tangoschuhe es zuließen, hinaus auf die Straße. Bevor wir ins Auto stiegen, drehten wir uns fast gleichzeitig noch mal um und schauten zurück. Doch der Argentinier war nicht zu sehen.
»Wir fahren jetzt ins Bebop. Er wird uns eher im Tangoloft vermuten, falls er uns verfolgen sollte. Tauscht eure Handynummern und Mailadressen als erstes aus – für den Fall, dass wir uns verlieren!«
Olaf, ganz der Profi, dachte an alles.
Marie und ich saßen hinten im stark abgedunkelten Fond des Cayenne und drückten uns fest, während Olaf die Adresse im Navi eingab.
Unter anderen Umständen hätte ich Marie das nächtliche Berlin gezeigt, aber hier ging es nicht um eine Sightseeing Tour »Berlin bei Nacht«.
Die sympathische weibliche Stimme aus dem Navi führte uns auf dem direkten Weg nach Kreuzberg: Durch Friedrichshain, dann über die Oberbaumbrücke, anschließend sollten wir gleich rechts abbiegen.
Auch hier fand er einen, dem Eingang nahegelegenen Parkplatz. Verständlicherweise hatten wir keinen Sinn für die romantische Szenerie, die sich uns darbot: Die Spree, auf der die gegenüberliegenden Gebäude sich spiegelten und auf den Wellen tanzten.
Nachdem ich an der Kasse für uns drei bezahlt hatte, schlug ich Marie einen der noch unbesetzten Tische im hinteren Bereich des Bebop vor. Olaf setzte sich diskret und strategisch günstig etwas abseits, mit Blick zum Eingang und zu uns. Die Ruhe und Souveränität, die er dabei ausstrahlte, übertrug sich auf unsere Stimmung.
Vorher meinte er noch: »Lasst euch zwei Stunden Zeit, dann fahren wir wieder zurück.«
Auf dem Weg zu unserem Tisch begegnete ich drei mir bekannten Tänzerinnen. Sie begrüßten mich mit einem freundlichen Nicken, schauten uns interessiert nach und steckten tuschelnd ihre Köpfe zusammen.
»Wir hätten auch in meine Wohnung fahren können, aber Lore ist zu Hause und außerdem hätten wir dann nicht nach zwei Stunden wieder zurückfahren wollen«, meinte ich augenzwinkernd.
»Oui d’accord, wir können uns auch beim Tanzen nahe sein.«
Unsere Telefonnummern und Adressen hatten wir bereits ausgetauscht und Marie erzählte mir, wie es dazu kam, dass sie beide nach Berlin reisten. Sie schwärmte Paco, so hieß ihr Freund, von dieser Stadt vor. Berlin wäre die Tangometropole Nummer zwei nach Buenos Aires. Diese List anwendend hatte sie sich erhofft, mich wiederzusehen, indem sie ihn neugierig auf die Milongas in Berlin machte. Schließlich leben viele seiner Landsleute in dieser Stadt. Irgendwann hatte sie ihn überzeugt, denn allein hätte Paco sie nicht nach Berlin reisen lassen.
Die freiheitsliebende Marie und dieser Macho, der sie an der kurzen Leine hielt. Wie konnte eine solche Beziehung überhaupt zustande kommen? Dass sie ihm gefiel, das konnte ich verstehen. Aber was fand sie an ihm Schätzenswertes, außer der Tatsache, dass er ein guter Tangotänzer ist?
Das erste Stück einer Non-Tango Tanda lockte uns auf die Tanzfläche. Cristina Branco sang den zu Herzen gehenden Fado »Uma outra Noite«. Dieses melancholische Lied vereinte unsere Liebe mit unseren Körpern im Tanz, als ob es diese lange Zwangspause nie gegeben hätte.
Ein guter DJ hat ein Gespür für die Stimmung auf der Tanzfläche, so glücklicherweise auch an diesem Abend. Er schob das rhythmisch vertrackte Akkordeonstück »Tarab« von Danças Ocultas nach. Ich wartete erst einmal ein paar Takte ab und begann mit verzögertem Gehen, hielt inne, um zwischendurch mit schnellen Schritten dem vorgegebenen Rhythmus zu folgen. Im Grunde genommen führte ich nicht, denn wer führt schon, wenn sich beide miteinander und der Musik verschmolzen haben. Marie nahm sich den von mir gegebenen Raum für Verzierungen und ließ sich von der geheimnisvollen Melodie, verpackt in einem fremdartigen Takt, inspirieren.
Paris grüßte mit Akkordeonstücken von Richard Galliano. In den beiden letzten Stücken der Tanda ließ der DJ mit seiner Musik die Erinnerung an unsere damalige Verliebtheit aufleben, die seit meiner Abreise aus Paris bis vor ein paar Tagen lediglich als Sparflamme dahinvegetierte – was verwunderlich klingt. Eine reine Schutzmaßnahme meiner Gefühlswelt, da ich nicht wissen konnte, ob ich Marie jemals wieder begegnen würde.
Doch Gallianos »Chat Pitre« verwandelte, wie durch einen Blasebalg angefacht, die mittlerweile gewaltig angewachsene Flamme zu einer Stichflamme und entführte uns in eine Welt, in der wir uns aufgehoben fühlten.
Abwechselnd langsames und schnelles rhythmisches Gehen, Moulinetten-Ansätze, stoppen, Rückschritt, dann drehen und weitergehen – diese Schritte entstanden aus unserer Bewegungsharmonie heraus, bis dieses Stück vom melancholischen Vals »Les Forains«, auf den wir schon im Januar in der Metrostation »Strassbourg Saint-Denis« getanzt hatten, abgelöst wurde.
Olaf spürte, was mit uns geschah, und nur ungern gab er mir das Zeichen zum allmählichen Aufbruch, indem er auf seine Uhr deutete. Marie, die während des Tanzens ihre Augen geschlossen hielt, wollte dies nicht wahrhaben, und wir brauchten die untanzbare Cortina, um uns aus unserer Umarmung lösen zu können.
Unsere Gefühlslage entsprach jener, die wir im Januar schon mal erleben mussten.
Olaf, dem das während der Fahrt nicht entging, bemühte sich, uns mit Fragen zum Tango abzulenken. Diese Milonga, seine erste, beeindruckte ihn sehr, besonders die Innigkeit unseres Tanzes.
Marie und ich verabschiedeten uns auf dem Rücksitz des Cayenne, fest ineinander verschlungen, mit einem nicht enden wollenden Kuss. Wir wussten, wir sind untrennbar miteinander verbunden, und gerade deshalb schmerzte unsere körperliche Trennung so sehr.
Ich selbst wollte nicht mehr mit ins Clärchens hineingehen.
Es war ihre letzte Nacht in Berlin. Marie versprach mir, ihre Beziehung mit Paco so bald wie möglich zu beenden.
Olaf bereitete unserem qualvollen Abschiednehmen ein jähes Ende, indem er die Tür auf Maries Seite öffnete. Sie gingen gemeinsam den Weg zum Eingang, während ich, an den Wagen gelehnt, Marie in mein visuelles Gedächtnis einbrannte. Ein letztes Winken von ihr, ein unendlich trauriger Blick, und schon entschwand sie aus meinen Augen in eine ungewisse Zukunft.
Olaf erzählte mir, als er zum Auto zurückkam, wie er die traurige und verängstigte Marie bis in den Saal begleitet hatte. Die Stimmung dort war immer noch geprägt von dem Vorfall, den wir ausgelöst hatten.
Olaf hatte sich den inzwischen zurückhaltenden Paco noch einmal vorgenommen und ihm mit Konsequenzen gedroht, falls er sich an Marie rächen würde.
Am Rosenthaler Platz verabschiedete ich mich dankbar und herzlich von ihm. Wir versprachen, in Verbindung zu bleiben und tauschten unsere Handynummern aus, denn diese Geschichte war vermutlich noch lange nicht zu Ende.
Zwei Wochen später kam die erlösende Nachricht per SMS von ihr: »Komm schnell, mon cher, ich bin endlich frei für dich! Marie.«
Das Flugticket Berlin Tegel – Paris Orly hatte ich Stunden danach gebucht, denn mein großzügiger Chef hatte mir für ein paar Tage freigegeben.
Schon am nächsten Tag fuhr ich mit dem Taxi zum Flughafen. In drei Stunden würde ich bei ihr sein!
Doch die Anzeigetafel im Flughafen stellte sich dem entgegen: »Alle Flüge nach Paris fallen bis auf Weiteres wegen eines Streiks des Sicherheitspersonals an den Pariser Flughäfen aus.«
Am Schalter meiner Fluggesellschaft konnte man mir keine Auskunft darüber geben, wie lange dieser Streik dauern würde. Die Dame zuckte nur bedauernd die Schultern.
Geschockt, doch von der Sehnsucht getrieben, nahm ich mir ein weiteres Taxi und ließ mich zum Hauptbahnhof bringen. Ich erkundigte mich nach der schnellsten Verbindung nach Paris. Dieser Zug würde über Köln gehen, dort hätte ich zwei Stunden Aufenthalt, gab mir eine freundliche Bahnbedienstete Auskunft. Ich buchte ohne zu zögern.
Als ich endlich einsteigen konnte und meinen reservierten Platz fand, ließ ich mich erschöpft in den Sitz im Großraumwagen fallen.
Während meines Zwischenhaltes in Köln wollte ich mir etwas die Beine vertreten und die mir zur Verfügung stehende Zeit dafür nutzen, mich ein wenig in der Bahnhofsgegend umzusehen. Die meisten Großstadtbahnhöfe haben den Vorteil, dass sie sich mitten im Zentrum einer Stadt befinden, so auch in Köln.
Leider hatte ich an diesem Tag kein Wetterglück. Als ich durch die Glastür auf den Bahnhofsvorplatz trat, schlugen mir Wind und Regen heftig ins Gesicht.
Unübersehbar und in eindrucksvoller Größe erschien unvermittelt vor mir der gewaltige Dom, dessen Anziehungskraft mich sofort in seinen Bann zog.
Ich folgte dem Ruf der Glocken, die die graue Wetterwand und die dadurch noch dunkler wirkende Fassade des Doms machtvoll durchdrangen. Doch zuerst musste ich die Treppen hinaufsteigen, mich zwischen den mit bunten Regenschirmen bewaffneten asiatischen Touristengruppen hindurchschlängeln, um im Dom Schutz vor Regen und Wind zu finden. Davor, neben einem Abfallbehälter, lag wie eine tote Krähe ein zerfledderter Regenschirm; er konnte seinen Zweck nicht mehr erfüllen. Auf einen Spaziergang hatte ich bei diesem Wetter keine Lust und öffnete die massive Tür am nächstgelegenen Seiteneingang.
Die Höhe der Kuppel wirkte Respekt einflößend auf mich. Feierliches Glockengeläut erfüllte den gesamten Innenraum – es bildete den angemessenen akustischen Rahmen für eine Hochzeit, die gerade dort stattfand. Um nicht zu stören und um selbst nicht gestört zu werden, wandte ich mich nach dem Eingang gleich nach links in die Abgeschiedenheit der etwas versteckten Gruppe von Bänken. Dort hatte ich den vielfachen Schein der Teelichter zwischen mir und dem Altar, vor dem die Trauung zelebriert wurde.
Nach wenigen Minuten verlor ich mich in Gedanken, die sich mit Fragen beschäftigten, auf die ich momentan keine Antwort hatte.