Buchinfo
Nike liebt das Leben anderer Menschen: Sie liest die Nachrichten fremder Leute in der U-Bahn mit, blickt durch die leuchtenden Augen der Werbeplakatkinder und versinkt in den Filmen, die sie zusammen mit ihren Freundinnen schaut. Kein Wunder, dass sie voll im Glück ist, als sie an einer Schauspielschule aufgenommen wird. Auf der Bühne kann sie jede Person sein, jedes Gefühl spüren und das Leben anderer leben. Doch als Nike Jasper begegnet, sind es auf einmal ihre eigenen Gefühle, mit denen sie sich auseinandersetzen muss: Herzklopfen, Schmetterlinge im Bauch und ein erhöhter Puls – und das eben nicht nur auf der Bühne. Aber dieses Mal gibt es kein Drehbuch, das ihr verrät, ob es ein Happy End geben wird …
Autorenvita
© Muriel Koch
Karolin Kolbe, 1993 in Kassel geboren, denkt sich Geschichten aus, seitdem sie Kassetten aufnehmen und Buntstifte halten kann. Mit der Grundschulzeit begann das Aufschreiben und lässt sie nun nicht mehr los. Nach ihrem Abitur zog sie für ein Freiwilliges Ökologisches Jahr nach Berlin, wo sie nun studiert. Die Autorin liebt interessante Menschen, gute Gespräche, spannende Bücher und Filme, bunte Farben, blühende Natur und die Sonne.
www.karolin-kolbe.de
Mit großem Dank an die WG von Alexandra, Florian und Max und die Möglichkeit, ein bisschen in das Leben werdender Schauspieler*innen zu blicken.
Mein größtes Talent besteht darin, das Leben anderer Leute zu leben.
Wenn ich Bus fahre, lese ich die Nachrichten mit, die fremde Menschen in ihre Handys tippen. In der U-Bahn höre ich aufmerksam zu, sobald jemand diskret versucht, ein Telefonat zu führen. Betrachte ich Werbeplakate, kann ich die Straße durch die Augen der abgebildeten Models sehen und wenn eine Freundin Liebeskummer hat, weine ich manchmal mehr als sie selbst.
Wenn man mich dann aber fragt, was ich so für ein Mensch bin, was mir gefällt und was mir in meinem Leben wichtig ist, dann werde ich stumm, beginne zu stottern oder ziehe mich mit einer Gegenfrage aus der Affäre. Ich habe nie bemerkt, dass ich so bin. Bis sich diese Fähigkeit als unfassbarer Vorteil entpuppte.
Es begann mit einer Wette. Ich saß im Bus, ein Buch auf den Knien und Kopfhörer in den Ohren. Ich hatte das Buch schon mindestens drei Mal gelesen, denn beim Lesen begleitet mich das Gefühl, mit jedem Mal könnte ich die Protagonistin besser verstehen, mich in sie reinfühlen, ein Stück weit sie werden. Auf das Buch konnte ich mich kaum konzentrieren. Viel spannender war die Nachricht, die die rothaarige Frau auf dem Sitz vor mir in ihr Smartphone tippte. Bin gleich zu Hause, Schatz. Hast du schon Mittag gegessen?
Schrieb sie an ihren Mann, Freund, Freundin, Sohn, Tochter? Aufmerksam blickte ich auf das große Display.
Nudeln mit Tomatensoße. Ist noch etwas übrig, wenn du Hunger hast.
Hm, das war ein Essen, das auch jedes Kind zubereiten konnte.
Alles klar. Bis später! Und nicht zu viel Computerspielen!
Vermutlich wirklich ihr Kind.
Der Bus ruckelte, als er über Kopfsteinpflaster fuhr und das Buch rutschte zu Boden. Ich ließ mich auf die Knie sinken und kroch zwischen die Sitze, bis ich es mit meinen Fingerspitzen erreicht hatte und hochzog. Dann setzte ich mich wieder auf meinen harten Sitz und versuchte, mein langes Haar in Ordnung zu bringen.
Ob sie wohl von der Arbeit nach Hause kam? Vielleicht war sie Künstlerin. Die bunte Jacke würde passen. Sie war sicher alleinerziehend und ihre Kinder, vielleicht zwei, kochten häufig mittags. Sie hatte sich von ihrem Mann getrennt, weil er ein egozentrischer Filmregisseur war, der sich weder für sie noch für die gemeinsamen Kinder interessiert hatte, und jetzt führte sie endlich das emanzipierte Leben, das sie für ihn aufgeben musste: eine selbstständige Schmuckdesignerin, die ihren Lebensunterhalt verdiente und ihre Kreativität vollkommen ausleben konnte. Eine wirklich spannende Frau!
Beim Nachdenken darüber, was sie wohl für ein Leben führte, verpasste ich fast meine Haltestelle. Als ich aus der Bustür stürzte, sah ich gerade noch, dass meine Künstlerin ein junger Mann mit langen Haaren und einem Stethoskop um den Hals war.
Ich bin den Weg von der Haltestelle bis zu Coras Haus bestimmt schon über tausend Mal gelaufen. Unsere Mütter kennen sich noch aus dem Geburtsvorbereitungskurs, arbeiten in derselben Schule und feiern ihre Geburtstage zusammen, weil sie nur einen Tag auseinanderliegen. Meistens ist es eine Sommergrillparty am Abend für meine Mutter und ein Reinfeiern für Coras Mutter. Bis zur vierten Klasse waren Cora und ich gemeinsam in einer Grundschulklasse, doch dann ging sie aufs Gymnasium und ich auf eine Gesamtschule. Befreundet waren wir seitdem trotzdem noch. Mit Helene, Coras Nachbarin, bildeten wir ein ganz gutes Dreiergespann.
Ich streifte mit den Fingerspitzen die kahlen Ästchen der Hecke – in meinen Ohren die Musik von Kill Bill, meine Schritte im Takt der Musik.
Cora wohnte ein wenig am Stadtrand, umgeben von Bäumen und anderen großen Häusern. Die Leute hier hatten Geld, das sah man schon den Gartenzäunen und Briefkästen an, und auch beim Haus von Coras Eltern wird sofort klar, dass sie sich um Finanzielles keine Sorgen machen müssen.
Als ich ankam, nahm ich die Stöpsel aus den Ohren und packte mein Handy sorgfältig in die Tasche. Ich atmete tief durch und schloss kurz die Augen, bevor ich auf den Klingelknopf drückte. Manchmal brauchte ich einen Moment, ehe ich mich wieder in der Welt der anderen zurechtfand.
Cora und Helene saßen bereits auf dem Sofa, eine Tasse Kakao in der Hand, in Decken geschlungen und einen Haufen DVDs auf dem Wohnzimmertisch vor sich. Sie kicherten über irgendetwas, und als ich reinkam, rief Helene: »Nike! Meine göttliche Sportskanone!«
Ich ließ mich nur zu einem matten Lächeln herab. Scherze über meinen Namen begleiteten meinen Alltag, seitdem Boris aus der ersten Klasse beim Sportunterricht mit seinen Nike-Turnschuhen prahlte. Während mein Vater meinte, ich solle stolz darauf sein, nach der griechischen Siegesgöttin benannt zu sein, bestand die Realität eher aus Witzeleien über die englische Aussprache meines Vornamens und meiner dazu im Kontrast stehenden Unsportlichkeit. Anstrengend, aber nicht bösartig.
Cora war bereits dabei, die DVD-Hüllen hin und her zu schieben. »Worauf habt ihr Lust: Liebesschnulze, Art House, oder amerikanischer Tanzfilm?«
Obwohl wir nicht dieselbe Schule besuchten, trafen wir drei uns regelmäßig zu DVD-Abenden. Wahrscheinlich sind sie das, was ich am ehesten als beste Freundinnen bezeichnen könnte. Objektiv würde ich aber sagen, wir haben die Beziehungen von guter Bekanntschaft oder entfernterer Freundschaft.
Ich war für Art House, die anderen für den amerikanischen Tanzfilm. Somit wurde ich überstimmt, doch das war nicht schlimm. Eigentlich mochte ich alle Filme, denn jeder Film hat immer eine Rolle, zu der ich mir eine Hintergrundgeschichte, ein Vorleben ausdenken kann.
Helene drückte mir einen Kakao in die Hand und schmiss mir eine Decke rüber.
»Nicht kleckern!«, sagte Cora, während sie die DVD einlegte. »Meine Mutter bringt mich sonst um!«
Die Sofagarnitur war schneeweiß und ich beugte mich lieber Richtung Glastisch, um auf keinen Fall Schokoladenflecken zu hinterlassen.
Coras perfekt geschnittener hellblonder Bob hob sich kurz, als sie sich zurück zum Fernseher drehte, ein riesiger Flachbildschirm, der jeder Kinoleinwand Konkurrenz machte.
»Bereit?«
Helene nickte begierig, schob ihre Brille auf die Nase und grapschte nach ihrer Tasse, deren Inhalt gefährlich bis zum Rand schwappte.
Cora drückte auf Play und die nächsten zwei Stunden dröhnten Hip-Hop-Beats aus allen vier Ecken des Raumes, und ich war vollkommen versunken in die Welt der Tänzerin, die ihrem Traum, mit New Yorker Straßenkindern zu tanzen, trotz aller Widrigkeiten nachging.
Erst als der Abspann des Filmes über den Bildschirm lief, erwachte ich aus der Trance, die mich jedes Mal ergreift, sobald ich in eine Geschichte gesogen werde. Noch immer hatte ich meine Kakaotasse in der Hand, aber seit den ersten Tönen der Musik nichts mehr getrunken. Jetzt war der Kakao kalt und trotzdem noch lecker.
»Wow!«, sagte Helene beeindruckt und schüttelte ihren blonden Lockenkopf.
»Sie ist so cool!«
»Ja«, erwiderte Cora und zupfte an ihrem geraden Pony, »sie ist auch im echten Leben supercool: Schauspielerin, Choreografin, Tänzerin, Model …«
Cora hatte schon immer davon geträumt, irgendwann einmal reich und berühmt zu sein und verschlang jede Promi-Zeitschrift, die sie in die Finger bekam. Reich war sie ja immerhin schon.
»Und wie!«, entgegnete Helene ehrfürchtig und konnte den Blick noch nicht vom Abspann losreißen. »Es muss so toll sein, zu leben wie sie.«
Ich konnte mit dem Gerede der beiden wenig anfangen und deshalb schwieg ich. Für mich bedeutete Schauspiel etwas anderes als für die beiden: Sie sahen darin Glanz, Glamour und Berühmtheit. Für mich bedeutete es mein einzig wirkliches Hobby.
Jetzt wandte sich Cora an mich: »Sag mal, Nike, was ist mit dir, möchtest du nicht auch Schauspielerin werden?«
Ich dachte kurz nach. »Klar, ich spiele gerne Theater. Und ich mag Filme. Aber ich glaube, das ist nicht das Gleiche.«
Coras Augen leuchteten auf, ein Zeichen dafür, dass sie eine neue Idee hatte. »Du hast doch jetzt nichts mehr zu tun nach deinem Fachabi. Werde doch Schauspielerin. Das passt perfekt zu dir!«
»Ach Quatsch«, meinte ich und lächelte, »das sagst du jetzt nur, weil du von dem Film so begeistert bist.«
»Nein, nein, ich meine es ernst!« Sie schob die Decke beiseite und richtete sich auf. »Weißt du noch, Helene, als sie die Antigone gespielt hat? Und das Gretchen? Oder diese Frau, die sich als Mann verkleidet, diese … na …«
»Viola aus Shakespears Was ihr wollt?«, half ich ihr.
»Ja, genau!«
Jetzt geriet Cora richtig in Ekstase. »Oder, als ihr diesen Kurzfilm gedreht habt, im Medienkurs. Du bist genial, Nike! Du hast fast immer Hauptrollen gespielt und alle so anders! Du … du kannst es einfach!«
Ich lächelte ein wenig geschmeichelt. Vor allem hatte ich einfach Spaß an jeder Rolle, die ich bisher gespielt habe. Wahrscheinlich würde ich jede Rolle lieben.
»Na ja …«, druckste ich herum und vergrub mich tiefer in meiner Decke.
»Sie ist doch genial, oder, Helene?«, meinte Cora und stieß sie in die Rippen, sodass ihr die Salzstange aus der Hand fiel und in die Sofaritze krümelte, doch Cora bemerkte das nicht.
»Absolut! Du bist genial!«, schmatzte Helene und sah mir fest in die Augen.
»Siehst du!«, rief Cora und lachte. »Wäre es nicht fantastisch, wenn wir irgendwann hier sitzen und Filme schauen, in denen du mitspielst?!«
»Ich …«
»Du siehst so besonders aus mit deinen roten Haaren und deiner Gazellenfigur! Dich erkennt jeder wieder! Und du lernst schnell auswendig.«
Jetzt schaltete sich auch Helene ein: »Und vor allem hast du im Moment eh nichts zu tun. Oder hast du dir inzwischen überlegt, wo du eine Ausbildung machen willst oder was für ein Studiengang dich interessiert?«
Wunder Punkt.
Seit meinem Fachabi im letzten Frühjahr arbeitete ich in einem kleinen Buchladen. Das machte mir Spaß, ich konnte träumen und stundenlang Bücher einräumen. Und doch hatte ich in den letzten Wochen schon öfter überlegt, mir Gedanken um eine Ausbildung oder ein Studium zu machen.
»Stimmt, so wirklich weiß ich immer noch nicht, was ich machen will«, gab ich zu. »Aber jeder weiß doch, wie viele Leute sich an Schauspielschulen und -unis bewerben und dass sehr wenige genommen werden.«
»Egal«, meinte Cora, »versuch es doch. Bitte, bitte!«
»Nur bei einer einzigen Schule«, bettelte Helene.
»Nur ein einziges Mal«, kam von Cora.
»Trau dich doch! Du darfst auch die nächsten zehn Filme aussuchen! Wetten wir, dass du genommen wirst?« Helene war völlig aufgeregt.
Beide sahen mich gespannt an. Sie wollten, dass ich diesen Traum für sie lebte. Und ich lebte gerne die Träume und Geschichten der anderen.
Ich seufzte: »Na gut. Aber nur bei einer einzigen Schule!«
Da es noch immer früh am Nachmittag war, begannen die beiden gleich das Internet nach Schauspielschulen zu durchforsten. Bald wurden sie fündig.
»Hier endet die Bewerbungsfrist am 20. November. Das ist nächste Woche!« Cora überflog die Seite. »Du musst nur ein Motivationsschreiben verfassen, einen Lebenslauf einreichen und ein Foto mitschicken. Das ist ja leicht! Das machen wir jetzt sofort alle zusammen.«
Und dann schrieben die beiden mein Motivationsschreiben.
Als ich am späteren Abend Coras Haus verließ, lächelte ich ein wenig und schüttelte den Kopf. Solange Cora und Helene Spaß gehabt hatten, war alles in Ordnung. Hauptsache, sie erwarteten nicht, dass ich noch irgendetwas von dieser Schule hören würde. Und doch: Für einen halben Tag war der Gedanke wirklich schön gewesen.
Auf dem Weg nach Hause lief ich an einem Werbeplakat für einen Baumarkt vorbei. Der muskulöse Mann in seiner blauen Latzhose hielt einen Spaten in der Hand und blickte über seinen perfekten Rasen.
Wie war es wohl, so muskulös zu sein? War er sehr stark oder waren es nur solche aufgeblasenen Muskeln, die eigentlich keine echte Kraft besaßen? Oder war es doch einfach Photoshop? Ich selbst war immer sehr dünn gewesen, aber nie muskulös, sondern eher etwas ungelenk und unsportlich. Nur auf der Bühne, dort bewegte ich mich tatsächlich anders. Da ich aber schon ein halbes Jahr aus der Schule raus war, hatte ich seitdem auch nicht mehr gespielt.
Ich versuchte mir vorzustellen, wie man sich als muskulöser Heimwerker bewegte, drehte die Ellenbogen weit nach außen und lief etwas breitbeinig durch die Straßen, als würden meine Schultern meine Arme ein Stück vom Oberkörper fernhalten und meine Oberschenkel sonst aneinanderreiben.
Ich beendete die Bewegung erst, als ich den Schlüssel in die Haustür steckte und umdrehte.
Der Geruch von Bratkartoffeln empfing mich. Das hieß, dass mein Vater zu Hause war. Ich zog die Schuhe aus und schmiss sie neben die Treppe, die zu meinem Zimmer führte. Es war auf jeden Fall schon weit nach der Abendessenszeit, aber meistens saß mein Vater danach noch im Wohnzimmer, hörte Musik oder las ein Buch.
Ich hängte meine Jacke neben die meiner Eltern und klopfte an der Wohnzimmertür. Als niemand antwortete, drückte ich die Klinke runter.
Mein Vater saß in seinem Lieblingssessel neben dem Bücherregal, seine dicken Kopfhörer auf dem grauen Haar und die Lesebrille weit auf die Nasenspitze geschoben. Er hielt ein Buch in den Händen und bemerkte erst, dass ich da war, als ich mit meiner Hand vor seinen Augen herumwedelte.
Da lächelte er mich an und nahm die Kopfhörer ab. »Guten Abend, Nike«, sagte er und klappte sein Buch zu. Griechische Mythen. Mein Vater ist ein bisschen wie ich: Je öfter er ein Buch liest, desto besser findet er es.
»Hallo, Papa.« Ich zog mir einen Stuhl heran und setzte mich neben ihn.
Er strich mir kurz über den Kopf und fragte: »Hattest du einen schönen Nachmittag?«
»Jap! Ich hab mit Cora und Helene einen Film geguckt.«
»Das war bei dem grauen Wetter sicherlich eine gute Idee.«
Mein Vater sieht ein bisschen aus wie ein alter Kater: Er hat dichtes graues Haar, breite Hände und grüne Augen, wie ich. Als Kind war es mir oft unangenehm, dass er so früh ergraute, obwohl er fast zehn Jahre jünger ist als meine Mutter. Jetzt finde ich, dass er sehr weise aussieht.
Ich sah mich um. »Wo ist denn Mama?«
»Die hat Lehrerkonferenz und kommt spät. In der Küche stehen noch Bratkartoffeln«, entgegnete er. »Ich habe auch Ketchup gemacht.«
Ich merkte, dass ich hungrig war. Und ich liebe den selbst gemachten Ketchup meines Vaters.
Ich flitzte vom Wohnzimmer in die kleine Küche und kratzte die Reste aus der Pfanne zusammen, ertränkte die Kartoffeln fast in dem Ketchup und griff nach einer Gabel. Als ich zurück zu meinem Vater kam, hatte er seine Mythen wieder aufgeschlagen.
»Lecker«, seufzte ich, nachdem ich das Essen probiert hatte. Eine Weile aß ich, er las. Dann nuschelte ich: »Cora und Helene meinen, ich sollte Schauspielerin werden.«
Mein Vater hob den Kopf und nickte lächelnd. »Ich finde, das ist eine grandiose Idee.«
In den darauffolgenden Tagen vergaß ich die Bewerbung. Ich arbeitete in dem Buchladen, träumte vor mich hin. Zum Glück machten mir meine Eltern keinerlei Druck, was meine Zukunft, eine Ausbildung oder ein Studium anging. Das war schon immer so. Und ich wusste ja, dass ich mit achtzehn sehr jung war. Ich hatte alle Zeit der Welt und die nahm ich mir.
Bei Cora war das ganz anders. Ihr Vater wollte, dass sie Herzchirurgin wurde, so wie er. Ihre Mutter wünschte sich ein Au-pair-Jahr in Australien für ihre Tochter. Und was Cora sich wünschte, das wusste sie selber nicht.
Der Brief kam daher völlig unerwartet. Ich lief von der Arbeit nach Hause und hatte ein neues kostenloses Leseexemplar abgestaubt, mit dem ich mich sofort in mein Zimmer zurückziehen wollte. Ich kaufte mir beim Bäcker noch ein Stück Streuselkuchen und würde mir gleich einen Tee kochen und die Zeit genießen, in der ich das Haus noch ganz für mich hatte. Als ich routiniert in den Briefkasten schaute und die Post mit reinnahm, sah ich ihn zunächst nicht. Erst als ein einziger Umschlag aus dem Stapel fiel und von der kleinen Ablage unter dem Spiegel zu Boden flatterte, las ich meinen Namen. Nike Reitmeier.
Verwundert stellte ich meine Tasche und das Papierpäckchen mit dem Kuchen auf dem Boden ab und drehte den Umschlag. Als ich das Logo der Schauspielschule erkannte, schlug mein Herz kurz höher. Komisch, schließlich hatte ich in den letzten Tagen nicht mehr an meinen kleinen Ausflug in die Traumwelt der Schauspielerei gedacht. Dennoch wurden meine Finger etwas feucht. Sicher eine Absage!
Als ich die Zeilen überflog, stutzte ich. Sie luden mich zum Vorsprechen ein. Zwei Monologe sollte ich vorbereiten, bei Bedarf ein Lied singen und wenn ich wollte, Requisiten mitbringen. Ich schüttelte den Kopf. Dann rief ich Cora an.
»Hast du denn nicht auf der Homepage gelesen, dass jeder Bewerber und jede Bewerberin eingeladen werden? War doch klar, dass du jetzt vorsprichst.«
»Nein … hab ich nicht«, entgegnete ich langsam. Hätte ich das gewusst, hätte ich mich sicher nicht darauf eingelassen.
»Ach ja, die zwanzig Euro Gebühr, die du als Aufwandsentschädigung bei dem Vorsprechen zahlen sollst, die übernehme ich natürlich.«
Ich schluckte. »Wie großzügig.«
Ich verbrachte den ganzen Nachmittag in meinem Zimmer, saß auf dem Teppich und grübelte. Ich hatte Angst. Was, wenn ich doch hinging? Wenn sie mich ganz furchtbar fanden, mir deutlich machten, wie untalentiert ich sei und was ich mir einbildete, ihre Zeit zu verschwenden? Ich könnte für immer die Lust am Schauspiel verlieren. Andererseits: Würde ich wirklich so viel verlieren? Mich womöglich ärgern, wenn ich nicht hinging?
Ich kam nicht vor und nicht zurück. Als mein Handy auf dem Schreibtisch vibrierte, schreckte ich zusammen. Eine SMS von meinem Vater. Meine Tante hatte ihm fürs Theater abgesagt und nun fragte er, ob ich Lust hätte, am Abend Medea mit ihm zu sehen. Natürlich hatte ich Lust.
Das Theater ist für mich das größte Hinwegfliegen aus dieser Welt, das ich kenne. Ich werde regelrecht aus meinem Sitz gerissen und bin nicht mehr ich.
Noch stärker als beim Film fühlte ich mich plötzlich als Medea, als ihre Kinder, als all ihre Feinde. Die Schauspielerin auf der Bühne zu sehen, das fühlt sich manchmal noch realer an als auf der Leinwand.
In der Pause stand ich dann mit hochroten Wangen neben meinem Vater im Foyer und knabberte an einer Laugenbrezel. Die Bilder des Stückes, der Brief vorhin, der Traum, der ja eigentlich Coras und Helenes war, durchmischte sich in meinem Kopf zu einem undurchschaubaren Wirrwarr.
Ich bemerkte meinen Vater kaum, als er fragte: »Nike, ist alles in Ordnung?«
Erst als er mich sanft an der Schulter berührte, sah ich ihn an. »Ich … äh… was?«
Er lächelte und trank einen Schluck Limonade. »Ob alles in Ordnung ist, habe ich gefragt.«
Ich überlegte. War es das?
»Ja«, sagte ich dann, »ich glaube schon.«
Er blickte mich fragend aus seinen grünen Augen an. Nicht fordernd, aber neugierig.
»Ich … bin zu einem Vorsprechen einer Schauspielschule eingeladen, obwohl es eigentlich nur eine blöde Wette und gar nicht meine Idee war«, platzte ich dann heraus.
Mein Vater nickte ernsthaft. Ich sah, dass sein Mundwinkel leicht nach oben zuckte, doch er bemühte sich um einen neutralen Gesichtsausdruck. Kein Kommentar, nur Raum, der zu füllen blieb. Von mir.
»Ich liebe es, ins Theater zu gehen. Und Theater zu spielen. Ich liebe Filme, die weichen Sessel im Kino und die Projekte in der Schule, bei denen ich vor der Kamera stand. Aber ich weiß nicht, ob ich dort vorsprechen sollte, wenn ich eh nicht genommen werde. Das macht mich nur traurig. Oder?«
»Hättest du denn Lust, an dieser Schauspielschule zu lernen?«
Ich pulte Salzkörner von meiner Brezel. Die Menschen um uns herum waren nicht mehr als eine rauschende Masse, die verschwommen um uns herumschwappte.
»Ja. Aber ich muss Monologe heraussuchen und die vorbereiten. So etwas habe ich doch noch nie gemacht!«
»Nike, du kennst so viele Stücke, hast schon einige Rollen gespielt«, warf mein Vater ein und trank die Limonade aus. »Wenn du willst, dann helfe ich dir beim Aussuchen.«
Der Gong ertönte. Das Rauschen um uns herum wurde lauter, die verschwommene Masse setzte sich in Bewegung.
»Ja«, meinte ich, »ja, ich denke, das wäre gut.«
Und dann sahen wir uns die zweite Hälfte des Stücks an, bei deren Ende ich tränenüberströmt in meinem Sessel kauerte.
In der darauffolgenden Nacht konnte ich nicht schlafen. Wieder und wieder überlegte ich, welchen Sinn es machte, zu der Prüfung zu gehen. Ich hatte nie darüber nachgedacht, eine Ausbildung zur Schauspielerin anzufangen. Und jetzt, wo ich wusste, dass alle zunächst eingeladen wurden, da war die Gewissheit eines Fehlschlags noch größer.
Andererseits würde ich nie vergessen, diesen mir zufällig geschenkten Gedanken ignoriert zu haben. Ich knipste das Licht an und setzte mich auf meinem Hochbett auf. Das Bücherregal neben meinem Schreibtisch war voll mit kleinen gelben Heftchen.
Cora und Helene, die sich in der Schule durch jedes Drama quälen mussten, fanden es zwar seltsam und wunderten sich, dass ich die laut ihnen verstaubten Stücke freiwillig las. Aber ich war nun mal anders als sie.
Mein Vater erzählte mir die Geschichten, seitdem ich ganz klein war, und irgendwann hatte ich begonnen, sie selbst lesen zu wollen. Gerade von den antiken Stücken habe ich viele von meinem Vater bekommen, bereits mit seinen Markierungen versehen. Einen Monolog zu finden, sollte daher kein Problem sein, aber in dem Brief stand, dass der zweite modern sein sollte.
Ich flocht mir das rote Haar zu einem lockeren Zopf und warf ihn mir über die Schulter. Ich blickte auf meinen Wecker. Kurz nach drei. Draußen war es stockdunkel, nur der Weihnachtsstern, den die Nachbarn das ganze Jahr über hängen ließen, leuchtete rot in der Dunkelheit. Ich war hellwach, schlafen konnte ich jetzt vergessen. Schnell kletterte ich die Holzleiter herunter und übersprang die letzten zwei Sprossen, sodass meine Füße laut auf dem Holzboden aufkamen. Ich hielt kurz inne. Meine Mutter hatte einen leichten Schlaf, hoffentlich war sie nicht aufgewacht. Dann knipste ich die Deckenbeleuchtung an und besah mein Bücherregal. Ich griff nach Medea, König Ödipus, Antigone, aber auch nach Was ihr wollt und Woyzeck.
So arbeitete ich mich Stunde um Stunde durch die Dramen, markierte Szenen, verwarf Ideen und las einzelne Passagen halblaut vor. Um kurz vor acht am nächsten Morgen schlug ich Woyzeck zu. Ich hatte mich entschieden: Antigone sollte meine erste Rolle sein, die hatte ich schon mal gespielt. Mein lautes Gähnen zeigte mir, dass ich wirklich müde war. Ich beschloss, noch ein wenig in Antigone zu lesen und mich zurück ins Bett zu legen. Vor meinem Fenster war es inzwischen hell geworden und der Weihnachtsstern gegenüber schien nun blass im Gegensatz zum Sonnenlicht.
Ich kuschelte mich auf meinem Hochbett in eine Decke und schlug Sophokles’ Werk auf. Nach der zweiten Seite merkte ich, wie meine Augenlider schwerer wurden und irgendwann sank ich über dem Buch zusammen und schlief ein. Zum Glück war Samstag.
Gegen zwölf tappte ich nach unten in unser Wohnzimmer. Meine Eltern saßen noch am Frühstückstisch, meine Mutter mit der Zeitung in der Hand und einem halb gegessenen Marmeladenbrot vor sich, mein Vater wieder mit seinen Mythen auf den Knien und eine Tasse dampfenden Kaffee in der Hand.
Als ich reinkam, blickten sie beide auf.
»Guten Morgen, Nike.« Meine Mutter lächelte und legte die Zeitung neben ihren Teller.
Ich setzte mich zu ihr und sie drückte mir einen Kuss auf die Wange. »Du hast aber lange geschlafen«, meinte sie und biss von ihrem Brot ab.
»Ich habe heute Nacht lange gelesen«, entgegnete ich und schenkte mir Orangensaft ein. Der frische Geschmack belebte meine trockene Zunge und ich atmete tief durch – einen Augenblick lang kam ich mir vor wie in der Fernsehwerbung, die ich neulich mal gesehen hatte. Da hatte die Zunge der Frau dann tatsächlich Farbe und Poren von einer Orangenschale angenommen. Ich stellte mir vor, wie sich das anfühlen musste.
Mein Vater sah vielsagend zu mir herüber, verriet aber nichts.
Ich wusste, was er dachte. Und ich wusste, dass er nichts sagen würde, ehe ich das nicht selbst tat.
»Mama …«, begann ich, »ich muss dir noch etwas erzählen.«
Überrascht ließ sie das Brot sinken und sah mich an. »Ist es etwas Ernstes? Du klingst so bedeutungsvoll.«
Ich lachte und wunderte mich selbst darüber. »Nein, eigentlich nicht. Es ist nur so, dass Cora und Helene es witzig fanden, mich an einer Schauspielschule anzumelden.