Cassandra Clare/Sarah Rees Brennan/
Maureen Johnson

DIE CHRONIKEN
DES
MAGNUS BANE

Aus dem Amerikanischen
von Ulrike Köbele

 

 

 

 

 

 

Cassandra Clare
wurde in Teheran geboren und verbrachte die ersten zehn Jahre ihres
Lebens in Frankreich, England und der Schweiz. Ihre Reihe Chroniken der
Unterwelt
sowie die Trilogie Chroniken der Schattenjäger wurden auf Anhieb
zu internationalen Erfolgen, ihre Bücher stehen weltweit auf den Bestsellerlisten.
Cassandra Clare lebt mit ihrem Mann, ihren Katzen und einer
Unmenge an Büchern in einem alten viktorianischen Haus in Massachusetts.

Maureen Johnson
wurde 1973 während eines Schneesturms geboren. Sie hat an der
Columbia University Dramaturgie und Kreatives Schreiben studiert.
Seitdem arbeitet sie in New York als freie Autorin und schreibt überaus
erfolgreich Romane für Jugendliche.

Sarah Rees Brennan
wuchs in Irland direkt am Meer auf, wo sie in der Schule unterm Tisch
lieber Bücher las, als dem Unterricht zu folgen. Nach Aufenthalten in New
York und England kehrte sie zum Schreiben nach Irland zurück, das sie für
eine gute Basis für weitere Abenteuer hält.

 

Weitere Titel von Cassandra Clare im Arena Verlag:
Chroniken der Unterwelt:
City of Bones
City of Ashes
City of Glass
City of Fallen Angels
City of Lost Souls

Alle Titel sind auch als Hörbuch erhältlich.

Chroniken der Schattenjäger:
Clockwork Angel – illustriert von Hye Kyung Baek
Clockwork Prince
Clockwork Princess

Clockwork Angel ist auch als Hörbuch erhältlich.

Cassandra Clare/Joshua Lewis:
Der Schattenjäger-Codex

Legenden der Schattenjäger-Akademie ist eine weitere
Ebook-Serie von den Autorinnen Cassandra Clare/Sarah Rees Brennan/
Maureen Johnson/Robin Wasserman

 

 

1. Auflage als Sonderausgabe 2015
Die Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel The Bane Chronicles
bei Margaret K. McElderry Books, einem Imprint der
Simon&Schuster Children’s Publishing Division, New York.
Copyright ©2013 by Cassandra Claire, LLC
Für die deutschsprachige Ausgabe:
©2014 Arena Verlag GmbH, Würzburg
Alle Rechte vorbehalten
Aus dem Amerikanischen von Ulrike Köbele
Umschlaggestaltung: Frauke Schneider
Umschlagtypografie: KCS GmbH · Verlagsservice &
Medienproduktion, Stelle/Hamburg
ISSN 0518-4002
ISBN 978-3-401-80334-0

www.arena-verlag.de
Mitreden unter www.forum.arena-verlag.de
www.chroniken-der-unterwelt.de

INHALT

1. Cassandra Clare/Sarah Rees Brennan:
Was geschah tatsächlich in Peru?

2. Cassandra Clare/Maureen Johnson:
Die Flucht der Königin

3. Cassandra Clare/Sarah Rees Brennan:
Vampire, Scones und Edmund Herondale

4. Cassandra Clare/Sarah Rees Brennan:
Tochter der Finsternis

5. Cassandra Clare/Maureen Johnson:
Der Aufstieg des Hotel Dumort

6. Cassandra Clare/Sarah Rees Brennan:
Die Rettung Raphael Santiagos

7. Cassandra Clare/Maureen Johnson:
Der Niedergang des Hotels Dumort

8. Cassandra Clare/Sarah Rees Brennan:
Was schenkt man einem Schattenjäger, der schon alles hat?

9. Cassandra Clare/Sarah Rees Brennan/Maureen Johnson:
Der letzte Kampf des New Yorker Instituts

10. Cassandra Clare:
Der Fluch wahrer Liebe (und erster Dates)

11. Cassandra Clare/Sarah Rees Brennan/Maureen Johnson:
Der Anrufbeantworter von Magnus Bane

1. WAS GESCHAH TATSÄCHLICH IN PERU?

Der Tag, an dem der Hohe Rat der Peruanischen Hexenmeister Magnus Bane des Landes verwies, war einer der traurigsten Tage seines Lebens. Das lag nicht allein daran, dass das Bild von ihm auf den Plakaten, die in der peruanischen Schattenwelt herumgereicht wurden, so außerordentlich unschmeichelhaft war. Der eigentliche Grund war, dass Peru einer seiner Lieblingsorte war. Dort hatte er unzählige Abenteuer erlebt und verband viele wunderbare Erinnerungen damit, beginnend mit jenem Tag im Jahre 1791, an dem er Ragnor Fell eingeladen hatte, ihn auf eine fröhliche Sightseeingtour durch Lima zu begleiten.

1791

Magnus erwachte in einer Herberge etwas außerhalb von Lima und machte sich, herausgeputzt mit einer bestickten Weste, Kniebundhosen und glänzenden Schnallenschuhen, auf die Suche nach Frühstück. Stattdessen fand er die Herbergswirtin, eine rundliche Frau, deren langes Haar unter einer schwarzen mantilla verborgen war, tief beunruhigt in einer aufgeregten Unterhaltung mit einem der Serviermädchen über den jüngsten Neuankömmling in ihrem Haus.

»Ich glaube, es ist ein Seeungeheuer«, hörte er die Wirtin flüstern. »Oder ein Wassermann. Können die an Land überleben?«

»Guten Morgen, meine Damen«, rief Magnus. »Das klingt gerade so, als sei mein Gast bereits eingetroffen.«

Beide Frauen blinzelten zweimal. Magnus führte das erste Blinzeln auf sein schillerndes Äußeres zurück und das zweite, langsamere Blinzeln auf das, was er eben gesagt hatte. Mit einem fröhlichen Winken spazierte er durch die breite Holztür nach draußen, durchquerte den Innenhof und betrat den Gemeinschaftsraum, wo er seinen Hexenmeisterfreund Ragnor Fell antraf, der sich mit einem Becher chicha de molle im hintersten Eck des Raumes herumdrückte.

»Ich nehme das Gleiche wie er«, wies Magnus das Dienstmädchen an. »Nein, warten Sie einen Moment. Ich nehme drei davon.«

»Sag ihr, für mich auch«, bat Ragnor. »Ich bin nur mithilfe äußerst energischer Zeichensprache zu diesem Getränk gekommen.«

Magnus tat, wie ihm geheißen, und wandte sich dann wieder Ragnor zu, nur um festzustellen, dass sein alter Freund aussah wie immer: grauenhaft gekleidet, missmutig gestimmt und von tiefgrüner Hautfarbe. Magnus verspürte einmal mehr tiefe Dankbarkeit, dass sein eigenes Hexenmal nicht ganz so offensichtlich war. Gelegentlich konnte es unangenehm sein, die grüngoldenen schlitzförmigen Pupillen einer Katze zu haben, aber diese ließen sich für gewöhnlich problemlos hinter einem kleinen Zauberglanz verbergen, und wenn nicht, nun ja, dann gab es durchaus eine ganze Menge Frauen – und Männer –, die das nicht unbedingt als Nachteil empfanden.

»Kein Zauberglanz?«, erkundigte sich Magnus.

»Du sagtest doch, ich soll dich auf eine Reise begleiten, die du mir als eine endlose Abfolge von Ausschweifungen beschrieben hast«, antwortete Ragnor.

Magnus strahlte. »Allerdings!« Er hielt inne. »Bitte entschuldige. Und was hat das eine mit dem anderen zu tun?«

»Ich habe festgestellt, dass ich in meinem natürlichen Zustand größeren Erfolg bei den Damen habe«, erklärte Ragnor. »Sie schätzen ein gewisses Maß an Abwechslung. Es gab da mal eine Frau am Hofe des Sonnenkönigs, Ludwig des Vierzehnten, die behauptete, niemand könne es mit ihrem ›allerliebsten Kohlköpfchen‹ aufnehmen. Angeblich hat sich das in Frankreich zu einem recht beliebten Ausdruck von Zuneigung entwickelt. Dank mir.«

Er sprach in demselben düsteren Tonfall wie sonst auch.

Als ihre sechs Drinks eintrafen, musterte Magnus sie abschätzend. »Die werde ich alle für mich brauchen. Bitte bringen Sie noch mehr für meinen Freund.«

»Eine Frau hat mich sogar als ihre ›Zuckerschote der Liebe‹ bezeichnet«, fuhr Ragnor fort.

Magnus nahm einen großen, kräftigenden Schluck, blickte hinaus in den Sonnenschein und auf die Drinks vor ihm und fühlte sich mit einem Mal deutlich besser. »Glückwunsch. Und willkommen in Lima, der Stadt der Könige, meine Zuckerschote.«

Nach dem Frühstück, das aus fünf Bechern chicha de molle für Ragnor und siebzehn für Magnus bestand, nahm Magnus seinen Freund Ragnor mit auf einen Spaziergang durch Lima, der sie von der goldenen, mit Schnörkeln und Schnitzereien verzierten Fassade des erzbischöflichen Palais zu den leuchtend bunten Gebäuden auf der anderen Seite der Plaza führte, auf deren ausladenden, quasi obligatorischen Balkonen die Spanier einst Kriminelle hingerichtet hatten.

»Ich dachte, es wäre ganz nett, wenn wir in der Hauptstadt anfangen. Außerdem war ich schon mal hier«, erklärte Magnus. »Vor ungefähr fünfzig Jahren. War eine tolle Zeit, wenn man mal von dem Erdbeben absieht, das beinahe die ganze Stadt in Schutt und Asche gelegt hätte.«

»Hattest du etwas mit dem Erdbeben zu tun?«

»Ragnor«, tadelte Magnus seinen Freund. »Du kannst mir nicht für jede noch so kleine Naturkatastrophe die Schuld in die Schuhe schieben!«

»Du hast die Frage nicht beantwortet«, entgegnete Ragnor mit einem Seufzen. »Ich verlasse mich darauf, dass du … zuverlässiger bist als sonst und dich ein bisschen weniger so aufführst, wie du dich üblicherweise gibst«, mahnte er, während sie weitergingen. »Ich spreche die Sprache hier nicht.«

»Du sprichst also kein Spanisch?«, zog ihn Magnus auf. »Oder meintest du, dass du kein Quechua sprichst? Und wie steht es mit Aymara?«

Magnus war sich nur allzu bewusst, dass er, wo immer er hinkam, fremd war, weswegen er sich bemühte, so viele Sprachen wie möglich zu lernen, damit er alle Orte bereisen konnte, die ihm gerade gefielen. Spanisch war die erste Sprache gewesen, die er gelernt hatte, wenn man von seiner Muttersprache absah. Letztere benutzte er nur noch selten. Sie erinnerte ihn zu sehr an seine Mutter und seinen Stiefvater – an die Liebe, die Gebete und die Verzweiflung seiner Kindheit. Die Sprache seines Heimatlandes lag ein wenig zu schwer auf seiner Zunge, als müsse er jedes Wort, das er aussprach, mit tiefstem Ernst und einer Bedeutung versehen.

(Es gab noch andere Sprachen – Purgatisch, Gehennisch und Tartarisch –, die er zur Verständigung mit den Dämonenwesen erlernt hatte und die er unweigerlich für seine Arbeit brauchte. Aber diese Sprachen erinnerten ihn an seinen leiblichen Vater und das waren noch schlimmere Erinnerungen.)

In Magnus’ Augen wurden Aufrichtigkeit und Ernsthaftigkeit vollkommen überbewertet und das galt auch für alles, das einen zwang, unliebsame Erinnerungen erneut zu durchleben. Viel lieber amüsierte er sich oder andere.

»Ich spreche keine einzige dieser Sprachen, die du genannt hast«, verkündete Ragnor. »Allerdings scheine ich über Kenntnisse in Närrischem Geplapper zu verfügen, schließlich verstehe ich, was du so von dir gibst.«

»Das war verletzend und unnötig«, bemerkte Magnus. »Aber selbstverständlich kannst du dich voll und ganz auf mich verlassen.«

»Lass mich einfach nicht führungslos zurück. Schwöre mir das, Bane.«

Magnus hob die Augenbrauen. »Ich gebe dir mein Ehrenwort!«

»Ich werde dich finden«, drohte Ragnor. »Ich werde jede deiner Truhen finden, in der du deine absurde Kleidung herumträgst. Und dann komme ich mit einem Lama bis in dein Schlafgemach und sorge dafür, dass es auf alles, was du besitzt, uriniert.«

»Kein Grund, gleich ausfallend zu werden«, beschwichtigte Magnus. »Mach dir keine Sorgen. Ich kann dir gleich jetzt alles beibringen, was du wissen musst. Das erste Wort lautet ›fiesta‹.«

Ragnor bedachte ihn mit einem finsteren Blick. »Was heißt das?«

Magnus hob erneut die Augenbrauen. »Das heißt ›Party‹. Das nächste Wort ist ›juerga‹.«

»Und was heißt das?«

Magnus schwieg.

»Magnus«, sagte Ragnor streng. »Heißt das etwa ebenfalls ›Party‹?«

Magnus konnte nicht verhindern, dass sich ein verschmitztes Lächeln auf seinem Gesicht ausbreitete. »Ich würde mich ja entschuldigen«, antwortete er. »Allerdings verspüre ich nicht das geringste Bedauern.«

»Sei doch mal ein bisschen vernünftig«, forderte Ragnor.

»Wir sind im Urlaub!«, protestierte Magnus.

»Du bist immer im Urlaub«, korrigierte Ragnor. »Und das schon seit dreißig Jahren!«

Das stimmte allerdings. Seit dem Tod seiner Geliebten war Magnus nirgendwo mehr sesshaft geworden – sie war nicht seine erste Geliebte gewesen, aber die erste, die mit ihm zusammengelebt hatte und in seinen Armen gestorben war. Magnus hatte oft genug an sie zurückgedacht, sodass es ihn nicht mehr schmerzte, wenn ihr Name fiel. Das Gesicht, an das er sich erinnerte, war wie die vertraute und doch so ferne Schönheit der Sterne: unerreichbar und dennoch stand es ihm jede Nacht leuchtend vor Augen. »Ich bekomme einfach nicht genug vom Abenteuer«, antwortete Magnus leichthin. »Und das Abenteuer bekommt nicht genug von mir.«

Er hatte keine Ahnung, warum Ragnor schon wieder seufzte.

Ragnors misstrauisches Wesen setzte Magnus auf der ganzen Reise zu: Er war menschlich von ihm enttäuscht. So auch, als sie dem Yarinacochasee einen Besuch abstatteten und Ragnor ihn mit zusammengekniffenen Augen fragte: »Sind diese Delfine etwa rosa?«

»Sie waren schon rosa, bevor ich hierhergekommen bin!«, rief Magnus empört. Er dachte kurz nach. »Da bin ich mir fast sicher.«

Sie reisten von costa zu sierra und besichtigten all die Sehenswürdigkeiten, die Peru zu bieten hatte. Am besten gefiel Magnus vermutlich die Stadt Arequipa; sie war wie ein Stück vom Mond, ganz aus Sillargestein gefertigt, im Sonnenschein so blendend weiß und glitzernd wie Mondlicht, das aufs Wasser trifft.

Dort lernten sie übrigens auch eine äußerst attraktive junge Frau kennen, die zu guter Letzt jedoch beschloss, dass sie Ragnor lieber mochte. Magnus hätte in seinem langen Leben als Hexenmeister getrost auf die Erfahrung verzichten können, Teil einer ménage-à-trois zu werden. Genauso wie auf die französisch gehauchte Liebesbekundung »mein süßes fleischfressendes Pflänzchen«, die selbst Ragnor durchaus verstand. Ragnor dagegen wirkte äußerst erfreut und schien es zum ersten Mal nicht zu bereuen, dass er Magnus’ Einladung nach Lima gefolgt war.

Erst als Magnus seinen Freund mit einer weiteren bezaubernden jungen Dame namens Juliana bekannt machte, gelang es ihm, Ragnor aus Arequipa loszueisen. Juliana kannte sich im Regenwald aus und versicherte ihnen, sie zur ayahuasca führen zu können, einer Pflanze mit außergewöhnlichen magischen Eigenschaften.

Den Einsatz dieses speziellen Lockmittels bereute Magnus allerdings schon bald zutiefst, als er dabei war, eine grüne Schneise durch den Regenwald von Manú zu schlagen. Wo immer er hinsah, alles war grün, grün, grün. Selbst sein Reisegefährte.

»Dieser Regenwald gefällt mir nicht«, verkündete Ragnor trübsinnig.

»Weil du nicht so offen für neue Erfahrungen bist wie ich!«

»Nein, weil es hier feuchter ist als in der Achselhöhle einer Wildsau und noch dazu doppelt so schlimm stinkt.«

Magnus strich sich einen feuchten Farnwedel aus dem Gesicht. »Ein ausgezeichnetes Argument, wie ich gestehen muss. Noch dazu ein so anschauliches Bild, und das aus deinem Mund.«

Es war alles andere als komfortabel im Regenwald, keine Frage, trotzdem war es zugleich auch wunderschön. Das saftige Grün des Unterholzes war so ganz anders als der Grünton der zarten Blätter weiter oben an den hochgewachsenen Bäumen. Leuchtend helle, federzarte Pflanzen winkten sachte den faserigen Lianen anderer Pflanzen zu. Immer wieder leuchtete es unvermittelt in dem sie umgebenden Grün auf: Mal waren es Blumen, die wie bunte Farbtupfer hervorstachen, mal waren es plötzliche Bewegungen in den Blättern, die auf die Anwesenheit von Tieren hindeutete.

Magnus hatte es besonders der Anblick der zierlichen Klammeraffen oben in den Bäumen angetan, die mit ihrem glänzenden Fell und den langen Armen und Beinen wie Sterne zwischen den Ästen hingen. Auch die flinken federnden Sprünge der Totenkopfäffchen begeisterten ihn.

»Stellt euch mal vor«, schwärmte Magnus. »Ich mit einem kleinen Affenfreund. Ich könnte ihm Tricks beibringen. Ihm ein drolliges Jäckchen anziehen. Er könnte genauso aussehen wie ich! Nur eben als Affe.«

»Deinen Freund hat offensichtlich das Dschungelfieber erwischt«, verkündete Juliana. »Er ist ja schon völlig verrückt und überdreht.« Magnus war sich nicht ganz sicher, warum er überhaupt eine Reiseleiterin angeheuert hatte, abgesehen davon, dass ihre Anwesenheit Ragnor zu beruhigen schien. Mochten sich andere Leute pflichtschuldigst von Reiseleitern zu unbekannten und potenziell gefährlichen Orten führen lassen – Magnus war ein Hexenmeister und jederzeit bereit, es in einem magischen Kampf mit einem Jaguar-Dämon aufzunehmen, falls nötig. Immerhin würde das eine hervorragende Geschichte abgeben, mit der er einige jener Damen beeindrucken könnte, die sich nicht schon auf unerklärliche Weise zu Ragnor hingezogen fühlten. Oder auch einige der Herren.

Magnus war ganz ins Früchtesammeln und seine Gedanken über Jaguar-Dämonen versunken, als er auf einmal den Blick hob und feststellen musste, dass er seine Reisegefährten verloren hatte – und allein in der grünen Wildnis zurückgeblieben war.

Er hielt inne und bewunderte die Bromelien, riesige, schillernde Blumen, die aussahen wie Schalen, geformt aus Blütenblättern, und bunt schimmerten, wo sie von Wassertropfen benetzt wurden. In den juwelengleich glänzenden Vertiefungen der Blüten saßen kleine Frösche.

Als er wieder aufsah, blickte er in die runden braunen Augen eines Affen.

»Hallo, alter Knabe«, sagte Magnus.

Der Affe gab ein fürchterliches Geräusch von sich, halb Knurren, halb Zischen.

»Schon beginne ich, an der Schönheit unserer Freundschaft zu zweifeln«, erwiderte Magnus.

Juliana hatte sie angewiesen, im Falle eines Aufeinandertreffens mit einem Affen auf keinen Fall zurückzuweichen, sondern ruhig stehen zu bleiben und den Anschein gelassener Autorität zu erwecken. Dieser Affe war um einiges größer als die anderen Affen, die Magnus bisher gesehen hatte. Der Kopf hing tief zwischen den breiten Schultern und er hatte dickes, beinahe schwarzes Fell – ein Brüllaffe, glaubte Magnus zu wissen.

Magnus warf dem Affen eine seiner gesammelten Maracujas zu. Der Affe griff die Marajuca aus der Luft.

»Na bitte«, sagte Magnus. »Ich schlage vor, wir betrachten die Angelegenheit damit als geklärt.«

Der Affe kam näher, wobei er auf bedrohliche Weise auf der Frucht herumkaute.

»Offen gestanden, frage ich mich doch langsam, was ich hier eigentlich suche. Ich bin ein Freund des Stadtlebens, musst du wissen«, bemerkte Magnus. »Die glitzernden Lichter, verlässliche Begleiter, der Zugang zu hochprozentigen Seelentröstern. Das geringe Risiko, plötzlich auf einen Affen zu treffen.«

Er ignorierte Julianas Anweisung, trat umsichtig einen Schritt zurück und warf noch eine Frucht. Diesmal schluckte der Affe den Köder nicht. Er duckte sich und stieß ein rasselndes Knurren aus, woraufhin Magnus gleich mehrere Schritte zurückwich, bis er gegen einen Baum stieß.

Beim Aufprall ruderte Magnus wild mit den Armen und war für einen kurzen Augenblick dankbar, dass niemand ihn sehen konnte, der von ihm erwartete, dass er sich wie ein kultivierter Hexenmeister benahm. Dann griff der Affe an und sprang ihm direkt ins Gesicht.

Magnus schrie auf, machte auf dem Absatz kehrt und raste durch den Regenwald davon. Die gesammelten Früchte einfach fallen zu lassen, kam ihm nicht in den Sinn. So purzelte eine Frucht nach der anderen hinter ihm zu Boden wie ein bunter Wasserfall, während er auf der Flucht vor der animalischen Bedrohung um sein Leben rannte. Er konnte hören, wie der Affe hinter ihm herjagte, und erhöhte das Tempo, bis er sämtliches Obst verloren hatte und Ragnor direkt in die Arme lief.

»Pass doch auf!«, schnauzte Ragnor.

»Zu meiner Verteidigung: Du fügst dich recht gut in die Umgebung ein«, stellte Magnus klar. Dann erzählte er die Geschichte seines fürchterlichen Affenabenteuers zweimal bis ins letzte Detail – einmal auf Spanisch für Juliana und danach Ragnor zuliebe auf Englisch.

»Du hättest sofort vor dem Alphamännchen zurückweichen müssen«, mahnte Juliana. »Bist du völlig verrückt? Du hast wahnsinnig Glück gehabt, dass die Früchte ihn abgelenkt haben, sonst hätte er dir die Kehle durchgebissen. Er dachte, du wolltest ihm seine Weibchen abwerben.«

»Bitte entschuldige, aber wir hatten leider nicht die Zeit, uns über solcherlei persönliche Dinge auszutauschen«, entgegnete Magnus. »Woher sollte ich das denn wissen? Im Übrigen möchte ich euch beiden versichern, dass ich mich diesen Affenweibchen in keinster Weise unsittlich genähert habe.« Er hielt kurz inne und zwinkerte. »Genau genommen habe ich sie noch nicht mal zu Gesicht bekommen, ich hatte also gar keine Gelegenheit dazu.«

Ragnor sah aus, als bereue er zutiefst sämtliche Entscheidungen, die dazu geführt hatten, dass er sich an diesem Ort befand und noch dazu in dieser Gesellschaft. Etwas später beugte er sich vor und zischte so leise, dass Juliana ihn nicht hören konnte, und auf eine Art und Weise, die Magnus unangenehm an seine äffische Nemesis erinnerte: »Hast du vergessen, dass du zaubern kannst?«

Magnus nahm sich die Zeit, ihm über die Schulter einen verächtlichen Blick zuzuwerfen.

»Ich werde ganz sicher keinen Affen verzaubern! Also wirklich, Ragnor. Wofür hältst du mich?«

Sie konnten ihre Zeit jedoch nicht ausschließlich mit Ausschweifungen und Affen verbringen. Irgendwie musste Magnus ihre Gelage auch finanzieren. Aber irgendwo fand sich immer ein Netzwerk der Schattenweltler und er hatte sich schon gleich bei seiner Ankunft in Peru um die nötigen Kontakte gekümmert.

Als eines Tages jemand seine besonderen Fähigkeiten anforderte, nahm er Ragnor einfach mit. Sie gingen im Hafen von Salaverry an Bord, beide in ihre feinsten Gewänder gekleidet. Magnus trug seinen größten Hut, der von einer Straußenfeder geziert wurde.

Edmundo Garcia, einer der reichsten Kaufleute Perus, empfing sie auf dem Vorderdeck. Sein Gesicht war gerötet und er trug eine wertvoll aussehende Soutane, Kniebundhosen und eine gepuderte Perücke. In seinem Ledergürtel steckte eine gravierte Pistole. Er musterte Ragnor mit zusammengekniffenen Augen. »Ist das ein Seeungeheuer?«, fragte er.

»Er ist ein hoch angesehener Hexenmeister«, antwortete Magnus. »Sie erhalten also genau genommen zwei Hexenmeister zum Preis von einem.«

Garcias Reichtum gründete sicher nicht darauf, dass er Schnäppchen ausgeschlagen hatte. Schlagartig ließ er das Thema Seeungeheuer fallen und erwähnte es fortan auch nicht mehr.

»Willkommen«, sagte er stattdessen.

»Mir sind Boote zuwider«, merkte Ragnor an und sah sich um. »Ich werde leicht seekrank.«

Magnus fand es unter seiner Würde, daraufhin einen Witz über grüne Gesichter zu machen. Das war zu einfach.

»Wären Sie vielleicht so freundlich, uns mitzuteilen, worum es bei Ihrem Auftrag geht?«, fragte er stattdessen. »In dem Brief, den Sie mir geschickt haben, stand lediglich, dass Sie meiner besonderen Talente bedürfen. Ich muss jedoch gestehen, dass ich über derart viele Talente verfüge, dass ich mir nicht ganz sicher bin, mit welchem ich Ihnen dienen kann. Selbstverständlich stehen sie Ihnen alle zur Verfügung.«

»Sie sind Fremde in unserem Land«, erklärte Edmundo. »Daher wissen Sie vielleicht nicht, dass Peru seinen derzeitigen Wohlstand in erster Linie seinem wichtigsten Exportartikel verdankt: Guano.«

»Was sagt er?«, erkundigte sich Ragnor.

»Bisher nichts, was dir gefallen würde«, antwortete Magnus. Das Boot unter ihren Füßen hüpfte auf den Wellen. »Bitte entschuldigen Sie. Sie sprachen gerade über Vogelexkremente.«

»In der Tat«, sagte Garcia. »Lange Zeit waren die europäischen Kaufleute diejenigen, die von diesem Geschäft am meisten profitierten. Inzwischen sind jedoch einige Gesetzesänderungen eingetreten, die sicherstellen sollen, dass die Peruaner die Oberhand in diesen Verhandlungen behalten. Auf diese Weise müssen die in Europa ansässigen Kaufleute uns entweder als Partner an ihren Unternehmungen beteiligen oder sich ganz aus dem Guanogeschäft zurückziehen. Eines meiner Schiffe, das eine große Fracht Guano geladen hat, gehört zu den ersten, die seit dem Eintreten der Gesetzesänderungen in See stechen. Ich befürchte daher, dass es zu Übergriffen auf mein Schiff kommen könnte.«

»Sie glauben ernstlich, Piraten wollen Ihre Vogelexkremente stehlen?«

»Was ist los?«, stöhnte Ragnor mitleiderregend.

»Das willst du gar nicht wissen. Glaub mir.« Magnus sah Garcia an. »So vielfältig meine Talente auch sein mögen, bin ich mir doch nicht sicher, ob sie auch die Bewachung von, äh, Guano beinhalten.«

Er hegte zwar seine Zweifel bezüglich der Ladung, aber natürlich kannte er die Angewohnheit der Europäer, über ein Land herzufallen und sich alles, was sie sahen, unter den Nagel zu reißen, als gehöre es fraglos ihnen, sei es Land oder Leute, Produkte oder Personen.

Abgesehen davon hatte er noch nie zuvor ein Abenteuer auf hoher See erlebt.

»Wir werden Sie selbstverständlich angemessen entlohnen«, versicherte Garcia und nannte eine konkrete Summe.

»Oh. Nun, in dem Fall betrachten Sie uns bitte als angeheuert«, antwortete Magnus und dann überbrachte er Ragnor die frohe Kunde.

»Ich weiß ja nicht, was ich von dieser ganzen Sache halten soll«, sagte Ragnor. »Ich weiß noch nicht mal, woher du diesen Hut hast.«

Magnus rückte den Hut zurecht, um ein äußerstes Maß an Eleganz zu erreichen. »Den habe ich irgendwo unterwegs aufgegabelt. Schien mir die angemessene Kopfbedeckung für diese Unternehmung.«

»Niemand sonst trägt eine Kopfbedeckung, die diesem Hut auch nur im Entferntesten ähnelt.«

Magnus warf einen missbilligenden Blick auf all die modisch beeinträchtigten Seeleute. »Dafür verdienen sie selbstverständlich mein größtes Mitleid, aber warum diese Erkenntnis irgendetwas an meiner außerordentlich stilsicheren Aufmachung ändern sollte, verstehe ich nicht.«

Er ließ den Blick vom Deck aufs Meer hinausschweifen. Das Wasser war von ausgesprochen klarem Grün, mit genau dieser Schattierung von Türkis bis Smaragdgrün, wie sie etwa in einem glänzend polierten grünen Turmalin vorzufinden war. Am Horizont konnte er zwei Schiffe ausmachen – das eine, das sie begleiten sollten, und ein zweites, von dem Magnus annahm, dass es sich um ein Piratenschiff handelte, welches das erste Schiff anzugreifen beabsichtigte.

Magnus schnippte mit den Fingern und das Schiff unter ihren Füßen verschlang den Horizont mit einem Happs.

»Magnus, hör auf, das Schiff schneller zu zaubern«, jammerte Ragnor. »Magnus, warum zauberst du denn das Schiff schneller?«

Magnus schnippte erneut mit den Fingern. Blaue Funken schlugen aus dem verwitterten und sturmgeprüften Rumpf des Schiffes.

»Ich wittere ganz famose Piraten dort vor uns. Mach dich zum Kampf bereit, mein grünlicher Freund!«

Ragnor übergab sich lautstark und jammerte anschließend nur noch lauter. Das änderte jedoch nichts daran, dass sich zusehends der Abstand zu den beiden Schiffen verringerte, was Magnus mit wachsender Vorfreude erfüllte.

»Wir sind doch nicht auf der Jagd nach Piraten. Hier gibt es keine Piraten! Wir bewachen eine Schiffsfracht, das ist alles. Was ist das überhaupt für eine Fracht?«, wollte Ragnor wissen.

»Es ist besser, wenn du das nicht weißt, meine kleine Zuckerschote«, versicherte Magnus ihm.

»Hör auf, mich so zu nennen.«

»Ich werde es niemals wieder tun, bestimmt nicht«, gelobte Magnus mit einer schnellen Handbewegung, sodass seine Ringe das Sonnenlicht einfingen und die Luft bunt leuchten ließen, als ob er sie mit winzigen leuchtenden Pinselstrichen angemalt hätte.

Das Schiff, das Magnus beharrlich für das feindliche Piratenschiff hielt, bekam sichtbar Schlagseite. Möglicherweise war er an diesem Punkt ein klein wenig zu weit gegangen.

Garcia schien außerordentlich beeindruckt, dass Magnus aus der Distanz Schiffe manövrierunfähig machen konnte, wollte aber sichergehen, dass mit seiner Ladung wirklich alles in Ordnung war, also legten sie längsseits des großen Frachters an – das Piratenschiff dümpelte inzwischen weit, weit entfernt herum.

Magnus war mit diesem Zustand absolut zufrieden. Da sie ohnehin gerade Piraten jagten und Abenteuer auf hoher See erlebten, gab es da noch etwas, was er schon immer einmal hatte ausprobieren wollen.

»Komm mit«, drängte er Ragnor. »Das wird wahrhaft erquicklich. Du wirst sehen.«

Er packte eines der Taue und schwang sich in wahrhaft erquickender Manier über Abgründe von leuchtend blauer Tiefe und ein Stück glänzenden Schiffsdecks.

Dann plumpste er geradewegs durch die Ladeluke.

Einige Augenblicke später folgte Ragnor.

»Halte dir die Nase zu«, wies ihn Magnus eilig an. »Nicht einatmen. Offenbar hat gerade jemand die Fracht überprüft und die Luke offen gelassen. Wir sind mittenrein gesprungen.«

»Und jetzt stecken wir deinetwegen bis zum Hals im Schlamassel.«

»Wenn es nur das wäre«, seufzte Magnus.

Für eine Weile trat Stille ein, während die beiden versuchten, sich einen Überblick über ihre unerfreuliche Situation zu verschaffen. Magnus steckte bis zu den Ellbogen in besagtem Schlamassel. Was noch viel schlimmer war: Er hatte seinen feschen Hut verloren. Er gab sich alle Mühe, nicht darüber nachzudenken, in welcher Substanz sie beide festsaßen. Wenn er ganz fest an etwas anderes als die Exkremente geflügelter Lebewesen dachte, konnte er sich vielleicht einbilden, dass er auch in etwas anderem festsitzen konnte. Ganz egal, was es war.

»Magnus«, meldete sich Ragnor zu Wort. »Ich sehe wohl, dass die von uns bewachte Fracht aus einer äußerst unangenehmen Substanz besteht, aber könntest du mir vielleicht sagen, was genau das ist?«

Nun, da weitere Geheimniskrämerei und Täuschungsmanöver sinnlos waren, weihte Magnus ihn ein.

»Ich hasse Abenteuer in Peru«, brachte Ragnor schließlich mit erstickter Stimme hervor. »Ich will nach Hause.«

Es war nicht Magnus’ Schuld, dass das Schiff samt seiner Ladung Guano in dem darauf folgenden magischen Wutanfall unterging, aber man machte ihn dennoch dafür verantwortlich. Schlimmer noch: Er bekam kein Geld.

Diese mutwillige Zerstörung peruanischen Eigentums war jedoch nicht der Grund, weswegen Magnus aus Peru verbannt wurde.

1885

Als Magnus das nächste Mal nach Peru zurückkehrte, war er beruflich unterwegs und in Begleitung seiner Freunde Catarina Loss und Ragnor Fell. Das bewies, dass Catarina neben magischen Fähigkeiten über eine übernatürliche Überzeugungskraft verfügte, denn Ragnor hatte geschworen, nie wieder peruanischen Boden zu betreten, schon gar nicht, wenn Magnus dabei war. Die beiden hatten in den 1870ern allerdings einige gemeinsame Abenteuer in England erlebt, die Ragnor milde stimmten. Als sie jetzt jedoch mit ihrer Kundin am Fluß Lurín entlangwanderten, warf Ragnor aus dem Augenwinkel immer wieder kurze misstrauische Blicke auf Magnus.

»Dein Hang zur Schwarzseherei, wann immer du in meiner Nähe bist, ist verletzend und ungerechtfertigt, nur dass du es weißt«, sagte Magnus anklagend.

»Ich musste meine Kleidung jahrelang auslüften, um den Gestank loszuwerden! Jahrelang!«, gab Ragnor zurück.

»Nun, du hättest sie auch einfach wegwerfen und dir neue wohlriechende und geschmackvollere Sachen kaufen können«, stellte Magnus klar. »Außerdem ist das Jahrzehnte her. Was habe ich dir denn in letzter Zeit getan?«

»Nicht vor der Kundin streiten, Jungs«, ging Catarina mit zuckersüßer Stimme dazwischen, »sonst schlage ich eure Köpfe aneinander, dass eure Schädel wie Eierschalen zerbrechen.«

»Ich spreche Englisch, wissen Sie«, meldete sich Nayaraq, ihre Kundin, die sie äußerst großzügig entlohnte, zu Wort.

Betreten schweigend erreichte die kleine Gruppe Pachacámac. Sie betrachteten die Mauern aus aufgetürmtem Schutt, die aussahen wie die Sandburg eines riesigen, handwerklich begabten Kindes. Nur wenige Pyramiden standen noch, die Mehrzahl lag in Ruinen. Die Überreste waren über tausend Jahre alt und Magnus konnte die Magie spüren, die selbst in den sandfarbenen Fragmenten noch pulsierte.

»Ich kannte das Orakel, das vor siebenhundert Jahren hier gelebt hat«, verkündete Magnus großspurig. Nayaraq schien beeindruckt.

Catarina, die Magnus’ wahres Alter kannte, nicht.

Als Magnus zum ersten Mal Geld für den Einsatz seiner magischen Fähigkeiten verlangt hatte, war er keine zwanzig Jahre alt gewesen. Damals hatte er sich noch im Wachstum befunden und war nicht in der Zeit gefangen wie eine in Bernstein eingeschlossene Libelle; schillernd und unzerstörbar, aber bis in alle Ewigkeit in diesem goldenen Augenblick erstarrt. Damals musste er erst seine volle Körpergröße erreichen und sein Gesicht und sein Körper veränderten sich tagtäglich ein winzig kleines bisschen. Er wirkte um einiges menschlicher in dieser Zeit.

Einem potenziellen Kunden, der einen erfahrenen und altersweisen Magier erwartete, konnte er natürlich nicht erzählen, dass er noch nicht einmal ganz ausgewachsen war. Daher hatte Magnus schon in jungen Jahren angefangen, sein wahres Alter zu verschleiern, und er hatte diese Gewohnheit auch nie wieder abgelegt.

Hin und wieder führte das zu peinlichen Situationen, wenn er vergaß, wem er welche Lüge erzählt hatte. Jemand hatte ihn mal gefragt, wie Julius Cäsar so gewesen sei, und Magnus hatte ihn einen Augenblick zu lange angestarrt, bevor er geantwortet hatte: »Nicht sehr groß?«

Magnus ließ den Blick also über den Sand schweifen, der sich am Fuße der Mauern gesammelt hatte, und über die rissigen, zerbröckelnden Ränder dieser Mauern, die aussahen wie Brot, von dem jemand achtlos ein Stück abgebrochen hatte. Er war sorgsam darauf bedacht, auch weiter das leicht arrogante Gehabe von jemandem, der schon einmal hier gewesen war, an den Tag zu legen – selbstverständlich bereits damals hervorragend gekleidet.

»›Pachacámac‹ bedeutet so viel wie ›Herr der Erdbeben‹«, fabulierte er drauflos. Glücklicherweise wollte Nayaraq nicht, dass sie eines heraufbeschworen. Magnus hatte noch nie absichtlich ein Erdbeben ausgelöst und zog es vor, sich nicht allzu lange mit den bedauerlichen Unfällen seiner Jugendjahre zu befassen.

Nayaraq wollte den Schatz, den die Mutter der Mutter der Mutter ihrer Mutter, vor den conquistadores versteckt hatte. Diese war ein wunderschönes Mädchen von königlichem Blut gewesen, das im Acllahuasi – dem Haus der Sonnenjungfrauen – gelebt hatte.

Magnus wusste nicht so recht, warum sie den Schatz unbedingt haben wollte, denn sie schien auch so genügend Geld zu besitzen, aber er wurde nun einmal nicht fürs Fragen bezahlt. Sie wanderten stundenlang durch Sonne und Schatten, immer entlang der zerfallenden Mauern, an denen die Spuren der Zeit zu sehen und stark verblasste Fresken zu erahnen waren, bis sie schließlich fanden, wonach sie suchte.

Als sie die Steine von der Mauer weggeschafft und den Schatz ausgegraben hatten, beschien die Sonne für einen Moment gleichzeitig das Gold und Nayaraqs Gesicht. Da verstand Magnus, dass Nayaraq nicht nach dem Gold gesucht hatte, sondern nach der Wahrheit, nach etwas Wahrhaftigem aus ihrer Vergangenheit.

Sie wusste, dass die Schattenweltler existierten, denn sie war selbst einmal von Elfen entführt worden. Doch das Gold, das nun in ihren Händen glänzte wie einst in den Händen ihrer Vorfahrinnen, war keine Illusion, kein Zauberglanz.

»Ich danke euch allen sehr«, sagte sie und Magnus verstand sie. Für einen kurzen Moment beneidete er sie beinahe.

Als sie gegangen war, löste Catarina ihren Zauberglanz und ihre blaue Haut und ihre weißen Haare kamen zum Vorschein und leuchteten im Licht der untergehenden Sonne.

»Nun, da das erledigt ist, möchte ich euch etwas vorschlagen. Jahrelang habe ich euch um all die Abenteuer beneidet, die ihr beiden in Peru erlebt habt. Was meint ihr: Sollen wir noch eine Weile hierbleiben?«

»Auf jeden Fall!«, rief Magnus.

Catarina klatschte begeistert in die Hände.

Ragnor blickte finster drein. »Auf gar keinen Fall.«

»Nur keine Sorge, Ragnor«, sagte Magnus leichthin. »Ich bin mir ziemlich sicher, dass niemand mehr am Leben ist, der sich an das Missverständnis mit den Piraten erinnern könnte. Und die Affen sind definitiv nicht mehr hinter mir her. Unter uns, du weißt ja, was das bedeutet.«

»Ich habe keine Lust darauf und ich werde nicht den geringsten Spaß haben«, beharrte Ragnor. »Ich würde auf der Stelle verschwinden, wenn es nicht so grausam wäre, eine Lady in einem fremden Land nur in Begleitung eines Verrückten zurückzulassen.«

»Ich bin so froh, dass wir uns einig sind«, schloss Catarina die Diskussion ab.

»Wir werden ein famoses Triumvirat abgeben«, verkündete Magnus voller Vorfreude. »Das bedeutet: dreifache Abenteuer.«

Später erfuhren sie, dass sie wegen der Schändung eines Tempels landesweit als Verbrecher gesucht wurden. Nichtsdestotrotz stellte auch dies weder den Grund für Magnus’ Verbannung aus Peru dar, noch war es das Jahr, in dem sie ausgesprochen wurde.

1890

Es war ein wunderschöner Tag in Puno. Der See vor dem Fenster lag da wie ein blauer Spiegel und die Sonne strahlte mit solch blendender Kraft, dass es schien, als hätte sie das Azurblau und die Wolken vom Himmel gebrannt, bis nur noch ein weißes Flimmern übrig geblieben war. Von der klaren Andenluft getragen, war Magnus’ Melodie weit über den Titicacasee und durch das ganze Haus zu hören.

Magnus zog gerade seine Kreise unter dem Fensterbrett, als die Fensterläden vor Ragnors Schlafzimmer krachend aufklappten.

»Was – was – was machst du da?«, wollte Ragnor wissen.

»Ich bin fast sechshundert Jahre alt«, antwortete Magnus.

Ragnor ließ ein deutliches Schnauben vernehmen, denn Magnus änderte sein Alter je nach Belieben, und das beinahe wöchentlich.

Magnus redete unbeirrt weiter. »Die Zeit ist reif, dass ich endlich ein Instrument lerne.« Er wedelte mit seiner neuesten Errungenschaft, bei der es sich um ein kleines Saiteninstrument handelte, das wie der entfernte Cousin einer Laute aussah – wobei sich die Laute ganz sicher schämte, mit so etwas verwandt zu sein. »Das hier ist ein charango. Ich gedenke, ein charanguero zu werden.«

»Ich würde es ja nicht direkt als Musikinstrument bezeichnen«, warf Ragnor säuerlich ein. »Folterinstrument trifft es da schon eher.«

Magnus wiegte das charango in seinen Armen, als sei es ein Baby, das von Ragnors Worten zutiefst getroffen war. »Das ist ein wunderschönes und einzigartiges Instrument! Der Klangkörper ist ein Gürteltier. Nun ja, ein getrockneter Gürteltierpanzer.«

»Das erklärt die Töne, die du damit hervorbringst«, bemerkte Ragnor. »Klingt wie ein verirrtes, hungriges Gürteltier.«

»Du bist doch nur neidisch«, antwortete Magnus gelassen. »Weil du keine wahrhaftige Künstlerseele hast wie ich.«

»Oh ja, ich bin praktisch grün vor Neid«, blaffte Ragnor.

»Komm schon, Ragnor. Das ist nicht fair«, entgegnete Magnus. »Du weißt, wie sehr ich es liebe, wenn du Witze über deine Hautfarbe machst.«

Magnus ließ sich von Ragnors harschem Urteil nicht aus der Ruhe bringen. Er musterte seinen Hexenmeisterfreund mit einem herablassenden Blick von ausgesuchter Gleichgültigkeit, hob das charango und begann von Neuem, sein wunderschönes widerborstiges Lied zu spielen.

Aus dem Hausinneren war das dumpfe Stakkato rennender Füße zu hören, begleitet vom Klang raschelnder Röcke, dann kam Catarina in den Innenhof gestürmt. Ihr Haar fiel offen über ihre Schultern, in ihrem Gesicht stand ein Ausdruck größter Besorgnis.

»Magnus, Ragnor, hier hat gerade eine Katze ganz fürchterlich geschrien«, rief sie. »So, wie das klang, muss es dem armen Wesen wirklich schlecht gehen. Ihr müsst mir suchen helfen!«

Ragnor brach unter hysterischem Gelächter auf der Fensterbank zusammen. Magnus starrte Catarina eine Weile an, bis er ihre Mundwinkel zucken sah.

»Ihr habt euch gegen mich und meine Kunst verschworen«, klagte er. »Ihr seid eine Bande von Verrätern.«

Er setzte wieder seinen Bogen an. Catarina legte ihm eine Hand auf den Arm, um ihn aufzuhalten.

»Jetzt mal im Ernst, Magnus«, sagte sie. »Dieser Lärm ist grauenhaft.«

Magnus seufzte. »In jedem Hexenmeister steckt ein Kritiker.«

»Warum tust du das?«

»Das habe ich Ragnor bereits erklärt. Ich verspüre den Wunsch, ein Musikinstrument meisterlich zu beherrschen. Daher habe ich beschlossen, mich der Kunst des charanguista zu widmen, und ich will keinen eurer kleingeistigen Einwände mehr hören.«

»Wo wir gerade von Dingen sprechen, die wir nicht mehr hören wollen …«, murmelte Ragnor.

Catarina dagegen lächelte.

»Verstehe«, sagte sie.

»Madam, Ihr versteht nicht im Geringsten.«

»Oh doch. Ich verstehe es nur allzu gut«, versicherte Catarina. »Wie heißt sie?«

»Welch verabscheuungswürdige Unterstellung«, protestierte Magnus. »Hier geht es nicht um eine Frau. Ich bin mit meiner Musik vermählt!«

»Ach so, na gut«, erwiderte Catarina. »Also, wie heißt er?«

Sein Name war Imasu Morales und er war wunderschön.

Die drei Hexenmeister hatten eine Unterkunft in der Nähe des Hafens gefunden, am Ufer des Titicacasees. Magnus allerdings wollte auf eine Weise am Leben um ihn herum teilhaben, die Ragnor und Catarina nur schwer nachvollziehen konnten, da sie beide aufgrund ihrer ungewöhnlichen Hautfarbe seit ihrer Kindheit ein eher ruhiges und abgeschiedenes Dasein gewohnt waren. Also wanderte er durch die Stadt und hinauf in die Berge auf der Suche nach Abenteuern. Dabei kam es gelegentlich vor, dass er anschließend von der Polizei nach Hause begleitet wurde. Dass Ragnor und Catarina ihm das immer wieder genüsslich unter die Nase reiben mussten, war allerdings verletzend und vollkommen unnötig. Zumal der Vorfall mit den bolivianischen Schmugglern wirklich nur ein großes Missverständnis gewesen war.

In jener Nacht hatte Magnus tatsächlich keinerlei Geschäfte mit irgendwelchen Schmugglern gemacht. Er war einfach nur über die Plaza Republicana geschlendert, vorbei an kunstvoll geformten Büschen und ebenso kunstvoll geformten Skulpturen. Zu seinen Füßen glitzerte die Stadt wie ordentlich aufgereihte Sterne. Es sah aus, als hätte jemand einen Garten aus Licht angelegt. Eine wunderschöne Nacht, um einen wunderschönen Jungen kennenzulernen.

Als Erstes hatte Magnus nur die Musik wahrgenommen, wenig später auch Lachen. Magnus hatte sich umgedreht und funkelnde dunkle Augen, strubbelige Haare und das Spiel der Finger des Musikers erblickt. Magnus besaß eine Liste mit Eigenschaften, die ihm an einem Partner besonders gefielen – schwarzes Haar, blaue Augen, Ehrlichkeit –, aber in diesem Fall fühlte er sich vielmehr vom Leben an sich angezogen. Da war etwas, was er nie zuvor gesehen hatte, und von dem er fortan mehr zu sehen verlangte.

Er trat näher und es gelang ihm, Imasus Blick einzufangen. Sobald die Verbindung einmal hergestellt war, konnte das Spiel beginnen. Magnus eröffnete, indem er Imasu fragte, ob er ihm beibringen könne, so zu spielen. Er wollte Zeit mit Imasu verbringen, aber er wollte es ebenso gerne erlernen – er wollte wissen, ob er genauso darin aufgehen konnte und ob es ihm gelingen würde, ebensolche Töne hervorzubringen.

Bereits nach wenigen Unterrichtsstunden war Magnus klar, dass sich die Töne, die er dem charango entlockte, ein winziges bisschen von denen unterschieden, die Imasu erzeugte. Möglicherweise auch mehr als nur ein bisschen. Ragnor und Catarina flehten ihn an, das Instrument an den Nagel zu hängen. Völlig fremde Menschen auf der Straße flehten ihn an, das Instrument an den Nagel zu hängen. Selbst Katzen rannten vor ihm davon.

Doch Imasu sagte: »Du hast wirklich das Potenzial zum Musiker.« Seine Stimme war ernst, aber seine Augen lächelten.

Magnus beschloss, von nun an nur noch auf Leute zu hören, die freundlich waren, ihn ermutigten und noch dazu außerordentlich attraktiv aussahen.

Also hielt er dem charango die Treue, auch wenn er es im Haus nicht mehr spielen durfte. In der Öffentlichkeit mochte er nicht mehr spielen, nachdem er ein Kind zum Weinen gebracht hatte, einen längeren Vortrag über Stadtverordnungen ertragen musste und einen kleineren Aufstand angezettelt hatte.

Als letzten Ausweg flüchtete er sich in die Berge und spielte dort. Magnus war sich sicher, dass die panische Flucht einer Lamaherde, deren Zeuge er wurde, reiner Zufall war. Die Lamas hatten bestimmt keine Aussage über die Qualität seiner Darbietungen treffen wollen.

Im Übrigen klang sein charango-Spiel langsam deutlich besser. Entweder hatte er den Bogen raus oder es handelte sich um akustische Halluzinationen. Magnus beschloss, dass es an Ersterem lag. »Ich denke, ich bin jetzt über den Berg«, verkündete er Imasu eines Tages. »Musikalisch, meine ich. Um bei dieser Metapher zu bleiben: Ich finde, es sollte deutlich mehr Straßen geben, die über diese Kuppe führen.«

»Wundervoll«, sagte Imasu mit glänzenden Augen. »Ich kann es gar nicht erwarten, das zu hören.«

Sie befanden sich bei Imasu zu Hause, denn in ganz Puno durfte Magnus nirgendwo anders mehr spielen. Imasus Mutter neigte jedoch genau wie seine Schwester zu starken Migräneanfällen, weswegen Magnus’ Musikunterricht größtenteils theoretischer Natur war. Heute allerdings waren Magnus und Imasu allein im Haus.

»Wann werden deine Mutter und deine Schwester denn zurück sein?«, erkundigte sich Magnus betont beiläufig.

»In einigen Wochen«, antwortete Imasu. »Sie besuchen meine Tante. Ähm. Es gibt also keinen bestimmten Grund, weswegen sie geflohen – äh, also verreist – sind.«

»Sie sind wirklich ganz bezaubernd«, bemerkte Magnus. »Nur schade, dass sie beide so krank sind.«

Imasu blinzelte.

»Die Kopfschmerzen?«, rief Magnus ihm ins Gedächtnis.

»Oh«, sagte Imasu. »Ja, richtig.« Für einen Moment kehrte Stille ein. Dann klatschte Imasu in die Hände. »Du wolltest mir doch etwas vorspielen!«

Magnus strahlte ihn an. »Halt dich fest«, warnte er ihn. »Du wirst überrascht sein.«

Er hob das Instrument in seine Arme. Das charango und er hatten gelernt, einander zu verstehen, das spürte er. Wenn er wollte, konnte er die Luft oder den Fluss, ja selbst die Vorhänge zum Musizieren bringen. Das hier war dagegen anders: menschlich und seltsam berührend. Das Stolpern und Kreischen der Saiten fügte sich zu einer Melodie zusammen. Er konnte die Musik beinahe mit Händen greifen.

Als Magnus aufsah, musste er feststellen, dass Imasu vornübergebeugt dasaß und das Gesicht in den Händen vergraben hatte.

»Äh«, sagte Magnus. »Geht es dir gut?«

»Ich bin einfach überwältigt«, antwortete Imasu mit schwacher Stimme.

Magnus war geschmeichelt. »Ach so. Nun ja.«

»Ich bin überwältigt, wie furchtbar das war.«

Magnus blinzelte. »Wie bitte?«

»Ich kann diese Lüge einfach nicht mehr ertragen!«, brach es aus Imasu heraus. »Ich habe nur versucht, dich zu ermutigen. Die Stadt hat einige ihrer Würdenträger zu mir geschickt, damit ich dich zum Aufhören bewege. Meine geliebte Mutter hat mich mit Tränen in den Augen angefleht …«

»So schlimm ist es nun auch wieder nicht …«

»Doch, das ist es!« In Imasu schien ein Damm gebrochen zu sein, hinter dem sich alle Kritik aufgestaut hatte. Als er sich Magnus zuwandte, funkelten seine Augen nicht länger – sie blitzten. »Es ist schlimmer, als du dir vorstellen kannst! Wenn du spielst, verlieren die Blumen meiner Mutter schlagartig ihren Lebenswillen und gehen ein. Unser Quinoa ist inzwischen vollkommen geschmacklos. Selbst die Lamas sind in andere Gegenden abgewandert, obwohl Lamas von Natur aus keine Zugtiere sind. Die Kinder glauben bereits, dass im See ein schwerkrankes Monster lebt, eine Mischung aus einem Pferd und einem gigantischen schwermütigen Huhn, das die Welt anfleht, ihm die Gnade eines schnellen Todes zu gewähren. Die Leute in der Stadt sind der Überzeugung, dass wir hier geheimnisvolle magische Rituale durchführen …«

»Also, damit liegen sie gar nicht mal so falsch«, warf Magnus ein.

»… für die wir einen Kondorschädel, einen absurd großen Pilz und einen deiner merkwürdigen Hüte verwenden!«

»Oder doch«, sagte Magnus. »Im Übrigen sind meine Hüte außergewöhnlich.«

»Darüber will ich mich gar nicht streiten.« Imasu fuhr sich mit der Hand durch das dichte schwarze Haar. Die Locken ringelten sich um seine Finger wie tintenschwarze Weinranken. »Hör zu, ich habe einen Fehler gemacht. Ich habe einen gut aussehenden Mann gesehen und gedacht, dass es nicht schaden könnte, wenn wir uns ein bisschen über Musik unterhalten und dabei vielleicht ein gemeinsames Interesse entwickeln. Aber das hier habe ich nicht verdient. Wenn du so weitermachst, werden sie dich auf dem Marktplatz steinigen. Und wenn ich mir noch einmal dein Spiel anhören muss, stehe ich auf und ertränke mich im See.«

»Oh«, machte Magnus. Dann fing er an zu grinsen. »Das würde ich lassen. In diesem See soll ein grauenhaftes Monster leben.«

Imasu schien immer noch über Magnus’ Darbietungen auf dem charango zu brüten, während Magnus sofort jegliches Interesse daran verloren hatte. »Ich glaube, wenn die Welt eines Tages untergeht, wird es so klingen wie deine Musik«, bemerkte Imasu finster.

»Interessant«, befand Magnus und warf sein charango aus dem Fenster.

»Magnus!«

»Ich glaube, die Musik und ich haben das Ende unseres gemeinsamen Weges erreicht«, erklärte Magnus. »Ein wahrer Künstler weiß, wann er sich zu ergeben hat.«

»Ich kann nicht glauben, was du getan hast!«

Magnus wedelte lässig mit der Hand. »Ich weiß, es zerreißt einem das Herz. Aber manchmal muss man sich dem Flehen seiner Muse einfach verschließen.«

»Ich meinte eigentlich, dass diese Instrumente wirklich teuer sind. Ich habe es eindeutig krachen gehört.«

Imasu sah aufrichtig besorgt aus, aber er lächelte dabei. Sein Gesicht war ein offenes Buch in leuchtenden Farben: faszinierend und doch leicht zu lesen. Magnus wandte sich vom Fenster ab und ging auf Imasu zu. Er schloss eine Hand um Imasus schwielige Finger, die andere legte er sanft um dessen Handgelenk. Dabei sah er, wie ein Schauer über Imasus Körper lief, es war, als spiele Magnus ein Instrument, dem er jeden erdenklichen Ton entlocken konnte.

»Es betrübt mich außerordentlich, dass ich die Musik aufgeben muss«, murmelte Magnus. »Aber ich denke, du wirst bald feststellen, dass ich über weitaus mehr Talente verfüge.«

charango-