Für Susi, die vielleicht beste und kritischste Testleserin der Welt.

1.

Ordnung ist das halbe ganze Leben

»Ich räum dann mal mein Zeug ein, wenn das okay ist?«

»Klar, nur zu! Wir haben dir ein Regal freigeräumt.«

Mein neuer Mitbewohner Matze ging auf den Küchenschrank zu, öffnete die Tür und deutete auf das leere Regalbrett, das zukünftig mir gehören sollte.

Meine Gesichtszüge drohten mir zu entgleiten, als ich sah, worauf ich zukünftig meine schönen Food Props abstellen sollte. Es verlangte mir alles an Selbstbeherrschung ab, ihm nicht meine Abscheu zu zeigen – weshalb ich auch nicht fähig war, ihm zu antworten. Und eines war schon jetzt klar: Dieses eine Regalbrett würde niemals reichen. Matze hatte ja keine Vorstellung davon, wie viel Geschirr man als Foodblogger brauchte. Meine Food Props, wie Geschirrtücher, Strohhalme, Servietten und Kuchengabeln – von denen es wohlgemerkt immer nur zwei gab, was für hübsche Foodfotos mehr als ausreichend war –, hatten allein einen ganzen Umzugskarton gefüllt.

Aber das, was mir wirklich Übelkeit verursachte und der Grund für meinen starren Gesichtsausdruck war, waren die beiden Regalbretter über dem mir zugedachten. Auf ihnen herrschte ein solches Chaos an Konservendosen, Nudelpackungen und angefangenen Schokoladentafeln, dass mir ganz anders wurde. Ich traute mich kaum, noch näher heranzugehen, aber da Matze mich abwartend ansah und sich allmählich Sorge in seinen Blick schlich, kam ich zögernd näher.

Ich wollte es mir nicht gleich am ersten Tag mit einem meiner beiden neuen Mitbewohner verscherzen. Den Namen des zweiten hatte ich leider bereits wieder vergessen. Mein Namensgedächtnis war unterirdisch und ich fragte mich wirklich, womit ich das verdient hatte. Wie oft hatte es mich bereits in unangenehme Situationen gebracht, wenn ich jemanden ansprechen wollte, der mir zwei Minuten vorher seinen Namen genannt hatte, den ich aber bereits wieder vergessen oder mir niemals gemerkt hatte? Diese vielen peinlichen Gespräche, bei denen ich verzweifelt versuchte, die persönliche Anrede zu umschiffen …

Ein leises Räuspern brachte mich in die Realität zurück. Mein Blick klärte sich und mir entgingen nicht Matzes zusammengeschobene Augenbrauen. Shit. Ich war mal wieder total mit meinen Gedanken abgeschweift, ohne es zu bemerken. Das war noch so ein Problem.

»Ähm, danke für das Regalbrett«, brachte ich eilig hervor und betrachtete es genauer. Dabei sprang mir der untertassengroße, hellbraune Fleck, der sich deutlich von dem Weiß des Regals abhob, förmlich ins Auge. Vermutlich wollte ich gar nicht so genau wissen, was da ausgelaufen war. Ich merkte erst, dass ich die Zähne zusammenbiss, als meine Kiefermuskeln anfingen zu schmerzen. Wenn noch nicht mal mein Regalbrett abgewischt worden war, wollte ich lieber keinen allzu genauen Blick in die restlichen Schränke werfen.

Ein unangenehmes Ziehen machte sich in meinem Magen breit. Worauf hatte ich mich da nur eingelassen? Wann hatte ich die glorreiche Idee gehabt, mit zwei Jungs in eine WG zu ziehen? Und wieso um Himmels Willen hatte ich auch noch geglaubt, es wäre eine gute Idee? Ich musste verrückt gewesen sein, ganz eindeutig, auch nur eine Sekunde lang geglaubt zu haben, das würde gut für mich ausgehen. Denn das würde es nicht. Zumindest nicht, wenn man unter einem Sauberkeitszwang und Ordnungstick litt, so wie ich. Aber ich wusste genau, wer daran schuld war, dass ich mich nun in dieser Lage befand. Sie hatte auf mich mit Engelszungen eingeredet, mir immer wieder versichert, wie toll das alles werden würde und wie sehr ich das WG-Leben genießen würde. Was wir alles gemeinsam unternehmen konnten, wenn ich endlich mitten in Regensburg wohnte, und wie viel Spaß wir haben würden! Und ich hatte mich irgendwann von Steffi einlullen lassen, die fest davon überzeugt war, dass es mir hier gefallen würde.

Steffi und ich kannten uns zwar erst seit knapp sechs Monaten – wir hatten uns im Wintersemester an der Uni kennengelernt –, aber wir hatten uns auf Anhieb verstanden und das Gefühl gehabt, einander schon ewig zu kennen. Aus irgendeinem Grund fand sie die Vorstellung, ich würde zu ihrem Freund Matze in die WG ziehen, absolut super und hatte daraufhin so lange auf mich eingeredet, bis ich ebenfalls glaubte, begeistert zu sein.

Und daran hatte ich auch noch bis vor drei Minuten geglaubt. Bevor ich diesen schrecklichen Küchenschrank mitsamt seinem Inhalt erblickt hatte. Jetzt gerade wollte ich am liebsten einen Rückzieher machen. Die Worte »Es tut mir leid, es war alles ein schrecklicher Fehler« lagen mir bereits auf den Lippen.

Matze räusperte sich erneut. »Ist alles okay? Brauchst du vielleicht Hilfe beim Einräumen?« Er musterte mich skeptisch.

Hilfsbereit war er, das musste ich ihm lassen. Bereits zuvor hatte er mir beim Raufschleppen meiner zahlreichen Umzugskartons geholfen, ohne dass ich ihn darum hatte bitten müssen.

»Das geht schon«, meinte ich schwach und selbst ich hörte die Resignation in meiner Stimme.

»Sicher?«, hakte er nach.

Ich nickte. Ich würde das hier schon irgendwie schaffen. Jetzt einen Rückzieher zu machen wäre mehr als peinlich und außerdem war es doch mein eigener Wunsch gewesen, in die Nähe der Uni zu ziehen. Bestimmt brauchte ich einfach nur etwas Zeit für mich alleine, um mich mit dem Gedanken anzufreunden, für die nächsten Jahre Abstriche in der Hygiene machen zu müssen.

»Ist es ein Problem, wenn ich mich in den anderen Schränken ein wenig ausbreite? Ich glaube nicht, dass mir der Platz hier reichen wird.«

»Kein Ding. Aber du wirst eigentlich nicht viel brauchen. Geschirr, Besteck und Kochtöpfe – ist alles bereits vorhanden. Das kannst du gerne mitbenutzen.«

»Das ist wirklich nett.« Ich rang mir ein Lächeln ab, wollte ich ihn doch nicht gleich am ersten Tag vor den Kopf stoßen, aber ich würde ganz bestimmt nicht mein schönes Geschirr unbenutzt in den Kartons lassen.

»Okay, dann lasse ich dich mal auspacken. Wenn noch etwas sein sollte, weißt du ja, wo du mich findest.« Er deutete mit einem freundlichen Lächeln in Richtung seines Zimmers. Matze war einer dieser Menschen, die einem auf Anhieb sympathisch waren. Mit seinen dunkelblonden Haaren, den blauen Augen und den breiten Schultern war er außerdem recht ansehnlich. Zwar nicht mein Typ, aber durchaus attraktiv, und zu Steffi passte er ausgezeichnet. Die beiden sahen schon optisch wie das Traumpärchen der Uni schlechthin aus.

»Mhm«, war alles, was ich in meiner Schockstarre hervorbrachte.

Nachdem Matze in sein Zimmer verschwunden war, stand ich etwas ratlos in der Küche und betrachtete die Küchenzeile. Schön groß war sie, mit Backofen – sehr wichtig! –, einer angemessenen Arbeitsfläche und einem Kühlschrank, in den ich aber heute nicht mehr schauen würde. Ich konnte mir schon denken, was ich dort vorfinden würde: jede Menge abgepackte Wurst, Joghurt und vermutlich kein Gemüse. Aber das war okay, es waren schließlich Jungs und die – Ausnahmen bestätigen natürlich die Regel, aber ich hatte noch keine kennengelernt – hatten nicht unbedingt viel Ahnung vom Kochen und einer ausgewogenen Ernährung. Allerdings würde ich mich zumindest den Inhalten der restlichen Küchenschränke stellen müssen, wenn ich nicht doch aus den Kartons in meinem Zimmer leben wollte. Und das wollte ich ganz gewiss nicht, denn abgesehen davon, dass braune Umzugskartons nicht besonders hübsch aussahen, passten sie mal so was von überhaupt nicht in mein Farbkonzept.

Mutig stellte ich mich der Herausforderung Küche einräumen und zog die erstbeste Schublade auf, die sich als Aufbewahrungsplatz für das Besteck entpuppte. Zu meinem Leidwesen lag jedoch alles kreuz und quer darin herum. Löffel, Gabeln, Messer – alles ohne jegliche Ordnung. Allerdings war ich nach dem Anblick des schmutzigen Regals wohl bereits abgehärtet, denn der Anblick schockierte mich deutlich weniger, als er es normalerweise täte. Tapfer riss ich die nächste Schranktür auf und erstarrte. Okay, ich war doch nicht abgehärtet. Der Anblick, der sich mir bot, ließ meine ganze neu gewonnene Tapferkeit zusammenbrechen wie ein Windstoß ein Kartenhaus. Das hier war eindeutig zu viel für mich. Ich würde es hier nie und nimmer zweieinhalb Jahre lang aushalten! Ich schlug die Hände vors Gesicht, um das Chaos nicht länger sehen zu müssen.

Wie um alles in der Welt konnte man nur so leben?! Das war mir unbegreiflich. Über zwei Regalbretter verteilt standen kreuz und quer Tassen und Gläser verteilt. Das allein glich schon beinahe einem Verbrechen. Ich meine, wie konnte man Gläser und Tassen auf ein Regalbrett stellen und dann auch noch wild durcheinander? Aber nein, das war ja noch nicht alles. Dazwischen standen tatsächlich Gewürzdöschen. Gewürzdöschen! Nicht, dass es sonderlich viele gewesen wären. Nur die gängigsten Gewürze: Salz, Pfeffer, Curry und eine italienische Kräutermischung. Aber das konnten die doch unmöglich zu den Trinkgefäßen stellen! Das ging doch nicht! Schockiert starrte ich das Currydöschen an, das neben einer Tasse mit einem Aufdruck von Grumpy Cat stand. Ich fühlte mich einem Nervenzusammenbruch nahe und ebenfalls sehr, sehr grumpy. Mir war schon klar, dass ich überreagierte und die meisten Menschen dem Regalbrett höchstens mit einem irritierten Blick begegnet wären, aber mich verstörte es regelrecht.

In meinem Zimmer daheim hatte immer eine strikte Ordnung geherrscht. Jeden Morgen war das Erste, was ich tat, alles schön aufzuräumen. Denn nur wenn alles an seinem Platz war, nichts Fettflecke oder Fingerabdrücke aufwies, konnte ich mich entspannen und wohlfühlen. Meine Eltern hatten es immer klaglos hingenommen, meine Mutter hatte sich sogar darüber gefreut, dass ich in der Küche und auch im Wohnzimmer und Flur für Ordnung sorgte. Ich hatte ihr damit jede Menge Arbeit abgenommen und auch sie mochte es gerne sauber und ordentlich, wenn auch nicht ganz so extrem wie ich. Nur meine ältere Schwester Marina, die gerne ihre Schuhe da stehen ließ, wo die ihre Füße verlassen hatten, war zeitweise davon dezent genervt gewesen. Na gut, fürchterlich genervt.

Um mich von dem Schock zu erholen, drehte ich den offenen Schranktüren den Rücken zu, lehnte mich gegen die Anrichte und atmete ein paar Mal tief durch. Dabei fiel mein Blick auf den weißen Esstisch und auch wenn er nicht ordentlich abgewischt war – ja, ich sah die kleinen Brotkrümel darauf durchaus! –, so war er zumindest ein schöner Untergrund für Fotos. Wenn ich ihn direkt vor das Küchenfenster schob und auf der anderen Seite einen Reflektor aufbaute, dann sollte er eine gute Basis für Foodfotos bilden. Dieser Gedanke beruhigte mich ein wenig, denn mein Foodblog lag mir sehr am Herzen.

Ich bloggte mittlerweile seit über drei Jahren und konnte mir kein schöneres Hobby vorstellen. Es verband alles, was mir wichtig war. Gutes Essen, die Fotografie und ästhetische Bildkomposition mit harmonischen Farbkonzepten. Außerdem liebte ich den Austausch mit anderen Bloggern, die vielen Inspirationen, die ich mir auf anderen Blogs holen konnte. Das Anschauen von anderen, ebenfalls gut durchdachten Fotos gab mir das Gefühl, dass es da draußen tatsächlich so etwas wie eine andere Welt gab, in der ebenfalls Ordnung und guter Geschmack vorherrschten. Dadurch, dass ich einen gesteigerten Wert auf ansprechendes Design legte, wirkte ich auf manche Leute oberflächlich, was aber nur zum Teil stimmte, da für mich eine harmonisch-ästhetische Wohnatmosphäre einfach zum Wohlfühlen dazugehörte. Andere Menschen schauten Serien und aßen Chips, um sich zu entspannen, ich machte eben sauber.

Und der Anblick dieser Küche entspannte mich mal so was von überhaupt nicht! Aber das war ja nichts, was sich nicht mit ein bisschen Putzmittel ändern ließe. Wenn ich das Regal ordnen und ein wenig umräumen dürfte, würde ich mich auf jeden Fall besser fühlen und außerdem profitierten die Jungs ja von einer Aufräumaktion ebenso. Genau! So würde ich es machen. Das war ein guter Plan.

Ich drehte mich wieder um und fing damit an, die Gewürzdöschen auf der Arbeitsfläche vor mir abzustellen. Dann sortierte ich die Gläser in das obere und die Tassen in das untere Regal. Alle schön in Reihen nebeneinander – versteht sich.

Als ich damit fertig war, betrachtete ich das Ergebnis und fühlte mich schon ein klitzekleines bisschen wohler. Ich beschloss, so in den anderen Schränken fortzufahren. Ich sortierte die Besteckschublade neu, wischte sämtliche Regale mit Lappen und Putzmittel, welches ich in weiser Voraussicht mitgebracht hatte – Ha! Es war überhaupt keine verrückte Idee gewesen, den Supermarktvorrat an Putzmitteln aufzukaufen, Marina! –, feucht aus und räumte sie anschließend neu und strukturiert ein. Der vertraute Geruch des Putzmittels hatte etwas Tröstliches. Währenddessen hatte ich auch für die Gewürze eine schöne Stelle entdeckt. Ein freistehendes Regalbrett über der Spüle, auf dem sich halbvolle Flaschen mit Hochprozentigem tummelten. Diese räumte ich kurzentschlossen in das leere Regalbrett, das die Jungs mir zugewiesen hatten. Aber da ich sicher jedes Mal die Krise kriegen würde, wenn ich die Schranktüre öffnen und mir das Chaos von angefangenen Lebensmitteln entgegenschlagen würde, hatte ich mir die Freiheit genommen und mir durch Umräumen einen komplett eigenen Schrank geschaffen. Den Platz brauchte ich ohnehin bei den ganzen Food Props, die ich dabeihatte. Nachdem ich den Alkohol verstaut hatte, schloss ich zufrieden den Schrank. Aus den Augen, aus dem Sinn. Dann holte ich aus einer der Kisten in meinem Zimmer meine mitgebrachten Gewürzdöschen hervor sowie meine schicken Salz- und Pfeffermühlen in zarten Blautönen. Die Döschen waren ebenfalls recht ansehnlich und alle ordentlich beschriftet. Ich sortierte sie nach dem Alphabet, angefangen mit Anis über Kurkuma und Safran bis hin zu Zimt. Ceylon nicht Cassia, denn das war der echte und auch gesündere Zimt. In der Lebensmittelindustrie wurde leider vorwiegend der billigere Cassia-Zimt verwendet, der genau genommen ein eigenes Gewürz darstellte und durch seinen erhöhten Cumarin-Gehalt nur in Maßen gegessen werden sollte. Aber da ich ohnehin so gut wie nie Fertigprodukte aß, war mir das relativ egal.

Beschwingt von der Anmutung meiner nach Anfangsbuchstaben sortierten Gewürzdöschen machte ich mich daran, die große Kiste mit Schüsseln, Tellern, Tassen und allerhand anderem fototauglichen Geschirr auszuräumen. Von den meisten besaß ich nur ein oder zwei Teile, weshalb meine Mischung sehr bunt anmutete und sich folglich kaum sortieren ließ. Aber auf den Fotos, mit dem entsprechenden Essen hübsch darauf drapiert, sahen sie alle hinreißend aus.

Nachdem ich noch einen Stapel Geschirrtücher – von denen tatsächlich jedes anders aussah und noch keines jemals für seinen eigentlichen Zweck, das Abtrocknen von Geschirr, verwendet worden war – noch mit dazu gelegt hatte, begab ich mich zufrieden in mein Zimmer. Der erste Raum war geschafft. Blieben nur noch Badezimmer und meine eigenen vier Wände. Als Erstes fing ich auch hier mit einer Grundreinigung an. Boden wischen, den Staub von den Schränken entfernen und die Fensterscheiben reinigen. Danach räumte ich meine Kleidung ein und überlegte mir hübsche Plätze für diverse mitgebrachte Dekoartikel.

Als ich damit fertig war, fiel ich erschöpft auf mein frisch bezogenes Bett. Ich schnupperte. Was war das für ein merkwürdiger Geruch? Hoffentlich war einfach nur mein Geruchssinn von den vielen Putzmitteln gereizt. Bestimmt war es genauso und ich machte mir nur schon wieder zu viele Gedanken. Mein Blick fiel auf die leeren Umzugskartons am Boden, deren Anblick mich zwar ein wenig störte, da ich aber nicht mehr die Kraft hatte, sie zusammenzufalten und aufzuräumen, blickte ich einfach woanders hin. Ich brauchte jetzt erst mal eine Pause. Mein Rücken schmerzte erbärmlich und mir taten sämtliche Muskeln weh. So ein Umzug war schon anstrengend.

Ich hatte gerade erst die Augen geschlossen, als ich hörte, wie ein Schlüssel umgedreht wurde und jemand zur Wohnungstür hereinkam. Das musste dann wohl mein anderer Mitbewohner sein, der, an dessen Namen ich mich nicht mehr erinnern konnte. Ich wusste nur, dass es irgendwas mit L gewesen war. Leopold? Luis? Lukas? Hm, Letzteres hörte sich irgendwie richtig an. Ich vernahm ein lautes Stapfen durch den Flur, auf das ein geräuschvolles Türenschließen folgte. Ob mein Mitbewohner immer so trampelte? Hoffentlich nicht. Bitte lass ihn nur einen schlechten Tag gehabt haben, betete ich in Gedanken. Die Zimmertür wurde erneut schwungvoll geöffnet und dann hörte ich wieder die trampelnden Schritte, gefolgt von einem geräuschvollen Lufteinziehen zusammen mit einem ausgestoßenen »Was zum Teufel?!« und dann einem wütenden »Matze, was soll der Scheiß?«.

»He, was'n los? Wieso schreist du denn so?«, kam die gedämpfte Antwort aus Matzes Zimmer und ich beschloss im Stillen für mich, Ohrstöpsel ganz oben auf die Liste der Dinge, die ich mir unbedingt noch besorgen musste, zu setzen. Wenn die immer so laut waren, konnte das ja heiter werden.

Aus dem Drang heraus, ihre Unterhaltung besser verfolgen zu können, schlich ich zur Zimmertür und presste mein Ohr dagegen. Ja, ich war neugierig. Noch so eine ungesunde Eigenschaft.

»Wow. Was'n hier passiert?«, fragte Matze ungläubig.

»Ich dachte, das könntest du mir sagen. Immerhin warst du doch den ganzen Tag zu Hause«, kam die scharfe Antwort von dem Typen, der vermutlich Lukas hieß.

»Das muss dann wohl Vanny gewesen sein.«

»Wer ist Vanny?«

»Na, unsere neue Mitbewohnerin. Ich hab dir doch erzählt, dass sie heute bei uns einzieht. Dass du aber auch nie richtig zuhörst …«

»Ach stimmt, die Freundin von deiner Freundin«, entgegnete Vermutlich-Lukas gelangweilt und ignorierte dabei gekonnt den vorwurfsvollen Ton seines Mitbewohners. »Ich dachte allerdings die heißt Vanessa.«

»Heißt sie auch. Aber sie wird lieber Vanny genannt. Du könntest sie mal begrüßen gehen«, schlug Matze vor.

»Richtig.«

Ich hörte wie beide näherkamen und wich hastig von der Tür zurück, bis ich mit dem Fuß gegen einen der Umzugskartons stieß.

Die standen ja leider immer noch am Boden verteilt und aus einem inneren Zwang heraus fing ich hastig an, sie zusammenzufalten. Auch wenn sich die Jungs beim Anblick ebendieser vermutlich nicht das Geringste dachten, fand ich die Vorstellung schrecklich, sie könnten mich in dieser Unordnung sehen. Hektisch machte ich mich daran, die Kartons möglichst schnell zu verstauen. Leider erwies sich das Zusammenfalten als leicht problematisch.

»Und du bist sicher, dass es eine gute Entscheidung war, hier ein Mädchen einziehen zu lassen? Ich meine, nach der Küchenaktion …« Vermutlich-Lukas ließ den Satz offen.

»Ach was, ist doch nicht schlecht, wenn wir 'ne Putze im Haus haben. Weniger Arbeit für uns.«

Putze?! Das könnte ihnen so passen! Ich würde den beiden bestimmt nichts hinterherräumen. Gleich morgen würde ich mich an meinen Laptop setzen und einen Putzplan entwerfen, an den die beiden sich gefälligst zu halten hatten.

»Auch wieder wahr«, vernahm ich Vermutlich-Lukas' Antwort und konnte förmlich das breite Grinsen hören.

Einen Moment später klopfte es an die Tür. Unglücklicherweise kämpfte ich direkt davor noch immer mit dem letzten Karton, der sich einfach nicht zusammenfalten lassen wollte. Ich fing vor lauter Anstrengung schon leicht an zu schwitzen. Mit zusammengebissenen Zähnen zog ich noch einmal fest an dem Kartonende und endlich klappte er auseinander.

»Scheint, sie ist gar nicht da«, stellte Vermutlich-Lukas nüchtern fest.

»Doch, ich bin mir sicher …«

Die Tür flog auf und mir mit voller Wucht von hinten an den Kopf.

»Aua!«, schrie ich auf und hielt mir den Hinterkopf, der dumpf pochte. Das gab bestimmt eine Beule.

»Du bist ja doch da«, meinte Vermutlich-Lukas trocken.

»Das tut mir leid, Vanny. Das wollte ich nicht«, entschuldigte sich Matze und beugte sich mit besorgtem Gesichtsausdruck zu mir hinunter.

Wenigstens hockte ich schon am Boden, sonst wäre ich spätestens durch den Aufprall und den darauffolgenden leichten Schwindel auf die Knie gesunken. Schlimm genug, dass noch immer die Umzugskartons um mich herumlagen, da hätte ich mir echt nicht noch am ersten Abend eine Beule holen und mich in eine peinliche Situation bringen müssen. Ganz toll gemacht, Vanny. Und dass die Situation peinlich war, stand außer Frage.

Vermutlich-Lukas stand ungerührt neben Matze, nur seine Augen blitzten mich spöttisch an. Schöne waldgrüne Augen in einem attraktiven Gesicht. Das Schwindelgefühl nahm zu.

»Aber wieso hast du denn nicht auf unser Klopfen reagiert?«, erkundigte sich Matze und machte einen etwas hilflosen Eindruck.

»Weil … Ah, mein Kopf«, jammerte ich, denn der Schmerz wurde immer schlimmer.

»Reden kann sie noch. Das ist schon mal ein gutes Zeichen.« Um Vermutlich-Lukas' Mund lag ein spöttischer Zug und seine Augen blitzten belustigt auf. Offenbar amüsierte es ihn, mich leidend am Boden zu sehen. Blöder Arsch!

»Das ist ja reizend. Ich weiß deine Besorgtheit durchaus zu schätzen«, gab ich schnippisch zurück und ließ mich von Matze auf die Beine ziehen. Dieser schlang stützend einen Arm um meine Taille.

»Brauchst du was zum Kühlen? Lukas, hol doch mal etwas Eis«, wies er ihn an, ohne mich aus den Augen zu lassen.

Am Rande registrierte ich, dass mein anderer neuer Mitbewohner also tatsächlich Lukas hieß und mich mein Namensgedächtnis zur Abwechslung nicht im Stich gelassen hatte. Zu meiner Überraschung tat Lukas, was Matze ihm aufgetragen hatte, ohne einen weiteren Kommentar abzugeben.

»Komm, setzt dich.« Matze führte mich zu meinem Bett, auf das ich mich kraftlos fallen ließ. Nach der Einräum-Aktion und der Beinahe-Gehirnerschütterung fühlte ich mich schrecklich schwach und ausgelaugt.

»Ist dir schwindelig?«

»Es wird langsam besser«, stöhnte ich und rang mir ein zuversichtliches Lächeln ab, das leider etwas kläglich ausfiel.

»Hier, dein Eis.« Plötzlich flog mir ein mit Eiswürfeln gefüllter Gefrierbeutel in den Schoß. Lukas stand lässig gegen den Türrahmen gelehnt da und beobachtete mich. Ich griff nach dem Päckchen und drückte es mir sachte gegen den Hinterkopf.

»Danke«, murmelte ich, starrte dabei allerdings auf meine Knie. Einen weiteren spöttischen Blick konnte ich jetzt einfach nicht ertragen.

»Keine Ursache. Ich bin übrigens Lukas.«

Eine Hand tauchte in meinem Blickfeld auf und ich schaute überrascht auf. Plötzlich stand Lukas ganz dicht vor mir, der spöttische Ausdruck war aus seinen waldgrünen Augen verschwunden, die von langen dunklen Wimpern umrahmt wurden und mich völlig in ihren Bann zogen. Ich verlor mich in seinem Blick wie ein kleines Mädchen in einem dunklen Wald – nur umgeben von hohen Nadelbäumen und dem Gefühl von Einsamkeit. Ob sich Rotkäppchen so gefühlt hatte, als sie ganz allein durch den finsteren Wald gehen musste, um ihrer Oma Kuchen und Wein zu bringen?

Ich blinzelte verwirrt. Wo kamen diese Bilder denn plötzlich her? Offenbar hatte ich mir doch eine Gehirnerschütterung zugezogen.

»Wenn du sie nicht nehmen magst. Auch gut.« Lukas zuckte mit den Achseln und vergrub beide Hände in seinen Hosentaschen.

»Ähm, doch. Hi, ich bin Vanny und normalerweise bin ich nicht so langsam. Aber du weißt ja, Schlag auf den Kopf und so.« Ich lachte gekünstelt auf.

Gott, was gab ich da von mir? Jemand sollte mir unbedingt ein Kissen in den Mund stopfen, bevor ich weiterhin so einen Unsinn redete.

Unbeholfen streckte ich ihm meine Hand entgegen, in dem schwachen Versuch, meine Unhöflichkeit wiedergutzumachen. Lukas' Mundwinkel zuckten leicht, dann ergriff er sie. Sein Händedruck war warm und fest und ich fragte mich, wieso Steffi nicht erwähnt hatte, dass der Mitbewohner ihres Freundes so gut aussah? Dunkelbraune, zerzauste Haare, breite Schultern, schmale Hüften und dazu die Wahl seiner Klamotten, die wunderbar in mein Lieblingsfarbkonzept schwarz-weiß-grau passten: Er trug eine schwarze Jeans und ein anthrazitfarbenes, eng anliegendes T-Shirt, das die darunterliegenden Muskeln erahnen ließ. Bestimmt ging er regelmäßig ins Fitnessstudio. Und Matze ebenfalls. Jungs, die so aussahen, gingen immer regelmäßig trainieren.

Mir würde das auch mal wieder guttun, aber durch die ganze Pendelei im letzten Semester war für Sport einfach keine Zeit mehr geblieben. Aber da das zukünftig ja kein Thema mehr war, würde ich mir endlich meinen Sportausweis für den Unisport besorgen, denn der Sommer war nur noch zwei Monate entfernt und bis dahin musste ich meine Bikinifigur zurückerlangt haben. Ich hielt schon seit Neujahr eine strenge Low-Carb-Diät, aber leider hatte ich noch immer vier Kilos zu viel auf den Hüften. Was daran liegen könnte, dass die Diät nicht ganz so streng war, wie ich es mir gerne einredete. Das Los eines jeden Foodbloggers, der nach dem Shooting erst so richtig Lust auf seine eigenen Kreationen bekam und dann in einem Anflug von Heißhunger alles in sich hineinstopfte, was nicht bei drei auf den Bäumen war. Also alles. Ich nannte es auch gerne den Fluch der Foodfotografen. Die Fotos sollten den Lesern meines Blogs schließlich Appetit machen und sie dazu animieren, die Rezepte nachzumachen, weshalb ich mir immer sehr viel Mühe mit dem Setting gab. Und zumindest bei mir funktionierte das mit dem Appetitmachen ausgezeichnet. Spätestens dann, wenn es an die Bildbearbeitung ging und tatsächlich noch etwas von dem Essen übrig war, wurde der Rest geholt und aufgegessen. Meistens wurde ich, sobald der letzte Krümel gegessen war, von einem schlechten Gewissen geplagt und aß daraufhin die nächsten Tage nur noch Gemüsesticks, bis es wieder Zeit war, einen neuen Blogpost zu verfassen und das Ganze von vorne losging. Ein Teufelskreis, aber ich liebte gutes Essen, vor allem selbstgebackenes Süßes, viel zu sehr, um darauf zu verzichten. Ob das nur mir so ging?

»Vanny? Ist wirklich alles in Ordnung? Du hast schon wieder so einen weggetretenen Ausdruck.« Lukas runzelte die Stirn.

Erst jetzt wurde mir bewusst, dass ich noch immer seine Hand hielt. Schnell ließ ich sie los, als hätte ich mich verbrannt. Shit. Ich schweifte so oft mit den Gedanken ab, dass es echt nicht mehr normal war. Ich war quasi der weibliche J.D. aus Scrubs – Die Anfänger.

»Alles gut.« Ich versuchte die Peinlichkeit mit einem weiteren gekünstelten Lachen zu überspielen.

»Vielleicht solltest du etwas essen«, schlug Matze vor. »Magst du Pizza? Ich glaube wir haben noch welche da.«

»Tiefgekühlt?«, entfuhr es mir entsetzt. Ich konnte mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal eine Fertigpizza gegessen hatte. Das musste in meiner Kindheit gewesen sein.

»Nein, die vom Lieferanten von letzter Woche«, entgegnete Lukas ungerührt.

»Was?«, quiekte ich. Das wurde ja immer schlimmer! Wollten die mich vergiften?

»Natürlich nicht«, seufzte Lukas genervt. »Ich glaube deine Gehirnerschütterung ist doch schlimmer als angenommen. Oder bist du etwa immer so?«

»So verpeilt, meinst du?«

Er nickte.

»Nein, eigentlich nicht«, log ich.

Sie mussten die Wahrheit ja nicht gleich erfahren. Das würden die beiden schon früh genug selbst herausfinden. Ich wusste auch gar nicht, woher das kam. Nur, dass ich schon immer sehr viele Gedanken hatte und mir auch über jede Kleinigkeit den Kopf zerbrach. Und um bei den vielen Dingen, über die ich nachgrübelte, nichts zu vergessen, schrieb ich für mein Leben gerne To-do-Listen. Ich hatte so ziemlich für jede Lebenslage eine. Da gab es die Nachbackliste für Rezepte. Den Kochplan für die kommenden zwei Wochen, na gut, meistens eher drei. Ich musste schließlich wissen, was ich einzukaufen hatte, wenn ich im Supermarkt war. Dann gab es die Blog-Liste, auf der ich meine Ideen für neue Blogposts festhielt. Die Bücherliste und die TV-Serien-Liste, die Checkliste für den Urlaub, damit ich nichts Wichtiges daheim vergaß, und natürlich die Sightseeing-Liste für den Urlaub selbst. Außerdem noch Wochenendpläne mit Veranstaltungen, zu denen ich gehen wollte, und eine Lernliste für die Uni, auf der ich mir notierte, wann ich was zu lernen hatte.

Plötzlich schüttelte es mich. Nein, jemand rüttelte an mir. Es war Matze. »Vanny? Also langsam mache ich mir ernste Sorgen. Vielleicht sollten wir doch zu einem Arzt fahren.«

»Quatsch. Mir geht's gut«, wiegelte ich schnell ab und verfluchte mich innerlich.

»Und wieso antwortest du dann nicht auf meine Frage?«

»Tu ich doch.«

Matze sah mich abwartend an, weshalb ich zu Lukas blickte in der Hoffnung, dadurch zu erraten, was mich Matze gefragt hatte. Aber natürlich war Lukas keine Hilfe. Stattdessen war da schon wieder dieses spöttische Funkeln in seinen Augen. Fast schien es, als hätte er mich durschaut und genoss meine missliche Lage. Ich warf ihm einen finsteren Blick zu.

»Wie war noch mal die Frage?«, wandte ich mich resigniert an Matze.

Der runzelte die Stirn. »Ob du nun Pizza willst oder ob wir etwas anderes beim Lieferservice bestellen sollen?«

Da ich heute nicht mehr die Kraft hatte, auf meine gesunde Ernährung zu achten, sagte ich schwach: »Pizza geht völlig in Ordnung.«

***

Nachdem die beiden aus meinem Zimmer verschwunden waren, ließ ich mich erschöpft rückwärts aufs Bett fallen, was ich allerdings noch in derselben Sekunde bereute, da ich genau auf meiner Beule landete. Augenblicklich fuhr ich wieder hoch. Himmel! Das lief heute alles gar nicht wie geplant. Ich tastete nach dem Gefrierbeutel und drückte ihn mir wieder gegen den Hinterkopf. In meinen Fingern juckte es förmlich, meinen Taschenkalender hervorzuholen und die kommende Woche zu planen. Ich musste jetzt einfach ein wenig Ordnung in mein Leben bringen. Diese innere Unruhe machte mich ganz fertig. Seufzend stand ich auf, den linken Arm noch immer erhoben, um weiterhin meine Beule zu kühlen. Einhändig suchte ich den Taschenkalender aus meiner Handtasche, blätterte zur kommenden Woche vor, schnappte mir einen Stift und überlegte, was noch alles zu tun war. Für morgen trug ich »Putzplan erstellen, einkaufen gehen, etwas für den Blog backen« ein. Außerdem hatte ich noch zwei Vorlesungen an der Uni, aber die würde ich zwischen Putzplan und Supermarkt absitzen.

Nachdem ich mich durch das Planen des morgigen Tages ein wenig beruhigt hatte, beschloss ich, mal in der Küche nachzusehen, was die Pizza machte.

Sobald ich die Küche betrat, schlug mir der Geruch nach gebackenem Teig entgegen. Roch eigentlich gar nicht so schlecht. Also für eine Fertigpizza.

In der Küche war niemand zu sehen, daher schlenderte ich zum Backofen, ging davor in die Hocke und sah den Pizzen beim Braunwerden zu. Das war etwas, was ich schon als Kind gerne gemacht hatte. Andere schauten Fernsehen, ich beobachtete durch die Glasscheibe das Gebäck im Ofen beim Aufgehen. Ganz besonders spannend fand ich es immer, wenn Muffins an der Oberfläche die ersten Risse bekamen. Keine Ahnung wieso, aber es gefiel mir einfach.

»Kontrollierst du, ob ich die Pizza auch richtig in den Ofen geschoben habe?«

Ich zuckte ertappt zusammen, als dicht hinter mir Matzes Stimmte erklang. Ich drehte meinen Kopf nach hinten und sah zu ihm auf.

»Äh, nein, ich glaube, das hast du ganz gut alleine hinbekommen. Kann ich dir noch irgendetwas helfen?«

»Wobei möchtest du denn helfen? Der Backofen macht das doch schon alleine.« Matze runzelte die Stirn und hatte wieder diesen besorgten Gesichtsausdruck. Wie schaffte ich es nur, dass mich innerhalb von wenigen Minuten alle für leicht durchgeknallt hielten?

»Na ja, vielleicht mögt ihr ja noch einen Salat dazu essen oder so«, versuchte ich noch mein letztes bisschen Würde zu retten.

»Salat?« Matze lachte laut auf. Okay, der Versuch war offenbar danebengegangen. »Du gehörst aber nicht zu diesen Gesundheitsfanatikern, die sich nur von Grünzeugs ernähren wie die Kühe, oder?«

Shit. Aus der Nummer kam ich jetzt wirklich nicht mehr raus. Da sie es ja sowieso erfahren würden, konnte ich es auch gleich erzählen. »Nun ja, also genau genommen schon. Für mich ist eine gesunde Ernährung ziemlich wichtig.« Das war noch untertrieben. Sie stand für mich auf meiner Prioritätenliste ganz weit oben.

»Dann wirst du wohl nicht so viel Spaß mit der Pizza haben.«

»Zwischendrin eine Ausnahme zu machen ist schon okay. Ich bin Foodbloggerin, weißt du, und da bekommt man eben zwangsläufig die ganzen Foodtrends mit und gesunde Ernährung ist ja momentan hoch im Kurs.« Aus Matzes Miene sprach Ungläubigkeit und weil in diesem Moment auch noch Lukas zu uns trat und mich sein Anblick aus irgendeinem Grund verwirrte, plapperte ich einfach weiter. »Das ganze Superfood, du weißt schon. So was wie Chia-Samen und Quinoa eben.«

Matze starrte mich an, als hätte ich gerade chinesisch geredet, was ich wahrscheinlich auch hätte tun können, denn natürlich konnte er mit Begriffen wie Chia-Samen und Quinoa nicht das Geringste anfangen.

»Du bist Foodbloggerin?«, fragte er verdattert. »Doch nicht etwa eine von denen, die bevor sie etwas essen, erst mal ein Foto machen müssen, um das auf Instagram hochzuladen?«

»Natürlich nicht. Von der Pizza würde ich selbstverständlich kein Foto machen«, verteidigte ich mich.

»Ist nicht healthy genug für deinen Instagram-Account, was?«, spottete Lukas.

Er stand hinter Matze und blickte amüsiert auf mich hinab.

Wütend stemmte ich mich auf die Beine, um mit ihm auf Augenhöhe zu sein. Okay, so ganz auf Augenhöhe war das bei meinen 1,63 Metern nicht, aber es unterstrich immerhin meine Aufgebrachtheit. Ich funkelte Lukas an. Egal was ich sagte, es war sowieso verkehrt. Es war einfach eine ganz beschissene Scheißidee gewesen, mit zwei Jungs in eine WG zu ziehen. War ja klar, dass die so etwas nicht verstanden. Morgen an der Uni würde ich mich gründlich bei Steffi ausheulen.

»Das erklärt zumindest die komischen Gewürze wie …«, fuhr Lukas fort und wandte sich an das Gewürzregal, um die Namen zu lesen und griff sich dann willkürlich zwei heraus. »Cayenne-Pfeffer und Kreuzkümmel. Ich hab zwar keine Ahnung, was das sein soll …« Er schraubte das Kreuzkümmeldöschen auf, schnupperte daran und rümpfte die Nase, »… aber ich verspüre auch nicht das Bedürfnis es herauszufinden.«

Ich wusste, er übertrieb, denn Kreuzkümmel roch überhaupt nicht schlimm, schließlich hatte er nicht einmal ansatzweise Ähnlichkeit im Geschmack mit herkömmlichem Kümmel.

»Musst du ja auch nicht.« Ich verschränkte trotzig die Arme vor der Brust. »Umso besser. Bleibt mehr für mich.«

Lukas stellte die beiden Döschen zurück, allerdings hatte er ihre Plätze vertauscht. Innerlich brodelte ich. Das hatte er mit Absicht getan! Ganz sicher. Ich stand ja nur den halben Tag in der Küche, um etwas Struktur in das Chaos zu bringen, und er befand es nicht mal für nötig, die Gewürze wieder ordentlich einzuräumen …

»Könntest du sie bitte wieder richtig einsortieren?«, presste ich mit mühsam beherrschter Stimme hervor.

Lukas zog überrascht die Augenbrauen in die Höhe. »Ist mir gar nicht aufgefallen.« Er wandte sich achselzuckend zu dem Regal und vertauschte die beiden Döschen. »So besser?«

»Ja. Danke.«

Lukas Blick ruhte intensiv auf mir, als würde er versuchen, meine Gedanken zu lesen. Das Grün seiner Augen war wirklich unglaublich. Ich hatte noch nie ein satteres, dunkleres, schöneres … Halt. Stopp. Ich rief mich selbst zur Ordnung, bevor meine Gedanken eine Richtung nahmen, die ganz und gar nicht akzeptabel war.

»Hast du deshalb hier alles umgeräumt?«, fragte Lukas und sah mich weiterhin mit diesem konzentrierten Ausdruck an, sodass mir ganz komisch wurde.

Auf einmal fiel es mir schwer, einen zusammenhängenden Gedanken zu bilden. Was war nur los? Unauffällig biss ich mir in die Wange. Der Schmerz schaffte es, mich aus meiner Trance zu holen.

»Bei dem Chaos, das hier geherrscht hat, hätte ich unmöglich etwas finden können«, gab ich schnippischer als beabsichtigt zurück.

Lukas lachte nur ein leises, kehliges Lachen und ich kam mir unglaublich blöd vor. Die Arme noch immer unter der Brust verschränkt, ballte ich unauffällig meine Hände zu Fäusten. Ich hasste es, dass er mir das Gefühl gab, zwanghaft zu sein, weil ich im Grunde selbst wusste, dass ich es zeitweise ein klein wenig übertrieb, aber ich konnte eben auch nicht aus meiner Haut.

»Ist doch nicht schlimm«, meinte Matze mit einem Schulterzucken. »Ich finde, es sieht gar nicht schlecht aus.«

Dankbar lächelte ich ihn an, war mir aber nicht sicher, ob er es registriert hatte, da er im selben Moment auf sein Handy blickte.

»Pizza ist fertig«, verkündete er und schob sein Smartphone wieder in die hintere Hosentasche.

***

Die Pizza schmeckte gar nicht mal so übel. Ich würde sie mir zwar niemals selber kaufen, aber nach so einem anstrengenden Tag taten die vielen Kohlenhydrate doch ganz gut. Wir hatten gerade das Thema Studium abgehakt und ich hatte erfahren, dass Matze Biologie und Lukas Physik studierte, ebenfalls beide im zweiten Semester. Gut, das von Matze wusste ich schon durch Steffi, aber die Infos von Lukas interessierten mich ohnehin mehr, als sie sollten.

»Das heißt, ihr seid auch beide neunzehn?«, mutmaßte ich. Zumindest, wenn ich von mir als Durchschnittsstudent ausging, der gleich nach dem Abi anfing zu studieren, müssten sie in meinem Alter sein und ich war erst vor ein paar Wochen neunzehn geworden.

»Nope.« Matze kratzte sich am Kinn. »Hab erst was anderes studiert und abgebrochen und bin deshalb schon einundzwanzig.«

»Aha«, ich nickte geschäftig. »Und du?«, wandte ich mich an Lukas.

»Ich schon«, war die knappe Antwort.

»Ah-ja.«

»Wieso interessiert dich das so brennend?«

»Tut es doch gar nicht.«

»Wie du meinst«, schmunzelte Lukas.

Ich hatte das Gefühl, schon wieder etwas nicht mitbekommen zu haben. Oder war ich tatsächlich so witzig? Dann könnte man bei mir wirklich mal von einem versteckten Talent sprechen, denn dieses hätte sich neunzehn Jahre überaus erfolgreich im Verborgenen gehalten.

»Was ist eigentlich mit eurem anderen Mitbewohner passiert? Dem, dessen Zimmer ich jetzt habe?«, versuchte ich einen Themenwechsel.

»Hat Steffi es dir nicht erzählt?«, fragte Matze.

»Nö. Muss sie wohl vergessen haben.«

»Der hat sein Studium geschmissen«, erklärte Lukas.

»Hat es ihm nicht gefallen?«

»Hatte keinen Bock mehr. Jetzt hockt er daheim und chillt erst mal«, erzählte Matze. »Aber eigentlich sind wir ganz froh drüber. Der war ein bisschen zu gechillt, wenn du verstehst, was ich meine.«

Ich blickte ihn nur verständnislos an. Sollte ich wissen, was er damit meinte?

»Er hat gekifft«, erklärte Lukas.

»Jeden Tag«, ergänzte Matze. »Und dazu noch dieser ständige, laute Besuch. Man hatte echt keinen Moment Ruhe.«

»Oh«, war alles was ich dazu sagte. Diese Welt war so weit entfernt von meiner Realität, dass ich nichts anderes darauf zu erwidern wusste. Ich konnte mir nicht mal ansatzweise vorstellen, jemals etwas Derartiges zu tun. Es erklärte aber zumindest den eigenartigen Geruch der Matratze.

Shit, die Matratze!

»Moment mal, das heißt, ich habe das Zimmer eines Kiffers?«, fragte ich entsetzt und verfluchte mich augenblicklich dafür, dass ich nicht mal ein bisschen cooler wirken konnte.

»Wieso? Stört dich das?«, fragte Lukas unschuldig, doch in seinen Augen blitzte der Schalk.

Verdammt, so wurde das aber nichts mit dem Coolsein.

»Getauscht wird hier aber nicht«, fügte er noch mit einem süffisanten Grinsen hinzu, welches leider absolut hinreißende Grübchen in seinen Wangen entstehen ließ.

»Nein, es ist nur …« Ich hatte leichte Schwierigkeiten, den Satz zu beenden, denn Lukas beugte sich über den Tisch zu mir rüber und ich ahmte unbewusst seine Bewegung nach.

»Was?«, fragte er lauernd und damit war der Zauber verflogen.

Sofort lehnte ich mich, so weit der Stuhl es zuließ, zurück. Himmel! Was war nur los mit ihm? Oder mit mir? Legte er es darauf an, mich auflaufen zu lassen?

»Die Matratze riecht ein wenig komisch«, gab ich schließlich widerwillig zu.

»Soll ich sie dir auf den Balkon tragen? Vielleicht hilft die frische Luft ein wenig«, bot Matze an.

Ich warf ihm einen dankbaren Blick zu. »Das wäre wirklich nett.«

»Kein Ding«, winkte er ab. »Dafür bekomme ich aber das letzte Stück Pizza«, meinte er und schnappte es sich.

2.

Sortieren geht über Probieren

Müde schlurfte ich in die Küche. Ich hatte nicht sonderlich gut geschlafen. Obwohl ich von dem Umzug ziemlich erschöpft gewesen war, hatte mich die ganze Nacht dieser leichte, beißende Geruch gestört. Das Lüften der Matratze hatte leider nicht so viel geholfen wie erhofft und auch durch das frische Bettlaken hindurch hatte ich die Grasausdünstungen noch gerochen. Vermutlich würde ich die Matratze in die Reinigung geben müssen.

Völlig in Gedanken versunken öffnete ich den Küchenschrank und nahm meine Lieblingstasse – die mit dem schwarz-weißen Chevron-Muster – heraus.

»Möchtest du einen Kaffee haben?«

Ich fuhr herum. Am Küchentisch saß Lukas, grinste mich an und deutete auf die halbvolle Kaffeekanne neben sich. Seine dunklen Haare waren noch vom Schlafen zerzaust und das schwarze T-Shirt stand ihm vorzüglich.

»Süßer Pyjama übrigens.« Sein Grinsen wurde noch eine Spur breiter und offenbarte wieder die zwei niedlichen Grübchen.

Ich lief knallrot an. Nicht wegen des Pyjamas – der war, wie fast alles in meinem Zimmer, schwarz-weiß und durchaus vorzeigbar –, sondern wegen des Blicks, den er mir zuwarf und in dem etwas unverschämt Anzügliches lag.

»Nein, danke. Ich trinke keinen Kaffee«, gab ich möglichst würdevoll zurück.

»Nie?« Er zog erstaunt beide Augenbrauen hoch.

Ich schüttelte den Kopf. Schon von dem Geruch bekam ich manchmal Kopfschmerzen. Außerdem war Kaffee nicht so gesund wie mein schwarzer Tee. »Ich trinke morgens immer einen Earl Grey.«

Lukas verzog das Gesicht. »Die Bergamotte schmeckt scheußlich, da bleibe ich lieber bei meinem Kaffee.« Er nahm einen Schluck und blickte mich über den Tassenrand hinweg aufmerksam an.

Um mir meine Verblüffung nicht anmerken zu lassen, drehte ich mich schnell um und befüllte den Wasserkocher. Dass Earl Grey mit Bergamotte-Öl aromatisiert wurde, wussten nicht viele Jungs in meinem Alter. »Hätte dich nicht für einen Teeexperten gehalten«, murmelte ich.

»Ich bin noch auf ganz anderen Gebieten Experte.« In seiner Stimme lag ein rauer, anzüglicher Unterton, der bei mir trotz der frühlingshaften Temperaturen eine Gänsehaut verursachte.

Ich hing einen Beutel Earl Grey in meine Tasse, während ich nach einer passenden Entgegnung suchte.

»Das glaube ich dir gerne«, sagte ich schließlich und versuchte dabei, meiner Stimme einen möglichst herablassenden Klang zu verleihen. Lukas sollte nicht bemerken, wie sehr mich seine Aussage aus dem Konzept gebracht hatte.

Der Wasserkocher pfiff und ich war froh, dass ich Lukas deshalb nicht sofort wieder ansehen musste. Extra langsam goss ich das dampfende Wasser in meine Tasse. Erst dann drehte ich mich um, doch Lukas beachtete mich gar nicht weiter. Stattdessen tippte er auf seinem Handy herum. Ich überlegte, ob ich mich zu ihm setzen, in mein Zimmer gehen oder einfach hier, gegen die Anrichte gelehnt, stehen bleiben sollte. Und schon fing mein Verstand an, die möglichen Szenarien zu analysieren. Wenn ich mich zu ihm setzte, wirkte das vielleicht etwas zu vertraut. Wenn ich allerdings in mein Zimmer ging, kam das vielleicht zu abweisend rüber, gerade so, als wollte ich keinen Kontakt. Möglicherweise wäre es das Beste, einfach gegen die Anrichte gelehnt stehen zu bleiben, so wie ich es ohnehin bereits tat. Das war unverfänglich und wirkte weder zu vertraut noch zu abweisend.

Das Schweigen zog sich unangenehm in die Länge. Zumindest empfand ich es als unangenehm. Lukas machte nicht den Eindruck, als kümmerte es ihn, dass ich hier herumstand, denn er war immer noch mit seinem Handy beschäftigt.

Da ich nicht einfach ohne ein weiteres Wort in mein Zimmer verschwinden wollte, versuchte ich es mit ein wenig Small Talk, wobei ich mich möglichst lässig gegen die Anrichte lehnte, die Beine von mir wegstreckte und dabei einen Fuß über den anderen schlug.

»Ist Matze schon an der Uni?«

»Wieso?«, fragte er, ohne von seinem Handydisplay aufzuschauen.

»Ähm, nur so. Weil ich ihn gar nicht gehört habe.«

»Das liegt dann vermutlich daran, dass er noch schläft«, gab Lukas ungerührt zurück.

Mann, wieso gab er mir nur immer das Gefühl, dämliche Fragen zu stellen? Jedenfalls hatte ich jetzt keine Lust mehr auf die anstrengende Konversation und das noch vor dem ersten Schluck Tee. Deshalb zog ich den Teebeutel heraus, warf ihn in den Müll und ging in mein Zimmer. Dort schaltete ich den Laptop an und begann damit, mir einen Putzplan zu überlegen.

***

»Hey, Süße, na, hast du dich schon gut eingelebt?«, begrüßte mich Steffi, als ich mich im Hörsaal auf den Platz neben sie setzte.

»Eingelebt ist wohl nach einer Nacht zu viel gesagt, aber das wird schon.« Ich versuchte möglichst große Zuversicht in meine Stimme zu legen und klang dabei vielleicht etwas überoptimistisch, denn Steffi beugte sich sogleich näher zu mir rüber und beäugte mich skeptisch.

»Aber die beiden Jungs waren schon nett zu dir, oder?«, hakte sie nach.

»Doch, doch. Ich meine, Matze hatte ich ja vorher schon mal kurz kennengelernt, weißt du nicht mehr?«

»Na klar. Da sind wir uns in den Arcaden über den Weg gelaufen.« Steffi nickte bekräftigend, wobei ihr Pferdeschwanz hin und her schwang. Ihre honigfarbenen, welligen Haare trug sie meistens zusammengebunden, da sie laut Steffi so widerspenstig waren, dass sich keine ordentlichen Frisuren damit machen ließen. »Und Lukas, was meinst du zu ihm?«

Bildete ich mir das ein oder war da eben etwas in ihren Augen aufgeblitzt? Was es auch war, jetzt sah sie mich wieder aus großen, unschuldigen Augen an und bei der Nennung von Lukas' Namen und meinen gestrigen Erfahrungen mit ihm verschlechterte sich meine Stimmung automatisch. War ja klar, dass Steffi auch noch auf ihn zu sprechen kommen musste. Mir blieb einfach nichts erspart.

»Zu ihm kann ich eigentlich nicht viel sagen«, versuchte ich mich in einer möglichst diplomatischen Antwort, woraufhin mich Steffi mit diesem Erzähl-mir-nichts-Blick bedachte. »Wir haben bisher kaum ein Wort gewechselt«, verteidigte ich mich sofort, was insofern ja auch stimmte, da Lukas ziemlich einsilbig antwortete. »Er scheint jedenfalls nicht sehr gesprächig zu sein.«