Die Autorin
Sarah Glicker, geboren 1988, lebt zusammen mit ihrer Familie im schönen Münsterland. Für die gelernte Rechtsanwaltsfachangestellte gehörten Bücher von Kindesbeinen an zum Leben. Bereits in der Grundschule hat sie Geschichten geschrieben. Als Frau eines Kampfsportlers liebt sie es, Geschichten über attraktive Bad Boys zu schreiben.
Das Buch
Er ist ein Bad Boy, doch für sie würde er durchs Feuer gehen …
Obwohl Lindsay es im Leben nicht leicht hat, schaut sie immer nach vorn. Als ihre große Liebe Sean ihr eröffnet, dass er nicht bei ihr in Las Vegas bleiben, sondern für sein Sportstudium nach Fresno gehen wird, entscheidet sie sich für die Trennung. Doch danach scheint sie mit Männern kein Glück mehr zu haben. Und drei Jahre später steht Sean wieder vor ihr: mit durchtrainiertem Körper, heißen Tattoos und seinem charmanten schiefen Grinsen. Lindsays Herz schlägt sofort höher. Soll sie ihrer Liebe noch eine zweite Chance geben? Doch was wird Sean sagen, wenn er von Lindsays Geheimnis erfährt?
Sarah Glicker
Second Chance for Love
Roman
Forever by Ullstein
forever.ullstein.de
Originalausgabe bei Forever
Forever ist ein Digitalverlag
der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin
Mai 2017 (1)
© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2017
Umschlaggestaltung:
zero-media.net, München
Titelabbildung: © FinePic®
Autorenfoto: © privat
ISBN 978-3-95818-187-8
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Seit einer Ewigkeit sitze ich schon an unserem Lieblingsort und warte auf Sean. Normalerweise bin ich immer pünktlich, aber an diesem Tag bin ich eine halbe Stunde zu früh gekommen.
Jeden Nachmittag treffen wir uns in dem verlassenen alten Haus, das in der Nähe unserer Highschool steht. Meistens sitzen wir hinten in dem verwilderten Garten und erzählen uns von unserem Tag. Wir lachen viel und vergessen dabei die Zeit.
Da nicht viele von unserer Beziehung wissen, können wir uns leider nicht öffentlich zeigen, obwohl ich genau das gerne tun würde. Aber seine Schwester macht mir schon seit Monaten das Leben schwer, und ich habe keine Ahnung wieso.
Immer wieder kommt mir zu Ohren, dass sie Lügen über mich erzählt, weshalb viele meiner Mitschüler schon nichts mehr mit mir zu tun haben wollen. Sie verbreitet zum Beispiel, ich würde mit jedem Mann gleich ins Bett gehen, wäre eine Lügnerin und kriminell. Aber nicht nur diese Geschichten, die nicht wahr sind, haben die Runde gemacht. Sie hat auch erfahren, dass meine Mutter mich und meinen Bruder verlassen hat, als wir noch klein waren, und überal rumerzählt, dass nicht einmal sie es mit uns aushalten würde. Meinem Bruder hat sie sogar die Reifen durchgestochen. Deshalb halten Sean und ich uns lieber bedeckt.
Der Tag, an dem Sean die Stadt verlassen wird, um in einer anderen zu studieren, rückt immer näher. Das, was ich heute tun werde, fällt mir nicht leicht. Seitdem er mir von seiner Entscheidung berichtet hat, habe ich immer wieder darüber nachgedacht.
Ich kann verstehen, wieso er sich dazu entschlossen hat. An seiner Stelle hätte ich mich nicht anders entschieden. Aber damit hat er mir auch das Herz gebrochen.
Immer wieder habe ich darüber nachgedacht. Aber es ist die richtige Entscheidung für ihn und für mich. Wir werden eh keine Chance mehr haben, sobald wir für die nächsten Jahre voneinander getrennt sind.
Mehrmals atme ich tief durch, wobei ich meinen Blick auf die Straße vor mir richte. Als er endlich um die Ecke biegt, macht sich Erleichterung in mir breit. Diese wird aber weggewischt, als ich sehe, mit was für einem Strahlen im Gesicht er auf mich zukommt.
In meinem Hals bildet sich ein Kloß, den ich schnell hinunterschlucke. Nervös schiebe ich mir eine blonde Haarsträhne aus dem Gesicht und ziehe das Haarband wieder fester.
Ohne ein Wort zu sagen, schließt Sean mich in seine Arme und küsst mich sanft. Diesen letzten Kuss erlaube ich mir, uns. Ein letztes Mal verliere ich mich in seinen Berührungen.
»Hi, meine Hübsche«, raunt er, während er sich ein bisschen von mir löst.
In der einen Sekunde scheint er noch glücklich zu sein, in der nächsten schaut er mich besorgt an. In meinen Augen sammeln sich die Tränen, als ich seinen prüfenden Blick auf mir spüre.
»Was ist los?«, fragt er mich und zieht mich dabei zu einer Bank.
»Sean …«, beginne ich, breche jedoch ab, da ich nicht weiß, wie ich es ihm sagen soll. Ich habe keine Ahnung, wie ich ihm klarmachen kann, was mir in den letzten Wochen ohne Unterbrechung durch den Kopf gegangen ist.
Sein flehentlicher Blick ist auf mich gerichtet.
»Ich kann das nicht. Ich kann nicht von dir getrennt sein und dich kaum sehen. Meine Angst, dass du mich betrügst, ist viel zu groß.«
»Niemals würde ich dich betrügen. Ich liebe dich.« Seine Worte sind sanft, aber bestimmt. Mit seiner festen Stimme duldet er keinen Widerspruch, aber genau den gebe ich ihm.
»Früher oder später würden wir uns sowieso trennen.«
»Lindsay, du weißt, wieso ich mich dafür entschieden habe. Das hat nichts mit dir zu tun. Die Monate werden schnell vorbeigehen.« Verzweifelt fährt er sich mit der freien Hand durch die Haare. Die andere umklammert meine Hände.
»Mir fällt es nicht leicht«, wispere ich, da ich nicht weiß, was ich sonst sagen soll. Aber das Bedürfnis, etwas zu sagen, ist zu groß.
»Ich liebe dich«, betont er noch einmal. Seine Stimme ist leise, trotzdem vernehme ich jedes einzelne Wort, als ob er es mir ins Gesicht geschrien hätte.
»Ich dich auch, aber ich kann das nicht. Sean, bitte, versteh mich doch!«, flehe ich ihn an und kann dabei nicht verhindern, dass mir die Tränen übers Gesicht laufen. Es zerreißt mir das Herz, aber ich weiß, dass ich das Richtige tue.
Sean lässt mich keine Sekunde aus den Augen. Er wartet darauf, dass ich ihm sage, dass alles nur ein Scherz war, aber das tue ich nicht. Stattdessen stehe ich auf.
Ich will ihm meine Hand entziehen, aber Sean lässt mich nicht los.
»Bitte, mach es mir nicht schwerer, als es ohnehin schon ist«, flehe ich ihn an. Er steht so dicht vor mir, dass ich seinen heißen Atem an meiner Haut spüren kann.
Anstatt etwas zu erwidern, beugt er sich zu mir hinunter und küsst mich. Augenblicklich schmelze ich in seinen Armen dahin. All meine Liebe und Verzweiflung lasse ich in die Berührung unserer Lippen fließen.
»Ich weiß, ich hätte manche Dinge tun sollen, die ich nicht getan habe«, flüstert er schließlich an meinem Mund. »Ich lasse dich nur gehen, weil du es willst. Aber du gehörst an meine Seite. Und es wird der Tag kommen, an dem ich es dir beweisen werde.« Seine Worte setzen sich in meinem Herzen fest. Ich bin mir sicher, dass sie genau an dieser Stelle bleiben werden. Und tief im Inneren hoffe ich, dass er recht hat.
»Ich liebe dich, Sean. Pass bitte auf dich auf!« Mit diesen Worten drehe ich mich um und gehe.
Ich verlasse den Mann, dem mein Herz gehört. Mit schnellen Schritten entferne ich mich von ihm. Dabei habe ich aber ständig sein Gesicht vor Augen, wie es von Angst erfüllt ist. Und ich weiß genau, dass ich es niemals vergessen werde.
Erst als ich mir sicher bin, dass er mich nicht mehr sehen kann, sinke ich hinter einem Baum zu Boden, vergrabe das Gesicht in meinen Händen und lasse meinen Tränen freien Lauf.
Verschlafen blicke ich auf die Uhr, nachdem ich meine Augen aufgeschlagen habe. Sieben Uhr. Während ich die Decke über meinen Kopf ziehe, stöhne ich laut auf. Aber sosehr ich es mir auch wünsche, ich kann nicht mehr schlafen.
Heute ist der erste Tag der Semesterferien. Eigentlich wollte ich ausschlafen, aber aus irgendeinem Grund bin ich jetzt schon wach. Kurz spitze ich meine Ohren, aber im Haus ist noch alles ruhig. Meine Eltern sind schon unterwegs, und mein älterer Bruder Mike liegt wahrscheinlich noch von seiner gestrigen Party im Koma, falls er überhaupt nach Hause gekommen ist.
Ich habe gerade das erste Jahr meines Informatik-Studiums beendet, während für Mike nach den Ferien das letzte Jahr beginnen wird. Eigentlich wollte ich gar nicht studieren, aber meine Eltern haben mir so lange damit in den Ohren gelegen und als Begründung angeführt, dass ja sogar Mike aufs College gehen würde, bis ich schließlich doch nachgegeben habe.
Dabei weiß ich ganz genau, wieso Mike studiert. Für ihn ist es nur eine Möglichkeit, noch ein paar Freiheiten zu genießen, bevor er ins Berufsleben startet. Und zu diesen Freiheiten gehören auf jeden Fall Partys und Frauen. Obwohl ich nicht so oft feiern gehe wie er, haben wir trotzdem ein super Verhältnis. In den letzten Jahren hat er mir mehr als einmal bewiesen, dass ich mich immer auf ihn verlassen kann.
Seufzend schlage ich nun die Decke zur Seite und verlasse das Bett. Mit wenigen Schritten habe ich mein kleines Zimmer durchquert und die Tür geöffnet. Als ich den Flur betrete, werde ich von der Ruhe des Hauses empfangen. Zügig gehe ich weiter ins Badezimmer, um mich fertig zu machen.
Eine Stunde später stehe ich in der Küche und schlürfe meinen Kaffee. Das Klingeln meines Handys lässt mich erschrocken zusammenfahren.
»Ja?«, frage ich, nachdem ich einfach abgenommen habe, ohne einen Blick auf das Display zu werfen.
»Guten Morgen, Süße! Ich hoffe, ich habe dich nicht geweckt«, ertönt die gut gelaunte Stimme meiner besten Freundin Joleen.
»Hast du nicht.«
»Wie wäre es mit Frühstück?«, fragt sie mich.
»In einer halben Stunde bei Johnson?« Das Johnson ist ein gemütliches kleines Café, in dem man super frühstücken kann. Da es nicht direkt am Strip liegt, verirren sich nicht so viele Touristen dorthin, weshalb der Laden nicht so überfüllt ist. In den letzten Jahren ist dies unser Stammlokal geworden
»Wir sehen uns!« Mit diesen Worten legt sie wieder auf. Schnell trinke ich meinen Kaffee aus und schnappe mir beim Verlassen des Hauses meine Tasche und die Autoschlüssel.
Draußen begrüßt mich die Sonne. Es verspricht ein schöner Tag zu werden, aber da wir hier mitten in der Wüste sind, ist fast jeder Tag so. Die Luft ist warm, typisch für Las Vegas.
In dieser Stadt wurde ich geboren. Obwohl mich nicht nur schöne Momente mit ihr verbinden, liebe ich sie. Trotzdem möchte ich nicht den Rest meines Lebens hier verbringen. Früher habe ich mir immer ausgemalt, wie ich die Welt entdecke. Mittlerweile denke ich jedoch etwas anders darüber. Ich will zwar immer noch so viel wie möglich reisen, aber dabei den Ort finden, an den ich gehöre.
Während der Autofahrt entdecke ich immer wieder Touristen. Da sie so viel wie möglich von der Stadt der Sünde sehen möchten, sind sie schon sehr früh unterwegs.
Wenige Minuten später finde ich einen freien Parkplatz, der nicht weit vom Johnson entfernt ist. Während ich aussteige und den Wagen abschließe, laufen ein paar Kumpel meines Exfreundes Cole an mir vorbei. Erleichtert atme ich auf, als sie einfach vorübergehen, ohne mich eines Blickes zu würdigen. Kurz frage ich mich, ob sie mich überhaupt erkannt haben, aber selbst wenn nicht, würde mich das nicht stören.
Bei der Erinnerung an ihn und somit auch an das Ende unserer Beziehung bekomme ich Magenschmerzen. Bevor dieser Mann mir den Tag versauen kann, schiebe ich diese Gedanken beiseite und betrete das Café.
Es ist gemütlich eingerichtet. An den Wänden hängen Bilder und Regale, auf denen Bücher stehen, welche die Gäste lesen können. Die Tische erinnern an normale Küchentische, mit ihren Bänken davor. Das ganze Café ist in verschiedenen Brauntönen gehalten, sodass alles farblich perfekt zueinanderpasst.
Joleen sitzt schon in der hintersten Ecke und winkt mir zu.
»Hi«, begrüßt sie mich, als ich ebenfalls an den Tisch trete und mich auf einen der Stühle sinken lasse. »Wie kommt’s, dass du schon so früh auf bist?«
»Ehrlich gesagt habe ich keine Ahnung. Ich konnte nicht mehr einschlafen, obwohl ich gerne noch etwas gedöst hätte.« Meine Schultern bewegen sich ein Stück nach oben und dann wieder nach unten.
»Dein Pech, mein Glück«, erwidert sie. Im Gegensatz zu mir ist Joleen eine Frühaufsteherin. An manchen Tagen steht sie schon auf, bevor die Sonne aufgegangen ist. Ich habe keine Ahnung, was sie zu diesen Uhrzeiten schon macht, habe sie aber auch noch nie danach gefragt.
Nachdem die Bedienung mir eine Tasse Kaffee gebracht hat, lasse ich meinen Blick durch den Raum gleiten. Familien und Paare haben sich an den Tischen verteilt. Kinder lachen, und Männer legen die Arme um ihre Frauen oder Freundinnen.
Bei diesem Anblick zieht sich mein Bauch zusammen, aber ich lasse es mir nicht anmerken. Ich will nicht, dass Joleen den Eindruck bekommt, dass ich Cole vermisse. Denn das ist das Letzte, was ich tue.
»Hast du es schon gehört?« Joleen zieht meine Aufmerksamkeit wieder auf sich. Als ich sie betrachte, erkenne ich ihren vorsichtigen Blick.
»Was denn?«, frage ich sie und hebe dabei meine Augenbrauen ein Stück nach oben.
»Cole hat Heather nach nur vier Monaten Beziehung schon einen Heiratsantrag gemacht.« Bei dieser Information bekomme ich große Augen.
»Freut mich für sie«, erwidere ich nur, da ich keine Ahnung habe, was ich sonst sagen soll. Ich kann Joleen ja schlecht verraten, dass die beiden nicht erst seit vier Monaten zusammen sind. Denn dann müsste ich ihr auch alles andere erzählen, und das will ich auf keinen Fall. Niemand kennt bislang den wahren Grund für unsere Trennung.
Überrascht schaut Joleen mich an.
»Ich freue mich wirklich für die beiden. Zwei Spinner haben sich gefunden.« Bei diesen Worten wackle ich mit den Augenbrauen und stehe auf, um mir Pfannkuchen vom Büfett zu holen.
»Du hättest deinen Bruder gestern Abend sehen sollen«, fängt sie mit etwas anderem an, als ich zu meinem Platz zurückkehre. Ich bin ihr für den Themenwechsel dankbar. »Er war so betrunken, dass er nicht einmal mehr geradeaus laufen konnte«, fährt Joleen fort, als ich wieder sitze.
»Du warst also auch auf der Party«, stelle ich ausdruckslos fest.
»Sonst hätte ich nicht erfahren, dass die beiden heiraten wollen.« Joleen zuckt mit den Schultern und schneidet sich ein Stück ihres Omeletts ab.
»Das habe ich auch nicht böse gemeint«, erwidere ich, da ich ihren etwas schärferen Ton durchaus herausgehört habe.
»Ich weiß«, murmelt sie, während sie genüsslich kaut.
»Also ist Mike wohlbehalten nach Hause gekommen.«
»Einer seiner Jungs hat ihn heimgebracht, glaube ich.« Entschuldigend zuckt Joleen mit den Schultern, was mir ein leichtes Lächeln entlockt.
Den Rest des Frühstücks verbringen wir lachend. Ich bin mir sicher, hätte sie mir die Nachricht von der Verlobung am Telefon übermittelt, wäre ich ausgerastet. Aber nicht, weil ich ihn noch liebe, mittlerweile glaube ich sogar, dass ich ihn nie richtig geliebt habe. Sondern weil ich insgeheim gehofft hatte, dass er das Gleiche wie mit mir auch mit ihr abziehen würde. Aber was nicht ist, kann ja noch werden.
Zwei Stunden später bezahlen wir und verlassen das Café. In dem Moment, in dem ich in Gedanken versunken den Gehweg betrete, pralle ich gegen etwas Großes und werde beinahe umgeworfen.
Starke Hände greifen nach mir und bewahren mich so vor einem unschönen Fall auf die Pflastersteine. Ich brauche ein paar Sekunden, bis ich mich wieder gesammelt habe. Als ich meinen Kopf ein Stück hebe, schaue ich in strahlend blaue Augen, die ich kenne. Überall würde ich sie erkennen.
Sean, schießt es mir durch den Kopf, als ich meinen Blick klar stelle und sein Gesicht betrachte.
Da er fast zwei Köpfe größer ist als ich, schaut er auf mich hinab. Langsam lasse ich meine Augen an ihm hinunterwandern. Auf seinen muskulösen Armen erkenne ich verschiedene Tattoos, die er vor drei Jahren noch nicht hatte. Er trägt ein Muskelshirt, durch das man seine trainierte Brust erkennen kann. Außerdem mache ich auch dort die Ansätze von Tattoos aus. Seine Haare sind durcheinandergewirbelt, was ihm den Anschein gibt, er wäre gerade erst aufgestanden.
Mein Mund wird bei seinem Anblick trocken, und mein Herz beginnt zu rasen. Er sieht noch genauso gut aus wie damals, und er hat immer noch die gleiche Wirkung auf mich. Meine Gedanken wirbeln durcheinander.
Vor mir steht der einzige Mann, den ich jemals geliebt habe. Der Mann, den ich verlassen habe, da ich es für das Beste hielt.
Kaum habe ich ihn erkannt, kommt mir der Nachmittag wieder ins Gedächtnis, an dem ich ihn verlassen habe. Reflexartig versuche ich meine Hände aus seinem Griff zu befreien, aber er lässt mich nicht los.
»Alles gut?«, fragt er mich. Erschrocken zucke ich ein wenig bei seiner Frage zusammen, fange mich aber schnell wieder.
»Ja … danke«, stottere ich verlegen. So unauffällig wie möglich atme ich tief durch.
Eine Weile sagt keiner von uns etwas. Wir stehen uns einfach nur gegenüber und betrachten einander.
»Ich hätte nicht gedacht, dass du mir gleich an meinem ersten Tag hier über den Weg läufst.«
Perplex schaue ich ihn an. »Und das soll bedeuten?«, kontere ich, nachdem ich endlich meine Sprache wiedergefunden habe.
»Ich meine das positiv. Um genau zu sein, bist du einer der Gründe, weshalb ich hier bin«, erklärt er mir und grinst mich dabei frech an.
»Sean …«, beginne ich, führe den Satz jedoch nicht zu Ende, da ich nicht weiß, was ich sagen soll. In mir kommen all die Gefühle wieder hoch, die ich empfunden habe, als ich mich von ihm getrennt habe. Die Verzweiflung, die ich damals gespürt habe.
»Ich muss los«, bringe ich gerade noch hervor, mache dann aber keine Anstalten, aufzubrechen.
»Nein.« Seine Stimme zeigt mir, dass er mich dieses Mal nicht einfach so gehen lassen wird.
Ich hebe meinen Kopf und schaue ihn an. Seine Lippen sind fest aufeinandergepresst. Als ich in seine Augen blicke, verliere ich mich in ihnen. »Meine Freundin wartet«, flüstere ich.
»Ich lasse dich erst gehen, wenn du einwilligst, dich mit mir zu treffen. Eine Verabredung, mehr verlange ich überhaupt nicht von dir.« In mir macht sich das Gefühl breit, dass es nicht bei diesem einen Treffen bleiben wird, wenn ich jetzt Ja sage.
»Und was sagt deine Freundin dazu?«, frage ich lauernd.
»Seit dir hatte ich keine mehr.«
Bei seinen Worten schaue ich ihn verblüfft an.
»Okay«, antworte ich ihm, noch bevor ich genauer über meine Worte nachdenken kann. Innerlich gebe ich mir einen Tritt in den Hintern, aber eigentlich würde ich wirklich gerne einen Abend mit ihm verbringen.
Auf seinem Gesicht breitet sich ein zufriedenes Lächeln aus. Aber ich erkenne auch die Erleichterung in seinen Augen.
»Gib mir bitte dein Handy!« Während er das verlangt, streckt er seine Hand aus. Kurz zögere ich, unsicher, ob ich das wirklich tun soll. Aber dann springe über meinen Schatten, ziehe das Handy aus meiner Tasche und reiche es ihm. »Schreib mir, wo ich dich abholen soll, und wir sehen uns um acht Uhr.« Sean gibt mir das Handy zurück.
Kurz schaue ich auf die Nummer, ehe ich sie unter seinem Namen einspeichere.
»Nur ein Treffen«, erinnere ich ihn noch einmal.
»Wir sehen uns heute Abend«, raunt er, nachdem er sich ein Stück zu mir gebeugt hat. Beim Klang seiner Stimme bildet sich eine Gänsehaut auf meinem Rücken, und meine Brustwarzen richten sich auf. Er hat immer noch die gleiche Wirkung auf mich wie früher.
Da ich kein Wort herausbekomme, nicke ich nur und drehe ihm den Rücken zu. Doch kaum habe ich mich umgedreht, entdecke ich Joleen, die nur ein paar Meter von uns entfernt steht und mich genau beobachtet.
»Seit wann stehst du da schon?«, frage ich sie, während ich sie hinter mir herziehe.
»Lange genug, um zu wissen, dass du heute Abend ein Date mit einem heißen Typen hast.« Auf ihrem Gesicht breitet sich Zufriedenheit aus. »Ich finde das super. Du hast viel zu lange auf Spaß verzichtet, bloß wegen Cole. Und nun, wo er wohl bald die Oberzicke heiraten wird, musst du ihm zeigen, dass du auch ohne ihn Spaß haben kannst.«
»Er ist ihr Bruder«, platzt es aus mir heraus, kaum dass sie geendet hat.
»Das weiß ich. Ich kann mich noch sehr gut an Sean erinnern.« Joleen bleibt stehen und blickt mich an.
»Ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist. In den letzten Jahren ist einfach zuviel passiert«, flüstere ich.
»Und? Ihr habt gut zusammengepasst, und ehrlich gesagt habe ich nie ganz verstanden, warum du dich von ihm getrennt hast.« Bei ihrem Vorwurf überkommt mich das schlechte Gewissen.
»Wir hatten keine Chance, und die haben wir noch immer nicht«, werfe ich ein. »Heather hatte es damals schon auf mich abgesehen, und deswegen mussten wir unsere Beziehung vor ihr geheimhalten.«
Joleen lässt sich meine Worte durch den Kopf gehen. Nachdenklich schaut sie mich an. »Du liebst ihn noch immer! Deswegen warst du so schnell über die Trennung von Cole hinweg. Ich wusste es. In Wirklichkeit hast du die letzten Jahre einen anderen geliebt. Und das bringt mich zu einem weiteren Punkt. Cole hat in den Monaten vor eurer Trennung immer wieder von Hochzeit geredet. Hättest du Ja gesagt, obwohl du ihn nie richtig geliebt hast?«
Das ist eine gute Frage, auf die ich leider auch keine Antwort weiß, gestehe ich mir ein. Während mein Blick an ihr vorbeiwandert zucke ich mit den Schultern. »Es ist wahrscheinlich keine gute Idee, wenn ich mich mit ihm treffe«, werfe ich ein.
»Das ist sogar eine wunderbare Idee. Du musst dasmachen. Ich hatte schon immer das Gefühl, dass du mit Cole nicht so glücklich bist, wie du es mit Sean warst. Und vergiss seine Schwester. Du solltest dein Glück nicht von ihr abhängig machen.«
Nun bin ich diejenige, die sich ihre Worte durch den Kopf gehen lässt. Ich bin hin und her gerissen. Aber im Endeffekt muss ich ihr recht geben. Cole hat mich nicht einmal ansatzweise so glücklich gemacht wie Sean.
»Ich werde mich heute Abend mit Sean treffen, aber ihn danach nie wiedersehen. Und nun muss ich zur Arbeit. Meine Schicht beginnt gleich«, gebe ich schließlich nach.
»Ich wünsche dir auf jeden Fall viel Spaß. Und sag mir hinterher Bescheid, wie es gelaufen ist.«
»Werde ich machen«, verspreche ich ihr, obwohl ich es eigentlich gar nicht will.
»Denk nicht daran, dass Heather seine Schwester ist, sondern hab einfach Spaß. Würde er keine Gefühle mehr für dich haben, hätte er dich nicht nach einem Date gefragt.« Joleen zwinkert mir aufmundernt zu, ehe sie sich umdreht und zu ihrem Wagen geht. Ich schaue ihr hinterher, bis sie aus meinem Sichtfeld verschwunden ist.
Sie meint es nur gut, und dafür liebe ich sie noch mehr.
Ich arbeite in einer großen Eisdiele, die schon seit Generationen im Besitz unserer Nachbarn ist. Ihre Familie hat mit einem ganz kleinen Betrieb angefangen und sich im Laufe der Jahrzehnte immer weiter vergrößert. Mittlerweile stellen sie das Eis sogar in ihrer eigenen Fabrik her.
Der Laden ist immer voll, doch als ich nun um die Ecke biege, erkenne ich, dass sich die Schlange heute bereits draußen auf der Straße befindet. Seufzend straffe ich meine Schultern und betrete das Geschäft.
Ich werde von den lauten Unterhaltungen der Kundschaft empfangen. Rechts von mir stehen verschieden große Tische, und links befindet sich die Eistheke. Hinter ihr verläuft ein Spiegel von oben nach unten und von rechts nach links. Überall an den Wänden kleben Bilder der verschiedenen Eisbecher, von denen einer leckerer aussieht als der andere.
»Lindsay! Zum Glück bist du da. Ich hatte schon die Befürchtung, dass du gar nicht mehr kommst.« Lionel, einer meiner Kollegen winkt mir aufgeregt zu, als ich mir einen Weg durch die Menge bahne.
Lionel ist so alt wie ich. Er ist gut gebaut, was seine Kleidung noch unterstreicht. Man sieht ihn immer in engen Hosen, die seinen knackigen Hintern perfekt zur Geltung bringen. Außerdem trägt er meistens enge Shirts, durch die man seine Muskeln hautnah vor Augen hat. Am Anfang hatte ich mich noch darüber gewundert, wieso er den Annäherungsversuchen der Frauen ausweicht. Bis mir irgendwann klar wurde, dass Lionel schwul ist.
Als ich vor ihm zum Stehen komme, werfe ich einen prüfenden Blick auf die große Uhr, die hinter ihm an der Wand hängt.
»Du weißt aber schon, dass meine Schicht erst in ein paar Minuten beginnt, oder?«
»Trotzdem hoffe ich, dass du mir gleich helfen wirst.« Mit diesen Worten nickt er in die Richtung der wartenden Menge hinter mir. Während ich an ihm vorbeigehe, um meine Tasche in den Aufenthaltsraum zu bringen, lache ich leise. Er ist jedes Mal überfordert, sodass ich mich schon oft gefragt habe, wieso er überhaupt noch alleine im Laden bedienen darf. Im Nebenzimmer werfe ich meine Tasche auf den Tisch und schnappe mir meine Schürze.
Während der nächsten drei Stunden kümmere ich mich um die Kunden und habe deswegen keine Zeit, an das bevorstehende Treffen mit Sean zu denken. Meine Arbeit lenkt mich ab, sodass mich der große Andrang gar nicht stört. Erst als ich mich in der Pause auf einen Stuhl sinken lasse, denke ich wieder an den Zusammenstoß.
Als ich mich vor drei Jahren von Sean getrennt habe, dachte ich, dass ich ihn nie wiedersehen müsste. Ich wollte den Mann, den ich geliebt habe, aus meinem Leben verbannen, und das nur, weil ich Angst davor hatte, dass er mich betrügt. Dabei habe ich im Grunde gewusst, dass er das niemals tun würde. Denn obwohl nicht viele von unserer Beziehung wussten, hat er nie den geringsten Zweifel daran gelassen, dass er mich liebt.
Gedankenverloren ziehe ich meine Tasche zu mir und greife nach meinem Handy, das ganz oben liegt. Ohne darüber nachzudenken, tippe ich meine Adresse ein und schicke sie ihm.
Wenige Sekunden später blinkt es und zeigt mir eine neue Nachricht an.
Ich freue mich schon auf dich.
Sean
Noch während ich die Worte lese, die auf meinem Display erscheinen, beginnt mein Herz schneller zu schlagen.
Nur ein Treffen, mehr nicht, ermahne ich mich selbst. Dabei weiß ich, dass dies gar nicht in meiner Hand liegt.
Kurz überlege ich, ob ich etwas zurückschreiben soll, aber sosehr ich es auch versuche, mir fällt einfach nichts Gescheites ein. Dabei habe ich so viele Dinge im Kopf, die ich ihm sagen möchte.
Ich bin froh, dass die restlichen Stunden meiner Schicht genauso schnell vorbeigehen. Um sechs Uhr trete ich auf die Straße und atme tief durch. Die Arbeit hat mir dabei geholfen, mir die Zeit zu vertreiben, ohne viel grübeln zu müssen. Allerdings habe ich nun immer noch zwei Stunden, um vor Aufregung wahnsinnig zu werden.
Als ich endlich zu Hause ankomme, bin ich fix und fertig mit meinen Nerven. Glücklich darüber, dass ich daheim niemandem über den Weg laufe, betrete ich mein Reich und lasse mich aufs Bett fallen. Mein Zimmer ist so klein, dass gerade mal das große Bett, ein Schreibtisch, ein Kleiderschrank und ein Regal hineinpassen. Aber das hat mich noch nie gestört. Ich habe mir immer gesagt, dass ich so weniger aufzuräumen habe. An den Wänden hängen ein paar Filmplakate und Autogramme von Schauspielern, denen ich während meiner Aufenthalte in Los Angeles über den Weg gelaufen bin.
Wenige Minuten später klopft es an meiner Tür, sodass ich seufzend meinen Kopf hebe.
»Ja?«
Mein Bruder steckt seinen Kopf zur Tür herein. Es dauert ein wenig, aber schließlich schiebt er auch den Rest seines Körpers in mein Zimmer. Mike ist drei Köpfe größer als ich. Er liebt es zu trainieren, und das sieht man ihm auch an. Er hat ein breites Kreuz, und jeder Zentimeter seines Körpers besteht aus Muskeln. Auf seinem kompletten Brustkorb, am Rücken und auf dem Großteil seiner Arme befinden sich Tattoos. Seine braunen Haare sind etwas länger, sodass er sie fast zu einem Zopf zusammenbinden kann. Ich muss zugeben, dass er mit seiner dunklen Sonnenbrille fast schon ein wenig brutal aussieht.
»Na, Schwesterchen. Tauchst du auch endlich mal auf?«
»Ich musste arbeiten«, gebe ich knapp zurück, da ich mit meinen Gedanken schon bei der Verabredung mit Sean bin.
»Du hast nicht zufälligerweise Sean getroffen?« Bei seinen Worten werde ich hellhörig. Automatisch schießt mir die Frage durch den Kopf, ob Sean und Mike heute miteinander gesprochen haben. Die beiden waren früher nämlich die besten Freunde. Daher müsste mein Bruder es eigentlich wissen, wenn Sean wieder in der Stadt ist.
Ich beobachte Mike ganz genau, aber dieser verzieht keine Miene. Schon früher habe ich das gehasst, aber jetzt verfluche ich ihn für sein Pokerface.
»Gut, du hast also bereits mit ihm gesprochen«, kommt es vorsichtig über meine Lippen, da ich keine Ahnung habe, wieviel Mike weiß.
Er setzt sich in Bewegung und lässt sich auf die Bettkante fallen. »Wirst du dich mit ihm treffen?«
»Ich glaube, die Antwort auf deine Frage kennst du schon. Du kannst mir nicht erzählen, dass er dir kein Sterbenswörtchen verraten hat.« Meine Stimme klingt herausfordernd. Ich bin eh schon kurz vor einem Nervenzusammenbruch wegen des Dates mit Sean. Mich jetzt auch noch mit meinem Bruder darüber unterhalten zu müssen, macht die Sache nicht gerade einfacher.
»Na gut«, erwidert Mike, weicht dabei aber meinem Blick aus. »Dieser Mann liebt dich.«
Während er spricht, versuche ich meine Atmung unter Kontrolle zu halten. Aber so ganz gelingen will es mir nicht. Mein Körper füllt sich buchstäblich mit Freude bei dem Gedanken daran, dass Sean vielleicht wirklich immer noch Gefühle für mich hat. Obwohl Joleen das auch gesagt hatte, konnte und wollte ich es einfach nicht glauben.
»Ich weiß, was dir gerade durch den Kopf geht, und ich kann dir nur sagen, dass du es darauf ankommen lassen solltest. Er ist nicht seine Schwester.« Bei diesen Worten hebe ich ruckartig meinen Kopf und blicke ihn an.
»Das weiß ich«, entfährt es mir schnell. Mike soll gar nicht erst denken, dass ich Sean mit Heather vergleiche. Die beiden sind so unterschiedlich wie Tag und Nacht.
»Wovor hast du dann Angst?«
»Ich weiß es nicht«, gebe ich zu und streiche mir dabei ein paar Strähnen aus dem Gesicht.
»Hör auf, dir darüber den Kopf zu zerbrechen, was passieren könnte.« Mit diesen Worten gibt er mir einen freundschaftlichen Klaps auf die Schulter und steht wieder auf.
»Hast du eigentlich gewusst, dass Cole Heather einen Antrag gemacht hat?«, frage ich ihn beiläufig.
»Das ist doch super. Sie passt zu ihm wie Arsch auf Eimer. Die Kinder von denen tun mir jetzt schon leid. Mit den beiden als Eltern wird es sicherlich nicht einfach.« Auf seinem Gesicht breitet sich ein gemeines Grinsen aus. Aber in diesem Punkt kann ich ihm nur recht geben. Beide sind Kontrollfreaks und wollen immer alles an sich reißen. Wenn sich jemand ihren Wünschen entgegenstellt, lassen sie ihm das nicht durchgehen.
Mike beugt sich zu mir hinüber, um mich in seine Arme zu schließen. Nachdem er mir noch einen prüfenden Blick zugeworfen hat, verlässt er mein Zimmer wieder.
Ich schaue kurz auf mein Handy und beschließe dann, dass es an der Zeit ist, mich fertig zu machen. Von Sekunde zu Sekunde werde ich nervöser. Wenn man mich beobachten würde, könnte man vermutlich den Eindruck gewinnen, dass ich noch nie in meinem Leben ein Date gehabt hätte. Aber sosehr ich es auch versuche, ich werde nicht ruhiger.
Um Punkt acht Uhr höre ich, wie das Geräusch der Türklingel durch das Haus schallt. Nervös schlüpfe ich in meine schwarzen High Heels und greife nach meiner ebenfalls schwarzen Tasche. Bevor ich durch die Tür meines Zimmers trete, werfe ich noch einen prüfenden Blick in den großen Spiegel, der an meinem Schrank hängt.
Ich habe mich für ein graues Kleid mit schwarzen Mustern entschieden. Es passt zu den meisten Anlässen, also ist es egal, wohin Sean mich mitnimmt. Meine Haare habe ich offen gelassen, aber ein paar Wellen hineingezaubert. An meinem Hals trage ich die Kette, die er mir damals geschenkt hat. Sie ist mit einem Herzen und mehreren Strasssteinen verziert. Oft habe ich versucht, sie in den Müll zu schmeißen, aber ich konnte es einfach nicht.
Als ich den Treppenabsatz erreiche, höre ich die Stimmen von Mike und Sean. Um die beiden auf mich aufmerksam zu machen, gehe ich so laut es geht hinunter, bleibe jedoch schon nach wenigen Schritten wie vom Blitz getroffen stehen. Denn der Anblick von Sean verschlägt mir die Sprache.
Er trägt eine tief sitzende Jeans und ein Hemd, von dem die oberen Knöpfe offenstehen. Es spannt sich um seine Arme und seine Brust und sorgt so dafür, dass mein Blick an seinen Muskeln hängen bleibt. Damals hatte er schon viele, aber in den letzten Monaten ist er eindeutig noch kräftiger geworden. Als mir wieder einfällt, dass Mike neben uns steht, reiße ich mich schnell zusammen und höre auf ihn anzuglotzen.
»Hi, du siehst fantastisch aus«, begrüßt er mich, nachdem ich die unterste Treppenstufe erreicht habe. In der nächsten Sekunde lehnt er sich zu mir vor und drückt einen sanften Kuss auf meine Wange. Meine Haut beginnt zu prickeln, und mein Verstand setzt einen Augenblick aus. Innerlich verpasse ich mir selber einen Arschtritt, weil mein Körper immer noch so intensiv auf ihn reagiert.
»Danke«, erwidere ich, wobei meine Stimme etwas zu schrill klingt. So nervös bin ich nicht einmal gewesen, als ich Sean kennengelernt habe.
Beruhige dich, Lindsay!, ermahne ich mich selber, obwohl mir klar ist, dass dies nichts bringen wird.
»Wir müssen unbedingt wieder zusammen trainieren«, wendet sich Mike an Sean, der von der Idee begeistert zu sein scheint. Erleichtert darüber, dass mein Bruder für etwas Ablenkung sorgt, atme ich tief durch.
»Auf jeden Fall«, meint Sean.
Kurz blicke ich zwischen den beiden hin und her, entscheide mich aber dazu, nichts zu sagen.
»Wollen wir?«, wendet sich Sean nun an mich und zieht so meine Aufmerksamkeit wieder auf sich.
»Von mir aus können wir los.«
Kaum habe ich ausgesprochen, greift er nach meiner Hand. Eine Art elektrischer Schlag durchfährt mich an der Stelle, an der seine Haut meine berührt. Als ich einen Blick in sein Gesicht wage, erkenne ich, dass er meine Reaktion bemerkt hat, denn ein leichtes Lächeln legt sich auf seine Lippen.
Damit sieht er so süß aus, dass ich mich zusammenreißen muss, um ihm nicht um den Hals zu fallen. Zum ersten Mal an diesem Tag habe ich das Gefühl, dass die kommenden Stunden doch nicht so schlimm werden könnten, wie ich befürchtet habe. Erst das Räuspern von Mike reißt mich aus meinen Träumereien.
»Viel Spaß«, flüstert er mir ins Ohr und nickt Sean zu.
Da ich nicht weiß, was ich sagen soll, verlassen Sean und ich das Haus, ohne ein weiteres Wort zu verlieren. Kaum sind wir durch die Tür getreten, kann ich endlich befreiter atmen. Ich habe das Gefühl, als wäre eine große Last von meinen Schultern gewichen, obwohl dies noch der leichtere Teil war.
Dieser Abend verspricht interessant zu werden.
»Wo fahren wir hin?«, frage ich Sean, nachdem er sich in den Verkehr eingegliedert hat und den BMW durch die Straßen lenkt. Er fährt immer noch den gleichen Wagen wie vor zwei Jahren. Allerdings habe ich bereits auf den ersten Blick gesehen, dass er ein paar Dinge hat machen lassen. Die Stoßstange ist nicht mehr eingedrückt und die Beifahrertür nicht mehr zerbeult. Das war passiert, als ihm einer in die Seite reingefahren war. Er hatte es damals so belassen, da die Versicherung Stress gemacht hat und er sich die Reparaturkosten sparen wollte.
»Es ist schon ein paar Jahre her, seitdem ich das letzte Mal in Las Vegas war, deswegen musste ich erst mal meine Eltern fragen. Ich hoffe, ich finde das Restaurant auf Anhieb.«
»Deine Eltern wohnen noch hier?«, hake ich interessiert nach.
»Ja, aber ich glaube, sie werden in den nächsten Jahren ebenfalls die Stadt verlassen. Sobald meine Schwester diesen Schleimer geheiratet hat, hält sie auch nichts mehr hier.«
Bei der Erwähnung von Cole zucke ich kurz zusammen.
Weiß Sean, dass ich mit diesem Schleimer zusammen war?
Ich habe keine Ahnung, aber falls dies nicht der Fall sein sollte, muss ich es ihm früher oder später sagen. Allein der Gedanke daran, dass ich ihm unsere frühere Beziehung enthüllen muss, sorgt dafür, dass sich mir der Magen umdreht. Es fühlt sich an, als hätte ich ihn betrogen, dabei waren wir doch gar nicht zusammen.
»Aber über Cole brauche ich dir ja nichts zu erzählen. Du kennst ihn ja zur Genüge.« Kurz schaut Sean zu mir rüber. Bei seinen Worten geht mein Mund wie von alleine auf, um etwas zu erwidern. Allerdings habe ich keine Ahnung, was ich sagen soll. Deswegen schließe ich ihn schnell wieder und hoffe, dass er es nicht bemerkt hat.
»Du weißt, dass wir zusammen waren?«, frage ich ihn, obwohl die Frage überflüssig ist.
»Sicher«, sagt er mit einer Selbstverständlichkeit in der Stimme, dass ich mich fühle, als wäre ich ein kleines Kind. »Wie lange ging eure Beziehung?«, fragt er mich nun.
»Ach? Das weißt du nicht?«
»Mike hat es nicht so mit Zahlen«, erklärt er mir.
»Etwas über ein Jahr«, flüstere ich, da die Beziehung zu Cole in diesem Moment das Letzte ist, an das ich denken will. In vielerlei Hinsicht war es falsch, mich mit ihm einzulassen. Leider wollte ich nicht auf Mike hören, der mich mehr als einmal gewarnt hat, und habe deswegen viel zu spät begriffen, wie Cole wirklich ist.
Sean scheint zu spüren, dass meine Laune sich rapide verschlechtert. Er greift über die Mittelkonsole hinweg und nimmt meine Hand zärtlich in seine.
Sofort kommt wieder das gleiche vertraute Gefühl zum Vorschein, das er schon vor Jahren in mir wachgerufen hat. Um mich abzulenken, konzentriere ich mich wieder auf die Straße.
Es dauert eine Weile, aber schließlich halten wir auf einem Parkplatz, der zwischen zwei großen Häusern liegt.
Sean sagt kein Wort, als er den Motor abstellt und aussteigt. Ich beobachte ihn dabei, wie er mit geschmeidigen Bewegungen den Wagen umrundet und schließlich vor meiner Tür stehen bleibt, um sie zu öffnen. Er schaut mich etwas unsicher an, als er mir seine Hand reicht. Auch wenn ich dieses Verhalten schon immer lächerlich gefunden habe, muss ich zugeben, dass ich die bei ihm unerwartete Höflichkeitsgeste nun genieße. Langsam greife ich nach seiner Hand und verschränke meine Finger mit seinen.
Ein hoffnungsvoller Ausdruck erscheint auf seinem Gesicht, der auch in mir Hoffnung weckt. Aber ich lasse es mir nicht anmerken. Immer wieder rufe ich mir in Erinnerung, wieso ich mich von ihm getrennt habe. Er wohnt in einer anderen Stadt, und alleine deswegen wird es zwischen uns nicht funktionieren.
Kaum stehe ich mit beiden Füßen auf dem Boden, stellt er sich so dicht vor mich, dass ich spüren kann, wie seine Brust sich bei jedem Atemzug hebt und senkt.
»Vergiss den Idioten«, flüstert er dicht an meinem Ohr. Sein heißer Atem streift es und sorgt dafür, dass ich eine Gänsehaut bekomme.Dem zufriedenen Lächeln, das sich auf seinem Gesicht ausbreitet, entnehme ich, dass er meine Reaktion auf ihn durchaus bemerkt hat.
»Ich habe überhaupt nicht an ihn gedacht.«Sean sagt nichts mehr, sondern legt seinen Arm um meine Hüfte und führt mich in das Restaurant.