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Impressum
Ein Haus erzählt – Mühlhäuser Geschichte(n) für Kinder –
von Yvonne Bauer (Autor)
1. Auflage
Copyright: © 2018 Yvonne Bauer
Bilder und Coverdesign: © Yvonne Bauer
Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN: 978-3-748-11462-8
»Pssst ...! Du ...!«
Erschrocken stolperte die kleine Emma rückwärts. Sie strauchelte und fiel auf ihren Po. »Autsch!« Verärgert über ihre linken Füße rappelte sich das Mädchen mit den feuerroten Haaren wieder auf. Was war das denn für ein Geräusch? Sie lauschte um die Ecke. Da war nichts, nur ein altes Haus mit kaputten Fenstern, das ziemlich ramponiert aussah. Es erinnerte sie an das alte Hexenhäuschen aus dem dicken Märchenbuch, aus dem Oma ihr immer vorlas. Emma hob ihren Roller wieder auf, den sie vor Schreck hatte fallen lassen, und schob ihn vor sich her.
»Pssst ...!«
Das Mädchen schüttelte den Kopf, dass die roten Zöpfe nur so um ihren Kopf herumflogen. »Hallo? Wer ist denn da?«
Sie stellte den Roller an der Hauswand ab und spähte um die Ecke. Kein Mensch zu sehen. Ob Lukas sich dahinter versteckte? Der ärgerte sie schon, seit sie zusammen in den Kindergarten gingen und nun auch in der großen Pause auf dem Schulhof. Der Blödmann zog sie immer an ihren Zöpfen und verspottete sie, weil sie so viele Sommersprossen auf der Nase hatte. Seine beiden Freunde, Kevin und Jonas waren auch nicht besser. Zu dritt fühlten sie sich unbesiegbar. Aber heute war Lukas vielleicht allein.
Dem werde ich es zeigen! Auf Zehenspitzen schlich Emma durch die schmale Gasse bis zur Hausecke und lugte vorsichtig herum. Komisch. Sie konnte weit und breit niemanden sehen. Verwundert schüttelte sie den Kopf. Wahrscheinlich hatte sie sich ja alles nur eingebildet. Emma lief zurück zu ihrem Roller. Gerade, als sie losfahren wollte, hörte sie wieder ein Flüstern.
»Du kannst mich doch hören. Willst du nicht reinkommen?«
Emma glaubte, ihren Ohren nicht zu trauen. »Wer ist denn da? Das ist nicht witzig! Lukas, bist du das?« Ob er sich im Haus versteckt hatte? Die Tür, von der die rotbraune Farbe vom Holz abblätterte, stand einen Spalt weit offen. Das Mädchen lief zurück und zögerte einen Moment. Dann drückte sie vorsichtig gegen die Haustür, die quietschend aufging.
Der dunkle, kleine Flur wurde durch das einfallende Licht beleuchtet. Emma zögerte noch einen Moment. Sollte sie wirklich hineingehen? Wenn Lukas das kann, dann ich auch. Das wäre ja gelacht, ich bin genauso mutig wie der Blödmann. Also setzte sie einen Fuß über die Schwelle und trat ein. Emmas Herz klopfte ganz schnell und laut. Sie konnte es in ihren Ohren hören.
»Hallo?« Emma stand vor einer alten Treppe mit durchgetretenen Holzstufen. Auf den Stufen lag ganz viel Staub. Spinnenweben hingen an den Wänden und von der Decke. Igitt! Wo Spinnennetze sind, da gibt es auch Spinnen. Der Gedanke ließ das Mädchen erschaudern. Sie hasste diese Krabbeltiere, genau wie Mutti. Die stellte zuhause immer ein Glas darüber, damit Papa sie wegschaffte, wenn er heimkam.
Als Emma den Kopf nach links drehte, sah sie eine Tür, die schräg in den Angeln hing. Wahrscheinlich würde sie umfallen, wenn man sie nur antippte. Sie könnte darunter durchkrabbeln, um zu sehen, was sich dahinter verbarg. Gesagt – getan.
Als sie in dem kleinen Raum stand, sah sie sich um. Die beiden Fenster waren kaputt. Licht und Luft drangen dort ungehindert herein. An der Decke hing eine uralte Glühbirne. Sie war schwarz und funktionierte wahrscheinlich nicht mehr. Schmutzige Tapeten mit eigenartigen Mustern hingen in Fetzen von den Wänden. An einigen Stellen lugten Holzgeflecht, Stroh und sogar krumme Balken hindurch. Wie alt das Haus wohl war?
Emma drehte sich im Kreis. Von Lukas keine Spur. Ob sie sich doch geirrt hatte? Vielleicht hat ihr ja der Wind einen Streich gespielt. Wenn er so um die Hausecken pfiff, hörte es sich schon wie ein Flüstern an. Sie ging in die Knie und wollte unter der Tür durchkrabbeln, als erneut jemand zu ihr sprach.
»Bitte geh nicht! Seit über 200 Jahren hat mich keiner mehr gehört. Ich bin so allein.«
»Das gibt es doch nicht! Wer ist denn da?«
Suchend sah Emma sich um.
»Ich bin´s, das Haus.«
Nun musste die Kleine lachen. »Ein Haus kann nicht sprechen. Jetzt komm schon raus aus dem Versteck!«
»Einige Häuser können das. Nur hören die meisten Menschen nicht zu.
Es hat lange gedauert, bis ich dich gefunden habe.«
»Gefunden?«
»Ja, ich rufe immer wieder, wenn jemand an mir vorbeigeht. Aber niemand hat mich auch nur angesehen. Früher war ich das schönste Haus in der ganzen Straße. Die Leute waren stehen geblieben und haben meine wunderschönen Fachwerkbalken und die Verzierungen bewundert. Heute laufen alle achtlos an mir vorbei.«
Emma war immer noch nicht überzeugt. Sie hatte noch nie davon gehört, dass Häuser sprechen können. Aber sie konnte weit und breit keinen Menschen sehen. Konnte das wirklich sein? »Warum sollte ich dich hören können und sonst niemand?«
»Das weiß ich auch nicht. Wahrscheinlich bist du eines dieser besonderen Kinder.«
»Besondere Kinder? Wie viele waren denn schon hier und haben sich mit dir unterhalten?«
Emma erschrak, als ein Knarren aus der linken Ecke des Zimmers ertönte. Ob das Haus beim Nachdenken Geräusche macht?
»Lass mich kurz überlegen. Ich wurde vor langer Zeit gebaut, vor beinahe fünfhundert Jahren. Seit damals waren es insgesamt sieben Kinder, die mich hören konnten.«
Das Mädchen war beeindruckt. Fünfhundert Jahre, das war ja eine Ewigkeit. Sie hatte vor kurzem ihren achten Geburtstag gefeiert und konnte sich nicht vorstellen, wie es sein müsste, wenn man so alt war. Das Haus musste sehr einsam sein, wenn es in all der Zeit nur mit sieben Kindern gesprochen hatte. Und was hatte es gesagt, vor zweihundert Jahren war es das letzte Mal? Emma schüttelte ungläubig den Kopf. Wahrscheinlich hatte sie ihn angestoßen, als sie vorhin hingefallen war. Sie rieb sich über den Hinterkopf. Keine Beule. Langsam bekam sie es mit der Angst zu tun. Sie sollte nach Hause gehen und so tun, als wäre das alles nicht passiert. Als sie sich zum Gehen wandte, erfüllt wieder ein Wispern den Raum.
»Bitte lauf nicht weg! Ich bin so froh, dass du da bist. Ich kann dein Freund sein. Ich kann dir Geschichten erzählen, nur bitte, bleib noch ein bisschen!«
Die letzten Worte klangen wirklich sehr traurig und flehend. »Na gut. Aber nur eine halbe Stunde. Dann muss ich nach Hause. Meine Mutti wird schon mit dem Abendbrot auf mich warten.« Emma setzte sich im Schneidersitz auf den Boden. Ihre Hose war sowieso schon schmutzig, da kam es auf ein bisschen Staub mehr oder weniger nicht an. »Na schön, dann erzähl mir eine Geschichte! Eine möglichst Alte, wenn es geht, eine von vor fünfhundert Jahren.«
Das nächste Geräusch, das Emma hörte, klang fast wie ein Seufzen.
»Ich bin so froh, dass du bleibst. Ich kann dir sogar Dinge erzählen, die noch weiter zurückliegen. Einige meiner Balken stammen von einer uralten Eiche, die von den Anfängen der Stadt berichten können.«
»Das klingt spannend, dann mal los!«
»Wie heißt du eigentlich?«
Jetzt hörte die Kleine ein Knarren aus der rechten Ecke des Zimmers, so als würde das Haus leben. »Ich bin Emma. Meine Oma sagt immer Emmchen zu mir. Meine Mutti ruft mich Emmi, außer wenn ich böse bin. Da sagt sie Emma Justina Schwarz! Du kannst es dir aussuchen.«
»Emma also. Ich habe mal eine Emma gekannt. Sie war die Schwester von Johannes, einem Freund von mir. Das waren die Kinder der Familie, die mich erbaut haben. Sie konnte mich aber nicht hören und dachte, ihr Bruder würde Selbstgespräche führen, wenn wir beide uns unterhalten haben. Ach, das ist eine Ewigkeit her.«
Dem Mädchen kam es so vor, als würde der Boden unter ihr schaukeln. Sie hielt sich mit beiden Händen fest und wartete darauf, dass sich das Haus wieder beruhigte.
»Also gut, ich werde dir heute von den ersten Menschen erzählen, die hier ein neues Zuhause gesucht haben. Mach es dir bequem, es könnte eine Weile dauern. Ich habe so viele Geschichten für dich!«
Emma rutschte mit den Hinterbacken über den harten Boden. Vielleicht sollte sie das nächste Mal ein Kissen mitbringen. »Dann schieß los!«
»Wo fange ich an? Ach ja ... Natürlich sind hier vor tausenden Jahren schon Menschen auf der Suche nach Beeren und Früchten an der Unstrut entlanggewandert. In euren Geschichtsbüchern werden sie als Jäger und Sammler bezeichnet. Sie waren in Felle gekleidet und viel kleiner als die Leute heutzutage. Ich habe keinen von ihnen kennengelernt, aber der Stein dort links in der Ecke hat gesagt, dass es sie gab.«
Emma war beeindruckt. Sie sah sich den hellbraunen Stein, von dem das Haus gesprochen hatte, einmal genau an. Es war kaum zu glauben, dass er tausende Jahre alt sein sollte.