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Vollständige E-Book-Ausgabe der im Rosenheimer Verlagshaus erschienenen Originalausgabe 2006



© 2017 Rosenheimer Verlagshaus GmbH & Co. KG, Rosenheim

www.rosenheimer.com


Titelfoto: Studio von Sarosdy, Düsseldorf

eISBN 978-3-475-54704-1 (epub)

Worum geht es im Buch?

Paul Friedl

Der große Sturm

Viele Jahrzehnte ist es her, dass ein großer Sturm im Waldgebirge über der Donau tobte. Damals glaubte man, der Weltuntergang bräche an. Die Not der Menschen und die Zerstörung der Wälder schildert Paul Friedl in diesem eindrucksvollen Roman. Er berichtet von dem Leben der Waldbewohner, von Hass und Liebe, und von einer Frau, deren Schicksal ihre Landsleute zutiefst bewegte.

... einen prächtigeren Wald könnt ihr euch gar nicht vorstellen, liebe Eltern, die kleinen Orte sind darin eingeschlossen wie weltferne Inseln, und hier lebt man auch so, als wenn man aus der Welt wäre. Die Menschen sind äußerlich rauh, aber sie haben viel Gemüt. Die Holzhauer, mit denen ich zu tun habe, sind ungemein fleißig und genügsam. Sie sind treu und hilfsbereit, wenn man sich mit ihnen versteht. Nur einige Wildschützen machen mir Sorge und da sind noch ein paar Leute im Ort, mit denen ich nicht ganz zurechtkomme. Spiegelau ist ein ganz kleiner Glashüttenort, landschaftlich aber so schön unter dem gewaltigen Waldriesen Rachel, meinem Revier, gelegen, daß ich oft glaube, dieses Landl nicht mehr verlassen zu können. Hoffentlich geht der Krieg mit Frankreich bald zu Ende. Viel spürt man ja hier nicht davon. Hier wird Holz gefällt und Glas gemacht, und auf den kleinen Wiesen und Ackerflächen um die Weiler gerade soviel geerntet, daß niemand verhungern muß. Das ist für heute wieder alles, und ich grüße Euch herzlich als Euer Sohn

Franz

Nachdenklich überflog der junge Förster Horlacher noch einmal das Schreiben und steckte es in das Kuvert. Hätte er vielleicht dazu schreiben sollen, daß hier im Ort auch ein junges Mädchen ist, das ihn stark anzog? Auch von dem ungewöhnlichen Naturschauspiel hätte er berichten können, das gerade am westlichen Himmel verflackerte und vor einer Stunde soviel Aufregung in den Ort gebracht hatte.

Der wolkenverhangene Oktoberhimmel wurde gerade noch vor Dunkelwerden gegen Westen aufgerissen, als hätte ein scharfes Schwert die grauen Vorhänge aufgeschlitzt. Lodernden Flammen gleich schossen aus dem Spalt schwefelgelbe Lichtströme und setzten gelbe Feuerzungen auf die Baumwipfel und Hausdächer. Drunten bei der Glashütte und der Mühle waren die Leute zusammengelaufen und starrten mit weißen Gesichtern gegen den dräuenden Schein. Ein böses Vorzeichen war es nach ihrer Meinung und einige glaubten gar, sie hätten durch den Wolkenschlund mitten in den Franzosenkrieg hineingesehen. Die Männer hatten gemunkelt und die Weiber lamentiert, bis sie der dicke Hüttenherr von Spiegelau mit dem Hakelstecken auseinandertrieb.

Für diese Waldleute gab es eben noch viel Unerklärliches und Nacht und Dämmerung waren hier noch voller Geister und Gespenster. Ungewöhnliche Vorgänge in der Natur wurden von ihnen noch nach ihrer Weise ausgelegt.

Schmunzelnd strich sich der Förster Horlacher den blonden Vollbart und zog sich die Holzlisten heran, die er noch fertigstellen wollte, ehe er zu einem Trunk ins Hüttenwirtshaus, dem Zankl, hinunterging.

Draußen war es Nacht geworden und der Schein der Petroleumlampe unter dem häßlichen Blechschirm lag mild über den Papieren auf dem aus rohen Fichtenbrettern gezimmerten Schreibtisch. Grob hölzern und nur vom Tabakrauch angebräunt waren auch die Wände und das Aktenregal, und als einziger Wandschmuck hing über dem Schreibtisch ein Kalender mit dem königlich-bayerischen Wappen, das von zwei schweifschwingenden Löwen gehalten wurde.

„Wieder ein Tag“, knurrte er. Für heute sollte es genug sein. Mit gemütlicher Umständlichkeit griff er zur langen Pfeife, setzte sie in Brand und sah, sich behaglich zurücklehnend, den Rauchwölkchen nach, die hinter dem grünen Blechschirm der Lampe im Dunkel unter der Stubendecke verschwanden.

„Mittwoch, den 26. Oktober 1870“, sagte er vor sich hin und mußte daran denken, daß es nun fast zwei Jahre waren, seit man ihn in den Bayerischen Wald, auf diese weltverlorene Forstdienststelle geschickt hatte. In diesen wenigen Monaten schien es ihm, als hätte ihn diese grüne Flut, die hier über Berg und Tal ging, schon völlig aufgesogen.

Weit lag in seiner Erinnerung das Tal in den Voralpen zurück, in dem er zuvor Dienst getan hatte. Ihm war, als hauste er schon ewig lange in diesem Häusl des Waldhüters Friedl auf der Hochreuth über dem Glasmacherort, wo Dienststube und Schlafstube unter einem Dach waren. Die beiden Waldhüterleute waren redlich um ihn besorgt und wenn er Gesellschaft wollte, dann konnte er sie im Hüttenwirtshaus suchen. Auch das Herrenhaus des Ludwig Stangl, des kleinen Glaskönigs in diesem Walddorf, stand für ihn immer offen. Mit der jungen Schwester des Herrn Stangl, dem Fräulein Lisl, konnte man sich auch ganz gut unterhalten.

War überhaupt ein reizendes Mädel, diese Elisabeth.

Er lächelte vor sich hin und sah sinnend zur Wand. Den Bleistift aufnehmend beugte er sich vor, um von dem Wandkalender mit der verschnörkelten Jahreszahl 1870 den 26. Oktober abzustreichen.

Da durchzuckte die Stille in der Dienststube des Försters von Spiegelau ein lauter Knall, und die Splitter der Fensterscheibe flogen dem jungen Mann ins Genick. Wo der gemauerte Kamin die Holzwand unterbrach, dicht am Schreibtisch, rieselte der Kalk.

„Fix Teufel —.“

Horlacher fuhr herum und sprang zur Wand neben dem Fenster, preßte sich an die Bretter und horchte. In den Ohren lag ihm noch der Knall des Schusses und das Poltern des derben Stuhles, den er beim Aufspringen zu Boden gestoßen hatte. Trotzdem hörte er flüchtende Schritte über den steinigen Weg eilig davontappen. Er zerrte das Gewehr von der Wand, stieß die Tür auf und rannte durch den dunklen Hausgang ins Freie.

Draußen lag die Nacht in einer Schwärze über dem Wald, die nichts mehr erkennen ließ. Die polternden Schritte hörte er noch über dem Rauschen des Baches drunten in der Steinklamm, dann gab die Finsternis keinen Laut mehr preis. Hinter ihm schlug in der Wohnstube des Waldhüters Friedl die Kuckucksuhr die achte Abendstunde.

Einige Schritte ging er in die Dunkelheit. Seine Füße trieben raschelnd das gefallene Laub der großen Linde auf, die das Häusl überdachte. War so eine Rabenschwärze überhaupt möglich, mußte er denken. Eine so völlig lichtlose Nacht hatte er noch nicht erlebt. Das kleine Viereck des Fensters seines Dienstzimmers hing wie ein gelber Fleck vor ihm in der Nacht. Er trat heran.

Keine zwei Meter von dem Loch in der Scheibe hatte er dort am Tisch gesessen und nichtsahnend ein sicheres Ziel geboten. Wenn er sich nicht gerade vorgebeugt hätte, um am Kalender den Tag abzustreichen?

Die kühle Luft strich ihm um Haar und Bart und er fröstelte. Jetzt fiel ihn erst der Zorn an.

„So ein Gauner“, knirschte er und wußte zugleich, daß er nicht einmal jemanden wüßte, der es gewesen sein könnte. So suchte sein Zorn nach einem anderen Ausweg. Natürlich: Warum waren hier auch keine Vorhänge? Da saß man ja im Licht, wie es sich ein Schütze gar nicht besser wünschen konnte. Vorhänge für die Schreibstube konnten sich ja die königlich-bayerischen Forstämter nicht leisten. Hier in dieser Waldöde genügte ja alles. Es reichte ja nicht für ein Forsthaus und der Förster war in diesem wurmstichigen Waldlerhaus gut genug untergebracht.

„So ein Saustall!“

Im Haus hörte er eine Tür knarren und nun ging auch er wieder in das Dienstzimmer zurück und hing das Gewehr wieder an die Wand.

Das war also nun der zweite Schuß aus dem Hinterhalt gewesen. Einmal am hellichten Tag bei den Reschhäusern und auch damals war es der gleiche kurze Knall gewesen. Es war ein ungutes Gefühl und er konnte nicht einmal raten, vor wem er sich in acht nehmen sollte. Nachdem aber der Bursche so ins Zeug ging, konnte er mit der Möglichkeit rechnen, ihn doch einmal vor die Flinte zu bekommen. Er würde sich in Zukunft auf allen Wegen gut umsehen. Er spürte es wie eine Gewißheit und das versetzte ihn in eine grimmige Heiterkeit. Als die Friedlin im Unterrock in der Tür erschien, hatte er sich schon gefaßt.

Ihre flinken Augen wanderten durch die Stube und den zahnlosen Mund verziehend fragte sie: „Ist ihnen einer durchs Fenster? Ui, ui, die Scheiben is hin. Auf was habens denn da geschossen?“

„Keine Sorg, Friedlin, die Fensterscheibe bringen wir morgen schon wieder zurecht. Schläft der Friedl?“

„Grad hat er sich hingelegt. Hör ihn aber schon.“

Mit einem freundlichen Lächeln schob er sie zur Tür hinaus. „Er soll nur liegen bleiben. Ist ja weiter nix passiert.“ Da bemerkte er auf dem Boden die plattgedrückte Bleikugel. Rasch bückte er sich und steckte sie in die Hosentasche.

Da erschien aber der Waldhüter schon in der Tür, die Hose mit den Händen festhaltend. Schwarz und grau gemischt standen die Bartstoppeln von seinem kräftigen Kinn ab; der lange Schnurrbart hing ungepflegt nach unten. Auffallend waren die großen braunen Augen unter buschigen Brauen. Die breiten Schultern und muskulösen Arme verrieten, daß er in jungen Jahren einmal ein guter Holzhauer gewesen sein mußte.

„Na, Herr Förster, wo hat es denn da geschnackelt?“ Er blickte vom zertrümmerten Fenster zum Einschlag am Kamin und sein Gesicht verdüsterte sich. Unwillig schob er sein Weib aus der Stube und schloß die Tür. Dann rückte er sich einen zweiten Stuhl an den Tisch und sah den jungen Förster forschend an.

„So, so, hm“, brummte er, fixierte noch einmal Fenster und Kamin und sah sich suchend auf dem Boden um. Horlacher steckte sich indes wieder die Pfeife an. Er wich dem Blick der braunen Augen aus, wurde verlegen und sagte schließlich ärgerlich: „Na ja, da hat sich halt einer einen groben Scherz erlaubt. Wenn das ernstgemeint wäre, hätte es bei dieser Distanz gar keinen Fehlschuß geben dürfen.“ Der Alte kniff ein Auge zu und sah mit einem grimmigen Lächeln auf den Förster: „Wahrscheinlich! Wird halt wieder derselbige gewesen sein, der es schon einmal bei den Reschhäusern hinten probiert hat. Das muß ein spaßiges Mannsbild sein.“ Plötzlich aber wurde er grob: „Sie selber sind aber ein noch spaßigeres Mannsbild, Herr Horlacher. Hätten Sie es damals angezeigt, vielleicht wäre dann — ach was, ich geh morgen in die Grafenau. Da müssen die Gendarmen her.“

Belustigt lachte Horlacher auf.

„Glaubst du, Friedl, daß da nur die Gendarmen kommen können und den Schützen auch schon haben werden? Ich sag dir: den kriegen wir zwei noch und wenn’s auch eine Weile dauert. Weißt was, Alter? Wir sagen gar nix, aber um so mehr wollen wir aufpassen und uns die Leut einmal genauer ansehen. Ins Bockshorn laß ich mich net jagen und gar so schlimm ist es auch noch nicht. Wenn ich in den Franzosenkrieg hätt’ müssen, dann hätt’ mich ja auch eine Kugel treffen können.“ Der alte Waldhüter sah sich unruhig in der Stube um, betrachtete den Einschlag am Kamin, nahm dann die Lampe vom Haken und suchte den Fußboden ab. „Was suchst denn?“

„Die Kugel muß dasein, die kann doch net beim Dach hinaus sein.“

„Warum net?“ Da kam der blondbärtige Förster bei dem alten Waldhüter aber schlecht an. Dieser polterte los:

„Jetzt halten S’ mich net für dumm! Ich werd Ihnen was sagen: Da ist net mit einem Gewehr geschossen worden, sondern mit einem Pistol, und Sie haben ein saumäßiges Glück gehabt. Wenn ich die Schußlinie anschau —“

Da erst wurde Horlacher wieder ernst und erzählte seinem Waldhüter, wie es zugegangen hatte und zeigte ihm auch das plattgedrückte Blei.

„Sollt es der Schwankl gewesen sein?“ zweifelte der Friedl. „Der ist seit vierzehn Tagen wieder aus der Passauer Fronfeste heraußen.“

„Hm, aber denk dran: das bei den Reschhäusern ist aber schon drei Wochen her und da ist der Schwankl noch net frei gewesen. Dem Schwankl von der Guglöd trau ich das net zu, Alter. Das ist ein gewöhnlicher Wilddieb und diese Sorte schießt net auf Menschen. Und wegen der drei Monat, die ich ihm hab zubringen müssen? Der weiß genau, daß drei Jahre draus geworden wären, wenn ich ausgepackt hätte.“

Der Friedl schüttelte ratlos den Kopf: „Ich wüßt sonst wahrhaftig keinen andern. Wenn mich einer fragen tät, ich könnt es beschwören, daß Sie gar keinen Feind haben können. Bei uns im Ort net!“

Horlacher stand auf. Seine hochgewachsene Gestalt ragte fast bis zur Decke der niederen Stube.

„Jetzt gehen S’ nur wieder schlafen, Friedl. Aber gell, kein Wort über die Geschichte, auch net zu deinem Weib. Wirst sehen, wir kommen alleinigs auf die Spur dieses Burschen.“ Er setzte den Hut auf und griff nach einem festen Hakelstecken.

„Wo wollen S’ denn noch hin?“ tat der Friedl überrascht.

Horlacher reckte sich und lachte. „Ausgerechnet heut hab ich noch einen Riesendurst. Geh nur auf einen Sprung ins Zankl hinunter und werde net lang ausbleiben.“

„Sie haben einen kalten Buckel, das muß ich schon sagen“, knurrte der Waldhüter, „in dieser Nacht noch ausgehen? Und wenn Ihnen einer auflauert?“

„Brauchst dich net sorgen, Alter. Hören und sehen tu ich wie ein Luchs. Wenn einer geschossen hat, dann rennt er und wartet net gleich wieder am nächsten Eck auf einen neuen Schuß. Ist mir zwar net recht wohl, aber fürchten tu ich mich doch net.“

Er löschte die Lampe und verließ das Haus. Das Gutenacht des Waldhüters klang hinter ihm grob und zornig. Vorsichtig bückte er sich beim Verlassen des Hauses, um nicht an den niederen Haustürstock anzustoßen, der ihm anfangs schon zu manchen Beulen verholfen hatte. Draußen zog er unbehaglich die Schultern hoch und horchte in die Nacht. Hatte es eine solche Nacht überhaupt schon einmal gegeben? Die Finsternis stand vor ihm wie eine schwarze Mauer. Wald und Land hatten keine Konturen mehr gegen den Himmel. Die Luft war nicht kalt wie im Spätherbst, sondern zog backofenschwül und wie ein greifbarer Strom von Westen her. Das Rauschen der Ohe drunten in der Schlucht der Steinklamm klang einmal fern und plötzlich wieder ganz nahe.

Mit den genagelten Schuhen und dem Hakelstecken erspürte er den Weg, der schmal über einen Wiesenbuckel hinunter zur Spiegelau führte. In der Hosentasche spürte er das plattgedrückte Blei.

Ein Wildschütz, der den Jäger in seinem Hause abschießen will? Nein, den gab es hierherum nicht! Das war ein wohlüberlegter Mordanschlag gewesen und dahinter mußte etwas anderes stecken, als die Feindschaft zwischen Wilderer und Jäger. Unwillkürlich trat er leiser auf und horchte in die Nacht. Konnte der Schurke nicht noch hinter einem Baum stehen? Es war so unheimlich in dieser Nacht, daß er überlegte, ob er nicht doch wieder umkehren sollte.

Wo aber hatte er einen so haßerfüllten Gegner? Unter den Holzhauern? Bestimmt nicht, da wüßte er keinen, der zu einer solchen Hinterhältigkeit fähig wäre und was könnten sie auch als Grund haben? Er vertrug sich mit allen gut, hatte auch noch mit keinem der fleißigen und arbeitsamen Leute einen Zusammenstoß.

Unter den Glasmachern im Ort?

Er kannte sie ja noch nicht einmal alle. Viel hatte er nicht mit ihnen zu tun, und wenn er ausging, traf er höchstens im Hüttenzangl einige. Da waren noch eine Handvoll anderer Einwohner, hier und in Pronfelden, den paar Häusern drüben über der Ohe, die Leute von der Mühle, der Säge, der Posthalter. Begegneten sie ihm denn nicht alle freundlich?

Der Schwankl von Guglöd?

Das war doch kaum möglich. Wenn er ihn auch als Wildschützen gestellt und angezeigt hatte, dieser Mann trug ihm das nicht so stark nach. Und dann war dieser ja noch eingesperrt als in den Reschhäusern auf ihn geschossen wurde. Beide Male waren es Pistolenschüsse. Der Holzhauer Schwankl hatte sicher keine Pistole im Haus.

„Schwankl, ich kann dir net helfen, ich muß meine Pflicht tun“, hatte er zu dem Holzhauer gesagt, als er ihn abführte und nach Spiegelau brachte, bis ihn die Gendarmen abholten.

„Ich weiß das eh, Herr Förster“, hatte ihm dieser erwidert, „und ich sag eh nix, aber wenn man ein Schüppel Kinder hat, da möcht man einmal auch ein Stückl Fleisch auf dem Tisch haben.“

Ob heute in dieser stockfinstern Nacht jemand im Zankl war? Alle Mittwoch traf er sich dort mit dem Hüttenherrn Ludwig Stangl. Meistens kam auch der Hüttenschreiber, der Cornelius, als unzertrennlicher Begleiter seines Herrn, oder auch der Hüttenherr Roscher von der benachbarten Riedlhütte. Gelegentlich sogar der Herr Pfarrer von Oberkreuzberg.

Weit weg konnte er ein Licht erkennen und es stand vor ihm wie ein im Dunkel hängender, trüber Stern. Ganz nahe knurrte ein Hund und er stieß tastend mit dem Hakelstecken an einen Gartenzaun. Hinter einem dünnen Vorhang stand eine steile Kerzenflamme. Dann hatte er in der Tiefe des Tales vor sich den Schein der Glashütte, der durch verrußte Fenster gloste. Die Dorfstraße überquerend, suchte er den Weg, der zum Hüttenzankl führte.

Es war soviel Eigenartiges um so einen Glashüttenort und seine Menschen. Warum sie ihr Hüttenwirtshaus das „Zankl“ nannten, hatte er noch nicht erfragen können. Das war von jeher bei allen alten Glashütten so gewesen.

Der Steig schwang um einen Hang und dann stand er vor den zwei verhängten Fenstern der hölzernen Bretterbude, die nur einen Schankraum und eine Schlafstube für den Wirt hatte Er horchte auf das Summen der Stimmen, übertönt von dem dröhnenden Baß des Hüttenherrn. Nach der undurchdringlichen Schwärze der Nacht erschien ihm das schwache Licht der Petroleumlampe wie ein blendender Schein. Grobe Holztische standen in dem viereckigen Raum; in einem Winkel, vor einem Geschirrkasten, diente ein hoher Schragen zum Abstellen der Gläser.

Am Mitteltisch der rauchgefüllten Stube saß auf seinem Stammplatz, einem besonders breiten Stuhl, der Besitzer der Glashütte und Liegenschaften von Spiegelau, den massigen Oberkörper in einen schafwollenen Janker gezwängt, ein rotes Halstuch unter dem feisten Kinn gebunden, einen martialischen Schnurrbart im kugelrunden, pausbackigen Gesicht und die Schlegelkappe auf dem dichten Haar; ein unförmiges Mannsbild, dem jede Bewegung schwerfallen mußte. Neben ihm kauerte zusammengesunken der bucklige Hüttenschreiber Cornelius mit einem ewig lächelnden, schiefen Mund, der fast lippenlos im breiten und flachen Gesicht den wohl erst im Anfang der dreißiger Jahre Stehenden zu einem alten Mann machte. Eine schlechtsitzende Stahlbrille über seichtblauen Augen verstärkte den Eindruck der Unterwürfigkeit, die das Gesicht zu einer Maske machte. Pflichtschuldigst belachte er meckernd und lange die Bemerkungen seines Herrn und war fleißig darauf bedacht, daß dessen Stammhumpen, Schnupftabakdose und Tabaksbeutel am rechten Platz und ständig griffbereit lagen. Der hohe, schmutzige Stehkragen des Hüttenschreibers zwang sein Kinn etwas in die Höhe. Ein fingerbreites, braunes und verschlissenes Bändchen war zur Schleife gebunden und saß schief wie die Brille. Der dunkelbraune Rock verriet durch seine Weite, daß er einmal zum Sonntagsstaat des beleibten Hüttenherrn Ludwig Stangl gehört hatte. Zur Linken des Ludwig Stangl saß steif und kerzengerade aufgerichtet ein junger Mann, dem man es ansah, daß er nicht in dieses entlegene Walddorf unterm Rachel gehörte. Schäbige Eleganz zeigte sein grau und weiß gestreifter Anzug. Auch er trug einen steifen Kragen mit aufrechtstehenden Spitzen und einer schwarzen Kragenschleife. Ein dunkler, künstlich gelockter Haarschopf baute sich über einem hageren, vorzeitig gealterten Gesicht mit vorstehenden Backenknochen und einem energischen Kinn auf.

Beim Anblick dieses dritten Mannes am Tisch verzog Horlacher verdrießlich das Gesicht. Umständlich hing er Hut und Hakelstecken auf und trat überlegend an den Herrentisch heran. Erfreut lachend nahm der Hüttenherr die Pfeife aus dem Mund und deutete mit der Pfeifenspitze an, daß sich der Förster neben ihn setzen solle. Eilfertig zog der Hüttenschreiber gleich einen Stuhl herbei und der Zanklwirt war auch schon mit dem gefüllten Stammkrügl zur Stelle.

„Prosit, Herr Förster“, fistelte der Schreiber mit hoher Stimme, wagte aber nicht anzustoßen, ehe nicht auch Ludwig Stangl seinen mächtigen Glashumpen genommen hatte.

„Na, Herr Eberl“, schnaufte dieser und forderte mit einem zwinkernden Blick den jungen Mann zu seiner Linken auf, sich an dem Willkommenstrunk zu beteiligen.

„Kann nicht soviel vertragen, Herr Stangl, aber wenn Sie es wünschen, natürlich. Dann also Prost!“ Mit einem schnellen Blick und einem bösen Lächeln sah er dabei den jungen Förster an.

„Das ist die finsterste Nacht, die ich je erlebt hab!“, meinte Horlacher, um über diesen peinlichen Augenblick hinwegzukommen. Er bereute es, daß er nicht daheimgeblieben war. Eigentlich hätte er es sich denken können, daß er hier diesem unangenehmen Menschen begegnen könnte. Dieser geckenhaft aufgeputzte Holzhändler aus Regensburg mit seinen hinterhältigen Reden war ihm schon zuwider, wenn er dienstlich mit ihm zu tun hatte. In der Gesellschaft wich er ihm lieber aus. Da wollte er lieber heute wieder zeitig heimgehen. Er sah ohnedies nicht so aus, als sollte es heute noch gemütlich werden. An einem Tisch in der Ecke saßen noch drei Glasmacher, die sich wenig unterhielten und mehr auf das horchten, was am Herrentisch gesprochen wurde.

Mit seiner großen fetten Hand wischte sich der Hüttenherr nach dem langen Schluck genießerisch den Mund und strich zärtlich den Schnurrbart zurecht. Stolz drehte er seinen Glashumpen, daß sich das schwache Licht der Lampe im seltsamen Dekor des Glases brach: „Das soll einmal einer nachmachen.“

Ein blitzender Golddukaten war in die gläserne Wand des Humpens eingeschmolzen und darunter in feinen Glimmerstäubchen der Name Ludwig eingelegt. „Das kann nur einer: der alte Friedrich von der Oberzwieselauer Hütte. Noch keinem Menschen hat es der Friedrich verraten, wie er das macht. Rosenkränz und Heiligenbildl kann der ins Glas einschmelzen. Wenn ich das könnt oder einen solchen Glasmacher hätt’, der das kann, hätt’ ich bald die berühmteste Glashütte der ganzen Welt.“

Die Glasmacher am andern Tisch bestätigten das durch Kopfnicken. Der dicke Rauch des groben Knasters, den sie rauchten, schwamm unter der niederen Decke in grauen Wolken und umdampfte die Köpfe. Mit dem blauleinenen Schnupftuch versuchte Stangl das Gewölk von sich abzuwehren.

„Wer raucht denn da solchem Zeug“, wandte sich sofort der Hüttenschreiber Cornelius an die Glasmacher.

„Böhmischer Zorrer“, lachte einer. Da nahm der Hüttenherr seinen prallgefüllten Tabaksbeutel und warf ihn auf den Ecktisch hinüber und dankend füllten sich die Glasmacher daraus ihre Pfeifen. Inzwischen bemühte sich der Cornelius, die Unterhaltung am Herrentisch in Gang zu bringen und brachte noch einmal die Rede auf die große Sedanschlacht, die man mit drei Ruhetagen gefeiert hatte. Das war für den Holzhändler Eberl die Gelegenheit, sein abgelebtes und verkrampftes Gesicht aus der Erstarrung zu lösen und das Gespräch wichtigtuend zu übernehmen. Er wartete mit den neuesten Meldungen auf, und sich noch gerader hinsetzend und die anderen überlegen musternd schloß er:

„Es wird noch allerhand Überraschungen geben, meine Herren, und es werden sich dabei gute Geschäfte machen lassen. Meine Firma hat mich beauftragt, alle Holländerbäume und Langblöcher von zehn Schuh aufwärts aufzukaufen und auch Schnittholz nach dem neuen rheinischen Maß.“ Die gelben Augenlider zog er dabei schnell hoch, um einen Blick auf den Förster zu werfen: „Wir sind uns ja gestern nicht einig geworden. Ich hoffe aber, daß ich doch noch einige Partien bekomme, die der Herr Förster scheinbar zurückhalten will.“

Bedächtig strich Horlacher den goldblonden Vollbart: „Sie kriegen die Partien, die ich Ihnen schon angewiesen habe. Ich kann aber net alles Rohholz an Ihren Herrn Meier in Regensburg verkaufen. Unsere Sägen wollen auch mitschneiden und auch andere brauchen noch Holz.“

Spöttisch den Mund verziehend antwortete ihm Eberl: „Herr Horlacher, wir sind die älteste und größte Firma. Die Kontore von Meier-Löwy sind von Cham bis Passau eingerichtet. Die paar Pamperlsägen können ja für uns schneiden.“

„Geht mir auch net gut, Eberl“, schnaufte der Hüttenherr. „Jedes Scheit Holz muß ich mir erstreiten. Alleweil sind wir ein bisserl bös aufeinander, gell, Förster. Muß eh zu Weihnachten auslöschen, wenn ich net mehr Schürholz krieg.“

Wichtig hob der Cornelius den dürren Finger: „Gnädiger Herr, das werden wir net tun! Jetzt, wo im Krieg soviel zusammengeschlagen worden ist, muß eine solchene Nachfrag nach dem Glas kommen, daß wir den zweiten Ofen wieder bauen können.“ Sein flaches Gesicht zerfloß dabei in wohldienerndem Lächeln, bis ihn ein Husten fast unter den Tisch drückte.

Ludwig Stangl zwinkerte dem Förster zu: „Kann schon sein, daß sich Geschäfte machen lassen und die Herren Meier-Löwy werden auch wissen, warum sie jetzt soviel Holz kaufen wollen.“ Aus den Augenwinkeln beobachtete der Cornelius den langen Schluck, den der Hüttenherr aus dem Krug nahm. Heute konnte es noch lustig oder nicht lustig werden, je nachdem wie die Rede ging und seinem Herrn gefiel. Mißtrauisch horchte er auf den Eberl, der heute gesonnen schien, seinen Herrn aufzuziehen. „Mehr Bauernholz kaufen, Herr Stangl“, bohrte Eberl spottend, „zum Verschüren ist das gut genug. Zum Verschneiden taugt es nicht viel; hat zuviel Kröpf und Punken.“

Das zündete schon. Mit der Faust schlug Stangl auf den Tisch und der Hüttenschreiber griff schnell nach dem bedenklich wackelnden Humpen seines Herrn: „Ich habe mein altes Hüttenrecht und muß vom Staat soviel Holz kriegen als ich brauch.“ Wieder fuhr der magere Finger des Cornelius in die Höhe: „Jawohl, das Recht ist da und geschrieben.“

Eberl lächelte spöttisch und Cornelius bekam rote Flecken auf die fahlen Wangen.

„Ich hab mein Recht“, trumpfte der Hüttenherr noch einmal auf, „stimmt das, Herr Horlacher?“ Dieser nickte nur. Was war das für eine Spannung, die heute diesen Raum erfüllte? Schier zu spüren war die Atmosphäre und es war drückend heiß. Eberl gab keine Ruhe und bohrte weiter:

„Wenn der Herr Vetter in Klingenbrunn auch wieder anschürt und die Kaiserhütte auf einem zweiten Ofen arbeitet, dann reicht das Schürholz kaum mehr. Die Riedlhütte ist natürlich versorgt; dort versteht man sich besser mit den Forstleuten.“

„Die Riedlhütte hat einen eigenen, schlagbaren Hüttenwald und auch einen besseren Vertrag“, parierte Horlacher kalt.

„Und auch eine schöne Tochter hat der Roscher“, feixte der Holzaufkäufer boshaft. Cornelius meckerte, aber die große Hand des Hüttenherrn fuhr nach ihm, als wollte sie nach seinem Genick greifen und diese Bewegung schnitt das Lachen des Hüttenschreibers ab wie ein Messer. Horlacher machte sich mit seiner Pfeife zu schaffen und fragte ruhig und so nebenher:

„Wie geht es dem Fräulein Lisl?“

„Gut“, meinte Stangl, „lassen Sie sich nur wieder einmal bei uns im Haus sehen. Der Herr Eberl geht ihr schon auf die Nerven, hat sie gesagt.“ Der Schreiber lachte pflichtschuldigst über den Spaß seines Herrn und in das Gesicht Eberls schoß eine jähe Röte. Er fuhr auf:

„Heut waren wir noch auf einem Spaziergang in Reichenberg und da hat mir das Fräulein nichts Ähnliches merken lassen.“

Belustigt biß der Förster auf seine Pfeifenspitze und fing den drohenden Blick des Holzhändlers gelassen auf. Er wurde nachdenklich. Dieser Mann wollte ihm sicher nichts Gutes. Verstanden sie sich dienstlich schon nicht, so sah er in ihm auch noch einen Nebenbuhler. Daß dieser abgelebte verluderte Bursche hinter der jungen Schwester des Hüttenherrn her war, wußte ja der ganze Ort.

„Ich werde in den nächsten Tagen wieder einmal vorbeikommen.“

„Vergessen S’ aber die Zither net. Auf das Zitherspielen ist die Lisl ganz närrisch, und der Herr Förster kann singen, hat sie gesagt, daß man ihm die ganze Nacht zuhören könnt.“ Er schob dem Förster sein rotgläsernes Schnupftabakgeschirr zu, doch dieser lehnte lachend ab.

„Leut, singts eins“, forderte Stangl nun seine Glasmacher am andern Tisch auf.

„Jawohl, gnä’ Herr“, taten sie eifrig, und der Apfelbacher, ein alter Meister, stimmte an. Es war das Leiblied des Hüttenherrn, und weil es ihm gerade zum vorhergegangenen Gespräch zu passen schien, lachte er breit und laut.

Was will er denn der Michl?

Was will er in mein’m Haus?

Ich trau ihm net, ich trau ihm net,

Werfts mir den Michl raus.

Drei Strophen hatte diese heitere Geschichte von dem Michl, der sich im Hause herumdrückt, nur den Weibsleuten nachschaut und von der Arbeit nichts wissen will. Beim letzten Vers stimmte der Stangl mit seinem tiefen Baß mit ein, was den Cornelius veranlaßte, sofort untertänigst mitzusingen, und er erreichte dabei eine Höhe, daß sie sich lachend die Ohren zuhielten.

„Cornel!“ schnaufte der Hüttenherr, „wenn du noch mal so falsch singst, hau ich dich unter den Tisch. Kreß, bring den Leuten einen Stiefel.“ Der Zanklwirt holte den größten der gläsernen Stiefel aus seinem Schrank und stellte ihn gefüllt den Glasmachern hin.

„Na, Herr Eberl“, stichelte Stangl, schon wieder gut gelaunt, „wie wär es, wenn Sie jetzt einmal was singen täten. Von Ihnen haben wir noch nix gehört.“ Peinlich berührt furchte der Angesprochene die Stirn, doch sich süßlich entschuldigend antwortete er: „Gern, meine Herren, aber heut bin ich ein bisserl erkältet und gar nicht darauf eingestellt. Bei Gelegenheit aber werd ich mein Lied schon singen.“ Das klang zweideutig.

„Dann muß der Cornel den ,Schneider und seine Geiß‘ singen“, ließ Stangl nicht locker, und sofort war der Schreiber damit einverstanden. „Jawohl, gnä’ Herr!“

Er stand auf, streckte den mageren Hals und fing kurzatmig und mit oftmals überschlagender Stimme zu singen an. Bis sich der Hüttenherr die Ohren zuhielt und ihm bedeutete, er solle sofort aufhören. Was die Glasmacher mit einem schallenden Gelächter quittierten und dafür einen zornigen Blick des Hüttenschreibers einsteckten.

Eberl schien aber dazu aufgelegt zu sein, die gute Stimmung des Herrn Stangl nicht aufkommen zu lassen. Er begann wieder:

„Was machen Sie nun, wenn das Schürholz knapp wird?“

Die böse Absicht erkennend, mischte sich Horlacher ein: „Kann sein, daß es knapp wird, aber es hat bisher gereicht und wird auch noch für eine ganze Weile reichen. Wenn einmal die Eisenbahn kommt, dann gibt es eben Kohlen wie in den rheinischen Hütten.“

Die gute Laune des Ludwig Stangl aber war nun gänzlich verflogen. „Hab eh die sparsamste Schür. Hab deswegen schon den Pauscher nimmer genommen zum Ofenbau, hab mir den Uhrmann von Böhmisch-Eisenstein kommen lassen. Aber ohne Holz kann man kein Feuer machen“, grantelte er. Der Cornelius duckte sich in seinen Stehkragen. Nun war es also wieder so weit, daß der Herr sein Quantum Bier und Ärger im großen Bauch hatte, und das würde wieder an ihm, dem abhängigen Hüttenschreiber, hinausgehen. Im plötzlichen Zorn des Betrunkenen lästerte Stangl:

„Müßt halt wieder so ein Holzmacher kommen, ein Windwurf, wie ihn der Großvater erlebt hat, oder ein Schneedruck, wie vor ein paar Jahren, dann tät man uns die Scheiter wieder ins Haus tragen.“

„Könnten wir brauchen“, stimmte ihm Eberl hämisch zu. „Wenn die Forstleute das Holz verhausieren müßten, das tät ihrer königlichen Größe gar nicht schaden.“

Horlacher lächelte nur nachsichtig und sah nach der Uhr, die an der Wand ihren Perpendikel schwang. Das Gesicht des Hüttenherrn war aber schon bedenklich rot, und er stellte das Tabakglas so hart auf den Tisch, daß der Schreiber zusammenzuckte.

„Cornelius, du hast recht! Einen zweiten Ofen stellen wir auf. In Frankreich hat’s Scherben gegeben, und zum Siegfeiern braucht man auch Bierkrügel. Das Geschäft machen wir.“

Lärmend und befehlend fuhr er weiter:

„Cornel! Du kannst doch das Zaubern! Bring einen kleinen Windbruch her, einen kleinen Sturm, weiter, hopp!“

Ängstlich lispelte der Schreiber: „O Herr, wenn ich das könnt.“

„Los, los! Mach uns die Zauberei noch einmal vor, wie in der Mettennacht! Das sollen S’ gesehen haben, Herr Horlacher. Der Cornelius kann mehr als das Birnenessen. Da können Sie sich krank lachen oder fürchten, grad wie Sie wollen. Los, Cornel!“

„Gnädiger Herr, wollen wir net besser heimgehen?“ wand sich der Bucklige in Verlegenheit und Scheu.

„Ich werd mich auch auf den Weg machen“, wollte ihm Horlacher helfend beispringen, aber Stangl wurde böse: „Nix da, dageblieben wird. Kreß, einschenken. Jetzt wird es erst zünftig. Cornel, ich schlag dich unter den Tisch, wenn du net parierst. Kreß, bring ihm die Kerzen und die Kreide.“

Der Zanklwirt beeilte sich einzuschenken und brachte auch gleich eine Kerze und eine Kreide mit.

„Jawohl, gnä’ Herr“, winselte der Cornelius und wurde wachsbleich. Horlacher, der aufstehen wollte, wurde von der plumpen Hand Stangls wieder auf seinen Sitz gedrückt. Lachend flüsterte ihm dieser zu: „Bleiben S’ nur da, das müssen Sie sich einmal anschauen. Ist ja grad ein Spaß. Der Cornel tät einen Komiker abgeben.“

„Saufts, Leut“, rief er den drei Glasmachern zu.

Befremdet sah Horlacher von einem zum anderen, sah angewidert das höhnisch verzerrte Gesicht des Holzhändlers, die unglückliche Miene des buckligen Hüttenschreibers und das eingefrorene Lächeln des Zanklwirtes. Die Glasmacher hockten in ihrer Ecke und duckten sich, als wüßten sie schon, welche gruselige Vorstellung ihnen geboten werden sollte. Nur Ludwig Stangl saß breit und selbstbewußt auf seinem Riesenstuhl, blinzelte vergnügt und wischte sich mit dem blauen Sacktuch den Schweiß von der Stirn. Es war für einen Augenblick so still, daß das leise Summen der Lampe zu hören war. Der Hüttenschreiber hatte mit der Kreide ächzend und kreistend einen Kreis gezogen und die Kerze angezündet. Der Zanklwirt Kreß löschte die Petroleumlampe. Rauchschwaden zogen um die Kerzenflamme, die in der Hand des Buckligen zitterte, als er sich in den Zauberkreis stellte und die Brille abnahm. Nur das gespannte Schnaufen der Männer füllte die dunklen Ecken. Eine Weile hielt Cornelius die gespreizte Hand vor das Gesicht, und als er sie wieder wegnahm, waren seine Züge im schwankenden Kerzenschein fremd und verzerrt. Sein krummer Rücken und der große Kopf warfen gespenstische Schatten an die Wand, taumelnd sich dehnend und duckend.

Den Glasmachern war, als wären diese Schatten zu Wesen geworden, die mit ihnen zugleich in der dumpfen Trinkstube lebten und atmeten. Der Hüttenherr hatte sich zurückgelehnt, grunzte und stierte aus wässerigen Augen auf den unheimlichen Kobold. Der Eberl lachte kurz und hölzern auf.

Die Augen weit aufgerissen und seltsam glitzernd im Kerzenschein, fing nun der Hüttenschreiber seine Beschwörung an:

„Diabolo magister ad notam alter ego, ars magica liberales“, sang er in verstümmeltem Latein und mit einer tiefen, in seinem engen Brustkorb wie in einer Holzhütte klingenden Stimme. Sein Arm mit der Kerze fuhr hin und her, er selbst bückte und streckte sich wieder, und sein Schatten führte an der hölzernen Wand einen teuflischen Tanz auf. Der lippenlose Mund verzog sich grausig, und sein Atem rasselte aus den eingezwängten Lungen. Dann fistelte er mit hoher, schneidender Stimme:

„Was ist dein Begehr?“

Worauf wieder die tiefe Stimme aus dem verkrümmten Körper antwortete:

„Einen Sturm, der Holz macht, einen Wurm, der reich macht, eine Glut in den roten Wein, eine Trud in das Bett hinein, helles Glas, Bier ins Faß. Salve Diabolo!“

Horlacher sah kopfschüttelnd diesem frevelhaften Spiel zu.

War das noch der allezeit dienernde Cornelius, das Faktotum des Spiegelauer Hüttenherrn? Oder zeigte er in diesem grausigen Scherz die andere Seite seines Wesens?

Die überdrehten Augäpfel schienen unter der Stirn stecken zu bleiben, und ein krächzender Husten krümmte den Buckligen zusammen.

Keuchend und gepreßt lachte der Hüttenherr:

„Hör auf, Cornel, das ist ja zum Fürchten!“ Auch den Glasmachern war das Lachen vergangen. Der Holzaufkäufer Eberl hatte sich abgewandt und murmelte: „Scheußliche Visage!“

Horlacher runzelte angewidert die Stirn und schwieg. Als der Hüttenschreiber durch seinen Husten die Kerze ausblies, zündete der Wirt die Lampe wieder an.

Draußen hatte sich ein Wind aufgemacht und pfiff in hohen Tönen über das Dach der kleinen Hüttenschenke.

„Bist ein Teufelskerl, Cornel“, würgte der Hüttenherr hervor und goß den Inhalt seines Humpens hinunter. Schwer atmend setzte sich der Schreiber wieder an den Tisch. Schweißperlen glänzten auf seiner Stirn und zitternd griff er nach dem Bierbecher. Es kam keine Unterhaltung mehr auf. Sie horchten auf den Wind.

„Bist ein Teufelskerl, Cornel“, wiederholte der Hüttenherr, „dein Wind kommt schon, hörst ihn?“ Mit dieser Rede wollte er es wieder zum Scherz wenden. Teilnahmslos kauerte der Schreiber auf seinem Stuhl.

„Gute Nacht“, Horlacher sprang auf, griff schnell nach Hut und Stock und verließ, ohne auf den trunkenen Protest des Stangl zu achten, das Hüttenzankl.

Die Schwärze der Nacht war in brodelnder Bewegung. Drunten in der Glashütte klangen die Schürstangen und der Ruf des Schürers, als kämen sie unter einer Decke hervor. Horlacher tastete sich mit dem Stock auf dem schmalen Gangsteig zur Dorfstraße hinaus. Ein Windstoß fegte über den Berg und riß ihm den Hut davon. Es war nutzlos, ihn in dieser Finsternis suchen zu wollen. Drunten in der Mühle brannte jetzt ein Licht, und der erhellte Fensterausschnitt erschien ihm wie ein Loch in einer schwarzen Wand. Diese Nacht hatte etwas Unheimliches und Drohendes. Völlig fremd fühlte er sich und kannte doch dieses Waldtal schon wie seine Hosentasche. Um die Glashütte war ein roter Schein, der aus einer Höllentiefe zu kommen schien.

Dieser verrückte Hüttenschreiber hatte ihm die Stimmung gänzlich verdorben. Solche Dummheiten! Da war der Spaß zu weit getrieben und die häßliche Szene ein großer und grober Frevel. Wie von einem Dämon besessen, war ihm der Bucklige mit den verdrehten Augen vorgekommen.

In der Hosentasche spürte er das kleine Stückchen Blei, das noch vor ein paar Stunden sein Leben auslöschen sollte.

Was hatte er nun eigentlich im Zankl wollen? Wenn er sich hingelegt hätte, wäre es besser gewesen. Eine innere Unruhe erfaßte ihn. Hatte er denn schon einem Menschen in diesem gottverlassenen Nest etwas getan, das ihn zu einem solchen Racheakt hätte herausfordern können?

Kaum.

Der Schwankl von Guglöd?

Dem wird er morgen einfach das Blei unter die Nase halten und dann sehen, was er für eine Miene machte.

Über die Hochreuth kam hoch oben in der Nacht ein helles Pfeifen, während im Tal eine plötzliche Windstille eingetreten war. Hinter sich hörte er das Zuschlagen einer Tür so nah, als wäre es dicht an seinem Rücken, und das Rauschen des Baches war hart neben ihm. Dabei war er doch schon auf der Dorfstraße angelangt und spürte sie unter seinen Füßen, war gute hundert Schritte vom Zankl und auch vom Bach weg.

Das Pfeifen wurde zu einem wilden Lärmen, das trubelnd in das Tal niederfiel, und plötzlich erfaßte ihn ein Windstoß, der ihn taumeln ließ und vom Weg schob. Im Straßengraben stolperte er, und die wehende Gewalt warf ihn um und drückte ihn gegen den Wiesengrund.

Über ihn ging ein Brausen und Heulen hinweg, als wäre die Hölle mit allen Teufeln losgelassen. Knatternd lösten sich irgendwo die Schindeldächer und segelten durch die Nacht, plodernd und in den Wiesen aufkrachend. Die Dunkelheit war voller Krachen und Brechen, Splittern und Poltern, als würden die wenigen Häuser von Spiegelau übereinandergeworfen und trampelten Riesenfüße auf den Trümmern herum. Ein Brett knallte neben ihm zu Boden, und Ziegelsteine prasselten auf die Dorfstraße. Dann trug der Sturmwind ein heulendes Jammern und Schreien mit.

Unwirklich und voller Grauen war dieser verwüstende Orkan in der völligen Finsternis. Wo befand er sich nun eigentlich? Sand und Erde sprühten aus dem Dunkel und schlugen ihm ins Gesicht, und über ihm floß der Sturm wie ein Strom, in dem Äste und Hausdächer, Balken und Steine trieben. Plötzlich tauchten nicht weit von ihm rauhe Männerschreie aus dem flutenden Lärm, und es wurde hell unter dem Hang. Ein roter, wehender Schein wuchs aus dem Boden und in die Finsternis wie ein glühender Hügel. Er richtete sich auf.

Hohe Flammen schossen aus dem Zankl und zogen einen Lichtkreis in die schwarze Wand der Nacht, züngelten hoch und wurden vom Sturm wie schimmernde Lichter auf dem Meer der unendlichen Finsternis fortgetragen. Brennend flog das halbe Dach auf und torkelte, sich überschlagend, zum Bach hinunter.

Ein Mann taumelte an ihm vorbei, drehte sich im Sturm wie ein Kreisel, wurde zu Boden gerissen, raffte sich wieder auf, tanzte hin und her und verschwand fuchtelnd und mit den Armen rudernd in der Nacht. Im düsteren Schein der wabernden Feuerglocke über dem brennenden Hüttenwirtshaus sah er, wie über ihm Bretter und halbe Balkenwände von den Glasmacherhäusern dahinwirbelten und von der Nacht aufgesogen wurden.

Das Krachen und Bersten ringsum war unheimlich.

War das der Weltuntergang?

Mühsam kämpfte er sich auf die Beine und rannte, vom Sturm geschoben, zum brennenden Zankl zurück. Sand und Steinchen flogen ihm um die Ohren, und der Wind riß an Haar und Bart, als wollte er ihm das letzte Haar auszerren. Fauchend und knatternd flogen gerade die lohenden Wände der Bretterbude auseinander. Ein Gluthaufen flog, von einem unsichtbaren Besen auseinandergefegt, in die Luft.

„Hallo“, schrie er, aber der Sturm nahm ihm den Schrei vom Mund weg.

Einer der Glasmacher kam ihm entgegen, sah ihn aber nicht, weil er, den Hut vor das Gesicht gepreßt, gegen den Orkan angehen wollte. Eine wilde Kraft riß ihm die Füße vom Boden.

Horlacher kam in den Schutz des Hügels, und im letzten Verglühen und Versprühen des niedergebrannten Wirtshäusels sah er, an einen Felsen gelehnt, den völlig in sich zusammengesunkenen Ludwig Stangl, den Hüttenschreiber, der ihm bleich wie eine Leiche entgegenstarrte, den Hüttenwirt Kreß und einen Glasmacher.

„Ist was passiert? Sind alle draußen?“ brüllte er.

„Alle sind heraußen“, stotterte schlotternd der Kreß, „aber hin ist alles — alles ist hin.“

Den Cornelius schüttelte der Schreck, daß sein großer Kopf auf den schmalen Schultern wackelte. Er krümmte sich, als hätte er Bauchschmerzen.

Auf einmal empfand Horlacher die Situation irgendwie lustig.

„Na, Herr Cornelius, Sie können wirklich etwas. Das Zaubern hat geholfen, Sie Teufelsbeschwörer“, schrie er grimmig, „wie geht es dem Herrn Stangl! Ist niemand verletzt?“

Wie ein plumper Sack kauerte der Hüttenherr auf einem Vorsprung des windschützenden Felsens, und seine Augen wollten ihm fast aus dem Kopf fallen.

„Meine Hütten — was ist denn mit meiner Glashütten —“, keuchte er.

„Wird nix fehlen, liegt ja hinterm Hang“, brüllte ihn Horlacher an.

„Cornel, du Idiot, lauf — schnell, sag ich, oder ich schlag dich nieder.“ Wütend erhob der Hüttenherr seine Faust, und der Schreiber sprang mit einem angstvollen Schrei aus dem Schutz des Felsens. Er wollte den Gehsteig erreichen, aber der Sturm erfaßte ihn, und sich überschlagend kugelte er den Hang zum Bach hinunter und verschwand hinter einer Erlstaude. Hinter ihm tanzten die letzten zuckenden Flämmchen und wirbelten die letzten glühenden Reste des Hüttenzankls, und es wurde wieder finster.

Und mit einem Mal war es, als hätte sich über der Hochreuth und der List eine Wand vor den Orkan geschoben und es wurde unheimlich still. Das Dröhnen, Prasseln, Knattern und Brausen aber wanderte weiter, hinein in die Wälder am Rachel und Lusen und entfernte sich in der tintenschwarzen Nacht wie eine lärmende, alles vernichtende Walze. Das Getöse war schrecklich und es klang, als hieben tausend Äxte in den Wald und stürzten abertausend Bäume rauschend in den Grund. Tausend wilde Jäger mußten dort ihre Gewehre abschießen und dazu knallte es wie rollender Donner von ungezählten Geschützen.

Das Toben verschwand in der Ferne und nun wurde die Totenstille im Tal von Spiegelau lebendig. Jammern und Schreien klang von den Häusern her, Kühe brüllten und rauhe Männerstimmen riefen nach Hilfe oder schrien nach Angehörigen.

„Wo ist der Herr Eberl?“ fragte Horlacher. Der Hüttenwirt antwortete ihm: „Der ist gleich weggelaufen.“

„Kreß, bring mich heim“, stöhnte der dicke Hüttenherr, „ich muß wissen, wie es daheim ausschaut. Herr Horlacher — wo ist denn mein Stecken — wo ist denn der Cornel — dem schlag ich den Buckel voll.“

„Fassen S’ an, Kreß“, munterte der Förster den verstörten Hüttenwirt auf. Der Glasmacher, der eben noch dabeigestanden hatte, war in der Nacht verschwunden. Über die Wiese schleppten sie den ächzenden und stöhnenden Hüttenherrn hinauf zum Weg und diesen entlang zum Herrenhaus, das erhöht auf einem Hügel über der Spiegelauer Mühle stand. Die großen Tannen, die das Herrenhaus überragten, waren im Finstern ebensowenig auszumachen wie dieses selbst. Auf dem Sträßlein stießen sie an den Teil eines Schindeldaches, mußten einen gestürzten Baum umgehen und fanden sich kaum mehr zurecht. Da schwankte ihnen aus der Richtung, wo das Herrenhaus sein mußte, eine Laterne entgegen und eine helle Stimme rief: „Ludwig!“

Stangl versuchte zu antworten, aber nur ein schwaches Krächzen brachte er mit Mühe hervor. Nun meldete sich auch die lederne Stimme des Eberl:

„Hallo!“

Dann konnten sie im schwachen Schein der näherkommenden Laterne das blasse Gesicht der Ruferin ausmachen, in dem die blauen Augen weit aufgerissen nach ihrem Bruder suchten.

„Gott sei Dank“, atmete sie auf und drückte die Laterne dem Zanklwirt in die Hand, während sie den Hüttenherrn unterhakte. Eilfertig wollte Eberl den Förster beiseite drängen und auf der anderen Seite den stöhnenden Stangl stützen, aber Horlacher wies ihn nur grob zurück:

„Gehen S’ voran.“

In der großen ebenerdigen Stube des Herrenhauses waren die gesamten Ehhalten der Stanglschen Herrschaft versammelt und sahen schreckensbleich den Ankommenden entgegen. Die alte grauhaarige Zenz, die schon ein Leben lang im Herrenhaus diente und nach dem frühen Tode der Herrin zur Wirtschafterin aufgerückt war, rückte jammernd den großen Lehnstuhl für den Herrn zurecht. Als dieser sich auf seinem gewohnten Platz in Sicherheit fühlte, erholte er sich schnell.