Gina Greifenstein wuchs im unterfränkischen Würzburg auf, lebt und arbeitet aber seit über zwanzig Jahren als freie Autorin in der Südpfalz. Aus ihrer Feder stammen zahlreiche Bestsellerkochbücher, aber auch Romane – »Der Traummann auf der Bettkante« (Piper) war 2008 für den DeLiA-Literaturpreis nominiert. Zuletzt erschienen ist die Pfalz-Krimi-Reihe um die junge Ermittlerin Paula Stern – vor der eigenen Haustür mordet es sich schließlich am besten.
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.
Im Anhang finden sich Rezepte und ein Glossar.
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© 2019 Emons Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv: mauritius images/imageBROKER
Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer
Umsetzung: Tobias Doetsch
Lektorat: Susann Säuberlich, Neubiberg
eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-96041-521-3
Pfalz Krimi
Originalausgabe
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Mora certa, hora incerta.
Der Tod ist gewiss, doch ungewiss die Stunde.
Matthias Claudius
Mittwoch, 31. Oktober
»Frau Schdern, Sie misse schnell kumme, mir hänn do änni dodi Außererdische!«
Paula verstand nur »Außerirdische«. Immerhin glaubte sie, die Stimme am anderen Ende der Leitung zu erkennen. Das Bild eines ihr wohlbekannten schlaksigen, pubertär pickeligen, hellblonden Polizeimeisteranwärters mit stets leicht geröteten Wangen erschien vor ihrem inneren Auge.
»Berger? Sind Sie das? Haben Sie etwa getrunken?«
»Hajo, naddierlich«, bestätigte Hartmut Berger hörbar erfreut, fügte dann aber ergänzend hinzu: »Also des mit dem Berger mään ich, nit des mit dem Dringe, ich bin jo im Dinschd.«
Jetzt hörte Paula Stimmen im Hintergrund, eine Frau schrie hysterisch. Da sie nicht wusste, was sie von diesem Anruf halten sollte, atmete sie erst einmal tief durch.
»Okay, Herr Berger, noch mal ganz von vorn und bitte nicht ganz so pfälzisch.«
»Es gebbt do änni Leich, Frau Schdern, ähm, eine Leiche. Im Schwimmingpool«, sagte Berger eine Spur hochdeutscher als zuvor.
Paula war erleichtert, das mit der Außerirdischen musste sie wohl falsch verstanden haben. Dennoch käme ihr eine Leiche und somit ein neuer Fall im Moment denkbar ungelegen, denn sie hatte eigentlich die nächsten drei Tage frei und wollte am nächsten Morgen nach Würzburg fahren. Zusammen mit Matthias, den sie bei dieser Gelegenheit endlich ihren Eltern vorstellen wollte. Genauso wie den Babybauch, denn auch von ihrer Schwangerschaft wussten sie noch nichts – irgendwie hatte sie immer den richtigen Augenblick verpasst, es ihnen schonend beizubringen. Seit Monaten hatte sie es nicht mehr in die alte Heimat geschafft, und die Nachricht von einem zu erwartenden Enkelchen gab man ihrer Meinung nach nicht mal eben durchs Telefon bekannt. So wie es aussah, würde sie den Besuch absagen müssen.
»Wo sind Sie?« Paula warf einen prüfenden Blick in den Backofen, wo ein Blech mit Mohn-Cookies der Vollendung entgegenbuk. Die Lieblingskekse ihres Vaters, die sie ihm mitbringen wollte.
»Newwe dem Schwimmingpool«, kam prompt die Antwort.
»Und wo befindet sich dieser Pool?«, hakte Paula bemüht ruhig nach.
Albernes Gekicher drang an ihr Ohr. »Ach so, Endschuldichung, Frau Schdern. In Landaach, in der Hans-Boner-Schdrooß.«
Himmel, dachte Paula, wo ist das denn schon wieder?
Seit sie von München in die Pfalz gekommen war, hatte sie die Gegend zwar schon recht gut kennengelernt, aber einzelne Straßennamen waren ihr noch lange nicht geläufig – schließlich arbeitete sie bei der Kripo und nicht als Taxifahrerin.
Der Küchenwecker klingelte, die Cookies mussten raus aus dem Ofen.
»Berger, ich hab keine Ahnung, wo das ist. Könnten Sie mir das etwas genauer beschreiben?«
Paula klemmte sich das Telefon zwischen linke Schulter und Ohr, schnappte sich die Topflappen und klappte die Backofentür auf. Köstlich duftende heiße Luft strömte ihr entgegen. Eigentlich wollte sie viel lieber weiterbacken, als an einem Tatort zu arbeiten. Außerdem war es spät, sehr spät, kurz nach dreiundzwanzig Uhr. Sie zog das Blech aus der Hitze und stellte es auf dem Rost ab.
»Des is ganz in der Näh vun der Eichbornschdrooß.«
Diese Information war für Paula nicht wirklich hilfreich.
»Und wo ist bitte schön die Eichbornstraße?«, fragte sie leicht genervt.
Ihr Blick fiel auf die Schüssel mit dem Teig und das Blech mit den kleinen Teighäufchen, das backbereit auf dem Küchentisch stand – sollte sie oder sollte sie lieber nicht diese Plätzchen in den Ofen schieben? Sie kämpfte mit sich. Zwölf Minuten brauchten die Cookies. Würde sie noch so viel Zeit haben? Andererseits: Die Person war schon tot, was würde es also ausmachen, wenn sie ein paar Minuten später zum Tatort kam? Nichts.
Entschlossen schob sie das Backblech in die Röhre, schloss die Ofentür und stellte den Küchenwecker auf zwölf Minuten ein.
»Sie wohne doch schrääch gecheiwwer vum Präsidium?«
Paula bestätigte das.
»Alla, dann is des ganz in Ihrer Näh, Sie kennte glatt do riwwerlääfe.«
»Berger!«, ermahnte Paula.
Sie nahm einen der heißen Kekse vom Blech und biss gierig hinein. Schnell spuckte sie den Bissen wieder aus. Mist, sie hatte sich die Zunge verbrannt.
»Is Ihne nit guud?«
»Berger, mir geht es prächtig. Sagen Sie mir jetzt endlich, wie ich zum Tatort komme!«, blaffte Paula am Rande ihrer Geduld.
»Alla guud: Sie fahre ääfach den Weschdring hoch, Richdung Alder Messblatz. Do bieche Sie dann noch links ab. Do halde Sie sich gradaus, des is dann die Eichbornschdrooß. Dann die dritt oder vert Schdrooß rechts – es misst die dritt soi –, des is dann schunn die Hans-Boner-Schdrooß. Die Hausnummer wääß ich nit, aber Sie sähnen’s dann schunn.«
Paula hatte die Beschreibung auf der Rückseite eines Kassenbons mitgekritzelt, nicht ganz davon überzeugt, dass sie auch alles richtig verstanden hatte. Mit dem Pfälzer Dialekt stand sie immer noch auf Kriegsfuß. Vielleicht sollte sie Berger einen Hochdeutschkurs spendieren und Polizeiobermeister Becker auch gleich? Wenn wenigstens Kollege Bernd Keeser da gewesen wäre, der hätte alles übersetzen können.
Apropos Keeser …
»Was ist mit Hauptkommissar Keeser? Ist der schon informiert?«
»Der is schunn vor Ort. Bis gleich, Frau Schdern.« Berger beendete das Gespräch.
Keeser schon vor Ort, wunderte sich Paula. Wie konnte das denn sein? Er hatte den Abend genau so frei wie sie selbst, und er wohnte immerhin ein ganzes Stück von Landau weg. Vielleicht war er ja, als der Anruf kam, gerade in Landau bei Marianne gewesen. Egal, wie, er war auf jeden Fall sauschnell gewesen. Komisch fand sie allerdings, dass er sie nicht wie üblich abgeholt hatte.
Jetzt bereute Paula, dass sie das Blech in den Ofen geschoben hatte. Wieder herausholen ging aber nicht, der Teig war durch die Zeit in der Hitze schon zu flüssig geworden. Sie kontrollierte den Küchenwecker: noch sieben Minuten.
Sie sah ein, dass die Mohn-Cookies nicht schneller fertig wurden, bloß weil sie ständig in den Backofen starrte, und beschloss, sich umzuziehen. Das würde den Keksen noch ein paar Minuten Backzeit geben. Sie überlegte kurz, ob sie das Motorrad nehmen oder tatsächlich zum Tatort laufen sollte, wie Berger es vorgeschlagen hatte.
Motorrad, entschied sie.
Die Schüssel mit dem restlichen Teig stellte sie in den Kühlschrank, in der Hoffnung, dass er dort ein oder zwei Tage überleben würde. Auf dem Weg ins Schlafzimmer deponierte sie schon mal das Handy in der Diele, damit sie es später nicht vergaß. Auf den Zettelblock, der dort neben dem Festnetztelefon stand, notierte sie »Mutsch absagen!«.
Überlegend stand sie vor dem Kleiderschrank, zerrte dann ein dunkelrotes Sweatshirt aus einem Stapel heraus und zog es über das nach Gebäck duftende T-Shirt, das sie trug. Die ausgebeulte Lieblingsjogginghose, in der sie steckte, tauschte sie gegen eine lange Unterhose. Die Nächte waren zu dieser Jahreszeit schon empfindlich kalt, und auf dem Motorrad fror man recht schnell – Erfahrung macht gelegentlich doch etwas klüger.
In der Diele nahm sie die rot-weiß-schwarze Motorradhose vom Haken. Gerade als sie mit dem zweiten Bein hineinschlüpfen wollte, wurde ein Schlüssel von draußen ins Schloss gesteckt und herumgedreht. In der sich öffnenden Tür erschien Matthias, der in letzter Zeit öfter so spät vom Dienst kam.
»Kommst du oder gehst du?«, fragte er überrascht.
Paula küsste ihn ausgiebig, bevor sie antwortete. »Ich gehe. Berger hat gerade angerufen, in irgendeinem Swimmingpool soll eine Leiche herumschwimmen, mehr habe ich ehrlich gesagt nicht verstanden.« Sie zog die Hose hoch und den Bauch ein, damit sie den Druckknopf und den Reißverschluss schließen konnte.
»Wohl doch ein bisschen eng, Frau Stern?«, feixte Matthias.
»Das liegt nicht an mir, Herr Weber, sondern ganz allein an dem Baby, das immer dicker wird.«
»Jaja, immer sind die anderen schuld.« Liebevoll strich er über ihren Fünf-Monats-Babybauch. »Nimm doch lieber das Auto, ich hab kein gutes Gefühl, wenn du nachts noch durch die Gegend fährst. Besonders heute Nacht.«
Paula fand den Vorschlag mit dem Auto gar nicht so schlecht. Wenn sie Pech hatte, würde sie einige Stunden in der inzwischen viel zu engen Motorradkombi aushalten müssen. Mit lautem Aufatmen öffnete sie den Knopf wieder und stieg aus dem Leder. Sie nahm sich fest vor, gleich am nächsten Tag die etwas weitere Winterkleidung aus dem Keller zu holen.
»Was ist denn an heute Nacht anders als an anderen Nächten?«, fragte sie, während sie die lange Unterhose abstreifte und dafür eine Jeans anzog.
»Heute ist Halloween, schon vergessen? Da tummeln sich einige dunkle und gruselige Gestalten auf der Straße.«
»Ach herrje, so was geht immer spurlos an mir vorüber, genauso wie Fasching. Wir sind doch in der Pfalz und nicht in Amerika, es wird schon nicht so schlimm sein.«
»Sag das nicht, mir sind auf dem Weg durch die Stadt ein paar Zombies und ein Vampir begegnet.«
Paula bückte sich, um die Boots zuzubinden. »Verscheißerst du mich?«, fragte sie gepresst.
»Nein, es sind wirklich allerlei Verkleidete unterwegs.«
»Hm, als Berger anrief, hab ich zuerst verstanden, dass es um eine tote Außerirdische geht. Vielleicht hab ich mich ja gar nicht verhört.«
»Eine tote Außerirdische? Das hört sich doch mal interessant an. Kann ich mitkommen?«
Paula schlüpfte in ihre Lederjacke und betrachtete Matthias prüfend. »Bist du nicht müde nach so vielen Stunden Dienst?«
»Bitte, bitte, es wäre hier schrecklich langweilig ohne dich«, sagte er mit Dackelblick.
»Du könntest mich zum Tatort fahren und dann von dort aus zu dir nach Hause. Wenn es sich tatsächlich um einen Mord handelt, werde ich heute Nacht sowieso nicht mehr heimkommen. Keeser kann mich später mit zur Dienststelle nehmen.«
»Lass mich wenigstens die Außerirdische anschauen.«
»Und wenn ich Berger doch falsch verstanden habe?«
»Dann kann ich immer noch entscheiden, ob ich hierher zurückkomme oder zu mir fahre.«
»Na gut, wenn du unbedingt willst. Aber nur gucken.« Paula nahm das Handy vom Schuhschrank und steckte es in die Innentasche ihrer Jacke. »Dann mal los«, sagte sie und war schon zur Wohnungstür hinaus.
»Was riecht hier eigentlich so saumäßig gut?«, fragte Matthias, der ihr ins Treppenhaus folgte.
»Mist, ich hab die Plätzchen vergessen!« Paula machte auf dem Absatz kehrt und rannte in die Küche, wo gerade der Wecker klingelte.
Sie schaltete die Backröhre aus und holte das Blech heraus. Das war gerade noch mal gut gegangen.
Bevor sie das Licht ausmachte, riss sie einen Gefrierbeutel von der Rolle und packte die inzwischen abgekühlten Mohn-Cookies hinein. Sie hatte schließlich so spät am Abend noch mit dem Backen angefangen, weil sie nicht nur ein Mitbringsel für ihren Vater gebraucht, sondern auch solchen Heißhunger auf irgendetwas frisch Gebackenes gehabt hatte. Da die leckeren Dinger wegen Bergers Anruf ihren eigentlichen Bestimmungsort erst mal nicht erreichen würden, musste sie sich eben selbst um deren Vernichtung kümmern. Und wie sie Keeser kannte, würde der sicherlich auch nichts gegen das Gebäck einzuwenden haben.
»Plätzchen?«, fragte Matthias, als sie zurück ins Treppenhaus kam und die Wohnungstür hinter sich ins Schloss zog. »Ende Oktober? Ist das nicht ein bisschen früh?«
Paula steckte sich einen Cookie in den Mund und antwortete undeutlich: »Für Plätzchen ist es nie zu früh.« Nachdem sie geschluckt hatte, sagte sie erheblich verständlicher: »Wer sagt denn, dass man Plätzchen nicht das ganze Jahr essen kann?«
Bevor sie ein Stockwerk tiefer die Haustür öffnete, hielt sie Matthias die Tüte unter die Nase. »Eigentlich hatte ich Appetit auf Pflaumenkuchen. In Ermangelung von Pflaumen sind es leider nur Kekse geworden.«
Matthias nahm sich einen Keks heraus und untersuchte ihn im dämmrigen Treppenhauslicht. »Was sind denn das für schwarze Punkte?«, fragte er zutiefst skeptisch.
»Mohn.«
»Mohn in Plätzchen?« Er biss vorsichtig ein kleines Stück ab. »Meine Großeltern stammen aus Schlesien, da wurde sehr viel mit Mohn gemacht.« Er schob den Restkeks in den Mund und nickte anerkennend. »Echt lecker. Und du kannst so was? Ich dachte, mit Kochen hast du es nicht so.« Er betätigte die Fernbedienung, woraufhin sein BMW zur Begrüßung blinkte.
Paula hielt im Einsteigen inne. »Na, hör mal, was soll denn das heißen? Bisher hab ich dich weder vergiftet, noch hab ich dich verhungern lassen«, sagte sie gespielt eingeschnappt über das Autodach hinweg.
»Vielleicht habe ich ja nur so lang überlebt, weil wir meistens essen gehen?« Er setzte sich ausgelassen lachend hinter das Steuer.
Paula nahm neben ihm Platz und schnallte sich an. »Du hast recht, wir waren fast immer nur essen. Und wenn wir nicht essen waren, dann hast du für mich gekocht. Aber ich kann kochen, ich werde es dir demnächst beweisen.«
»Na, backen kannst du erwiesenermaßen. Gibst du mir noch einen von diesen leckeren Mohndingern?«
Paula steckte erst sich und dann ihm einen Cookie in den Mund.
Matthias startete den Motor. »Wo müssen wir eigentlich hin?«
»Sagt dir die Hans-Boner-Straße etwas?«
»Klar, das ist gleich um die Ecke, da hätten wir auch zu Fuß hingehen können.« Er fuhr rückwärts aus der Parklücke, wendete auf dem Platz vor dem Eingang des Otto-Hahn-Gymnasiums und lenkte den Wagen in Richtung Alter Messplatz. Dort bog er links ab, hielt sich dann geradeaus und bog kurz darauf wieder rechts ab, genau wie Berger es Paula beschrieben hatte.
Wegen der endlos langen Reihen dicht hintereinander geparkter Autos zu beiden Seiten der Straße ging es recht eng zu.
Zwei Streifenwagen mit rotierendem Blaulicht und der Kastenwagen der Spurensicherung standen in Ermangelung von Parkmöglichkeiten mitten auf der Straße und versperrten so die Durchfahrt gänzlich. Sie zeigten ihnen aber auch unübersehbar, wo sie hinmussten.
Matthias stellte seinen BMW hinter dem Kastenwagen ab. Die Leute von der Spurensicherung waren offenbar kurz vor ihnen angekommen, denn zwei Techniker in weißen Overalls luden gerade ihr Equipment aus dem Laderaum. Werner Dreißigacker stand auf dem Gehsteig und kämpfte mit dem Reißverschluss seines dünnen weißen Overalls, der sich anscheinend in Höhe seines Solarplexus verhakt hatte.
Da die Tüte mit den Cookies in keine von Paulas Jackentaschen passte, ließ sie sie beim Aussteigen schweren Herzens in der Mittelkonsole zurück. Sie schloss die Autotür und sah sich um. In Anbetracht der einzelnen villenartigen Häuser links und rechts handelte es sich eindeutig um eine der teureren Wohngegenden Landaus.
Der hypermoderne einstöckige Bau, der aus mehreren verschieden großen Würfeln aus Beton und Glas bestand und augenscheinlich der Tatort war, passte optisch so gar nicht hierhin, fand Paula. Während die anderen Häuser bis auf ein paar erleuchtete Fenster größtenteils im Dunkeln dastanden, schien hier jede verfügbare Lichtquelle eingeschaltet zu sein.
Beim Näherkommen sah sie auch den Transporter der Rechtsmedizin, der seltsam schräg in der Einfahrt des Würfelhauses abgestellt worden war, sodass ein Großteil des Hecks auf den Gehsteig hinausragte. Zwei Häuser weiter, genau unter einer Laterne, parkte ein pinkfarbener Lieferwagen mit der Aufschrift »Essen auf 4 Rädern – Ihr Caterer für das besondere Event«.
Wie originell, dachte Paula.
»Gar nicht verkleidet, Frau Stern?«, rief Dreißigacker ihr zu.
»Es genügt doch vollkommen, wenn Sie verkleidet sind«, sagte Paula.
»Glauben Sie mir, meine Leute und ich fallen dort drinnen gar nicht auf.« Der Reißverschluss gab keinen Millimeter nach.
Paula trat zu Dreißigacker und deutete auf seinen Bauch. »Soll ich es mal versuchen?«
Dreißigacker nickte dankbar und überließ ihr das verklemmte Ding.
Paula ruckelte mit dem Griffblättchen leicht nach unten und wieder nach oben und gleichzeitig nach links und rechts. Beim dritten Mal ließ sich der Schiebekörper problemlos bis hinauf zu Dreißigackers Kinn ziehen.
»Wie meinen Sie das, Sie fallen gar nicht auf?«
Dreißigacker zeigte mit dem Daumen hinter seinen Rücken. »Kostümparty, da sind alle verkleidet. Hat Ihnen das keiner gesagt?«
»Das hat Berger wohl vergessen zu erwähnen.«
»Na, dann machen Sie sich auf was gefasst.« Er nickte Matthias grüßend zu.
»Halloween, sag ich doch. Wissen Sie schon Näheres?«, fragte der.
»Nicht wirklich. Weibliche Leiche, aus dem Swimmingpool gefischt. Auf den ersten Blick eine Klingonin …«
»Und auf den zweiten Blick?«, unterbrach ihn Paula.
»… auf den zweiten Blick, den wir jetzt wohl gleich zusammen auf die Tote werfen werden, allerdings ganz sicherlich ein weiblicher Erdling«, beendete Dreißigacker seinen Satz, griff nach dem letzten silbernen Koffer im Laderaum und gab Paula und Matthias Zeichen, ihm zu folgen.
Sie gingen um den Transporter der Rechtsmedizin herum durch ein geöffnetes zweiflügliges Edelstahltor in die Einfahrt vor einer Doppelgarage. Erst jetzt sah Paula, dass Keesers alter roter Golf hier parkte, genau neben einer schnittigen dunklen Jaguar-Limousine. Was sie einigermaßen verwunderte, denn das würde bedeuten, dass Keeser noch vor oder zumindest gleichzeitig mit den Beamten vom Streifendienst vor Ort gewesen sein musste. Eine derartige Schnelligkeit seinerseits hatte sie bisher noch nie erleben dürfen.
Über einen breiten Weg aus hellen Steinplatten gingen sie um den rechten Würfel des Hauses herum und landeten auf einer großzügigen Terrasse, in deren Mitte ein dampfender, durch Unterwasserstrahler hellblau leuchtender, etwa zehn Mal fünfzehn Meter großer Pool eingelassen war. Eine einsame pinkfarbene Luftmatratze mit einem Einhorn als Dekor, die man eher auf einem Kindergeburtstag vermutet hätte und die so gar nicht zum edlen Ambiente passte, trieb träge auf der Wasseroberfläche.
Die Außentemperatur war zwar noch im zweistelligen Bereich, zehn oder vielleicht sogar zwölf Grad, aber den Gedanken, nur mit einem Badeanzug oder Bikini bekleidet und noch dazu nass aus dem Pool steigen zu müssen, empfand Paula alles andere als verlockend.
Mehrere Liegen standen um das Becken herum. Eingerahmt wurde dieses Bild von dem rot-weißen Absperrband der Polizei. Die eingeschalteten drei Strahler am Haus und einige Stehleuchten entlang des Terrassenrandes tauchten den Bereich in grelles, sehr unangenehmes Licht. Es kam nicht oft vor, dass ein Tatort so gut ausgeleuchtet war, dass die Kriminaltechniker ihre Beleuchtungsausrüstung im Transporter lassen konnten.
Im Terrassenlicht, das sich erst in etwa zehn Metern Entfernung verlor, konnte Paula eine laubfreie, akkurat gemähte Rasenfläche, ein paar ausladende Hecken und ein paar Nadelbäume erkennen. Dahinter hoben sich schemenhaft die Umrisse verschieden hoher Baumwipfel gegen den dunklen Nachthimmel ab. Ein öffentlicher Park war ein Dreck gegen diese Gartenanlage.
Gedämpftes Murmeln drang vom anderen Ende der Terrasse zu ihr herüber. Mindestens zwanzig Personen standen dicht gedrängt vor einer geöffneten Glasschiebetür.
Hartmut Berger, der Beamte, der sie vom Plätzchenbacken weggerufen hatte, nickte Paula und Matthias grüßend zu. Mit der rechten Hand hob er das Absperrband so weit hoch, dass sie hindurchschlüpfen konnten, ohne sich bücken zu müssen.
In Paulas Blickfeld kamen jetzt auch fein säuberlich zusammengelegte Handtücher, die sich auf jeder der Liegen türmten und die so wunderbar flauschig aussahen, wie Paula es beim Waschen nie hinbekam. Bei genauerem Betrachten musste sie jedoch feststellen, dass es gar keine Handtücher waren, sondern Bademäntel. Sieben Liegen zählte sie, das machte mindestens sieben Bademäntel. Teuer aussehende Bademäntel, offenbar für badefreudige Gäste der Party bestimmt.
Aus allem, was sie bisher gesehen hatte, schloss sie, dass der Besitzer dieses Anwesens über jede Menge Geld verfügen musste.
Erst als Paula um den Pool herumgegangen war, sah sie den leblosen Körper neben dem Beckenrand. Nackt, bleich, beinahe bläulich und dadurch wächsern wirkend, was aber auch am künstlichen Licht liegen konnte. Er lag auf dem Rücken auf einer dicken, milchig weißen Plastikplane, auf den ihn Dreißigackers Kollegen inzwischen platziert hatten. Ein Frauenkörper, noch dazu ein überaus wohlgeformter. Das nasse hüftlange Haar der Toten klebte in dunklen Strähnen an ihrem feucht schimmernden Oberkörper, bedeckte nur spärlich ihre Brüste. Brüste, die in Paulas Augen mehrere Körbchengrößen zu groß waren für den ansonsten zierlichen Körper. Und zu prall. Die Tote war sicherlich noch sehr jung, aber derart pralle und gleichmäßig geformte Brüste waren für Paula ein eindeutiges Zeichen für Silikon.
Ihr Blick wanderte hinauf zum Kopf. Auch im Gesicht klebten Strähnen nassen Haares, doch was war das? Sie konnte kein Gesicht erkennen, jedenfalls kein Gesicht, wie es zu einer jungen Frau passte und wie sie es erwartet hatte. Kinn und Mundpartie waren normal, aber der Rest …
Paula trat näher heran, bückte sich und schob mit dem Zeigefinger ihrer linken Hand vorsichtig die Haare beiseite.
Überrascht zuckte sie zurück. So etwas hatte sie noch nie zuvor gesehen. Die Nase war ungewöhnlich verunstaltet, hatte seltsame Wülste, die sich über eine extrem hohe Stirn bis hinauf zum Haaransatz zogen. Eine filmreife Außerirdische, das musste Paula zugeben.
Sie hörte Matthias neben sich anerkennend durch die Zähne pfeifen. »Wow, tolle Maske, die ist so gut gemacht, dass man meinen könnte, man hätte es mit einer echten Klingonin zu tun.«
»Wenn es denn echte Klingonen gäbe«, bemerkte Paula trocken, erhob sich und sah in die Runde. »Weiß man schon, wer sie ist?«
Dreißigacker und seine beiden Techniker verneinten.
»Kollege Keeser wollte, dass wir mit dem Entfernen der Maske warten, bis Sie hier sind.«
Paula deutete auf die Menschenansammlung ein paar Meter entfernt. »Aber einer der weiblichen Partygäste muss doch dort drüben jetzt fehlen.«
»Angeblich nicht.«
»Wo ist Keeser überhaupt?«, fragte Paula und kniff die Augen zusammen, um den eins neunzig großen Mann zwischen den Gästen auszumachen, was ihr jedoch nicht gelang.
»Drinnen, er nimmt die Personalien auf.«
»Warum war er überhaupt so früh vor mir da? Kann sein uralter Golf seit Neuestem fliegen?«
Werner Dreißigacker grinste undefinierbar unter seinem buschigen Schnurrbart. »Vielleicht wurde er ja hergebeamt, wer weiß?«
Paula verstand nicht, was es da zu grinsen gab. Offenbar war Dreißigacker »Raumschiff Enterprise«-Fan und dachte wohl, seine Bemerkung sei witzig.
»Wo sind eigentlich die Leute von der Rechtsmedizin? Ihr Wagen steht doch vor dem Haus«, fragte sie stattdessen.
»Knopp ist da, auch drinnen«, gab Dreißigacker knapp Auskunft, während er sich Handschuhe überzog.
»Wieso drinnen? Hier draußen spielt doch die Musik. Was zum Henker ist hier eigentlich los?«
Dreißigacker verzog keine Miene.
Hilfesuchend sah Paula Matthias an, aber der hob auch nur Unwissenheit demonstrierend die Hände. »Dein Fall, meine Süße. Wenn ich dich erinnern darf: Ich soll nur gucken. Folglich halte ich mich raus.«
Paula schloss die Augen und zählte langsam bis zehn. »Okay«, sagte sie schließlich bemüht ruhig. »Weiß man wenigstens, wer sie gefunden hat?«
»Er dort drüben.« Dreißigacker zeigte auf eine Stelle etwa zwei Meter neben der geöffneten Terrassentür, in der sich die Partygäste neugierig drängten. »Wir fangen dann mal mit dem Sichern der Spuren an.«
Erst jetzt sah Paula, dass dort jemand saß, zusammengekauert und trotz des flauschigen Bademantels, den er um sich geschlungen hatte, vor Kälte schlotternd. Dass es sich um einen älteren Mann handelte, erkannte sie an der sich im Licht spiegelnden Halbglatze. Um seine besockten Füße hatte sich ein kleiner See aus Tropfwasser gebildet. So wie er dasaß, bot er ein Bild des Jammers, aber das musste Paula ihm lassen: Er war beherzt ins Wasser gesprungen und hatte die Frau geborgen. Dem Stand der Dinge nach zu urteilen, allerdings leider zu spät.
Im Hinübergehen nahm sie einen Bademantel von einer Liege und faltete ihn auseinander, um ihn noch zusätzlich um die Schultern des Mannes zu legen. »Sie sollten ins Haus gehen«, sagte sie sanft. »Hier draußen holen Sie sich sonst noch den Tod.«
Der Mann reagierte jedoch nicht, er starrte einfach weiter mit entsetzensweiten Augen in Richtung Pool, wo die Kriminaltechniker inzwischen mit ihrer Arbeit begonnen hatten. Sein dünnes Haar war tropfnass.
»Mein Name ist Paula Stern, ich bin von der Mordkommission. Und wie heißen Sie?«
»Laubscher«, sagte der Mann leise und wie ferngesteuert. »Oswald Laubscher.«
Paula legte ihm die Hand auf die Schulter und drückte leicht zu. »Kommen Sie, Herr Laubscher, wir gehen jetzt rein, und dort erzählen Sie mir dann, was passiert ist. Hier sind wir sowieso nur im Weg.«
Sie bekam ein kleines Kopfnicken zur Antwort.
Paula war klar, dass der Mann unter Schock stand, schließlich zieht man nicht jeden Tag eine Leiche aus dem Wasser. Er brauchte dringend seelische Betreuung.
»Hat jemand den Rettungsdienst angefordert?«, rief sie zu den Leuten an der Terrassentür hinüber.
»Ist unterwegs!«
Paula konnte die Antwort keinem der Herumstehenden zuordnen. Aber sie glaubte, Keesers Stimme erkannt zu haben. Warum, verdammt, kommt er nicht endlich raus, um mir den Stand der Dinge mitzuteilen?, dachte sie grantig.
Erst jetzt registrierte sie, dass die Menschen allesamt kostümiert waren. Dieser Anblick war für sie wie ein Déjà-vu: In ihrem allerersten Fall in der Pfalz hatte sie es auch mit Verkleideten zu tun gehabt, als sie einen Mord während eines Mittelalterfestes aufklären mussten. Damals waren es Landsknechte, Rittersleute und Gaukler gewesen, für ihren antikarnevalistischen Geschmack war das schon reichlich verrückt. Das hier erschien ihr noch eine Nummer schräger, denn was sie sah, war nicht die faschingsübliche wilde Mischung aus Indianern und Seeräubern, Vampiren und Hexen, nein, diese Kostüme sahen trotz ihrer Verschiedenheit aus wie aufeinander abgestimmt, woraus sie schloss, dass es sich auch hier um eine Mottoveranstaltung handelte. Und tatsächlich kamen ihr einige davon sogar bekannt vor – wenn sie ihre Erinnerung nicht täuschte, hatte die Besatzung der »Enterprise« ähnlich aussehende Uniformen getragen. Es war zwar schon ein paar Jährchen her, dass sie die Serie gesehen hatte, aber als Kind war sie verrückt nach den spannenden Abenteuern in fremden Galaxien gewesen.
Paula nahm die Gruppe Verkleideter genauer in Augenschein. Zwischendrin stand ein großer, sehr dicker Mann mit schwarzer Topffrisur-Perücke und spitzen Ohren – unverkennbar ein Vulkanier Marke Mr. Spock, nur in überdimensional. Neben ihm stand ein … tja, was? Das Wesen trug einen bunt gemusterten Anzug, die Gesichtszüge waren eindeutig männlich. Sein dichtes rötliches Haar trug er als Irokesenschnitt, und fast bis zur Kinnspitze hin wucherten dicke Koteletten. Dunkle, gleichmäßig angeordnete unterschiedlich große Flecken zierten die rasierte Haut links und rechts des Irokesenbüschels. Auch er kam ihr irgendwie bekannt vor, die Figur eines Außerirdischen, sie kam aber nicht auf den Namen.
Sie war also auf einer dieser Star-Trek-Partys gelandet, von denen sie schon öfter gehört hatte. Ihr war bekannt, dass es da eingefleischte Fans gab, richtige Freaks, die in ihrer Freizeit mit Haut und Haar in die Rollen ihrer Lieblingsfiguren schlüpften. Sie fragte sich, ob es sich hier um solche eingefleischten Fans handelte. Trug der Irokese vielleicht gar keine Maske? Hatte er sich die Flecken am Ende in die Kopfhaut tätowieren lassen?
Ihr graute bei dieser Vorstellung. Und noch eine Frage stellte sich ihr: Konnte man mit solchen Typen überhaupt vernünftig reden?
Immerhin passte auf einmal die tote Klingonin ins Bild. Auch Dreißigackers Bemerkung mit dem Beamen bekam nachträglich Sinn. Komisch war nur, dass offenbar alle Gäste behauptet hatten, sie seien komplett und keiner beziehungsweise keine würde fehlen. Dieses Rätsel musste sie so schnell wie möglich lösen.
Bitte lass sie noch nicht so viel Alkohol intus haben, schickte Paula als stummes Stoßgebet gen Himmel.
»Wir gehen jetzt auf der Stelle ins Warme«, sagte sie energisch, ergriff Oswald Laubscher am Arm und zog ihn vom Stuhl hoch, was er ohne Gegenwehr geschehen ließ.
Dann schob sie ihn mit sanfter Gewalt hinüber zur Terrassentür, woraufhin sich die illustre Menge teilte und sie durch ein Spalier von »Enterprise«-Besatzungsmitgliedern und diversen Außerirdischen hindurch in ein wahrhaft riesiges Wohnzimmer kamen, das es glatt mit der Grundfläche von Paulas Zweieinhalb-Zimmer-Wohnung aufnehmen konnte.
Alles war strikt in Schwarz-Weiß gehalten: schneeweiße Wände zu schwarzen Bodenfliesen, eine mehrteilige, als großes U gestellte Couchgarnitur in schwarzem und weißem Leder, dazwischen jeweils schwarze Beistelltischchen, jedes mit einer schneeweißen bauchigen Tischleuchte ausgestattet. Von der extrem hohen Decke hingen zwei riesige Kronleuchter herab – einer in Schwarz, der andere in Weiß. Zu beiden Seiten zweier wandeinnehmender Fensterfronten waren kunstvoll lange, schalartige schwarze Übergardinen drapiert.
Es gab einen Kamin mit schwarzer Marmorumrandung, in dem ein künstliches Feuer flackerte. Mehrere weiße Statuen spärlich bekleideter Frauen auf schwarzen Sockeln – Nachbildungen von römischen oder griechischen Göttinnen, vermutete Paula – standen in den Ecken des Raumes.
Ein abstraktes Gemälde bedeckte komplett die einzige freie Wand. Mit den wild durcheinandergewürfelten Kuben in Schwarz, Weiß und Grau sah es aus, als sei es extra für dieses Zimmer und das Interieur gemalt worden. Einer der Würfel auf dem Bild stach dabei jedoch ins Auge des Betrachters und war, bis auf die momentan anwesenden, durchweg recht farbenfroh gekleideten Partygäste, ein einsamer Farbtupfer im grau-schwarz-weißen Ambiente: Er war blutrot.
Paula bezweifelte sehr, dass der unterkühlte Mann an ihrer Seite sich hier aufwärmen konnte, denn der Raum strahlte Kälte aus. Eiseskälte. Sie fragte sich, wie wohl die Menschen waren, die hier lebten.
Sie dirigierte Laubscher zu einem freien Sessel und drückte ihn hinein.
»Das geht aber nicht!«, rief ein heraneilendes Wesen, das nach halb Mensch, halb Roboter aussah. »Das Wasser ruiniert mir ja den Marmor. Oswald, ich hab dir doch gesagt, dass du draußen bleiben sollst!«
»Herr Laubscher muss dringend ins Warme. Er braucht etwas Heißes zu trinken, am besten eine heiße Dusche und vor allem trockene Kleidung. Ist das machbar?« Paula sah den Mann, der einiges kleiner war als sie, mit spöttisch hochgezogenen Augenbrauen an.
Eines seiner Augen war von einem Okular, ähnlich einem Kameraobjektiv, verdeckt, aus dem anderen schleuderte er ihr einen stahlgrauen bösen Blick entgegen. Nichtsdestotrotz sah er einfach drollig aus: Ein Teil seines Kopfes war mit einer Art Lederhaube bedeckt, aus der diverse Kabel und Schläuche kamen, die irgendwo in seinem Anzug verschwanden, der aus verschiedenen Materialien zusammengesetzt war. Es war eine Mischung aus metallisch wirkendem, grob strukturiertem Stoff, Hartplastik und Leder. Da und dort blinkten grüne und rote Lämpchen. In seinem weiß geschminkten Gesicht klebten diverse, nach Maschinenteilen aussehende Gegenstände.
Ein Borg, erkannte Paula unschwer, einer dieser kybernetisch aufgewerteten Bioorganismen aus der Star-Trek-Welt. Ein etwas zu klein geratener Borg allerdings.
»Wer sagt das?«, entgegnete der Mini-Borg schnippisch und zur vollen Länge aufgereckt, um ihr möglichst auf gleicher Höhe in die Augen sehen zu können. »Haben Sie einen Namen?«
»Kriminaloberkommissarin Paula Stern. Und mit wem habe ich das Vergnügen?«
»Ich bin Edgar Wolff, Richter Edgar Wolff, und Sie befinden sich in meinem Haus. Und eines kann ich Ihnen sagen: Wenn meine Frau die Flecken auf dem Marmor sieht, von denen auf dem Leder ganz abgesehen, wird sie zur Furie.«
»Dann zeigen Sie mir am besten so schnell wie möglich das Badezimmer, damit ich Herrn Laubscher dort hinbringen kann. Besorgen Sie ihm auch gleich noch etwas zum Anziehen, dass er aus seinen nassen Sachen kommt«, sagte Paula schärfer als beabsichtigt.
»Was erlauben Sie sich, junge Frau! Wie reden Sie denn mit mir?«, zischte Edgar Wolff empört.
»Wie mit jemandem, dem sein Marmorboden wichtiger ist als das Wohlbefinden eines Menschen«, sagte Paula unbeeindruckt. »Also, wo finde ich das Bad?«
»Sie impertinente Person, das wird ein Nachspiel haben, das verspreche ich Ihnen!« Edgar Wolffs Gesicht blieb zwar optisch unverändert weiß, aber der kleine Streifen Hals, der zwischen seinem Anzug und dem geschminkten Gesicht zu sehen war, hatte eine ungesunde Röte angenommen. Auch die dick angeschwollene Ader an seiner weißen linken Schläfe zeugte von seiner Wut auf Paula.
»Herr Laubscher tropft«, sagte Paula ruhig. Vor einem derart lächerlich verkleideten Mann, Richter hin oder her, konnte sie einfach keinen Respekt verspüren – und Angst schon mal gar nicht.
Edgar Wolff öffnete den Mund, um etwas zu sagen. Paula hätte sich nicht gewundert, wenn er »Wir sind die Borg. Sie werden assimiliert. Widerstand ist zwecklos« gesagt hätte. Aber er schloss seine Lippen unverrichteter Dinge wieder und sah sie nur strafend an. Schließlich machte er auf dem Absatz seiner hohen schwarzen Lederstiefel kehrt und marschierte strammen Schrittes davon. »Kommen Sie mit«, befahl er über seine kabel- und schlauchbesetzte Schulter hinweg.
Paula half Oswald Laubscher aus dem Sessel und folgte mit ihm dem davoneilenden Richter durch eine großzügige Eingangshalle mit schachbrettartig verlegten schwarz-weißen Marmorfliesen und um die Ecke in einen etwas niedriger wirkenden Teil des Hauses. Dort angekommen, riss er eine Rauchglastür auf und deutete in das erleuchtete Innere.
»Bitte schön. Fühl dich wie zu Hause, Oswald. Ich bringe dir gleich noch einen Jogginganzug von mir. Sind Sie jetzt zufrieden, Frau Kommissarin?«
»Was Herrn Laubscher betrifft, ja.«
Oswald Laubscher nickte dankbar und schlurfte an seinem Gastgeber vorbei ins Bad.
Paula konnte einen kurzen Blick auf eine frei in der Mitte des Raumes stehende nostalgisch gestylte Badewanne mit goldenen Löwenfüßen erhaschen. Dieses Badezimmer war eindeutig größer als ihr Wohnzimmer.
»Wenn Sie fertig sind, Herr Laubscher, würde ich gern mit Ihnen sprechen. Wie Sie sich sicher denken können, habe ich einige Fragen an Sie.«
Als Oswald Laubscher die Tür des Badezimmers hinter sich geschlossen hatte, ließ Paula Edgar Wolff einfach stehen und ging zurück ins Wohnzimmer. Sie wollte endlich nach Keeser suchen.
»Leg dich bloß nicht mit dem Richter an, Paula, der ist bissig wie ein Terrier, er wird nicht umsonst ›der böse Wolf‹ genannt«, raunte ihr ein großer Mann in schwarzer Hose und viel zu eng sitzendem gold- oder ockerfarbenem Oberteil zu.
Captain Kirk, Kapitän des Raumschiffs »Enterprise«, hatte nach Paulas Wissen immer eine solche Uniform getragen. Dieser Mann war ein recht ansehnlicher Captain Kirk, musste sie gestehen, nicht nur von der Größe her: Er war glatt rasiert, mit keckem Grübchen im markant-männlichen Kinn. Die welligen Haare hatte er mit viel Gel nach hinten gekämmt. Er war allerdings nicht blond wie Kirk, eher dunkel.
Was Paula jedoch irritierte, waren die buschigen grau melierten Brauen über den dunkelbraunen Augen, die so gar nicht ins Bild des Fernseh-Kirks passten. Auch der Bauch war etwas umfangreicher als der von James T. Kirk.
Sie sah ihn genauer an, der Kerl kam ihr irgendwie bekannt vor, besonders die Stimme …
»Keeser?«, fragte sie ungläubig.
Captain Kirk sah sie verwundert an. »Was schaust du denn so komisch, hab ich was im Gesicht hängen?«
»Eher im Gegenteil«, sagte Paula, die ihren Kollegen noch nie zuvor ohne seinen Drei- bis Fünftagebart gesehen hatte. »Ohne das Gestrüpp im Gesicht siehst du total verändert aus … richtig gut.«
Von der Seite näherte sich eine Gestalt in blauem Ganzkörperanzug, der sich hauteng und dadurch extrem figurbetonend an ihre scharfen Kurven schmiegte.
»Er sieht aus wie Kirk Douglas in seinen besten Jahren, findest du nicht auch?«, gurrte die Person, die Paula erst auf den zweiten Blick als Staatsanwältin Marianne Renner erkannte.
Keesers »höchstpersönliche Staatsanwältin«, wie er seine Lebensgefährtin gern zu nennen pflegte, trug ihre kastanienbraunen, schulterlangen Locken nicht wie sonst offen oder zu einem lockeren Pferdeschanz gebunden, sondern streng zu einer Innenrolle nach hinten gesteckt. Genau wie bei Wolff klebte auch in ihrem Gesicht ein Metallteil.
»Marianne?«
»Eigentlich Seven of Nine, eine ehemalige Zugehörige des Borg-Kollektivs, aber du kannst gern Marianne zu mir sagen.«
»Wollt ihr mich verarschen? Was zum Henker macht ihr zwei denn hier?«
»Hat dir denn keiner gesagt, dass ich da bin?«, fragte Keeser.
»Doch, schon, Dreißigacker hat gesagt, du nimmst die Personalien der Gäste auf.«
Keeser hob demonstrativ einen Schreibblock in die Höhe. »Hab ich doch auch gemacht.«
Paula musterte ihn zweifelnd. »Aber warum seid ihr verkleidet?«
»Wir sind hier als Gäste auf dieser Party«, erklärte Marianne.
»Jetzt sagt mir bloß nicht, dass ihr Star-Trek-Fans seid!«
Marianne und Keeser wechselten einen kurzen Blick.
»Na ja«, sagte Keeser ungewohnt verlegen, »schon ein bisschen.«
»Feigling«, sagte Marianne verächtlich. »Natürlich sind wir Fans. Wir haben alle Folgen auf DVD, und wir machen öfter mal zu Hause eine Star-Trek-Filmnacht.«
»Okay«, sagte Paula leicht genervt und nahm Keeser den Block ab. »Vielleicht sollten wir einfach mit der Arbeit loslegen.«
Beim Durchblättern der ersten vier Seiten überflog sie die Namen, von denen ihr auf den ersten Blick keiner bekannt vorkam. Es waren viele, und somit würden sie viele Befragungen durchführen müssen. Viele oftmals langwierige, zeitraubende und in den meisten Fällen ergebnislose Befragungen. Sie standen genau an dem Punkt einer Ermittlung, an dem man nicht wusste, wo man eigentlich anfangen sollte.
Sie riss die Liste ab, faltete sie zweimal zusammen und steckte sie in die Innentasche ihrer Jacke. »Die Leute von der Kriminaltechnik sind draußen am Pool schon beim Sichern der Spuren. Die Tote trägt noch immer die Maske, Dreißigacker sollte angeblich auf Anweisung von dir damit warten, bis auch Knopp und ich vor Ort sind. Also, ich bin da, wo steckt Knopp?«
»Der muss hier irgendwo sein, er hat ja schließlich den Tod des Mädels festgestellt. Ich gehe ihn suchen«, bot Keeser generös an und mischte sich unter das intergalaktische Volk.
Marianne Renner sah ihm mit verträumtem Blick nach. »Sieht er in der Uniform nicht umwerfend sexy aus?«
»Wenn man Captain Kirk mit Keeser-Bauch mag …«, sagte Paula spöttisch. »Erotische Schwungmasse« hätte Keeser sie sicherlich verbessert, wäre er hier gewesen.
»Wie viele Gäste sind auf dieser Feier?«, fragte sie, um das Thema auf die Arbeit zu lenken.
»Keine Ahnung, um die fünfzig, schätze ich mal.«
Paula zählte flüchtig die Köpfe der anwesenden Irdischen und Außerirdischen, die sich noch immer neugierig an der Terrassentür drängten. »Hier sind es etwa dreiundzwanzig. Wo befindet sich der Rest?«
Da die verschiedenen Würfel des Hauses alle bungalowartig waren, also ohne ein oberes Stockwerk, gab es eventuell einen weiteren Raum zum Feiern jenseits der Eingangshalle. Weil Edgar Wolff aber so um die Schönheit seines Bodens besorgt war, tippte Paula eher auf einen Partykeller.
»Unten«, bestätigte Marianne ihre Vermutung. »Wir sind nur wegen der Toten nach oben gekommen.«
Dass Keeser als Ermittler der Mordkommission und Marianne, immerhin eine Staatsanwältin, und eventuell auch der Hausherr sich am Tatort aufhielten, war grundsätzlich okay. Die anderen Gäste waren jedoch überflüssig, wenn nicht sogar störend. Gaffer gibt es also auch in Richterkreisen, dachte Paula.
»Könntest du bitte alle nach unten schicken, die hier nichts verloren haben? Ich würde gern ein bisschen Ordnung in das Ganze bringen. Und vor allem möchte ich, dass Technik und Rechtsmedizin ungestört arbeiten können.«
Marianne nickte und wollte gerade zur Tat schreiten, als Paula noch etwas einfiel: »Ach, Marianne, lass dir doch bitte von Dreißigacker eine Beweismitteltüte geben und sammle die Handys aller Anwesenden ein. Ich möchte nicht, dass unsere tote nackte Klingonin durch die sozialen Netzwerke gereicht wird.«
»So, da wären wir, es kann losgehen.« Keeser kam aus der Eingangshalle, Rechtsmediziner Andreas Knopp hatte er im Schlepptau.
»Nicht Sie auch noch«, sagte Paula genervt.
Knopp steckte ebenfalls in einer »Raumschiff Enterprise«-Uniform, in einer mit blauem Oberteil, und grinste sie fröhlich an.
»Lassen Sie mich raten: Sie sind nicht zufällig Pille, der Bordarzt der ›Enterprise‹?«
Knopp verbeugte sich tief. »Dr. McCoy, genau der bin ich. Wie schön, Sie kennen sich also aus.«
Paula hatte eher das Gefühl, dass sie sich gar nicht mehr auskannte. »Ist denn die komplette Kripo zu Gast auf dieser Party?«
»Nicht ganz, Frau Stern, nicht ganz. Was sich aber doch als recht günstig erwiesen hat, immerhin war noch nie zuvor so schnell jemand von uns an einem Tatort.«
»Das mag sein«, sagte Paula. »Ich hoffe nur, dass keiner von euch für diesen Tatort verantwortlich ist.«
Keeser schnaubte empört. »Natürlich nicht, wie kannst du so was überhaupt denken!«
»Wenn ich euch so ansehe, muss ich gestehen, dass ich euch ab sofort alles zutraue. Apropos Tatort, Dr. Knopp: Da Sie den Tod unserer Nackten da draußen festgestellt haben, gehe ich davon aus, dass Sie sie bei dieser Gelegenheit etwas genauer unter die Lupe genommen haben. Haben wir es hier mit einem Mord zu tun? Oder doch nur mit einem bedauerlichen Badeunfall ohne Fremdeinwirkung?«
Andreas Knopp verdrehte die Augen. »Es ist doch immer das Gleiche mit euch. Deshalb noch einmal ganz langsam zum besseren Verständnis: Den Tod einer Person feststellen heißt noch lange nicht, dass man sie dafür genauer untersuchen muss. Ich habe mich nach den intensiven Reanimationsversuchen von Oswald, ähm, Herrn Laubscher und mir nur um ihren Puls und die Lungentätigkeit gekümmert, was beides zugegebenermaßen negativ ausfiel. Also, Frau Stern …«
»Moment mal, verstehe ich das richtig? Sie haben mit Herrn Laubscher gemeinsam versucht, die Frau wiederzubeleben?«
»Das haben Sie richtig verstanden. Was ich aber gerade sagen wollte, liebe Frau Stern, und das gilt genauso für dich, Bernd: nähere Angaben zum Ableben der bedauernswerten Person wie immer nach der Obduktion.«
»Ist ja gut, hätte ja sein können, dass Sie schon eindeutige Spuren entdeckt haben«, sagte Paula kleinlaut. »Inwieweit Sie an der Rettungsaktion beteiligt waren, klären wir dann später. Jetzt lüften wir erst einmal das Geheimnis um die angeblich unbekannte Tote da draußen, in der Hoffnung, dass uns das ein klein wenig weiterbringt.«
Paula bahnte sich den Weg zur Terrassentür durch die ihnen entgegenkommenden Verkleideten, die auf Mariannes Geheiß ihren Aussichtsposten aufgegeben hatten. Bis auf Matthias, der brav ein Stück vom Pool entfernt auf einer Liege saß und sich wie versprochen heraushielt, Edgar Wolff und den monströsen Vulkanier, der Paula gleich zu Anfang aufgefallen war, hielten sich jetzt nur noch Leute von der Mordkommission um den Pool herum auf. Und natürlich einer von der Rechtsmedizin, Knopp, der jetzt ebenfalls einen Schutzoverall überzog.
Da Mr. Spock mit seinen spitzen Ohren offenbar nicht besonders gut hörte, ging Paula zu ihm, um ihm unmissverständlich zu sagen, dass er hier nichts zu suchen hatte und sich zu den anderen Gästen in den Keller trollen sollte.
»Nun denn«, sagte der Vulkanier da gerade, »lassen Sie uns sehen, wer sich unter der Maske verbirgt …«
Zu Paulas grenzenloser Überraschung sagte er das mit Kriminaloberrat Heribert Sonnes Stimme.
Tatsächlich musste sie feststellen, dass nicht nur die Stimme, sondern auch das pausbäckige, rot glühende und schweißüberströmte Gesicht unter der schwarzen Perücke ihrem Chef gehörte. Geschockt starrte sie ihn an.
Wie um alles in der Welt ist der extrem dicke Mann nur auf die Idee gekommen, in das Kostüm des asketisch-schlanken Mr. Spock schlüpfen zu wollen?, fragte sie sich.
Das hautenge Shirt modellierte jede einzelne seiner üppigen Speckrollen heraus, er sah tatsächlich aus wie ein fränkischer Presssack. Nein, schlimmer noch: wie eine Witzblattfigur. Ganz zu schweigen von seiner Goldrandbrille, die so gar nicht zu dem Kostüm passte.
Dementsprechend musste sie schwer an sich halten, um nicht in Lachen auszubrechen, als er sie jetzt direkt ansah.
»Tut mir leid, Frau Stern, dass wir Sie aus Ihrer freien Woche geholt haben«, sagte Sonne.
»Keine Ursache, Mr. Spock.« Das hatte sich Paula einfach nicht verkneifen können.
Kriminaloberrat Sonne zog genauso perfekt wie der richtige Mr. Spock eine seiner schmalen schwarz geschminkten Vulkanier-Augenbrauen in die Höhe. Doch statt des erwarteten Donnerwetters wegen Respektlosigkeit gegenüber einem Vorgesetzten schenkte er Paula ein generöses Lächeln.
»Faszinierend, Sie haben mich also erkannt«, sagte er in seinem hannoverischen Hochdeutsch und klang dadurch tatsächlich wie sein stets akkurat sprechendes Vorbild aus einer fernen Galaxie. »Sie fragen sich sicherlich, warum ich mich ausgerechnet als Mr. Spock kostümiert habe. Nun, ich liebe seine messerscharfe Intelligenz, seine Kühle und die unumstößliche Logik, mit der er an Probleme heranzugehen pflegt«, gab er ungefragt die Antwort auf Paulas Gedanken. »Und natürlich diese Ohren«, fügte er noch hinzu. »Da wir das nun geklärt haben …«, er sah Knopp an, »bitte, Doktor, entfernen Sie die Maske.«
Auch Matthias stand nun auf und trat mit den anderen näher an die Leiche heran.
Knopp gab einem von Dreißigackers Leuten Zeichen, damit der sich mit der Kamera in Position stellte. Dann kniete er sich mit dem linken Bein auf die Plane, griff mit einer behandschuhten Hand in Wangenhöhe unter den Rand der Maske und zog diese nach oben über den Kopf der Frau. Das schmatzende Geräusch, das die Gummimaske dabei machte, war ähnlich dem, das man beim Ausziehen von Latexhandschuhen hörte.
Zum Vorschein kam das Gesicht einer etwa dreißigjährigen Frau, deren ehemals großzügig aufgetragenes Augen-Make-up arg verschmiert war. Auf ihrer bleichen linken Wange prangte ein etwa Ein-Euro-Stück großer kreisrunder dunkler Fleck oder ein Mal, Paula konnte das nicht genau erkennen. Das Haar der Frau war streichholzkurz geschnitten und unter der Maske trocken geblieben. Es war unnatürlich hellblond und schimmerte im künstlichen Licht eher silbern. Das Blitzlicht der Kamera flammte mehrmals grell auf und spiegelte sich in der Tropfwasserpfütze, die sich um die Tote auf der Plane gebildet hatte.
Heribert Sonne trat unvermittelt einen Schritt zurück.
Paula sah ihn verwundert an. Jemanden, der im Lauf seiner Karriere schon so viele Leichen gesehen hatte, sollte der Anblick einer weiteren, die zudem nicht einmal entstellt oder verstümmelt war, ihrer Meinung nach eigentlich nicht mehr schockieren.
Doch Sonnes altgewohnte Gesichtsröte, die er einzig und allein seinem starken Übergewicht zu verdanken hatte, war schlagartig einer ungesunden Blässe gewichen. Tatsächlich taumelte er einen weiteren Schritt zurück, um sich dann ächzend auf eine der Liegen plumpsen zu lassen, die unter seinem Gewicht bedenklich quietschte. Paula, die ihn nicht aus den Augen ließ, beobachtete, wie er sich ans Herz griff.
Besorgt trat sie neben ihn. »Chef, ist Ihnen nicht gut?«
Er winkte mit einer fahrigen Handbewegung ab. »Nur der Kreislauf, Frau Stern, nur der Kreislauf.«
Paula war sich da nicht so sicher. Es würde gerade noch fehlen, dass ihr Chef hier am Tatort einen Herzinfarkt bekäme. Hoffentlich traf der verständigte Rettungsdienst bald ein.
Da sie nichts für Sonne tun konnte, widmete Paula ihre Aufmerksamkeit wieder dem Geschehen am Pool. Edgar Wolff fiel ihr auf, der bewegungslos und schreckensbleich dastand und auf die Tote zu seinen Füßen blickte, bevor er sich die Hand vor den Mund schlug und sich wegdrehte. Ihn schien der Anblick sehr zu berühren.