Cover

ZUM BUCH

Zehntausende Menschen in Amerika sind unterwegs. Sie leben in Wohnmobilen, Vans, Anhängern. Übernachten auf Supermarkt-Parkplätzen, neben den Highways, in der Wüste. Sie schaufeln Zuckerrüben in North Dakota, reinigen Toiletten in den Nationalparks von Kalifornien, arbeiten Zwölf-Stunden-Schichten im Amazon-Versandzentrum im winterlichen Texas. Und sie haben eines gemeinsam: Sie sind alt. Der American Dream hat für sie Bingo-Spielen und Gartenpflege vorgesehen. Doch im 21. Jahrhundert, erschüttert von der Finanzkrise der Zehnerjahre, ist der Boden für den sprichwörtlich wohlverdienten Ruhestand weggebrochen. Deshalb ziehen sie als Nomaden der Arbeit von einem saisonalen Tageslohnjob zum nächsten.

Eine nachhallende Reportage über Ausbeutung, Ungerechtigkeit und prekäre Lebensumstände, aber auch über altersweise Beharrlichkeit, Sinn für Gemeinschaft und Abenteuer, wie sie nur ein amerikanischer Highway versprechen kann.

ZUR AUTORIN

Jessica Bruder war als Professorin an der Columbia Graduate Journalism School tätig, Schwerpunkte ihrer journalistischen Arbeit sind subkulturelle und wirtschaftlich-soziale Phänomene. Ihr Leitartikel »The End of Retirement« im Harper’s Magazine, Basis dieses Buches, wurde mit dem Aronson Award for Social Justice Journalism ausgezeichnet, sie veröffentlicht darüber hinaus u.a. in The New York Times Magazine, The Washington Post und The International Herald Tribune. Ihr preisgekröntes Buch Nomaden der Arbeit erregte landesweites und internationales Aufsehen. Bruder lebt in Brooklyn, New York City.

Jessica Bruder

NOMADEN

DER

ARBEIT

Überleben in den USA

im 21. Jahrhundert

Aus dem Amerikanischen von

Teja Schwaner und Iris Hansen

Blessing

Originaltitel: Nomadland – Surviving America in the Twenty-First Century

Originalverlag: W.W. Norton & Company, New York

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Copyright © 2017 by Jessica Bruder

Copyright © 2019 by Karl Blessing Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Bauer+Möhring, Berlin,

nach einem Entwurf von Pete Garceau

unter Verwendung eines Bildes von

© Eugenia Maximova/Anzenberger/Redux

Satz: Leingärtner, Nabburg

ISBN: 978-3-641-22768-5
V002

www.blessing-verlag.de

Für Dale

»Alles hat irgendwo einen Riss.

So fällt das Licht herein.«

Leonard Cohen

»Die Kapitalisten wollen nicht,

dass irgendjemand außerhalb ihres

wirtschaftlichen Versorgungsnetzes lebt.«

Anonymer Kommentar,

azdailysun.com

INHALT

VORWORT

TEIL EINS

1  DER SQUEEZE INN

2  DAS ENDE

3  AMERIKA ÜBERLEBEN

4  FLUCHTPLAN

TEIL ZWEI

5  AMAZON TOWN

6  THE GATHERING PLACE

7  DAS RUBBER TRAMP RENDEZVOUS

8  HALEN

9  EIN PAAR R-ÜBERRAGENDE ERLEBNISSE

TEIL DREI

10  DAS O-WORT

11  NACH HAUSE

CODA – DER OKTOPUS IN DER KOKOSNUSS

DANKSAGUNG

ANMERKUNGEN

VORWORT

Während ich schreibe, sind sie im ganzen Land unterwegs.

IN DRAYTON, NORTH DAKOTA, verdingt sich ein siebenundsechzig Jahre alter ehemaliger Taxifahrer aus San Francisco als Helfer bei der alljährlichen Zuckerrübenernte. Von Sonnenauf- bis nach Sonnenuntergang arbeitet er bei Temperaturen, die unter den Gefrierpunkt fallen. Er hilft den Trucks, die laufend von den Feldern angerollt kommen, ihre Ladung von mehreren Tonnen Zuckerrüben abzuwerfen. Nachts schläft er in dem Van, der sein Zuhause wurde, als Uber ihn aus der Taxibranche drängte und er sich die Miete für seine Wohnung nicht mehr leisten konnte.

In Campbellsville, Kentucky, verstaut eine sechsundsechzig Jahre alte ehemalige Bauleiterin Waren während der Nachtschicht in einem Amazon-Lager und schiebt dabei einen Rollwagen meilenweit über den Betonboden. Die Arbeit ist todlangweilig, und sie bemüht sich verzweifelt, jedes Teil korrekt einzuscannen, um ja nicht gefeuert zu werden. Morgens kehrt sie in ihren winzigen Trailer zurück, mit dem sie in einem von mehreren Wohnmobil-Parks steht, die Amazon für Nomadenarbeiter wie sie angemietet hat.

In New Bern, North Carolina, nutzt eine Frau, die ansonsten in einem Teardrop-Trailer wohnt, der so klein ist, dass er von einem Motorrad gezogen werden kann, das Couchsurfing-Angebot eines Freundes, während sie auf Arbeitssuche ist. Trotz ihres Master-Abschlusses findet die aus Nebraska stammende Achtunddreißigjährige keinen Job. Sie weiß, dass für die Zuckerrübenernte noch Leute gesucht werden, aber durchs halbe Land zu reisen, würde mehr Bargeld erfordern, als sie besitzt. In den Trailer ist sie unter anderem umgezogen, weil sie vier Jahre zuvor ihren Arbeitsplatz verloren hat. Nachdem ihre Stelle bei einer gemeinnützigen Organisation gestrichen wurde, konnte sie neben den Raten für die Rückzahlung des Studentendarlehens nicht auch noch die Miete bezahlen.

In San Marcos, Kalifornien, betreibt ein Paar in seinen Dreißigern, das in einem GMC-Wohnmobil, Baujahr 1975, lebt, am Straßenrand einen Kürbisstand mit Kinderkarneval und Streichelzoo, den sie auf einem unbefestigten Platz innerhalb von fünf Tagen aus dem Nichts aufbauen mussten. In wenigen Wochen werden sie auf den Verkauf von Weihnachtsbäumen umsteigen.

In Colorado Springs, Colorado, erholt sich ein zweiundsiebzig Jahre alter vandweller – die Bezeichnung für Leute, die in ihrem »Van« (einem ausgebauten Lieferwagen) wohnen – bei Verwandten von einem dreifachen Rippenbruch, den er sich bei einem Instandsetzungsjob auf einem Campingplatz zugezogen hat.

Wanderarbeiter, Landstreicher, Vagabunden, rastlose Seelen hat es immer gegeben. Heute jedoch, im dritten Jahrtausend, entsteht eine neue Art umherziehendes Volk. Leute, die sich nie haben vorstellen können, Nomaden zu sein, machen sich auf den Weg. Sie geben ihre traditionellen Häuser und Wohnungen auf, um in etwas zu leben, das in Anspielung auf real estate, den englischsprachigen Ausdruck für Immobilie, auch scherzhaft als wheel estate bezeichnet wird – Vans, gebrauchte Wohnmobile, Schulbusse, Pick-ups mit Campingaufbauten, Trailer und einfache alte Limousinen. Hinter sich lassen sie Situationen, die sie als Angehörige einer einst als Mittelschicht bezeichneten Bevölkerungsgruppe vor unmögliche Entscheidungen stellen. Entscheidungen wie zum Beispiel:

Möchten Sie lieber etwas zu essen oder Zahnersatz? Ihre Hypothek abzahlen oder die Stromrechnung begleichen? Ein Auto finanzieren oder Medikamente kaufen? Die Miete oder die Rate fürs Studentendarlehen bezahlen? Warme Kleidung anschaffen oder tanken, damit Sie zur Arbeit pendeln können?

Die Antwort erschien vielen zunächst radikal.

Da man sich nicht selbst eine Gehaltserhöhung geben kann, drängt sich der Gedanke auf, die größte aller Ausgaben zu reduzieren. Warum nicht das bürgerliche Domizil gegen ein Leben auf Rädern eintauschen?

Manche nennen sie »homeless«. Aber die modernen Nomaden lehnen diese Titulierung ab. Ausgestattet mit Obdach und Transportmittel, wie sie sind, ziehen sie eine andere Wortschöpfung vor: Sie bezeichnen sich schlicht und einfach als »houseless«.

Aus der Ferne betrachtet, könnten viele von ihnen irrtümlich für Rentner gehalten werden, die sorglos im Wohnmobil umherreisen. Wann immer sie sich einen Kinobesuch oder ein Essen im Restaurant gönnen, fallen sie in der Menge nicht weiter auf. Was Geisteshaltung und Erscheinung betrifft, gehören sie weitgehend zur Mittelschicht. Sie waschen ihre Kleidung in Waschsalons, werden Mitglieder in Fitnessstudios, um dort duschen zu können. Viele verließen ihre festen Wohnungen, nachdem die »Great Recession«, die Weltwirtschaftskrise, ihre Ersparnisse verschlungen hatte. Um Benzintanks und Bäuche zu füllen, verrichten sie in langen Schichten harte körperliche Arbeit. In Zeiten von Niedriglöhnen und steigenden Wohnkosten haben sie sich von Mieten und Hypotheken befreit, um über die Runden zu kommen. Sie überleben in den USA.

Aber genau wie jeder andere wollen sie mehr als nur überleben. Was als letzter Ausweg begann, ist zu einem Kampf um etwas Größeres geworden. Menschsein bedeutet, nach mehr zu streben als nur dem Auskommen. Ebenso dringend wie Nahrung und Obdach braucht der Mensch Hoffnung.

Und auf der Straße gibt es immer Hoffnung. Sie ist eine Art Nebenprodukt der Vorwärtsbewegung. Solange man unterwegs ist, erscheinen die Möglichkeiten so unbegrenzt wie das Land weit. Man bewahrt sich die feste Überzeugung, dass etwas Besseres kommen wird. Es liegt direkt vor uns: die nächste Stadt, der nächste Job, die nächste Begegnung mit einem Fremden wird es mit sich bringen.

Natürlich sind einige dieser Fremden ebenfalls Nomaden. Wenn sie sich treffen – online, bei einem Job oder beim Campen weit entfernt vom öffentlichen Versorgungsnetz –, formieren sich allmählich »Sippen«. Es herrscht gegenseitiges Verständnis, wie in einer Art Verwandtschaft. Geht ein Van kaputt, wird für den Besitzer gesammelt. Sie lassen sich von einem Gefühl anstecken: Hier findet etwas Großes statt. Das Land verändert sich schnell, alte Strukturen brechen weg, und sie befinden sich im Epizentrum von etwas Neuem. Mitten in der Nacht und ums Lagerfeuer versammelt, kann sich das anfühlen wie ein flüchtiger Blick ins Utopia.

Während ich diese Zeilen schreibe, ist Herbst. Der Winter lässt nicht mehr lange auf sich warten. Bald stehen in der Saisonarbeit die alljährlichen Entlassungen an. Die Nomaden werden ihre Lager abbrechen und zu ihrem eigentlichen Zuhause zurückkehren, auf die Straße. Werden sich wie Blutkörperchen durch die Venen des Landes fortbewegen. Sich auf die Suche nach Freunden oder Angehörigen machen oder auch nur nach einem Ort, an dem es warm ist. Manche werden quer durch den Kontinent reisen. Alle werden die Meilen zählen, die sich abspulen wie ein Filmstreifen mit Eindrücken von Amerika: Fast-Food-Läden und Einkaufszentren. Unter Frost schlummernde Felder. Autohändler, Megakirchen und 24-Stunden-Restaurants. Konturlose Weiten. Viehmastanlagen, stillgelegte Fabriken, Trabantenstädte und Kaufhäuser. Schneebedeckte Gipfel. Die Landschaft fliegt vorbei, den ganzen Tag, bis in die Dunkelheit hinein, bis die Müdigkeit einsetzt. Mit schläfrigem Blick suchen sie sich einen Ort, wo sie sich abseits der Route erholen können. Auf Walmart-Parkplätzen. In ruhigen Straßen von Vororten. Auf Raststätten, wo leerlaufende Motoren ihr Wiegenlied singen. In den Morgenstunden dann, bevor irgendjemand etwas bemerkt, sind sie schon wieder auf dem Highway. Fahren weiter und sind sich einer Sache sicher:

Das letzte Stückchen Freiheit in Amerika ist ein Parkplatz.

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