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Vollständige E-Book-Ausgabe der im Rosenheimer Verlagshaus erschienenen Originalausgabe 2005



© 2017 Rosenheimer Verlagshaus GmbH & Co. KG, Rosenheim

www.rosenheimer.com


Titelfoto: Bernd Römmelt, München

eISBN 978-3-475-54692-1 (epub)

Worum geht es im Buch?

Paul Friedl

Der Pfarrer von Liebfrauenberg

Der junge Geistliche Josef Tremel kommt auf den Liebfrauenberg und nimmt sich dort der Sorgen und Nöte seiner Gemeinde an. Und es gibt viel zu tun für den neuen Pfarrer. Nicht nur, dass die Wallfahrtskirche dringend renoviert werden muss, auch altes Unrecht gilt es zu beenden, Ehen zu stiften und Menschen miteinander zu versöhnen. Paul Friedl erzählt eine interessante Geschichte, die auf wahren Begebenheiten beruht.

Über den Böhmerwald war der Frühling gezogen.

Ein hellblauer Himmel spannte sich am Morgen des ersten Maitages über die Waldberge, weiße Wölkchen segelten im frischen Wind, die Sonne schenkte den dunklen Forsten neue Farben und leuchtete in die Talflecken und die in die Wälder eingestreuten Weiler und Einödhöfe. Die Bäche führten das letzte Schneewasser von den Grenzbergen der Moldau zu. Das leise Hauchen und Rauschen in der lauen Luft war wie das Aufatmen der Wälder nach langem Winterschlaf, und der Vogelsang begrüßte einen Tag, der alle Wunder des neuen Lebens versprach.

Durch das Wildbachtal wanderte an diesem frühen Morgen ein junger Mann waldeinwärts dem Wasser entgegen. Der ansteigende, steinige Weg zwischen Wald und Bach hatte ihm schon warm gemacht. Die schwarze Joppe hatte er unter die Riemen des prallen Rucksackes geschoben, das weiße Hemd am Hals aufgeschlagen, und den dunklen weiten Hut trug er in der Hand. Die hellwachen, blauen Augen unter dem blonden, vom Frühlingswind zerzausten Haar strahlten die Freude am Neuen und Unbekannten aus, an den Sonnenlichtern auf den alten hochragenden Fichten und den ersten frischgrünen Blättern der Buchen. Wo die Bäume ihre Schatten zurückzogen, schien die Sonne bis auf den Grund des glucksenden und plaudernden Wildbachs und ließ die weißen Kiesel und die huschenden Forellen aufblitzen. Links und rechts von Bach und Weg stieg der Wald steil an, und die Schlucht schien kein Ende zu haben. Aus dem Niederholz und den braunen, vom Schnee zu Boden gedrückten und verdorrten Farnen feuchtete noch der Waldboden winterlich und im Ruch faulenden Laubes und morschender Nadeln. In den Baumgipfeln sangen Amseln und Buchfinken das Lied vom neuen Sommer.

Verschnaufend anhaltend und sich den Schweiß von der Stirne wischend, murmelte der kräftige junge Mann im Selbstgespräch: »Wenn das so weitergeht und diese herrliche Einsamkeit bis auf den Berg reicht, dann bin ich hier richtig. In so einer Landschaft kann es nur einfache und gute Leute geben.«

Versonnen wanderte er weiter, vorbei an einem Wasserfall, an dem der Wildbach aufrauschte und das Wehen im Wald und den Vogelsang übertönte. Steiler und ruppiger wurde das schmale Sträßlein, dann aber weitete sich das Bachtal und öffnete sich zu einem großen grünen Wiesenfleck, vor dem er das Bergwasser auf einer Holzbrücke überschreiten mußte. Belustigt betrachtete er auf der anderen Seite die Aufschrift auf dem Brett eines schief stehenden Wegweisers, die bekundete, daß es hier »Zur Taflhütte« gehe. Neben die unbeholfene Schrift hatte der Maler eine Krähe gezeichnet.

Von der alten Tafelglashütte bis zum Berg war es noch eine schwache halbe Stunde, wie man dem Wanderer drunten am Ausgang des Wildbachtales erklärte. Nichts deutete mehr auf das einstmalige Hüttengut hin. Nur in dem einstöckigen, mit wetterbraunen Schindeln vertäfelten Haus, drüben am Waldrand, das ein Dachreiter zierte, konnte man noch die frühere Herrenwohnung vermuten. Sie sonnte sich behaglich in der frühen Sonne und sah mit den weiß gestrichenen Rahmen der kleinen Fenster recht freundlich und einladend aus. Über der Türe zeigte ein Schild an, daß aus dem alten Herrensitz längst ein Wirtshaus geworden war. Dies verrieten auch einige aus Pfählen und Brettern bestehende Tische und Bänke vor dem Haus. Auf der friedlichen, sonnenbeschienenen, maigrünen Lichtung, gesäumt vom Fichtenwald, wiegten sich die Buschwindröschen, und am Wildbach hatten sich die goldgelb prangenden Schmalzblumen angesiedelt. Zwei schwere Ackergäule suchten auf der großen Wiese nach den ersten Gräsern, und neben dem Sträßlein, das sich hier vom glasklaren Wildbach entfernte und zur Tafelhütte abbog, stand eine alte, schwarze Kutsche und hing etwas schief in den Radfedern.

Schmunzelnd schaute der Wanderer auf das friedliche Idyll und entschloß sich dann, hier vor seinem Ziel, das er noch früh genug erreichen würde, eine kurze Rast zu halten. Die aus festen Bohlen gezimmerte und mit einem runden Guckloch versehene Haustüre knarrte gemütlich, und das Reden und Lachen hinter einer anderen Türe wiesen ihn in die Gaststube. Vier Männer im Sonntagsstaat und schwarzen Krawatten saßen an einem Tisch vor ihren Biergläsern, musterten ihn kurz und kritisch und setzten ihre Unterhaltung fort, während sich die bei ihnen sitzende beleibte Wirtin langsam erhob und den Gast, einen guten Morgen wünschend, nach seinen Wünschen fragte. Dieser ließ sich an einem Tisch gegenüber nieder und verlangte ein Bier. Seinen Rucksack neben sich auf die Bank stellend, beobachtete er verstohlen die vier Männer und hörte auf ihr ungeniertes Reden. Da war zunächst ein auffallend großer und hagerer älterer Mann, der wenig sprach und sich nach jedem Trunk umständlich den buschigen Schnurrbart wischte, indes sein Nachbar, der eine Brille trug, seine Worte jeweils mit erhobenem Zeigefinger bekräftigte; der dritte, ein kleiner Dicker, lachte zu allem, daß ihm die Tränen über das rote, pausbäckige Gesicht rannen, und der vierte mit dem Aussehen eines behäbigen Waldbauern, kräftig und untersetzt, den schwarzen Binder auf der Seite, im viel zu klein gewordenen Brautanzug, schlug bei seinen Reden mit der Faust auf den Tisch. Er war anscheinend nicht so gut gelaunt wie die anderen und knurrte eben:

»So einen wie den Wenzel kriegen wir nimmer!«

»Das kann man net so ohne weiteres sagen«, widersprach der Brillenträger und hob dabei wichtig den Finger. Dann wandte er sich an den Großen: »Hauptsache ist, du hast deine Rede gut einstudiert, damit wir net auffallen.«

»Wird schon gehen, ich sag ja net zuviel. Aber lange dürfen wir uns nimmer verhalten. Ich bin dafür, daß wir noch einen Slibowitz trinken und nachher abfahren. Zu spät dürfen wir schon gar net kommen.«

Eine hölzerne Uhr an der Wand schnarrte die achte Morgenstunde und trieb die Männer sichtlich zur Eile. Nachdem sie den eingeschenkten Schnaps gekippt und bezahlt hatten, verließen sie schnell die Stube. Vergnügt sah ihnen der zurückgebliebene Gast aus dem Fenster zu, wie sie draußen in der Morgensonne die Pferde vor die alte Kutsche spannten und drei von ihnen in das dunkle Gehäuse kletterten, während der Große auf den Bock stieg und das schaukelnde Gefährt in Gang setzte. Inzwischen räumte die Wirtin die Gläser ab und fragte neugierig den frühen Gast, ob er wohl auf den Berg unterwegs sei.

Er bestätigte dies und fragte zurück: »Was sind das eben für Leute gewesen? Die fahren wohl zu einem Begräbnis?«

»Die da? Sind alle vom Berg. Sie holen den neuen Pfarrer ab. Der Große, der Andres, hat eine schöne Sach droben und ist der Kirchenpfleger; der mit den Augengläsern ist der Lehrer Schramek, der Dicke ist der Mesner und der andere der Schinagl von der Öd. Der hat vierzig Rinder im Stall. Wissen Sie, der alte Pfarrer Prokosch ist schon im Märzen gestorben. War ein guter Herr, der Wenzel Prokosch. Vierzig Jahr hat er als Pfarrer auf dem Berg gewirkt. Und da weiß man halt nie, ob was Besseres nachkommt.«

Um sein Schmunzeln zu verbergen, fuhr sich der Gast mit der Hand über das Gesicht und wandte sich dem Fenster zu: »Soso, den neuen Pfarrer holen sie, woher kommt er denn?«

Geschäftig gab die Wirtin von der Tafelhütte Auskunft: »In Winterberg war er Kooperator, sagt man, und Josef Tremel soll er heißen. Im Krieg war er Feldkaplan bei den Gebirgsschützen, hat der Lehrer Schramek bei einem Bekannten erfragt.«

Er legte das Geld auf den Tisch, trank aus und meinte lächelnd: »Das Bier ist gut gewesen. Werde wohl öfter einmal zu Euch hereinschauen.«

»Tät mich freuen«, versicherte die Wirtin redselig. »Kann Gäste brauchen. Ist keine gute Zeit mehr, seit der Meinige nicht mehr lebt.«

Während er aufstand und den Rucksack schulterte, fragte er: »Ist er im Krieg geblieben?«

Da wurde sie heftig: »O nein! Totgesoffen und totgeraucht hat er sich. Für den Krieg ist er ja zu alt gewesen. Getrieben hat er es, bis ihm das Lüngl heruntergefallen ist. Grad daß ihn der alte Herr Wenzel noch hat versehen können, so schnell ist es gegangen. Kinder hatten wir keine, und da muß ich halt als Wittib allein weiterwirtschaften.«

Er wurde ernst und blickte sie mit seinen blauen Augen verständnisvoll an: »Hat halt jedes auf dieser Welt sein Kreuz zu tragen, liebe Frau. Das wird eben so sein müssen. Behüt’ Sie Gott und auf Wiedersehen!«

Wohlgefällig und nachdenklich sah sie dem großen und kräftigen Mann nach, der sich, wie beim Eintritt, bücken mußte, um nicht an den niederen Türstock zu stoßen.

Wieder draußen, sah sich der Wanderer noch einmal auf der grünen Waldlichtung um. Auf einem alten Kirschbaum neben dem Haus stritten sich die Stare, und im Bach drüben wippten und sprangen muntere Bachstelzen über die aus dem Wasser ragenden Steine. Nun folgte er wieder dem Fahrweg, der erneut zum Wasser zurückkehrte und bald durch ein Waldstück führte. Dann öffnete sich der Blick auf die Grenzberge gegen Bayern und auf eine Kirche, die hoch oben vor dem Hintergrund der blauen Bergkulisse stand. Aufatmend blieb er stehen und dachte bewundernd: »Das könnte ein Paradies sein, wenn auf dieser Welt überhaupt ein solches möglich wär!«

Von der Kirche fiel gegen das Wildbachtal ein steiler Wiesenhang ab, beschienen von der Sonne, die auch das Weiß des Turmes grell anleuchtete, im Tal aber noch ein Haus am Wasser im Schatten des auf der anderen Seite ansteigenden Bergwaldes ließ. Hier teilte sich das Sträßlein, wobei ein Weg zum Haus am Bach und ein anderer in einem Bogen durch Wiesen und Felder den Berg hinaufführte. Die Haselnußstauden an den Feldrainen trugen ihr gelbes Blütengehänge, und unter ihrem Schutz reckten sich die Schlüsselblumen dem Sonnenlicht entgegen. An der Wegkreuzung zog ein schwarzhaariges Mädchen an einem Strick eine Kuh zu den frischen Gräsern am Wegrand und sah neugierig dem Ankommenden entgegen.

Dieser grüßte freundlich und blieb interessiert vor der jungen Hüterin stehen, die ihn, seinen Morgengruß überhörend, abwartend ansah. Aus ihren braunen Augen sprachen Mißtrauen und verhaltene Neugier, was ihn veranlaßte, sie anzureden und zu fragen, wie lange er noch zum Ort hinauf zu gehen habe.

»Zehn Minuten«, antwortete sie rasch und abweisend.

»Und was ist das für ein Haus am Bach?«

»Die Klinglmühl!« kam es zögernd. Dann fügte sie schnell hinzu: »Aber warum willst du das wissen?«

Daß sie ihn duzte, amüsierte ihn. »Bin zum erstenmal in der Gegend, da ist man halt neugierig. Bist vielleicht die Müllerstochter?«

»Was du gleich alles fragst! Den Neugierigen soll man den Hintern zeigen, sagt mein Großvater.«

»So neugierig bin ich auch wieder net«, lachte er, »aber ich werd wohl längere Zeit auf dem Berg oben bleiben, und da möcht ich halt wissen, wer da und dort wohnt und wie die Leute heißen.«

Nun fand auch sie ein kleines Lächeln und wurde freundlicher: »Biebl schreiben wir uns, und ich bin die Alma.«

»Bist ein sauberes Mädchen«, stellte er anerkennend fest, worauf ihr die Röte ins Gesicht schoß und sie warnte:

»Du, werd net frech, sonst pfeif ich dem Hund.«

»War net so gemeint«, entschuldigte er sich, »aber stimmen tut es doch.«

Verlegen schaute sie ihn an: »Was willst du überhaupt bei uns?«

»Weißt ja, was dein Großvater über die Neugier gesagt hat«, lachte er zurück. »Das ist nämlich ein gescheites Sprüchel. Auf Wiedersehen, Alma.«

»Das Wiedersehen kannst du dir sparen«, rief sie ihm trotzig nach, als er bergauf weiterging. Dann aber sah sie noch eine Weile hinter ihm her und flüsterte: »Ein sauberes Mannsbild ist er doch!«, während die Kuh ungeduldig am Strick zog.

Indes stieg der Wanderer munter dem Dorf auf dem Berg zu und verhielt am Wege vor einem gemauerten Bildstock, unter dessen Dächlein ein buntes, mit einfachen Strichen gemaltes Muttergottesbild hing. Darunter lud eine plumpe, verwaschene Inschrift ein:

»Bist Du in Not, dann komm zu mir auf den Liebfrauenberg, es wird Dir geholfen.«

Die naive Volkskunst in dem kleinen Kapellchen und der Trost und Hilfe versprechende Spruch rührten ihn.

Liebfrauenberg! So hieß das kleine Pfarrdorf dort oben in Wirklichkeit, doch nannte man es hier nie bei seinem amtlichen Namen, sondern sprach nur vom »Berg«, wie es ihm schon in der Tafelhütte aufgefallen war. Dabei wollte er es belassen, auch wenn ihm »Liebfrauenberg« besser gefiel. Er würde mit den so weitab im Grenzwald wohnenden Leuten sicher gut auskommen, und die wenigen, die er nun schon kennengelernt hatte, die vier Männer in der Tafelhütte, die Wirtin und die Tochter des Klinglmüllers, hatten ihn zuversichtlich gestimmt. Besonders die vier, die den neuen Pfarrer abholen wollten.

So mußten sie sein, die Menschen auf dem Berg, und so hatte er sie sich auch vorgestellt: einfach und gläubig, eigenwillig und doch aufeinander angewiesen, kommend und gehend unter dem Schutz der Gottesmutter, auf deren Fürsprache sie alle vertrauten.

Er bekreuzte sich und faltete die Hände: »Segne meinen Eingang, steh mir bei!«

Eine glückliche Heiterkeit überkam ihn, und er beschleunigte seine Schritte. Kirche und Ort dort oben zogen ihn an. Neben dem Kirchturm tauchte nun die Spitze eines Maibaumes auf, wo an einem Kranz aus Tannenzweigen bunte Fähnchen im Wind flatterten. Dann zeigten sich die ersten Hausdächer, ein breiter Bauernhof erschien auf der Höhe hinter dem Ort, der nun nach einem Straßenbuckel vor ihm lag. Es war wohl kaum ein Dutzend Höfe und Häuser, die sich um einen Dorfplatz und um die Kirche scharten, und ebenso viele würden vielleicht noch auf Waldlichtungen in der Umgebung verstreut sein. Ein kleines Gemeinwesen, ein abgelegenes Bergdorf, das seine eigenen Probleme hatte.

Vor dem Ortseingang, in der Nähe von Kirche und Friedhof, stand ein Triumphbogen, und Tannengirlanden umrahmten eine Tafel, die den neuen Pfarrherrn herzlich willkommen hieß. Die Einfachheit und Schönheit dieses Bergortes, der im Sonnenlicht so friedlich dalag, rührten ihn seltsam an. Er durchschritt den Bogen mit einem geflüsterten: »In Gottes Namen!«

Zur linken Seite des Dorfes stand etwas erhöht und gegen den Hang zum Wildbachtal, die Kirche, ein auffallend hohes und schmales Gotteshaus mit einem hoch aufragenden, spitzen Kirchturm. Links davon ragten die Kreuze über die Friedhofsmauer, und zwei alte Kastanienbäume setzten die ersten grünen Blätter an. Rechts, mit der Kirche durch einen gedeckten Gang verbunden, war der Pfarrhof, ein holzverschindeltes Haus mit einem Obergeschoß unterm Walmdach. Die große Kirchenpforte und die Türe zum Pfarrhof schmückte Tannengrün. Wie eine Trutzburg hoben sich die Gebäude gegen den blauen Himmel ab, und an ihren Konturen schimmerte golden die Sonne.

Vom geräumigen Kirchplatz aus führte der Weg zum ersten Haus des Dorfes, dem Wirtshaus »Zur Einkehr«; diesem gegenüber zeigte eine Tafel an einem Holzhaus an, daß dort der Abel Monschein eine Handlung betrieb. Dann ging das Sträßlein an Bauernhöfen und Leibtumhäuseln vorbei, beschrieb dabei einen großen Bogen um einen Anger und eine Feuerschwemme und kehrte, nachdem er die ganze Mulde, in der das Dorf lag, umrundet hatte, zum Triumphbogen zurück.

Auf den Feldern hinter den Höfen und gegen den Wald, der den Ort von zwei Seiten einrahmte und zu einem Berg anstieg, brachten Männer und Frauen die Saatkartoffeln in die Erde. In den Höfen krähten die Hähne, und auf dem Anger scharte sich eine Herde Gänse um das Wasser. Sonst lag der Ort wie ausgestorben.

Angetan von diesem friedlichen Bild, stieg der junge Mann die Stufen zur Kirche hinauf und trat in das Gotteshaus. Überrascht sah er sich um. Eine Lichtflut strömte durch die farbigen hohen Fenster, spielte auf dem braunen Gestühl und flimmerte über das Gold zweier Seitenaltäre, während der Hauptaltar, der sich um ein großes und buntes Marienbild aufbaute, in mystischem Schatten geborgen lag. Der Besucher tauchte seine Finger in das granitene Weihwasserbecken neben dem Eingang, bekreuzte sich und ging durch den Mittelgang nach vorne. Dort beugte er das Knie und blickte gebannt auf das Altarbild. Der dieses einmal gemalt hatte, mußte ein großer Künstler gewesen sein. In einen blauen Mantel gehüllt, trug die Gottesmutter in der Linken ein Zepter und in der Rechten drei rote Rosen. Das etwas bäuerliche Gesicht strahlte voller Liebreiz, die Augen leuchteten wie lebendig aus dem Halbdunkel, und um den Mund lag ein tröstendes und helfendes Lächeln. Eine solche ergreifende Darstellung der Madonna hatte er noch nie gesehen, und diese Ausstrahlung muß es wohl gewesen sein, was die Menschen aus dem Böhmerwald durch Jahrhunderte anzog und sie zur Lieben Frau mit den Rosen auf den Berg wallfahren ließ. Heute kamen sie nur noch spärlich, hatte er gehört, und das war der Grund, daß von den ehemals vier Wirtshäusern nur noch eines verblieben war.

Er ging zurück und setzte sich in einen Kirchenstuhl, auf den die Sonne die Farben eines Kirchenfensters zeichnete. Draußen sangen die Vögel in den Kastanienbäumen am Friedhofstor, und die Turmuhr hämmerte die neunte Morgenstunde. Ihr Dröhnen im hohen Kirchenschiff riß den Besucher aus seinem Sinnen.

Noch einmal betrachtete er die beiden besonnten und goldschimmernden Seitenaltäre mit den Figuren der Heiligen Nepomuk und Wenzeslaus, erhob sich und verließ das Gotteshaus. Seine Schritte hallten im hohen Gewölbe. Nun wandte er sich dem Friedhof zu, trat durch das quietschende geschmiedete Tor und sah sich um. Drei Gräberreihen mit Kreuzen aus Eisen, Stein und Holz schwängerten die Luft mit dem Modergeruch verwelkten Grabschmuckes. Ein Weg aus feinem Kies führte zu einem mächtigen Kreuz an der Kirchenmauer, wo sich ein mit Tannenzweigen bedecktes frisches Grab befand. Die vergoldete Inschrift auf dem neuen Grabstein lautete:

Hier ruht in Gott
Wenzel Prokosch
Pfarrer zu unserer Lieben Frau.
Gestorben mit 70 Jahren
am 5. Märzen 1920.
Per aspera ad astra.
Er ruhe in Frieden.

Über rauhe Pfade zu den Sternen – hatte sich der Verstorbene diese Worte selber gewünscht? Wollte er sie auf sein Leben oder auf seine Erfahrungen in der Pfarrgemeinde bezogen haben?

Lange stand der junge blonde Mann mit gesenktem Kopf vor der letzten Ruhestätte des Alten vom Berg und vergaß den schönen Maientag, bis ihn das Geschrei streitender Dohlen aus seinen Gedanken weckte. Er schaute an der Kirchenmauer empor. Grüner Schimmel wuchs an feuchten Stellen, und der Verputz bröckelte. Die Witterung hatte auch schon dem Fensterrahmen schwer zugesetzt, und die Bleiverglasungen wölbten sich gefährlich aus dem Eichenholz. Nicht weniger schadhaft schien das Kirchendach, wie Teile zerbrochener Schieferplatten neben der Mauer am Boden verrieten. Kopfschüttelnd verließ er den Gottesacker und ging hinüber zum Pfarrhaus. Er zog dort an der Glockenstange und horchte auf die schrillen Töne im Hausflur. Dort klappte eine Türe auf, langsame Schritte näherten sich, und ein Riegel wurde zurückgeschoben. Dann stand vor ihm eine mollige Frau mit gesundrotem, vollen Gesicht und strengem Blick und fuhr ihn barsch an:

»Was wollen S’ denn? Der geistliche Herr Pfarrer ist net zu Haus!«

Er nickte freundlich: »Ich weiß. Er liegt drüben im Friedhof, und ich bin sein Nachfolger. Josef Tremel ist mein Name, und Sie sind die Adelgunde Prokosch, die Nichte des Verstorbenen. Stimmt das?«

Ungläubig und mißtrauisch sah sie ihn an und antwortete heftig: »Die Pfarrhaushälterin bin ich, aber Sie sind net der neue Herr! So jung wird man noch kein Pfarrer. Der neue Herr kommt erst am Abend, und sie sind ihm entgegengefahren und holen ihn ab.«

»Auch das weiß ich. Habe sie in der Tafelhütte getroffen, hab aber keine Gelegenheit gehabt, mich vorzustellen.« Jetzt nahm er den Rucksack ab und holte aus der Tasche seiner Joppe einen Ausweis: »Damit wir uns einig werden, lesen Sie das, liebes Fräulein«, schmunzelte er.

Immer noch voller Argwohn überflog sie das Geschriebene, wurde blaß und stotterte: »Ja – aber warum haben S’ denn net gewartet auf die Deputation? Ist alles so gut ausgemacht gewesen. Hab ich mich saudumm angestellt! Das müssen S’ mir verzeihen, geistlicher Herr. Oje, sagen Sie bitte nix davon, daß ich so blöd gewesen bin.«

»Na also«, lachte er und schnupperte: »Da riecht es ja nach Schmalznudeln, und ein Kaffee wäre jetzt gerade recht.«

Nun wurde sie eifrig, nahm seinen Rucksack und meinte: »Ich richte Ihnen gleich alles her, und einen Braten für den Mittag habe ich auch. Und wenn Sie jetzt das Haus anschauen wollen – ich bin da die Gundula, so heißen mich die Leute und der selige Herr Onkel hat mich auch so gerufen. Und gell, Sie tragen mir nix nach, ist mir in der Seele zuwider, daß ich Sie net erkannt habe. Aber wer denkt denn an einen so jungen Pfarrer! Sie schauen halt gar net so aus.«

»Ist schon gut, Gundula«, beruhigte er sie. »Da hat eben der jüngste Pfarrer im Bistum die kleinste und ärmste Pfarrei bekommen, und ich muß halt schauen, wie ich zurecht komme.«

Sie führte ihn durch die Räume im Erdgeschoß, die Küche und ein einfaches Wohnzimmer, wo ein rotes Plüschsofa und ein großer runder Tisch mit einer gehäkelten Decke sowie ein alter Schrank und ein Tischchen mit einem Trichtergrammophon standen.

»Da hat sich der selige Herr wenig aufgehalten, weil er das Grammophon net leiden konnte.«

Die Türe zum Zimmer nebenan öffnete sie nicht, sondern erklärte nur verschämt, daß sie dort schliefe. Auf der anderen Seite des Ganges, an dessen Wand ein großes Kruzifix hing, zeigte sie ihm ein schlichtes Gästezimmer und einen Raum mit einem schön geschnitzten Hausaltar, der das Marienbild der Kirche in verkleinerter Form enthielt.

»Da hat der selige Herr die Messe gelesen, wenn er net gut beieinander war oder wenn im Winter wegen dem hohen Schnee am Werktag doch niemand in die Kirche kam.«

Ein weiterer Vorratsraum bildete den Abschluß. Wie alle Räume waren auch der geflieste Hausgang und die Stiege, die nach oben führte, peinlich sauber gehalten.

Er vermerkte das anerkennend, und sie bekam einen roten Kopf: »Mit dem seligen Herrn Onkel hab ich oft ein Kreuz gehabt. Er hat alleweil auf das Füßeabputzen vergessen.«

Im Obergeschoß befanden sich ein großer Vorraum, rechts davon das Schlafzimmer des Pfarrers und links seine Studierstube.

»Da hat sich der selige Herr am meisten aufgehalten, und ich habe alles so gelassen, wie es bei seinem Tod gewesen ist. Hier auf diesem Kanapee ist er gelegen, wie ihn der Herzschlag getroffen hat.«

Der neue Pfarrherr blieb unter der Türe stehen und sah sich um. Ein großer Schreibtisch stand in der Mitte des Raumes, darauf lagen Papiere, ein aufgeschlagenes Buch und eine Tabakspfeife. Davor ein ledergepolsterter Sessel und an einem der zwei gegen Osten gerichteten Fenster ein Stuhl. Decke und Wände waren aus braunem Holz, und in zwei großen Regalen drängten sich die Bücher bis an den oberen Rand. Ein Brett mit einem halben Dutzend halblanger Tabakspfeifen, eine Gitarre neben zwei Hinterglasbildern, ein zierliches Kreuz, sowie eine Marienfigur auf einer Konsole gaben dieser Studierstube etwas anziehend Heimeliges. Trotz der offenen Fenster zog um Wände und Möbel der feine Geruch von Pfeifenrauch. Es war, als hätte sein Bewohner das Zimmer eben erst verlassen und würde bald wieder zurückkehren, um sich an den Schreibtisch, den Stuhl am Fenster oder die kleine Bank am Kachelofen zu setzen. Alles strahlte Wärme und Gemütlichkeit aus.

»Ich mache jetzt den Kaffee.« Und lächelnd deutete sie auf die Gitarre: »Der selige Herr hat früher gern gesungen, seit zwei Jahren aber nimmer. Er ist zuletzt alleweil seltsamer geworden.«

Nun ging Gundula nach unten, während der neue Pfarrherr das Zimmer betrat und langsam an den Bücherregalen entlangschritt.

Sein Vorgänger mußte ein großer Freund der Böhmerwaldheimat gewesen sein, denn neben den dicken Folianten der Pfarrmatrikeln und der Mirakelbücher der alten Wallfahrt standen die Romane und Erzählungen der heimatlichen Dichter und Schriftsteller Schott, Adalbert Stifter, Maximilian Schmidt und anderer. Die Anzahl ihrer Bücher übertraf sogar die der religiösen Schriften.

Josef Tremel trat ans Fenster. Der Blick reichte über grünende Waldberge bis zu den hohen Häuptern an der Grenze. Der Rachel trug noch den letzten Schnee. Eingebettet in die Waldhänge lagen zwei Einödhöfe mit ihren Wiesen und Äckern. Tief unter ihm, im Wildbachtal, stand die Klinglmühle, die gerade der erste Sonnenstrahl erreichte.

In ihm stieg ein Glücksgefühl auf, das ihn überwältigte. Er setzte sich auf den Stuhl und ließ seinen Gedanken freien Lauf. So hatte er es sich nicht vorgestellt. Es war ihm ein wenig bange gewesen auf diesem Weg hierher. Nun aber dachte er dankbar an seinen alten Pfarrer in Winterberg und die Worte, die ihm der Bischof gesagt hatte:

»Sie sind der jüngste Pfarrer in der Diözese und kommen in die kleinste und ärmste Pfarrei, die wir haben. Dort warten Aufgaben auf Sie, die ein junger und vitaler Mann eher meistern kann als ein alter Herr. Vor allem gilt es die alte Wallfahrtskirche zu retten. Das Tschechische beherrschen Sie nur schlecht, und so könnten wir Sie im reinen zweisprachigen Gebiet sowieso nicht seelsorgerisch einsetzen. Versuchen Sie die Gläubigen zu bewegen, daß sie für die Renovierung der Kirche etwas tun. Von uns haben Sie mit der bestmöglichen Unterstützung zu rechnen. Sie brauchen viel Mut und Kraft dazu, in der alten Wallfahrt wieder Ordnung zu schaffen. Ich wünsche Ihnen dazu viel Glück.«

Und sein alter Pfarrer Brandl von Winterberg, der dem armen Häuslerbuben das Studium ermöglichte und bei dem er, bis er zum Kriegsdienst eingezogen wurde, seine erste Kooperatorenstelle versehen durfte, hatte zum Abschied gemeint:

»Seppl, das ist fürs erste das richtige für dich. Du kommst in ein warmes Nest. Der alte Prokosch hat mit seinem letzten Willen seine ganze Habe dem Nachfolger vermacht, allerdings, wie du weißt, mit der Bedingung, daß seine Haushälterin im Pfarrhof bleiben kann, solange sie will. Aber dafür ziehst du in einen Pfarrhaushalt ein, in dem schon alles vorhanden ist. Mit der Pfarrköchin wirst du schon auskommen.«

Nun, der erste Eindruck war nicht schlecht gewesen.

Inzwischen hatte Gundula den Kaffee fertig und fragte, ob der Herr ihn unten im Wohnzimmer trinken wolle, wie es der selige Onkel immer getan habe.

»Freilich, liebe Gundula, wir führen nix Neues ein.«

Im Vorraum deutete sie auf ein gerahmtes Foto. »Das ist er«, sagte sie und wischte sich die Augen.

Interessiert betrachtete er das Bild. Ein gutmütiges Gesicht, Schalk und Zufriedenheit im Blick und um den Mund ein verstohlenes Lächeln.

»Muß ein guter Mensch gewesen sein.«

»Oh ja, alle haben ihn mögen.«

Dann saß er auf dem Plüschsofa am runden Tisch und griff herzhaft zu. Sein Lob auf den Kaffee und die Schmalznudeln erleichterte die Gundula und half ihr, die anfängliche Scheu rasch zu überwinden. Und als er sie sogar aufforderte, sich ebenfalls einen Kaffee einzuschenken und am Tisch Platz zu nehmen, fand sie den Mut und fragte:

»Was machen wir nun, Herr, wenn die andern kommen? Alles ist für den Empfang hergerichtet und Sie sind schon da. Dabei haben sich die Leute doch so gefreut. Die Kinder, die Feuerwehr und die Veteranen wollten aufmarschieren – die werden enttäuscht sein.«

Aber er schmunzelte nur: »Das lassen wir so, wie es geplant war. Daran soll sich nix ändern. Und ich freu mich ja schon drauf.« Was er freilich vorhatte, verriet er nicht. »Jetzt müssen halt wir zwei miteinander auskommen, und ich werde Sie oft fragen müssen, bis ich mich eingewöhnt und eingearbeitet habe.«

»Oh ja, ich kenne die Leute durch und durch – möcht aber bitten, daß Sie du zu mir sagen, wie es der selige Herr Onkel getan hat.«

»Wenn es dir nix ausmacht und wenn du es so willst, warum nicht«, nickte er.

Vor dem Mittagessen, für das Gundula einen guten Braten ankündigte, beschloß der neue Pfarrer, sich kurz einmal im Dorf umzusehen. Dabei wollte er nicht auffallen und ging deshalb nur in Hose und offenem Hemd; dazu setzte er einen Strohhut auf, der im Vorraum des Pfarrhofes gehangen hatte. Inzwischen war es um die Höfe und Häuser lebendig geworden. Die Leute waren von den Feldern zurück gekommen, und plötzlich begriff der neugebackene Seelsorger Josef Tremel, warum sie anscheinend aus dem Werktag einen Feiertag machen wollten.

Der Wirt »Zur Einkehr« nagelte Tannenzweige um die Haustüre, und auch von den Häusern her klang das Hämmern. Kinder schleppten Zweige herbei, Frauen und Mädchen putzten die Fenster oder kehrten die Dorfstraße. Sträuße von gelben Frühlingsblumen wurden auf die Fensterbretter gestellt, wobei besonders ein großer, stattlicher Hof in der Dorfmitte ins Auge fiel. In seinen Fenstern links und rechts der Haustüre standen blumengeschmückte Figuren der in ganz Böhmen verehrten Muttergottes vom heiligen Berg bei Pribram.

Freundlich grüßte der Spaziergänger die Menschen am Wege, wechselte mit ihnen ein paar unbefangene Worte und wurde dabei oft fragend und forschend angesehen. Keinen Schmuck fand er am Hause des Abel Monschein, hinter dessen Ladenfenster er ein schwarzbärtiges Gesicht erblickte. Nun hielt ihn der Wirt an:

»Hab ihn schon aus dem Pfarrhof kommen sehen! Sind Sie leicht ein Verwandter von der Gundula oder vom neuen Pfarrer? Wenn im Pfarrhof kein Platz ist, können S’ auch bei mir wohnen. Im Sommer haben wir alleweil ein paar Gäste – und am Nachmittag zapf ich ein frisches Faßl Pilsener an.«

»Da komme ich ganz bestimmt«, dankte der vermeintliche Verwandte belustigt und froh darüber, keine weitere Antwort geben zu müssen. Auf dem Kirchturm kündeten die Zeiger der Uhr die nahe Mittagstunde, und er beeilte sich, in den Pfarrhof zurückzukehren.

Der runde Tisch war sauber gedeckt, die Gundula trug das Essen auf und begann ohne Aufforderung ein kurzes Tischgebet. So mochte sie es wohl beim Onkel immer getan haben, dachte Josef Tremel, und damit wollte auch er einverstanden sein. Seine Mutter hatte ja zu Hause ebenfalls vorgebetet; das war vielleicht ein Herkommen, das im Böhmerwald Gültigkeit besaß, ein Recht der Hausfrau.

Nun fühlte er sich schon ganz heimisch, stellte er fest, lobte den Braten und als sie fragte, ob er künftig allein und vielleicht oben essen wolle, lehnte er schnell ab:

»Nein, nein, wir bleiben schon zusammen. Da gewöhne ich mich besser ein. Du wirst mir ja doch öfter was erzählen können, was ich sonst net erfahren tat, wo du ja die Leute durch und durch kennst.«

Die Haushälterin nahm dies gleich als Aufforderung und ihre Augen funkelten: »Haben Sie sich ein wenig umgesehen im Dorf? Jetzt sind sie ganz närrisch, damit alles für den Empfang fertig wird. Nur der Monschein wird nix tun, ist halt ein Jud, aber ein guter Mann. Der selige Herr Onkel hat ihn gut leiden können, und der Monschein ist bei uns ein und aus gegangen wie ein alter Freund. Im Krieg haben sie uns die drei Glocken vom Turm herunter. Zwei hängen schon wieder droben, die eine hat das ganze Dorf bezahlt und die andere, die große, hat der Monschein allein gestiftet. Das weiß aber niemand.«

»Wenn das so ist, dann werde ich mich mit dem Monschein ebenfalls vertragen können – Ist übrigens auch der Herr Onkel öfter zum Wirt gegangen?«

»O ja«, bestätigte sie eifrig. »Zwei- oder dreimal in der Woche, wenn es ein frisches Pilsner gegeben hat oder wenn ein zünftiger Tarock geklopft wurde. Nie aber an einem Samstag. Und ich hab oft mitgehen dürfen, besonders wenn im Saal eine Tanzmusik gewesen ist.«

Diese Auskunft amüsierte ihn, und belustigt forscht er weiter: »Hat denn der Onkel auch getanzt?«

Ihr Gesicht verklärte sich in der Erinnerung: »O ja, ist zwar kein guter Tänzer gewesen, aber wenn ihn eine geholt hat, dann hat er nie einen Korb gegeben. Er hat halt so gern die Musik gehört.«

»Und du, tanzt du auch gerne?«

»O ja, aber jetzt muß ich das Trauerjahr einhalten.«

In der weiteren Unterhaltung erfuhr er, daß sie nun schon neunzehn Jahre den Pfarrhaushalt führte und mit zwanzig zu ihrem Onkel gekommen war. Zuletzt sprachen sie noch darüber, wie nun nach der verfrühten Ankunft des neuen Pfarrers der Empfang vonstatten gehen könnte, um der Deputation, die ihn abholen sollte, die peinliche Situation und den Dorfspott zu ersparen.

Am Nachmittag sah sich Josef Tremel in seinem Schlafzimmer im Obergeschoß um, räumte seinen Rucksack aus und verwahrte den Inhalt im alten Bauernschrank, dessen vier Türfelder Heiligenbilder zierten. Ein Himmelbett stand in der Ecke, und blütenweiße Polster und Zudecke blähten sich mit ihrer Daunenfüllung. Ein Stuhl am Bett und Kreuz und Bilder an der Wand machten die schlichte Einrichtung fast gemütlich.

Ehe sie ihm nicht seinen Koffer brachten, konnte er für seinen Umzug nichts mehr tun, deshalb wollte er sich im Studierzimmer einmal genauer umsehen. Obwohl der Raum nun im Schatten lag, hatte er nichts von seiner eigenartigen Heimeligkeit verloren. Mit einiger Scheu trat er zum großen Schreibtisch, nahm die Tabakspfeife und hing sie an das Pfeifenbrett an der Wand, setzte sich in den breiten Ledersessel und nahm die aufliegenden Papiere zur Hand.

Diözesanmitteilungen, die er längst kannte, ein ungelenkes Schreiben eines Zimmermanns Sterzinger, das die Bitte enthielt, man möge ihm endlich wenigstens einen Teil von den zweihundert Kronen ausbezahlen, die er für die Arbeiten am Kirchendach guthabe. Darunter der Vermerk des verstorbenen Pfarrers Prokosch: »Erst müssen wir das Geld haben. Die Gundula soll ihm wenigstens einmal zwanzig Kronen geben, damit wieder eine Weile Ruhe ist.«

Die Gundula? Verwaltete hier die Pfarrhaushälterin die Kirchengelder?

Josef Tremel zog die Schubläden heraus. Ein Packen handgeschriebener Predigtunterlagen, verschiedene Hefte der Zeitschrift »Waldheimat«, einige Zettel mit kaum zu entziffernden Notizen und in einer Mappe persönliche Papiere. Kein letzter Wille. Diesen hatte der Pfarrer Prokosch wohl nur an das Generalvikariat gesandt.

Er legte die Mappe zurück und stutzte: Diese Schublade war viel kürzer als die anderen, die Rückwand war verzogen. Neugierig untersuchte er die Lade; er konnte sie erst ganz herausziehen, als er einen Nagel entfernt hatte. Dahinter aber öffnete sich ein Fach, das nur ein in Leder gebundenes Buch enthielt. Auf der ersten, schon etwas vergilbten Seite stand, in Druckbuchstaben gemalt: »Tagebuch des Pfarrers vom Liebfrauenberg.«

So sehr es ihn drängte, gleich in den Aufzeichnungen seines Vorgängers zu blättern, legte er sie doch wieder in das Fach zurück. Handelte er recht, wenn er dieses Buch las und damit in das Leben eindrang, das dieser Pfarrei gehört hatte und sicher voller Sorgen war? Er hochte in den Raum, als müßte ihm ein Zeichen zukommen, das ihm darauf die Antwort gab. Wenn ein Mensch ein Tagebuch anlegt, dann weiß er doch, daß es einmal von anderen gelesen werden kann, selbst wenn es in einem Geheimfach steckt.

Er griff nach dem abgenützten Brevier auf dem Schreibtisch und begann darin zu beten. Seine Mutter hatte ihm zur Primiz ein schöneres geschenkt, nun wußte er aber, daß er künftig dieses alte Büchlein des Wenzel Prokosch für seine Stunden der Besinnung nehmen würde. Zugleich verspürte er ein gutes, heimeliges Gefühl, als wohne er schon längst in diesem Haus und dieser Stube. Der leichte Ruch von altem Holz und lange verwehtem Pfeifenrauch kam ihm nun vertraut vor. Er freute sich darauf, die Bücher in den Regalen kennenzulernen. Mit einiger Scheu sah er nach dem Kanapee, auf dem der alte Prokosch in die Ewigkeit hinübergeschlummert war. Hatte er schon einmal kurz überlegt, wie er sich dieses Studierzimmer anders einrichten könnte, so entschloß er sich jetzt, alles so zu belassen, wie es der gute Seelsorger an ihn vererbt hatte.

Draußen stießen schon die Talschatten des späten Nachmittags von der Klinglmühle den Fichtenwald hinauf, als Josef Tremel durch ein Klopfen an der Türe aus seinen Gedanken gerissen wurde. Die Gundula steckte den Kopf durch den Türspalt und sagte feierlich und doch drängend:

»Hochwürdiger Herr, es ist jetzt soweit. Sie müssen sich für den Empfang richten, das ganze Dorf wartet schon. Ich hab in die Tafelhütte hinuntergeschickt, wo die Abordnung sitzt, und ich hab sagen lassen, daß sie Punkt fünf beim Triumphbogen sein sollen.«

»Na ja, dann empfangen wir sie halt«, lachte der neue Pfarrer vergnügt. »Kommen S’ mit in die Sakristei, ich möchte das gelbe Meßgewand anlegen.«

»Die Kinder, die Musik und die Feuerwehr warten, und niemand weiß, daß der neue Pfarrherr net kommt, sondern schon da ist. Ich freu mich schon auf die Überraschung«, plauderte sie auf dem Weg zur Sakristei und berichtete weiter, während sie dem Pfarrer ins Meßgewand half: »Der Scheikl, unser Mesner, ist auch bei der Deputation. Ich muß ihm das Klarinettl bringen, weil er bei der Musik mitspielt. Hoffentlich haben sie sich net alle schon besoffen, wegen dem Kummer und der Blamage.«

Und begeistert fuhr sie fort: »Ich sag Ihnen, Herr, die Leut werden staunen. So einen großen und stattlichen und einen so jungen Pfarrer hat es auf dem Liebfrauenberg bestimmt noch net gegeben. Ist keiner da in der ganzen Gemeinde, der so groß war.«

Josef Tremel hörte ihr freilich nur mit halbem Ohre zu. Er bewunderte den alten, reich geschnitzten Sakristeischrank und überlegte seine kurze Ansprache, die er vom Kirchenportal aus halten wollte. Als die Turmuhr das fünfte Mal anschlug, verließ er durch den Kirchenraum das Gotteshaus, während die Gundula aus der Sakristei rannte.

Auf dem Weg von der Kirche bis zum Triumphbogen bildeten die Dorfleute ein dichtes Spalier und wandten sich erstaunt und ratlos dem blonden, hochgewachsenen Geistlichen zu, der aus der Kirchtüre trat und durch die Reihen zum Dorfeingang schritt. Erst blieben sie vor Überraschung ganz still, dann begannen sie zu flüstern und zu tuscheln. Das war doch der junge Mann, den sie schon am Mittag im Dorf gesehen hatten! War das der neue Pfarrer? Oder brachten sie in der Kutsche, die eben den Berg heraufrollte, einen andern?

Nun war Gundulas großer Augenblick gekommen. Plötzlich tauchte sie vor ihrem Pfarrherrn auf und zischte nach links und rechts in das Spalier der Wartenden: »Das ist der neue Pfarrer!« Ein Dutzend weißgekleideter Mädchen wies sie an, die Frühlingsblumen, die sie in Sträußen mittrugen, auf den Weg zu streuen. Die Klarinette des Mesners unterm Arm, rannte sie der Kutsche entgegen, hielt das schiefhängende Gefährt an, zog den Mesner am Rockärmel heraus und raunte ihm zu:

»Renn, du Depp, und spielts gleich einen!«

Den Kirchenpfleger aber, der so langsam vom Bock stieg, als fürchtete er, daß es nun irgendwo Prügel gäbe, fuhr sie an: »Jetzt schau, daß die Dummheit net no größer wird.«

Der Andresbauer hatte aber auch noch eine andere Sorge und maulte dem aussteigenden Lehrer Schramek zu: »Laß den besoffenen Kerl in der Kutschen.« Damit meinte er den vierten der Deputation, den Schinagl von der Öd, den selbst das torkelnde Gefährt nicht aus dem Schlaf geweckt hatte. Dann hing der Andres die Stränge aus, und bis er und der Lehrer zum Triumphbogen kamen, wo sie der Pfarrer erwartete, spielten die sieben Musikanten der Feuerwehr schon einen Marsch. Freundlich lachend reichte der neue Pfarrer den Deputierten die Hand und sagte: »Na also, da seid Ihr ja! Ich begrüße Euch in meiner Pfarrei«, blieben dem Kirchenpfleger alle Gedanken weg und er stieß den Lehrer in die Seite:

»Sag Du was, ich weiß nix mehr.«

Der Lehrer Schramek, bekannt wegen seiner stets guten Laune, mußte nun auch lachen und er war froh, daß die Musik so laut spielte, daß nur der neue Pfarrer seine kurze Begrüßung hören konnte:

»Hochwürdiger, geistlicher Herr, wenn auch alles verkehrt gegangen ist, wir freuen uns und sagen ein recht herzliches Grüß Gott. Möge es Ihnen bei uns gefallen. Da sind einfache Leut, die ihren Pfarrer achten und ehren werden.«