Vor dem Gesetz sind alle gleich. Doch was geschieht, wenn geltendes Recht nicht mehr für jeden gilt und nicht ausnahmslos greift? Wenn gefällte Urteile nicht vollzogen werden? Wenn der Staat auf neue Entwicklungen in Zeiten von Digitalisierung und Globalisierung nicht angemessen reagiert? Wenn die Balance zwischen Freiheit und Sicherheit zunehmend zulasten der Freiheit verloren geht? Wenn zwar der Sozialstaat weiter ausgebaut wird, die Kernaufgaben des Rechtsstaates aber vernachlässigt werden? All dies ist heute in Deutschland zu beobachten und weist auf eine besorgniserregende Entwicklung hin. Der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts warnt eindringlich vor einer Erosion des Rechtsstaates, insbesondere vor einer Schwächung der Judikative.
HANS-JÜRGEN PAPIER
DIE WARNUNG
Wie der Rechtsstaat ausgehöhlt wird
Deutschlands höchster Richter a. D. klagt an
Unter redaktioneller Mitarbeit von Dr. Petra Thorbrietz
Wilhelm Heyne Verlag
München
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Originalausgabe 2019
Copyright © 2019 by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Dieses Werk wurde vermittelt durch Agentur Stefan Linde
Redaktion: Dr. Thomas Tilcher
Umschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich
unter Verwendung eines Fotos von
© Kay Blaschke / Random House
Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering
ISBN: 978-3-641-24673-0
V004
www.heyne.de
Meiner Frau
Inhalt
Einleitung: Risse im Fundament der Republik
1 Ist das Recht nur was für Dumme?
2 Der Wert der Freiheit: oft unverstanden und missachtet
Keine Demokratie ohne Grundrechte · Der Wert der Freiheit · Sicherheit als Staatsziel · Die Verfassung in Schräglage · Die Ausdehnung der Polizeigewalt · Die Polizei ist kein Nachrichtendienst · Die Schutzpflicht des Staats · Auch Terroristen haben Menschenwürde · Strenge Strafen gewinnen Sympathien · Die Ethik des Abhörens · Der Kernbereich der Privatsphäre · Digitaler Lifestyle – das Ende der Privatheit? · Daten auf Vorrat · Die Gedanken sind frei · Das Dilemma des Rechtsstaats
3 Kapituliert der Rechtsstaat? Von »Asyl« bis »Zuwanderung«
Mitgefühl ersetzt kein Recht · Juristischer Verschiebebahnhof · Das deutsche Asylgrundrecht weitgehend abgeschafft · Ausnahmeentscheidung oder Kontrollverlust? · Vom Sinn der Abweisung · Schengen muss dringend reformiert werden · Menschenrechtsverletzungen mit deutscher Hilfe · Verfolgt oder gefährdet? · Anspruch auf Aussitzen · Rechtsbrüche und Politikversagen · Menschlichkeit auf Basis des Rechts · Seenotrettung ist selbstverständlich · Im Schatten der Illegalität · Abschieben ist schwer · Unterschiede berücksichtigen · Unsere »Leitkultur« ist die Vielfalt · Handlungsoptionen für Deutschland · Eigenstaatlichkeit in der EU · Zukunftsorientierte Migrationspolitik · Schöne Worte als Soft Law
4 Selbstjustiz: Gefährliche Entwicklungen
Das Gesetz der Clans · Parallelgesellschaften · Im Namen der Ehre · Autoritätsverlust der Familie · Auch Ehrenmord ist Mord · Die ehrenwerten Gesellschaften · Diebe im Gesetz · Kinder als Räuber · Wegsehen ist ein Rechtsbruch · Ziviler Ungehorsam · Moral ist vergänglich · Keine Öko-Diktatur · Die beste aller Welten?
5 Die globale Digitalisierung: grenzenlose Herausforderung
Von der Volkszählung zur Datenwirtschaft · Europäisches Hickhack um Vorratsdaten · »Alexa – hör weg!« · Der »kleine« Lauschangriff · Facebook und kein Ende · Das Grundgesetz in der digitalen Ära · Beschneidung der Meinungsfreiheit · Urheberrecht im Internet · Keine »Vermummung« im Netz! · Meinungsfreiheit neu denken? · Ein Rundfunkgesetz fürs Internet? · Die Datenschutz-Grundverordnung der EU · Ist der Zug abgefahren? · Im Ausland rechtlos? · Sollbruchstelle Datenschutz · Die Gefahr der Überwachungsgesellschaft
6 Politik und Verfassung: auf Kollisionskurs
Unbequeme Hüter · Rechtserkenntnis statt Politik · Kontrolle, nicht Gestaltung · Rote Karte für die Politik · Der Streit ums ungeborene Leben · Auftrag zur Wiedervereinigung · Zurechtgerückt · Deutschland im Krieg · Systeme kollektiver Sicherheit · Out of area · Umgehung des Bundestags · Bündnispartner allein reichen nicht · Auslandseinsätze bleiben beschränkt · Die Ehe im Zeitgeist · »Soli« ohne Rechtsgrundlage · Kein Dauerzustand · »Reichensteuer« ist keine legitime Lösung · Gerecht ist anders · Strukturelle Vollzugsdefizite · Die Dummensteuer · Cum-Ex: Das Darknet der Banken · Eigentum für alle? · Guck-in-die-Luft · Im Zweifel für die Autolobby? · Gesetzgebung als (Symbol-)Politik · Keine rechtliche Rundumversorgung · Mehltau im Gesetzesdickicht · Recht soll schützen, nicht maßregeln · Ist das Schicksal einklagbar? · Der Filz des Steuerrechts · Staatsaufgaben führen zu Gesetzesflut · Eilige Kompromisse statt Klarheit · Zweifel am Recht · Gesetze müssen vollzogen werden · Die Abhängigkeit der Justiz von der Politik · Die richterliche Unabhängigkeit · Staatlicher »Rechtsungehorsam« · Durchrationalisierte Justiz · Selbstverwaltung als Allheilmittel?
7 Die große Schwester: Europa und das Grundgesetz
Die Anfänge des europäischen Rechts · Die Grundrechte in der Gemeinschaft · Abtretung von Hoheitsrechten · Souveränität ist unverzichtbar · Bewahrung der Verfassungsidentität · Wechsel- und Nebenwirkungen · Dialog der Instanzen · Beispiel Datenschutz: EU-Recht ist strenger · Beispiel Frauen an der Waffe: EU-Recht ist konsequenter · Beispiel Kirchenrecht: EU-Recht ist neutraler · Der Fall Fransson: fragwürdige Zuständigkeit · Gerichte als Rivalen · Demokratieverluste an der Basis · Abgehobenheit der Eliten? · Das europäische Trilemma · Kein Superstaat · Nicht Ausbau, sondern Umbau · Was tut Deutschland? · Staatlichkeit als Wert
8 Mehr Rechtsbewusstsein!
Rechtsbruch als (Klima-)Politik · »Nachhaltigkeit« ins Grundgesetz · Verantwortung für die kommenden Generationen · Wie verankert man die Zukunft? · Stärkung von Identität und Vertrauen · Was ist »gutes« Recht? · Für eine effektive Klimapolitik ohne Übermaß an Ge- und Verboten · Wandel im Verfassungsverständnis · Machtverzicht des Bundestags · Der Einfluss der Lobbys · Placebo-Gesetze · Das Dickicht lichten · Staatsaufgaben in der Kritik · Der Parlamentarismus verblasst · Mediendemokratie · Die Simplifizierung von Politik · Mehr Initiativrecht für das Volk? · Schwachstelle Wahlrecht · Plädoyer für den Föderalismus · Chaos in der Asylpolitik: der Schuss vor den Bug · Bewusstsein statt Kalkül
Dank
Register
Einleitung
Risse im Fundament der Republik
»Einen tollen Text haben wir da, Dokument eines Urvertrauens in demokratische Kräfte, staatliche Verantwortung und individuellen Schutz; ein Vademecum der politischen Tugend.« So preist Der Tagesspiegel in seiner Ausgabe vom 23. Mai 2019 das deutsche Grundgesetz. Anlässlich des siebzigsten Jahrestags der Verfassung der Bundesrepublik Deutschland wurde viel Lob über das Gesetzeswerk ausgeschüttet, das ursprünglich als Provisorium für eine Übergangszeit konzipiert war. Doch längst hat es – ergänzt, erweitert und inzwischen doppelt so umfassend wie die Ursprungsfassung – den Ruf des wiedervereinigten Deutschlands als eine der stabilsten rechtsstaatlichen Demokratien der Welt gefestigt.
Soweit die Außenansicht. Wer sich jedoch nicht von der strahlenden Oberfläche blenden lässt, entdeckt die Risse, die sich quer durch das Gebäude unseres Rechtsstaats ziehen, blinde Flecken und verwaiste Ecken, die dadurch entstanden sind, dass die Intentionen des Grundgesetzes immer häufiger ignoriert werden – von globalen Unternehmen, staatlichen Institutionen, von Bürgern, Politikern, vor allem aber auch vom Gesetzgeber.
Erfüllt das Grundgesetz wirklich noch eine seiner wichtigsten Aufgaben, nämlich Freiheit zu ermöglichen? Ersticken Selbstbestimmung und Verantwortung nicht längst unter einem Wust von Regelwerken, von denen viele Regularien aber gar nicht beachtet werden? Verkommt Gesetzgebung zur Symbolpolitik? Ist unsere hochgelobte Verfassung also so ehrwürdig wie ein poliertes altes Möbelstück, oder entfaltet sie noch die vitale gestalterische Kraft, die sie so wertvoll für den Rechtsstaat und die Demokratie macht?
Zwölf Jahre lang, von 1998 bis 2010, durfte ich, erst als Vizepräsident, dann als Präsident des unabhängigen Bundesverfassungsgerichts und Richter, meine Arbeit in den Dienst des Grundgesetzes stellen, in einer Phase, in der sich viele neue Herausforderungen für unsere Demokratie und den Rechtsstaat abzuzeichnen begannen. Es war ein spannender, erfüllender Abschnitt meiner Karriere als Jurist. Werde ich aber gefragt, ob Deutschland »in bester Verfassung« sei, muss ich das leider verneinen. Die Rechtsstaatlichkeit in unserer Republik ist vielen Angriffen ausgesetzt; das Bewusstsein, was da alles in Schieflage gerät, fehlt aber den meisten Bürgern. Viele von ihnen fühlen sich zwar vom Staat irgendwie ungerecht behandelt – ob es nun um Dieselabgase geht, Bauplatzbesetzungen oder die Asylpolitik –, aber sie verlieren das Bewusstsein dafür, dass sie selbst es sind, die den Rechtsstaat tragen, nicht »die Politik« oder »die Regierung«. Die Rechte und Werte, die unsere Verfassung garantiert, müssen immer wieder erinnert und erkämpft werden.
Deshalb habe ich mich entschieden, ein Buch zu schreiben, das sich an eine breite Öffentlichkeit richtet und den Wert des Rechtsstaats neu ins Bewusstsein rufen will. Fehlentwicklungen und Willkür müssen umgehend entlarvt und korrigiert werden, sonst ist unser Rechtsstaat in ernster Gefahr, und damit auch die Demokratie. Deshalb ist dieses Buch auch, wie es der Titel sagt, eine »Warnung«. Eine Warnung, die jeden einzelnen Bürger angeht.
1
Ist das Recht nur was für Dumme?
Es war einmal ein Land, in dem Freiheit, Sicherheit und Wohlstand herrschten – eine Demokratie, die sich Rechts- und Sozialstaat nannte. Ihr stabiles Fundament war das Grundgesetz, auf das die Deutschen stolz waren. Sie vertrauten in die Handlungs- und Zukunftsfähigkeit ihrer Republik. Die politische Landschaft war durch Parteien der Mitte geprägt, extremistische Gruppierungen von rechts und links hatten wenig Einfluss; der Terror der Roten Armee Fraktion in den Siebziger- und Achtzigerjahren konnte den Rechtsstaat nicht brechen, sondern stärkte ihn sogar. Die Wirtschaft erlebte eine beispiellose Erfolgsgeschichte und konnte den ökonomischen Wohlstand weiter Teile der Bevölkerung sichern. Das deutsche Demokratie-Modell wurde zum Vorbild für viele Staaten dieser Erde.
Und heute? Die großen Volksparteien stecken in der Krise, weil ihre Wähler sie im Stich lassen und entweder gleich zu Hause bleiben oder an die extremistischen Ränder abwandern. Ihre Politiker verteidigen sich gegenüber der jungen Protestgeneration, dass die Demokratie eben »kompliziert« sei, während in ihrem Rücken die Populisten aufsteigen, die gerne alles ganz einfach machen würden. Die Warnsignale sind nicht mehr zu übersehen: Wer hätte beispielsweise noch vor einem Jahrzehnt erwartet, dass eine ehemals so große und bedeutsame Volkspartei wie die SPD mit ihren ganz unbestrittenen Leistungen für den Staat und die Gesellschaft sich binnen weniger Jahre politisch nahezu marginalisiert? Auch bei der CDU/CSU bröckelt die Wählerschaft massiv. Stattdessen ist mit der AfD eine Partei in die Parlamente eingezogen, die legitim gewählte Volksvertreter anderer Parteien als »Volksverräter« verunglimpft.
Das schwindende Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in die Politik hat viele Ursachen – die Disruption und den digitalen Umbau der Wirtschaft, die Neuordnung der Welt durch die Globalisierung, den Klimawandel und die Zuwanderung von Migranten. Vor allem aber spiegelt es den drohenden Verlust einer gemeinsamen Werteordnung wider, die das Grundgesetz repräsentiert. Wer aber die Verfassung nicht achtet, verliert den zentralen Orientierungsrahmen unserer Gesellschaft.
Einen Großteil der Verantwortung für die sich abzeichnende Krise haben sich die Politiker – Männer wie Frauen – selbst zuzuschreiben. Indem sie seit Jahren immer wieder an der Verfassung vorbeiagieren und -regieren, sägen sie an dem Ast, auf dem sie selbst sitzen, dem Stammbaum der Demokratie. Denn auf Rechtsstaatlichkeit und Treue gegenüber dem Gesetz beruft man sich in diesem Land vielfach nur noch, wenn das gerade opportun scheint. Die Lobpreisung der Verfassungswerte in Sonn- und Feiertagsreden sind vielfach pure Lippenbekenntnisse. Im täglichen politischen Handeln aber erkenne ich nichts, das den schleichenden Verfall bremsen und der Erosion des Rechtsstaats wirksamen Einhalt gebieten könnte.
Dabei wäre es dringend notwendig, dass dieses Thema in unserer Gesellschaft neu diskutiert wird – angesichts des Wachsens extremistischer Kräfte, nicht nur bei uns, sondern auch in der gesamten Europäischen Union. Unsere Rechtsordnung populistisch schlechtzumachen ist einfach – stattdessen sollten gerade diejenigen, die entschiedene Befürworter und Hüter des demokratischen Rechts- und Sozialstaats sind, eine kritische Bestandsaufnahme wagen und sich nicht scheuen, den Finger in die Wunden zu legen. Denn es gibt einige davon.
Man muss sich davor hüten, Kritiker der Erosion und Fehlentwicklung des demokratisch-rechtsstaatlichen Systems leichtfertig mit jenen gleichzusetzen, die es angreifen und zerstören wollen. Das Gegenteil ist der Fall: Demokratiefeindlichen Gruppierungen kann man nur den Wind aus den Segeln nehmen, wenn man die verfassungsmäßige, rechtsstaatlich-demokratische Ordnung der Bundesrepublik stärkt. Fundierte Kritik und rechtzeitige Reformen sind dafür notwendig.
Die Menschen in diesem Land müssen wieder ein Bewusstsein dafür entwickeln, welch hohes Gut der demokratische Rechts- und Verfassungsstaat darstellt. Das können sie nur dann, wenn die Politik sich auf die in unserer Verfassung festgelegten Wertentscheidungen besinnt und sie immer wieder deutlich macht.
Die Erosion des Rechtsstaats wird von verschiedenen Seiten befördert. Da ist zum einen die Tendenz, immer mehr Freiheit für die Illusion der Sicherheit zu opfern. Eine Zahl von Bürgern hat Angst oder fühlt sich unsicher angesichts der immer komplexer werdenden Welt. Sie sind bereit, individuelle Freiheiten aufzugeben und sich mehr staatlicher Kontrolle und Überwachung zu unterwerfen – zum Beispiel zur Abwehr des islamistischen Terrors. Als Bürger des 21. Jahrhunderts ist ihnen nicht mehr bewusst, dass die Freiheit von staatlicher Bevormundung das vielleicht wichtigste Motiv der Demokratie war, das weit in die Geschichte zurückreicht. Sie ist sicher ein zentrales Element unserer verfassungsrechtlichen Ordnung.
Die Freiheit der Bürger wird aber nicht nur von realen Sicherheitsrisiken wie dem Terror infrage gestellt. Technologische und ausgehend davon auch ökonomische Entwicklungen sind dabei, die Gesellschaften dieser Welt massiv zu verändern. Die Digitalisierung führt nicht nur zu einem Paradigmenwechsel, der der kulturellen Revolution durch den Buchdruck nahekommt. Sie treibt auch die Globalisierung voran und beschleunigt die Dynamik von Veränderung in fast allen gesellschaftlichen Bereichen – selbst in der Justiz. Durch die Digitalisierung sind in wenigen Jahren weltbeherrschende internationale Technologiekonzerne entstanden: Facebook, Apple, Amazon, Microsoft und Google haben zusammen eine Marktkapitalisierung, die größer ist als das deutsche Bruttoinlandsprodukt. Entsprechend groß ist die Marktmacht dieser Konzerne, sowohl was ihre asymmetrische Dominanz gegenüber den Konsumenten angeht als auch ihre Fähigkeit, sich staatlicher Kontrolle zu entziehen.
Ein drittes Feld, das in der aktuellen Politik wie auch im Bewusstsein der Bevölkerung nach wie vor die vielleicht größte Rolle spielt, ist die Asyl- und Migrationspolitik. Nicht nur in Deutschland, sondern auch im Verhältnis zu den anderen EU-Staaten wurde hier das geltende Recht vielfach unterlaufen. Die Öffentlichkeit hat das als »Staatsversagen« und »Wehrlosigkeit unseres Rechtsstaats« kritisiert. Wir wären aber nicht wehrlos, wenn die tragenden Grundsätze der Verfassungsstaatlichkeit beachtet und angewendet würden. Dazu zähle ich das Grundbedürfnis nach Schutz, auch nach Schutz durch Grenzen. Humanität, das ist meine Überzeugung, kann nur im Rahmen von Verfassung, Gesetz und Recht praktiziert werden, nicht aber gegen sie. Subjektive Moralvorstellungen können die integrierende Kraft des Rechts keinesfalls ersetzen und dürfen sie auch nicht untergraben.
Besonders gefährlich wird die Erosion des Rechts, wenn der Eindruck entsteht, sie sei bereits gesellschaftliche Normalität. Geltendes Recht, glauben viele, sei letztlich nur noch etwas für die Schwachen, die Braven oder die Dummen – jene eben, die sich nicht erfolgreich selbst durchsetzen und sich die Leistungen und Vorteile unserer Gesellschaftsordnung sichern können.
Paradoxerweise wird der Vertrauensverlust in den Rechtsstaat durch eine scheinbar gegenläufige Entwicklung noch verstärkt. Während sich in vielen Bereichen des öffentlichen Lebens eine »Was soll’s?«-Mentalität breitzumachen scheint, erleben Bürgerinnen und Bürger in ihrem persönlichen und beruflichen Umfeld, wie Gesetze immer komplizierter werden und ein Übermaß an Regulierung sie einengt. Das ist so bei der Abgabe der Steuererklärung, bei der Einstellung einer Haushaltshilfe bzw. Pflegekraft oder auch bei dem Versuch, sich mit einer selbstständigen Tätigkeit eine Existenz oder einen Zuverdienst zu verschaffen. Privatmenschen wie Wirtschaftstreibende oder auch Beamte fühlen sich durch ein Dickicht von Normen und bürokratischen Hürden gegängelt und zunehmend überfordert. Wie Mehltau hat sich die Überregulierung auf die Republik gelegt – wo das Recht doch eigentlich nur Sicherheit für kreative Initiativen und Aktivitäten bieten sollte.
Mehr Gesetze bedeuten nicht automatisch mehr Recht und schon gar nicht mehr Gerechtigkeit. Wenn der Staat sich anschickt, seinen Bürgerinnen und Bürgern jedwedes Lebensrisiko abzunehmen, dann wird er selbst zum Risiko, denn das führt letztlich in einen Überwachungs- und Präventionsstaat. Mit dem Verlust von Freiheit erodiert eine der Grundbedingungen von Demokratie und Rechtsstaat.
Dass Freiheit und Sicherheit einander bedingen und gleichzeitig im Widerspruch zueinander stehen können, wird angesichts der internationalen Terrorgefahr sehr deutlich. Seit dem Anschlag auf das World Trade Center am 11. September 2001 geht wieder Furcht in diesem Land um. Kein Dorffest kommt heute noch ohne »Security« aus, das weltberühmte Münchener Oktoberfest wird jährlich zur Hochsicherheitszone mit Taschenkontrolle und Gesichtserfassung. Auf der anderen Seite weicht der Staat zurück: Einem Bericht der Berliner Zeitung zufolge denkt der Berliner Senat im Kampf gegen Drogenhandel und Gewaltkriminalität über die Schließung des berüchtigten Görlitzer Parks in Berlin-Kreuzberg nach. Städtische Schwimmbäder führen wegen fortgesetzter Randale die Ausweispflicht für Besucher ein. Besonders schockierend ist es, wenn der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung jüdischen Mitbürgern davon abrät, in der Öffentlichkeit eine Kippa zu tragen, und seit Jahren Synagogen unter ständigem Polizeischutz stehen müssen. Auf die Bedrohung durch Rechtsextremismus hat, zeigt das Beispiel der Ermordung des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke im Juni 2019, die Politik keine wirkliche Antwort.
Das Bedürfnis nach Sicherheit darf jedoch nicht dazu führen, dass verfassungsmäßige Standards zurückentwickelt werden. Die Möglichkeit einer selbstbestimmten Lebensführung ist eine Errungenschaft und keine Selbstverständlichkeit. Die Freiheiten der Bürger gegenüber dem Staat müssen erhalten bleiben. Das gilt erst recht, wenn es sich um fremde Staaten und deren Nachrichtendienste handelt.
Der Staat ist eine Friedens- und Ordnungsmacht, der Leib, Leben und Unabhängigkeit seiner Bürger zu schützen hat. Das sind hochwertige Verfassungsgüter. Der Terrorgefahr wie auch anderen Bedrohungen muss er wirksam entgegentreten – aber nur mit den Mitteln des Rechtsstaats. Gerade aufgrund des Umstands, dass die Regeln des Rechtsstaats auch für seine Gegner gelten, zeigt sich seine Kraft.
In den folgenden Kapiteln werde ich die konkreten Gefahren für den demokratisch verfassten Rechtsstaat detaillierter ausführen und aufzeigen, welche Gegenmaßnahmen notwendig sind. Angesichts dieser Bedrohung möchte ich den dringenden Appell an Sie richten, die Kraft unseres Rechtsstaats wieder anzuerkennen, sie hochzuhalten und wertzuschätzen, ihn letztlich auch gegen Angriffe zu verteidigen und weiter zu stärken. Nur die Unterwerfung unter die Werteordnung des Grundgesetzes kann unsere pluralistische Gesellschaft, die nicht länger von gemeinsamer Religion, Kultur oder Tradition geleitet wird, zusammenhalten und in die Zukunft führen.