Katharina Schendel wurde 1979 geboren und hat Geschichte, Kommunikationswissenschaften und Japanologie studiert. Nach längeren Aufenthalten in Tokio und London kehrte sie in ihre Heimat Thüringen zurück. Heute lebt sie dort mit ihrer Familie und geht mit Leidenschaft ihrem Hobby, dem Schreiben von Kriminalromanen, nach.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2017 Emons Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv: © dpa/Martin Schutt
Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch
Lektorat: Susann Säuberlich, Neubiberg
eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-96041-183-3
Thüringen Krimi
Originalausgabe

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Für Dorothea,
die jeden Raum, den sie betritt,
mit Sonne flutet

Frau Sunna:

Wohlan, zum Kampfe bin ich bereit,

den Sieg will ich heute erringen!

Wohlan, Herr Winter, es ist so weit,

zu Ende ist deine Regentenzeit!

Ich werde im Kampf dich bezwingen!

 

Herr Winter:

Sei nur nicht allzu siegesbewusst!

Meine Macht ist noch lange nicht zu Ende!

Noch tobt der Nordwind in meiner Brust,

und voll ungebrochener Kampfeslust

zwingt dich die Kraft meiner Hände!

Die Berge sind noch bedeckt mit Schnee,

und der Frost beherrscht noch die Höhen,

im Eis sind erstarrt noch der Bach und der See,

und im Walde erfrieren noch Hase und Reh,

wenn meine Eiswinde wehen!

 

Frau Sunna:

Mich kannst du nicht schrecken, kalter Gesell!

Ich werde dich doch besiegen!

Ich schmelze dein Eis und erwecke den Quell,

und die Lerche soll bald wieder silberhell

in den blauen Himmel fliegen!

Wach auf, Mutter Erde! Wach auf! Wach auf!

Und sprenge des Fürsten Ketten!

Bruder Lenz, beginn deinen Siegeslauf!

Und ihr Menschen, ihr Menschen strömt alle zuhauf

und verlasst eure heimischen Stätten!

Entflammt auf den Höhen den Feuerbrand

und jagt ihn mit Macht von den Auen!

Ist er vertrieben erst aus dem Land,

sollt ihr des Frühlings klarblaues Band

in der lenzwarmen Luft wieder schauen.

 

Herr Winter:

Was führst du im Schilde? Was hast du vor?

Willst du die Menschen auf mich hetzen?

Ich öffne den Stürmen Tür und Tor:

Ihr Winde braust zu, euer grausiger Chor

soll alle in Schrecken versetzen!

Doch was ist das? Zu Hilfe! Mir wird so warm!

Verlöscht eure Feuerbrände!

Erbarmt euch, ihr Menschen, erbarmt, erbarmt!

Ganz kraftlos werden mir Hände und Arm,

und ich fühle, es … ist … das … Ende!

 

Frau Sunna:

Fort muss er nun, der die Freude nicht kennt,

der Feind ist dem Leben und Lieben!

Sein Tod ist besiegelt in diesem Moment;

seht nur, ihr Menschen, der Winter – er brennt!

Und wir sind die Sieger geblieben!

Helmut Stietzel (1923  2000)

Teil 1

Winter

»TÖTEN!«, hallte die kalte, herrschsüchtige Stimme durch seinen Schädel. »Du musst sie TÖTEN

Er rieb sich die Schläfen, ein kleiner, sinnloser Versuch des Aufbegehrens. Es würde nichts nützen, das war ihm völlig klar. Die Stimme ließ sich nicht besänftigen, geschweige denn abschalten. Zu oft schon hatte er sie gehört, und es war auch nicht das erste Mal, dass sie ihm diesen speziellen Befehl erteilte.

Er blickte aus dem Fenster, doch seine Augen nahmen nicht wirklich etwas wahr. Sie starrten nur ins Leere. Seine Gedanken waren so finster wie Gewitterwolken.

»Sie haben es nicht anders verdient«, hörte er die imaginäre Stimme sagen. Er wusste, dass sie recht hatte. Ja, sie waren nichts als Abschaum, und er hasste sie. Er hasste sie so sehr, dass es wehtat.

Augenblicklich wurde er sich des dumpfen Pochens in seinem Kopf bewusst. Er spürte das Brennen in seinen Augen. Die zentnerschwere Last, die auf seiner Brust lag und von der er sich nicht befreien konnte. Das fiese Kribbeln unter seiner Haut, als ob Tausende wütender Ameisen auf seinem nackten Fleisch herummarschierten. Manchmal war der Schmerz so groß, dass er das Gefühl hatte, den Verstand zu verlieren.

Er presste seine Stirn gegen das kühle Glas der Scheibe und hoffte vergeblich auf Linderung. Lange – zu lange – hatte er gegen den Hass angekämpft. Nach einem Ausweg gesucht. Sich in die ihm zugedachte Rolle gefügt. Doch damit war nun Schluss. Jetzt wusste er, dass der einzige Ausweg nur die totale Zerstörung sein konnte.

Er musste sie töten. Sie vernichten. Ihr Strahlen ein für alle Mal zum Erlöschen bringen und der Welt ihr wahres Antlitz zeigen. Denn hinter ihren schönen Fassaden verbargen sie die hässliche Fratze der Bosheit. Sie waren wie die Sirenen, die auf dem Meer die Seefahrer ins Verderben lockten.

Zum Glück war er längst immun gegen diesen falschen Liebreiz. Egal, wie sie es auch anstellen mochten, sie konnten ihn nicht mehr bezirzen.

Jetzt lag es an ihm, dem Rest der Menschheit die Augen zu öffnen. Das war die Bestimmung, die ihm das Schicksal zugeteilt hatte, und er nahm sie beflissen an.

Ein breites Grinsen zog sich quer über sein Gesicht. Nun, da er wusste, dass die Tage seiner Feinde gezählt waren, fühlte er sich gleich viel wohler. Geradezu euphorisch. Endlich würde er es ihnen heimzahlen können.

Er betrachtete die Fensterscheibe und malte mit seinem Zeigefinger an die Stelle, die von seinem Atem beschlagen war, ein kleines Smiley. Es grinste ebenfalls. Bittersüß.

Ein erneutes Stechen in seinem Kopf ließ ihn aufstöhnen. Er konnte es kaum erwarten, sich für die jahrelange Missachtung zu rächen. Für die verächtlichen Blicke. Die höhnischen Gesten. Die Schikanen und Demütigungen. Für alles.

Kalte Wut stieg in ihm auf. Er ballte die Hände zu Fäusten.

»TÖTEN!« Diesmal war es nicht die imaginäre Stimme, die er hörte, sondern seine eigene. »Ich muss sie TÖTEN!«, wiederholte er wieder und wieder, mal leise, mal laut, krallte seine Fingernägel in die Kopfhaut, rieb sich die Stirn.

Dann rannte er wie ein wild gewordener Affe durchs Zimmer und stieß mit einem lauten Schrei den Esstisch um, auf dem eine leere Karaffe und mehrere Flaschen gestanden hatten. Im selben Moment hielt er inne und lauschte. Das Geräusch von berstendem Glas gefiel ihm ausgesprochen gut.

Ich werde es tun, dachte er. Ich werde sie in Stücke reißen, bis nichts mehr von ihnen übrig bleibt.

7. März

Emilia stapfte furchtlos geradeaus. Der weiche Pulverschnee knirschte unter ihren Füßen, und im schwachen Lichtschein der Laternen tanzten unheimliche Schatten. Auf den Straßen war nicht mehr viel los um diese Zeit. Einige Autos schlitterten noch über die spiegelglatten Fahrbahnen, und zwei, drei Passanten huschten wie graue Nebelschwaden die Bürgersteige entlang.

Das alles machte Emilia nichts aus. Im Gegenteil. Je weniger Menschen ihr begegneten, desto besser. Sie brauchte niemanden – und schon gar nicht dieses absurde Geschwätz. Das war doch sowieso immer das Gleiche. Rente, Arthritis und Altersheim waren die bevorzugten Themen ihrer Generation. Keines davon schnitt sich mit ihren Interessen, schönen Dank auch. Da waren ihr Stille und Einsamkeit viel lieber. Da konnte sie ihren Gedanken nachhängen und von der guten alten Zeit träumen.

Natürlich war Emilia nicht immer so ungesellig gewesen. Früher, als Filme noch schwarz-weiß und Telefone noch keine Computer gewesen waren, hatte sie die Gesellschaft von Menschen sogar als äußerst erstrebenswert empfunden. Als junge Frau war sie der Mittelpunkt jeder Feier gewesen. Wie ein Magnet hatte sie die anderen angezogen. Doch irgendwann war sie dessen überdrüssig geworden. Sie war sich selbst genug, andere Menschen empfand sie nur noch als Last. So störend wie ein Haufen Schmeißfliegen auf einem Erdbeermarmeladenbrot.

Vorsichtig trippelte sie über das vereiste Kopfsteinpflaster. Ganz wie es ihrer Gewohnheit entsprach, hatte sie sich auch an diesem Abend zwar modisch, aber unauffällig gekleidet, sodass ihre grazile Gestalt fast mit den dunklen Hausfassaden verschmolz. Der dunkelblaue Mohairmantel, der ihr bis zu den Stiefelsohlen reichte, beschützte sie vor dem unbarmherzigen Frost. Unter der cremefarbenen Baskenmütze, die leicht schief auf ihrem Kopf thronte, quollen silbergraue Löckchen hervor. Die alte Queen-Mum-Handtasche unter den Arm geklemmt, stützte Emilia sich mit der einen Hand auf ihren Krückstock, in der anderen hielt sie die Hundeleine fest.

Sie dachte daran, dass sie ihrem Sohn versprochen hatte, nach Einbruch der Dunkelheit nicht mehr spazieren zu gehen. Natürlich hatte sie von Anfang an gewusst, dass sie dieses Versprechen nicht würde einhalten können. Dazu genoss sie die nächtlichen Rundgänge zu sehr. Und außerdem musste sie ja mit Kurti Gassi gehen. Kurti war ihr Rauhaardackel, der ihr seit elf Jahren nicht von der Seite wich. Sie hatte ihn nach ihrem verstorbenen Gatten benannt, und jedes Mal, wenn sie mit dem Hund redete, hatte sie das Gefühl, dass sie mit ihrem Mann sprach.

Sie lächelte still in sich hinein und schluckte das schlechte Gewissen ihrem Sohn gegenüber hinunter. Letztes Weihnachten hatte er ihr sogar ein Seniorenhandy geschenkt, eins mit extragroßen Tasten. Für den Notfall, hatte er gesagt. Sie hatte es noch nie gebraucht, achtete aber darauf, dass es stets einsatzbereit in ihrer Handtasche lag. Damit hielt sie wenigstens eines ihrer Versprechen ein.

Emilia seufzte laut. Der Junge meinte es nur gut, machte sich aber eindeutig zu viele Sorgen. Wer tat denn schon einer alten Frau etwas? Außerdem fühlte sie sich alles andere als wehrlos. Selbst den jugendlichen Rüpel, der vor ein paar Monaten versucht hatte, ihr die Handtasche zu entreißen, hatte sie erfolgreich in die Flucht geschlagen. Sie hatte einfach den Krückstock in die Speichen seines Fahrrads gerammt und den Strolch damit zu Fall gebracht. Der versuchte bestimmt nie wieder, alte Damen zu berauben. So eine Gehhilfe war doch wirklich erstaunlich vielfältig einsetzbar.

Tatsächlich war Emilia trotz ihrer sechsundachtzig Jahre sowohl körperlich als auch geistig noch relativ gut in Schuss. Klar, die Gelenkigkeit war ein wenig auf der Strecke geblieben. Und sie hatte an Kilos verloren. Die Altersdürre eben. Dagegen war man machtlos.

Von der Kurstraße bog sie in die Feodora-Promenade ein, und wurde so abrupt von einer eisigen Windbö erfasst, dass sie um ein Haar gestrauchelt wäre. Sie zog sich den selbst gestrickten grauen Wollschal fester um ihre schmalen Schultern und die Baskenmütze noch etwas tiefer ins Gesicht. Sie würde sich dem Winter niemals beugen! Schließlich war sie eine Frau Sunna.

Eine halbe Ewigkeit war das jetzt her – in den fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Doch Emilia erinnerte sich noch gut daran. Sie sah das prächtige Paillettenkleid vor sich, die goldene Krone, die sie voller Stolz getragen und die so gut zu ihren strohblonden Haaren gepasst hatte. Auch der ausdrucksvolle Text und die schwungvollen Gesten, mit denen sie den Winter vertrieben hatte, waren ihr noch so gut im Gedächtnis, als wäre es gestern erst geschehen. Nein, eine Frau Sunna kriegte man nicht so schnell klein.

Unverzagt schritt sie voran. Ihr Blick fiel auf den verschneiten, von Bäumen und Sträuchern gesäumten Promenadenweg, der, da es erst vor einer Stunde aufgehört hatte zu schneien, beinahe unberührt vor ihr lag. Nur eine einzige Spur schlängelte sich durch das Weiß, eine Spur, die sich eindeutig der Gattung Homo sapiens zuordnen ließ. Es handelte sich um Schuhabdrücke, wahrscheinlich Stiefel, auffällig groß, tief eingedrungen und mit einem geriffelten Profil. Ein großer, schwerer Mann war hier vor Kurzem in die gleiche Richtung gelaufen.

Während sie das dachte, spürte Emilia, wie ihr ein Schauer über den Rücken rieselte. Schnell wischte sie das ungute Gefühl beiseite. Man musste ja nicht immer gleich das Schlimmste denken, nicht wahr? Sonst wurde man noch völlig meschugge. Wahrscheinlich war es auch bloß ein nächtlicher Wanderer, jemand, der die Einsamkeit und Stille der Nacht genauso bevorzugte wie sie. Trotzdem musste sie damit rechnen, dass er den Weg, der zur Waldschänke führte, auch wieder zurückgelaufen kam.

Sie presste die Lippen aufeinander, wie sie es immer tat, wenn sie sich auf die Begegnung mit einem anderen Menschen vorbereitete. Ihre Gedanken verhielten sich jedoch wie ein hakenschlagendes Kaninchen und kehrten umgehend zu dem pittoresken Wirtshaus am Ende der Promenade zurück.

Emilia dachte an die unzähligen sonntäglichen Ausflüge, die sie mit ihrer Familie früher dorthin unternommen hatte. Die vielen glücklichen Augenblicke, die, in ein warmes goldenes Licht getaucht, nun vor ihrem inneren Auge auftauchten. Die großzügige Außenterrasse mit den voll besetzten Tischchen, davor ein kleiner Weiher, an dem ein paar Kinder spielten. Die brombeerfarbenen Sonnenschirme. Fröhliches Geplauder. Selbst gemachte Waldmeisterlimonade. Dazu Quarkkuchen mit Rosinen, frisch aus dem Ofen. Alles, ja sogar das Leben selbst, schien leicht und unbeschwert. Kein Schatten bedrohte diese Idylle. So war das wirklich gewesen, damals.

Heute wusste Emilia, dass es die glücklichste Zeit in ihrem Leben gewesen war. Möglicherweise kam sie ja deshalb immer wieder hierher. Damit sie dieser goldenen Zeit noch einmal nahe sein konnte.

Plötzlich blieb Emilia stehen. Vor ihr war eine der Laternen erloschen. Bis zur nächsten Lampe war es ein ganzes Stück, und sie würde einige Meter durch die Dunkelheit laufen müssen. Vielleicht sollte sie besser umkehren?

Ach was! Sei nicht albern, ermahnte sie sich. Hier gibt es nichts, wovor du dich zu fürchten brauchst. Der Weg ist gerade und ohne Unebenheiten. Außerdem sind es doch bloß ein paar Meter. Und von dem mysteriösen Unbekannten ist auch nichts zu sehen. Also vorwärts, Emilia! Jetzt sei nicht so eine Memme.

Sie ging weiter. Mit jedem Schritt gelangte sie tiefer in die Dunkelheit dieser mondlosen Nacht. Nur der Schnee spendete noch etwas Helligkeit. Doch da Emilias Augenlicht seit einigen Jahren vom grauen Star beeinträchtigt wurde, war es für sie so finster, dass sie kaum etwas erkennen konnte. Sie fluchte leise. Ausgerechnet jetzt musste Kurti auch noch anfangen zu zerren.

»Aus, Kurti, aus!«, bellte sie, doch er beachtete sie gar nicht, sondern zog wie ein Berserker auf ein dunkles Gestrüpp zu.

Schon erstaunlich, welche Kraft in einem Dackel steckte. Schnüffelnd und schnuppernd zog er sie mit sich. Offenbar hatte er etwas gewittert.

Emilia spitzte die Ohren. Was war das da für ein Geräusch? Es klang wie ein lautes Schnaufen. Ihr Herz klopfte bis zum Hals. Äste knackten. In dem Gebüsch bewegte sich etwas. Sicherlich bloß ein Tier.

Wieder fegte ein Windstoß um sie herum. Es war ihr, als würde etwas abgrundtief Böses in der Dunkelheit lauern. Ein Dämon, der sie beobachtete und nur auf den richtigen Moment wartete, um sich auf sie zu stürzen. Eine tödliche Gefahr.

Im nächsten Moment hielt sie das jedoch für einen höchst törichten Gedanken und schalt sich selbst eine hysterische alte Schachtel. Wahrscheinlich hatte sie in letzter Zeit zu viele Horrorfilme im Fernsehen gesehen.

Endlich ließ Kurti von dem Gebüsch ab, und sie setzten ihren Weg fort. Als sie den Lichtkegel der nächsten Laterne erreichten, atmete Emilia auf.

Es dauerte nicht lang, und ihre Erinnerung holte sie erneut ein. Sie dachte daran, wie sie hier mit ihren Schulkameraden Verstecken gespielt hatte. Breite Baumstämme, hinter die man sich kauern konnte, hatte es auch damals schon mehr als genug gegeben. Am allerliebsten aber hatten sie »Räuber und Gendarm« gespielt und sich mit lautstarkem Gebrüll die ganze Promenade entlanggejagt. Emilia war dabei immer der Gendarm gewesen.

Sie folgte der sanften Biegung, die Augen konzentriert auf den Boden vor sich gerichtet. Da fiel ihr am linken Wegrand plötzlich etwas auf.

Zuerst sah sie nur die Hand. Sie dachte, dass es schon sehr leichtsinnig war, bei diesem Wetter ohne Handschuhe vor die Tür zu gehen, dann erst wurde ihr bewusst, dass die Hand im Schnee lag. Sie ging vorsichtig näher und sah, dass an der Hand ein Arm war. Ein nackter Arm, schlank und nicht besonders muskulös. In den darauffolgenden Sekunden wurde sie schließlich des ganzen menschlichen Körpers gewahr, Stück für Stück, Körperteil für Körperteil, als wollte ihr Unterbewusstsein sie schonend auf den grausigen Anblick vorbereiten.

Hätte Emilia über ein zarteres Gemüt verfügt, wäre sie vermutlich in Ohnmacht gefallen oder hätte einen Infarkt erlitten. Zwar wummerte ihr Herz wie ein Presslufthammer, und ihre Knie fühlten sich an, als bestünden sie aus weichem Gummi, doch alles in allem war sie robust genug, um diese Situation zu überstehen. In den Krimiserien war sie schon oft Zeugin davon geworden, wie ein Mensch eine Leiche fand. Meistens stieß derjenige einen Schrei aus oder sank bewusstlos zu Boden. Emilia hingegen blieb einfach nur stehen. Sie rührte sich keinen Millimeter und zwang sich, ganz genau hinzusehen.

Es war der Körper einer Frau. Sehr jung. Höchstens Anfang, Mitte zwanzig. Sie war vollkommen unbekleidet, und unterhalb der linken Brust klaffte ein großes rundes Loch, so als wäre dort etwas Spitzes hineingerammt und wieder herausgezogen worden. In der rechten Hand hielt sie irgendeinen kleinen Gegenstand, was genau, ließ sich aber nicht erkennen.

Emilia hatte keinen Zweifel, dass die Frau tot war. Die schwere Verletzung unweit des Herzens, die starren, leblosen Augen, die gen Himmel blickten, und die fahle, blasse Haut ließen keinen anderen Schluss zu. Auch konnte die Tote noch nicht lange hier liegen, denn der Körper war nirgends mit Schnee bedeckt.

Emilia dachte an die frischen Schuhabdrücke. War sie die ganze Zeit einem Mörder gefolgt?

Ein kurzes, energisches Bellen riss sie aus ihren Gedanken. Kurti saß direkt neben ihr und sah sie, den Kopf leicht zur Seite geneigt, aus treuen Knopfaugen an. Er machte keinerlei Anstalten, an der Leiche zu schnüffeln, stattdessen war es, als ob er Emilia fragen wollte, was sie nun zu tun gedachte.

Sie blickte sich unsicher um, denn sie hatte noch immer das Gefühl, dass jemand sie aus der Dunkelheit beobachtete. Jetzt bloß nicht panisch werden, dachte sie. Contenance. Sie band sich die Hundeleine um die Taille, öffnete ihre Handtasche und kramte, am ganzen Leib zitternd, nach ihrem Seniorenhandy.

9. März

Jenny rutschte unruhig auf ihrer Yogamatte hin und her. Sie lag auf dem Rücken und hatte die Augen geschlossen. Es war nicht zu kalt. Nicht zu warm. Ihr Atem ging langsam und regelmäßig, trotzdem konnte sie sich einfach nicht auf die Übungen konzentrieren. Und entspannen schon gar nicht. Selbst die plätschernde Meditationsmusik im Hintergrund und die Lavendelräucherstäbchen waren da keine Hilfe.

»Lasst die Gedanken kommen und gehen«, hörte sie die Yogalehrerin mit ruhiger und angenehm gedämpfter Stimme sagen. »Betrachtet sie und lasst sie vorbeiziehen wie Blätter, die auf einem Fluss davontreiben.«

Jenny dachte an das Hörselstauwehr am Rothenhof, wo sie manchmal nach ihrer Arbeit spazieren ging. Sie versuchte sich vorzustellen, wie das Laub der Bäume hinter dem Wehr auf das dunkle Wasser fiel und von der Strömung davongetragen wurde. Es gelang ihr nur kurz, dann wurde das Bild von einem anderen verdrängt. Schon zum x-ten Mal an diesem Tag tauchte Jochens große, sportliche Statur in ihren Gedanken auf. Der Sechsundzwanzigjährige hatte sie vor einer Woche bei Facebook angeschrieben, eine kurze Nachricht bloß, doch in nettem Ton und geradeheraus, ohne viel Gewese. Das mochte sie bei Männern. Diese Typen, die immer um den heißen Brei herumredeten und sich in endlosem Geschwafel verloren, konnte sie nicht ausstehen.

Außerdem hatte ihr Jochens Profilbild, auf dem seine kurzen schwarzen Haare leicht verstrubbelt waren und seine graublauen Augen schelmisch blitzten, ausnehmend gut gefallen. Sie hatte es sofort gelikt. Anschließend hatte sie seine Freundschaftsanfrage bestätigt, ihn angestupst und sein Foto zusammen mit einem ihrer eigenen Bilder in den »Love Calculator« – einen virtuellen Beziehungstest – eingefügt. Die Wahrscheinlichkeit, dass aus ihnen ein Paar würde, liege bei fünfundachtzig Prozent, verkündete das Ergebnis verheißungsvoll.

Jenny war darüber so begeistert gewesen, dass sie sofort ein fettes »Jabbadabbadou« mit drei Ausrufezeichen und einem Dutzend Smileys getwittert hatte. Vielleicht würde sie ja schon bald ihren Beziehungsstatus von »Single« in »in einer Beziehung« umändern können.

Aufgrund dieser positiven Vorhersage hatte Jenny relativ rasch in ein echtes Treffen eingewilligt. Normalerweise hätte sie ihre virtuelle Welt nicht so ohne Weiteres verlassen, sondern erst einmal ein paar Dates per SMS und Skype vorgeschlagen. Doch diesmal hatte sie von Anfang an das Gefühl, endlich ihrem Traummann ein Stück näher gekommen zu sein. Es war, als würde direkt vor ihrer Nase ein Lottoschein mit garantiertem Hauptgewinn flattern und sie bräuchte nichts weiter zu tun, als zuzugreifen. Wer würde da zögern?

Auf Jochens Vorschlag hin hatten sie sich vor ein paar Tagen im Café Brüheim getroffen und heiße Schokolade mit Pfefferminzsirup getrunken. Dass sie beide das süße, klebrige After-Eight-Aroma mochten, hatte Jenny als gutes Zeichen gewertet. Eine erste Gemeinsamkeit, eine von hoffentlich vielen weiteren, die sie allesamt in ihrem »Love Calculator« zu sammeln und zu analysieren gedachte.

Überhaupt war sie hin und weg gewesen, und das war noch eine Untertreibung. Amors Pfeile hatten Jennys Herz regelrecht durchlöchert. In ihren Träumen sah sie sich mit Jochen bereits vor dem Traualtar stehen und ein glückliches, tränenersticktes »Ja, ich will« hauchen.

In der Realität sah Jochen sogar noch viel besser aus. Er war charmant und aufmerksam, machte Komplimente und zeigte sich von seiner besten Seite. Während ihres Gesprächs im Café hatte er sich besonders für ihre Zeit als Frau Sunna interessiert. Sogar nach Fotos von ihren großen Auftritten bei den Festumzügen hatte er gefragt. Nur gut, dass sie eine Auswahl der besten Schnappschüsse auf ihrem Smartphone gespeichert hatte.

Er selbst hatte nur sehr wenig von sich preisgegeben, doch das störte Jenny nicht. Sie fand, dass ihm diese Zurückhaltung eine geheimnisvolle Aura verlieh – etwas Unergründliches, das sie extrem reizte und ihn umso attraktiver machte. Sie würde sich ranhalten müssen. Dieser Typ könnte mit Sicherheit jede haben.

Heute hatten sie sich zum zweiten Mal verabredet, und Jenny war fest entschlossen, Vollgas zu geben. Sie wollten am späten Abend auf dem Prinzenteich Schlittschuhlaufen gehen. Nur sie beide allein, ein romantisches Rendezvous im Mondschein. Es war seine Idee gewesen, und Jenny fand sie großartig. So etwas Verrücktes hatte ihr bisher noch niemand vorgeschlagen. Der Teich, der dank der eisigen Temperaturen fest zugefroren war, zog zwar tagsüber Schlittschuhläufer und glennernde Kinder an, doch abends war dort immer tote Hose. Außer ihnen würde also bestimmt niemand da sein.

»Lasst den Atem fließen, ganz so, wie es für euch angenehm ist.« Die Anweisungen der Yogalehrerin holten Jenny sanft aus ihren Gedanken zurück. »Dehnt und streckt und rekelt euch.«

Dieser Satz, der stets das Ende des einstündigen Programms einläutete, klang silberhell in ihren Ohren. Jetzt dauerte es nicht mehr lang. Bald, bald war es so weit. Dann würde sie ihr Herzblatt wiedersehen.

Ihrer Mitbewohnerin und besten Freundin Daniela hatte Jenny nichts von dem Treffen erzählt. Die wäre sonst ausgeflippt und hätte sie bequatscht, abzusagen oder wenigstens nicht allein dorthin zu gehen. Daniela war eine hoffnungslose Schwarzmalerin, sah überall nur Schwerverbrecher.

»Was weißt du eigentlich über ihn?«, hätte sie bestimmt gefragt und ihr einen Vortrag über die Gefahren sozialer Netzwerke gehalten, die ihrer Meinung nach nur dazu dienten, Triebtätern und anderem Abschaum die nächste Straftat zu erleichtern. Zum Schluss hätte sie mit hochgezogener Augenbraue noch »vielleicht ist er ja ein Psychopath« hinzugefügt.

Jenny zog diese Möglichkeit nicht für eine Sekunde in Betracht. Sie bildete sich ein, dass sie genügend Menschenkenntnis besaß, um eine psychische Störung erkennen zu können. Schließlich hatte sie schon einige Beziehungen hinter sich und auf ihrer langen Suche nach Mister Perfect die unterschiedlichsten Typen kennengelernt. Sie war bei drei verschiedenen Online-Flirtportalen angemeldet und hatte mehr Speed-Datings mitgemacht als irgendjemand sonst in ihrem Freundes- und Bekanntenkreis. Sie glaubte, nein, sie war sich absolut sicher, dass sie über das Mysterium Mann bestens Bescheid wusste.

Kurz vor zweiundzwanzig Uhr kam Jenny am Prinzenteich an. Die wenigen funktionierenden Laternen spendeten nur spärlich Licht. Sie hielt Ausschau nach Jochen, doch es war noch niemand zu sehen. Hoffentlich verspätete er sich nicht. Ob er ihr Blumen mitbringen würde? Nein, dafür war es viel zu kalt. Doch vielleicht hatte er sich ja irgendeine andere Überraschung für sie ausgedacht. Etwas Romantisches wie Parfüm oder Schmuck. Was man sich eben schenkte, wenn man verliebt war.

Ob sie ihm auch etwas hätte mitbringen sollen? Sie wurde ganz hibbelig bei dem Gedanken. Warum hatte sie nicht wenigstens den Sambuca eingesteckt? Ein kleiner Schluck Alkohol wäre jetzt genau richtig. Zum Runterkommen.

Sie trat fröstelnd von einem Bein aufs andere. Ein paar Meter weiter knackte es im Gebüsch.

»Jochen? Bist du das?« Jenny sah sich um, konnte aber noch immer niemanden erkennen. Sie versuchte, die Furcht, die in ihr aufkeimte, zu verdrängen.

Es knackte erneut, lauter diesmal. Da war bestimmt irgendwer. Aber warum sollte Jochen ihr in der Dunkelheit auflauern? Wollte er ihr vielleicht einen Streich spielen? Testen, ob sie die Nerven verlieren und sich vor Angst in die Hose machen würde?

»Was soll der Unsinn?«, rief Jenny in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war, und spähte angestrengt in die Düsternis hinein. War da nicht die Andeutung einer Silhouette? Eine Schattenfigur, noch schwärzer als die gesamte Umgebung? Und da drüben, nur ein paar Meter weiter, was war das?

Plötzlich sah sie die bedrohlichen Umrisse überall. Jennys Gedanken überschlugen sich. Panik flammte in ihr auf. Doch anstatt wegzulaufen, stand sie wie angewurzelt da. Wartete. Lauschte.

Wieder ein Geräusch, aber ein anderes diesmal. Es hörte sich an, als würde in der Dunkelheit jemand lachen. Kalt und bösartig.

Jenny nahm all ihren Mut zusammen. »Das ist gar nicht lustig, Jochen. Komm jetzt sofort raus, oder ich geh wieder.«

Für einen Atemzug lang blieb alles still, dann traf sie die unvermittelte Lautstärke wie die Druckwelle nach einer Bombenexplosion.

»NEIN.« Der dunkle, tiefe Klang hatte mit Jochens Stimme nicht viel gemein. »Du. Gehst. Nirgendwohin.«

»Wer ist da?«, fragte Jenny ängstlich. Unwillkürlich wich sie zurück, setzte einen Schritt hinter den anderen. Erst als sie etwas Schweres an ihrer linken Schulter spürte, blieb sie stehen und wirbelte schreiend herum. Im selben Moment legte sich eine riesengroße Hand über ihr Gesicht und drückte ihr die Luft ab.

Sekunden später drang ein spitzer Gegenstand gewaltsam in ihre Brust ein, zerbrach zwei ihrer Rippen und durchbohrte ihr rasendes junges Herz.

14. März

»Verdammter Mist«, fluchte Konstanze und kickte dem Lumpensammlerbus, der ihr gerade vor der Nase weggefahren war, einen Stein hinterher. Normalerweise neigte sie nicht zu solch unkontrollierten Wutausbrüchen, aber an diesem Abend war wirklich alles schiefgelaufen, was nur schiefgehen konnte. Zuerst hatte sie sich mit ihrem Mann über die Renovierung des Schlafzimmers gestritten. Rainer beharrte wie ein sturer Esel auf seiner gewohnten hellblauen Tapete, sie hingegen hatte Lust auf Neues und wollte unbedingt ein dunkles Burgunderrot ausprobieren. Das würde mal wieder Schwung ins Schlafzimmer bringen, dachte sie. Doch Rainer war anderer Meinung gewesen, und über die ganze blöde Kabbelei hatte sie völlig die Zeit vergessen.

In der Eile hatte sie dann auch noch ihre Handschuhe zu Hause liegen lassen und auf dem Weg zum Theater vergeblich versucht, ihre empfindlichen Musikerinnenhände in den Ärmeln und Taschen ihres Wintermantels vor dem eisigen Frost zu schützen. So war sie schließlich mit klammen Fingern und um einiges zu spät zur Generalprobe erschienen, was ihr neben vielen vorwurfsvollen Blicken eine ernste Ermahnung von Oliver, dem Leiter des Orchesters, eingebracht hatte.

Damit nicht genug, war auch noch mitten im Stück an ihrer Bratsche eine Saite gerissen, und sie hatte eine halbe Ewigkeit gebraucht, um sie durch eine neue zu ersetzen. Sie hatte es an Olivers Augen ablesen können, wie genervt er von ihr war, und auch die heimliche Affäre, die sie seit einem halben Jahr miteinander hatten, vermochte dem nicht entgegenzuwirken.

Sie musste den Tatsachen ins Auge sehen: Sie stand kurz vor einem Rausschmiss. Wenn sie zur Premiere morgen nicht zu hundert Prozent glänzte, würde ihre Karriere mit Sicherheit den Bach runtergehen.

»So ein verdammter, verflixter Bockmist«, fluchte sie erneut und schaute verzweifelt den immer kleiner werdenden Rücklichtern des Busses nach. Jetzt würde sie auch noch den ganzen Weg nach Hause laufen müssen.

Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Da der Mond sich hinter einer dicken Wolkenschicht versteckte und es außergewöhnlich dunkel in dieser Nacht war, konnte sie nur mit Mühe die filigranen Zeiger erkennen.

Sie seufzte. Es war null Uhr dreißig. Der nächste Bus würde erst im Morgengrauen kommen, und von einem Taxi war auch weit und breit nichts zu sehen. Natürlich hätte sie sich mit ihrem Handy eines rufen können, doch hier in der Dunkelheit herumzustehen und zu warten, war definitiv keine Option. Da lief sie lieber.

Also schlug sie den Kragen ihres Mantels hoch, klemmte sich ihren Bratschenkasten unter den Arm und setzte sich in Bewegung.

Für gewöhnlich hätte sie die Dreiviertelstunde Fußmarsch ohne Weiteres in Kauf genommen. Sie ging gern spazieren, selbst bei Regen, klirrender Kälte und meterhohem Schnee. Es gab kein besseres Mittel, um den Kopf freizubekommen – und bei dem Chaos, das gerade in ihrem Leben herrschte, wäre ein bisschen Zeit zum Nachdenken gar nicht schlecht gewesen.

Doch seitdem dieser gefährliche Irre frei herumlief und die ganze Stadt in Angst und Schrecken versetzte, waren einsame nächtliche Streifzüge nicht wirklich eine empfehlenswerte Sache. Die Polizei hatte bei ihrer letzten Pressekonferenz jedenfalls dringend davon abgeraten, allein vor die Tür zu gehen, und den Bürgern stattdessen nahegelegt, größere Gruppen zu bilden und bis zur Ergreifung des Täters die eigenen vier Wände am besten so selten wie möglich zu verlassen.

Bei dem Gedanken an den kaltblütigen Mörder gruselte es Konstanze gewaltig. Was musste das für ein widerwärtiges Scheusal sein. Ein zutiefst kranker und gestörter Mensch, etwas anderes kam gar nicht in Frage.

Erst heute Morgen hatte sie die Fotos von Eva und Jenny in der Zeitung gesehen. Sie kannte die beiden schon, seitdem sie die Küken beim Festumzug gespielt hatten. Genau wie Konstanze hatten auch Eva und Jenny die klassische Laufbahn einer Frau Sunna absolviert. Waren Sonnenkinder gewesen. Waren in die Kostüme von Hasen, Bienen und Schmetterlingen geschlüpft. Hatten selbstverständlich Jahr für Jahr bei den Vorbereitungen für den Sommergewinn geholfen. Nur wer fleißig mit anpackte, durfte die Rolle des Lenz übernehmen. Und wer hier überzeugte, konnte sich Hoffnungen auf den Part der Frau Sunna machen.

Konstanze hatte insgesamt sieben Jahre als Frau Sunna den Winter vertrieben, so lange, bis sie schwanger geworden war. Bis heute war dieser Teil ihres Lebens ein Quell der Freude für sie gewesen, ein Hort glücklicher Erinnerungen, den sie immer bei sich trug. Doch nun hatten sich negative Empfindungen dazugesellt. Angst. Abscheu und Entsetzen. Denn sie fiel voll ins Beuteschema dieses grausamen Psychopathen, und diese Erkenntnis war schon sehr beklemmend.

Konstanze blieb kurz stehen, sah sich ängstlich nach allen Seiten um und lauschte. Nein, da war nichts. Kein Geräusch, kein Mensch, nichts und niemand. Vielleicht reagierte sie ja auch über. Vielleicht waren die Gemeinsamkeiten der beiden Mordopfer nur ein Zufall gewesen. Wer würde denn bitte schön Jagd auf Frau Sunnas machen? Das war doch absurd.

Sie biss sich auf die Innenseite ihrer Wange und versuchte krampfhaft, das ungute Gefühl in ihrem Bauch zu verdrängen. Es würde schon nichts passieren. In knapp vierzig Minuten würde sie ihre Wohnungstür hinter sich zuschließen, einen kurzen Blick auf ihren schlafenden Sohn werfen und dann in das Schlafzimmer mit der grässlichen hellblauen Tapete gehen und sich neben ihren schnarchenden Ehemann legen. Diese Aussicht war zwar auch nicht gerade berauschend, aber besser, als heimtückisch gemeuchelt zu werden, war es allemal.

Sie bog gerade in die Nicolaistraße ein, als ein Geräusch an ihre Ohren drang. Waren das etwa Schritte? Stapfte da jemand hinter ihr durch den Schnee? Oder spielte ihr Bewusstsein ihr bloß einen Streich? Hörte sie vielleicht ihr eigenes Herz pochen?

Sie blieb stehen und lauschte. Schon war alles wieder still. Doch sobald sie weiterging, war das Geräusch von Neuem da. Nein, das war nicht ihr Herzschlag. Das war etwas anderes. Etwas oder jemand verfolgte sie, jetzt hörte sie es ganz deutlich. Es klang wie ein Schnaufen, ein keuchender, rasselnder Atem.

Sie lief schneller und konnte den Impuls, in blinde Panik auszubrechen, kaum mehr unterdrücken. Was sollte sie nur tun? Rainer anrufen? Oder Oliver? Die Polizei? Sollte sie zur nächstbesten Haustür laufen und wildfremde Leute um Schutz bitten?

Sie rannte weiter geradeaus und blickte sich dabei immer wieder hektisch um. Über ihr zogen die Wolken vorbei, und der Schein des Mondes fiel mit einem Mal wie der Strahl einer überdimensionalen Taschenlampe auf die Straße. Konstanze blieb abrupt stehen.

Keine zehn Meter vor ihr stand eine Gestalt. Sie war groß und unförmig wie ein buckliger, missgebildeter Riese. Die monströsen Arme hingen schlaff an den Seiten herunter und schienen viel zu lang zu sein. Konstanze war sich nicht einmal sicher, ob das überhaupt ein Mensch war.

Nacktes Entsetzen packte sie. Dieses Etwas hatte kein Gesicht. An der Stelle, an der normalerweise die Augen saßen, stachen lediglich zwei rot glühende Punkte aus einer pechschwarzen Masse hervor.

Starr vor Angst beobachtete Konstanze, wie der Riese schnaufend näher kam. Bildete sie sich das bloß ein, oder spürte sie tatsächlich bei jedem seiner Schritte die Erde beben? Sie musste unwillkürlich an Godzilla denken, der mit seinen gigantischen Echsenfüßen eine ganze Großstadt plattgemacht hatte. Überhaupt hatte sie das Gefühl, mitten in einem Film zu sein. Doch ihre Hoffnung auf einen Regisseur, der die Szene mit einem kurzen energischen »Aus!« beendete, war vergeblich. Der Illusion, in einem bösen Traum gefangen zu sein, gab sie sich erst gar nicht hin. Sie war im Hier und Jetzt, und das Monster da vor ihr war gnadenlose Wirklichkeit.

Sie presste den Bratschenkasten noch fester an ihren zitternden Körper. Sie wollte um Hilfe schreien, aber als sie erkannte, was die Gestalt in ihren riesigen Pranken hielt, brachte sie keinen Ton mehr über die Lippen.

16. März

Marlene hockte mit angewinkelten Beinen auf dem Sofa, balancierte ihren Laptop auf den Knien und überflog die morgendlichen Schlagzeilen.

»Sunna-Mörder hat wieder zugeschlagen – drittes Opfer entdeckt«, titelte die »Thüringer Allgemeine«. Unter den fett gedruckten Buchstaben waren die Fotos der Opfer zu sehen – drei lebenslustige junge Frauen, die unbeschwert in die Kamera lächelten, nicht ahnend, welch grauenvolles Ende sie erwarten würde.

Die »Thüringische Landeszeitung« hatte ein großes rotes Fragezeichen als Aufmacher gewählt. »Eisenacher Serienkiller mordet erbarmungslos weiter – Polizei tappt noch immer im Dunkeln«.

Im Gegensatz zum Vortag bestand nun kein Zweifel mehr, dass sich die Taten gegen ehemalige Frau Sunnas richteten. Wie zu lesen war, hatte man alle drei Frauen unbekleidet aufgefunden, und da sich die Polizei aus taktischen Gründen noch nicht im Detail dazu äußern wollte, ging die öffentliche Meinung davon aus, dass es sich um Sexualverbrechen handeln musste. Darüber hinaus war an die Presse durchgesickert, dass den Opfern ein spitzer Gegenstand ins Herz gerammt worden war, von dem bislang aber jede Spur fehlte.

Marlene, der es angesichts dieser brutalen Ereignisse kalt den Rücken hinunterlief, zupfte kurz an ihrem Haargummi herum. Dann scrollte sie weiter.

»Absage des diesjährigen Eisenacher Sommergewinns wird immer wahrscheinlicher«, berichtete die Tageszeitung »Freies Wort« und brachte ein ausführliches Interview mit den Organisatoren der Veranstaltung. Die aktuellen Ereignisse seien das dunkelste Kapitel in der Geschichte des beliebten Volksfestes, teilte der Sommergewinns-Zunftmeister mit, und nur die baldige Ergreifung des Täters könne zumindest einen kleinen Teil der geplanten Aktivitäten, wie das traditionelle Streitgespräch, noch retten.

Auf der Startseite der »Bild« prangten indes die Umrisse einer großen, unförmigen Gestalt, die als eine Mischung aus dem Glöckner von Notre-Dame und Frankensteins Monster hätte durchgehen können. »Eine Stadt in Angst – Wer ist der Sunna-Mörder?«, stand in ausdrucksstarken Lettern darunter.

Es folgten mehrere Berichte von Augenzeugen, die eine riesige, missgebildete Kreatur gesehen haben wollten und, in Verbindung mit einer Auswahl selbst ernannter Experten, die verschiedensten und irrwitzigsten Meinungen über die Identität des Verbrechers zum Besten gaben. So munkelte man zum Beispiel über einen aus einem Versuchslabor entlaufenen Riesenaffen, der es auf junge, knackige Blondinen abgesehen hatte. Diverse Hollywoodstreifen wie »King Kong« und »Planet der Affen«, die unbewusst wohl die Vorlage für diese abstruse Theorie bildeten, führten manche sogar als Beweis an. Das Fernsehen hatte es ihnen prophezeit, und was über den Bildschirm lief, musste schließlich wahr sein.

Andere Stimmen spekulierten wiederum über eine kriminelle fremdländische Vereinigung, die es sich zum Ziel gemacht hatte, die Kultur des Abendlandes zu zerstören. Auch Zigeuner, Muslime und andere Minderheiten wurden verdächtigt. Undenkbar, dass ein Deutscher zu solch barbarischen Taten fähig wäre, lautete ein Argument aus ebenjener Gruppe.

Die Auswüchse der menschlichen Phantasie kannten keine Grenzen. Selbst ein mittels chemischer Substanzen zu einem blutrünstigen Monster mutierter Reinhold Messner wurde in Betracht gezogen. Dass Drogen im Spiel waren, stand für die Mehrheit der Leute jedenfalls außer Frage. Welches Motiv jedoch ein prominenter Bergsteiger haben sollte, als Mr. Hyde ausschließlich Frau Sunnas zu meucheln, das wusste freilich niemand zu sagen.

Mit einer raschen Handbewegung klappte Marlene den Laptop zu und ließ ihn von ihren Beinen auf das Sofa gleiten. Obwohl sie zwei Paar Leggins übereinandergezogen und sich in ihre hellgraue Lieblingsstrickjacke gehüllt hatte, fröstelte sie. Instinktiv griff sie nach ihren Fußgelenken und krempelte die dicken Wollstulpen hoch.