JACK WILLIAMSON
ANTIMATERIE-BOMBE
Roman
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
Nach einer Kollision zwischen einem Antimaterie-Planeten und einer Welt aus Normalmaterie durchziehen gewaltige Brocken aus kontraterrestrischer Materie unser Sonnensystem und stellen eine Gefahr für die interplanetare Raumfahrt dar. Doch die gewaltigen Kräfte, die bei der Kollision zwischen Materie und Antimaterie freigesetzt werden, könnten die Energieprobleme aller Menschen auf einen Schlag lösen – wenn es nur gelänge, sie sich nutzbar zu machen. Genau daran arbeiten Nick Jenkins und sein Team von Raumingenieuren, doch ihre Träume von kostenloser Energie für alle werden jäh zerstört. Ein Verräter verübt einen Sabotageakt, bei dem Nick stark verstrahlt wird. Er hat nur noch wenige Tage zu leben. Ihm bleibt keine Zeit mehr, um das Rätsel der Antimaterie zu lösen – und noch weniger Zeit, um den Saboteur zu stellen …
Jack Williamson (geb. 29.04.1908) wuchs auf einer Farm in New Mexico auf. Als Jugendlicher bildete er sich autodidaktisch neben der Schule in öffentlichen Bibliotheken, was ihn zum Außenseiter werden ließ. Als er Mitte der Zwanzigerjahre das Magazin Amazing Stories entdeckte, beschloss er, Science-Fiction-Schriftsteller zu werden. Damit legte er den Grundstein für eine erstaunliche Karriere: Er publizierte bis kurz vor seinem Tod und gewann mit 93 Jahren noch den Hugo und den Nebula Award. Als Professor für Literaturwissenschaft publizierte er seine Handreichungen, woraus die Science Fiction Research Association entstand, die bis heute die akademische Zeitschrift Science Fiction Studies herausgibt. Er half auch mit, eine der größten SF-Sammlungen mit über 30.000 Bänden zusammenzutragen, die den Namen „Jack Williamson Science Fiction Library“ trägt. Er starb am 10.11.2006 in Portales, New Mexico.

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Titel der Originalausgabe
SEETEE SHOCK
Aus dem Amerikanischen von Thomas Schlück
Überarbeitete Neuausgabe
Copyright © 1949, 1950 by Will Stewart
Copyright © 2019 der deutschsprachigen Ausgabe by
Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Covergestaltung: Das Illustrat, München
Satz: Thomas Menne
ISBN 978-3-641-17630-3
V002
Die Zeichen waren so alt wie die Menschheit selbst – die Meteorkrater, die Sternschnuppen, die auch heute noch über den nächtlichen Himmel gleiten, die Novae, die kosmischen Strahlen, das pockennarbige Gesicht des Mondes, die Strömung der Asteroidenbruchstücke an der Stelle, an der sich einmal der fünfte Planet Adonis befand.
Und die Mechanik des Atoms selbst war allgemein bekannt. Denn die gleichen Menschen, die an der Atomspaltung arbeiteten, schufen auch die Theorie der Antimaterie und berichteten von umgekehrten Atomen, die negative Nukleonen und umlaufende Positronen hatten. In jedem Detail identisch mit der uns allen bekannten Materie, besitzen diese anderen Elemente eine Eigenstabilität – solange sie kein Objekt aus irdischer Materie berühren.
Diese Berührung entfesselt unvorstellbare Kräfte. Ungleiche Ladungen ziehen sich an, und ungleiche Partikel stoßen zusammen und lösen sich auf.
All diese Zeichen waren seit Urzeiten vorhanden, aber erst die Raumingenieure verstanden sie zu deuten. Sie bauten die Raumschiffe, die in die Tiefen des interplanetarischen Raums vordrangen. Manche starben bei dem Versuch, die halbvergessene Theorie zur Tatsache werden zu lassen – denn Antimaterie unterscheidet sich äußerlich nicht von der Substanz, die uns in unserer Welt umgibt. Nur durch Kontakt ließ sich herausfinden, welche Art Materie man vor sich hatte, und noch jeder Kontakt hatte bisher mit einer Katastrophe geendet.
Doch die Raumingenieure ließen sich von der Antimaterie, die sie kurz AM nannten, nicht abschrecken, und versuchen sie jetzt zu meistern. In ihr schlummern Kräfte, wie sie das Sonnensystem bisher nicht erlebt hat, Kräfte, die eine neue Art Freiheit hervorbringen können – die Freiheit der Energie. Falsch angewandt, vermag sie andererseits jegliche menschliche Freiheit zu unterdrücken. Und das ist das Problem und zugleich das Versprechen, dem sich alle unsere Planeten heute gegenübersehen.
– UNENDLICHE ENERGIE –
von Martin Brand
Solar-City, Erde, 2171
Die unendliche Leere verhöhnte ihn. Feindseligkeit erfüllte die frostige Schwärze des Alls. Die Sterne belauerten ihn.
Stumm kämpfte Raumingenieur Nick Jenkins gegen diese Stimmung an.
Dabei diente ihm der AM-Bulle als Waffe – ein gefährliches technisches Monstrum, halb Bulldozer und halb Raumschiff, halb aus irdischem Material und halb aus AM. Es diente zum Aufspüren und zum Transport von gefährlichen AM-Meteoren. Der offene Sitz, der kleine Atomreaktor unter ihm und der Paraschwerkraft-Antrieb im Heck bestanden aus irdischer Materie und konnten gefahrlos berührt werden. Die vorderen Teile der Maschine dagegen waren aus AM, geschickt verbunden mit der rückwärtigen Partie durch die ausgezeichneten Kupplungen, die ohne eigentlichen Kontakt für eine feste Verbindung sorgten.
Über die Kontrollen geduckt, bewegte sich Nick Jenkins schwerfällig in seinem lenkbaren Raumanzug; vorsichtig bediente er die Steuerung des Bullen.
Das einzige Geräusch war das Zischen des Sauerstoffs, der aus der Düse unter seinem Kinn strömte; aber seine Phantasie ließ das leise Geräusch zu einer Stimme werden, die ihn vor der luftlosen Leere des Alls warnte, die ihn aufforderte, auf seine Welt zurückzukehren, das All zu verlassen, in das er nicht gehörte.
Er versuchte nicht hinzuhören. Zu viele Raumfahrer hatten den Stimmen der Einsamkeit gelauscht und waren ihnen jetzt auf ewig ausgeliefert. Der Mensch war im Grunde nicht geschaffen für die unendliche Weite des Alls, in der er es auch nur aushielt, wenn er sich eine Umwelt nach dem Ebenbild seiner Heimat schaffen konnte.
Ja, es waren schon viele Männer daran zerbrochen. Er dachte an Jean Lazarene, der zuerst einen recht widerstandsfähigen Eindruck gemacht hatte; aber auch er war dem Einfluss erlegen und hatte dem Flüstern seiner Düsen geantwortet. Und als er aus Pallasport zurückkehrte, wo er sich einige Monate auskuriert hatte, waren seine Hände noch immer zu zittrig für die Steuerung des Bullen. Er konnte der tödlichen Leere des Alls nicht wieder gegenübertreten und hatte Drake gebeten, ihn in die Werkstatt zu versetzen.
Jenkins aber wollte durchhalten. Er wollte seine Ohren verschließen vor den Ängsten und Zweifeln, die ihn befielen, und sich auch nicht der Erschöpfung und dem hypnotischen Leuchten der Instrumente ergeben. Er hatte eine Aufgabe.
Aber das Flüstern wollte nicht aufhören. Er wollte nicht hinhören, aber er war doch schon zu lange hier draußen im All. Zu lange schon entbehrte er den Anblick der grünen Landschaften und schimmernden Ozeane der Erde, zu lange schon hatte er nicht mehr den Wind im Gesicht gespürt oder die Stimme einer Frau gehört …
Es hatte da einmal ein Mädchen gegeben, und lange Zeit war es ihm gelungen, mit der Erinnerung an sie das drohende Flüstern der Einsamkeit zu vertreiben. Sie war ihm ein wertvolles Bindeglied zur Welt der Menschen gewesen, wie er sie sich erträumte; aber jetzt erinnerte er sich nicht einmal mehr an ihre Augenfarbe oder Frisur. Jedenfalls hatte sie honigfarbenes Haar.
Sie hieß Jane Hardin. Er war ihr vor zwei Jahren auf der langen Reise von der Erde nach Pallasport begegnet. Gemeinsam hatten sie zum ersten Mal die erschreckende schwarze Unendlichkeit erlebt. Gemeinsam hatten sie auf dem Beobachtungsdeck gestanden und hatten die Bedeutung dessen gespürt, was der Mensch mit seinem Sprung ins All erreicht hatte. Sie hatten zusammen Karten gespielt und gegessen und zu ihrer Freude festgestellt, dass sie in der gleichen Vorstadt Solar-Citys aufgewachsen waren. Aber dann war etwas zwischen sie getreten.
Jenkins hatte immer noch nicht begriffen, wie es geschehen konnte. Noch am Vorabend ihrer Ankunft in Pallasport hatte sie freudig zugestimmt, ihn so bald wie möglich wiederzusehen. Aber als er dann davon sprach, dass er für die AM-Gesellschaft arbeiten würde, war alles vorbei gewesen – und er wusste noch immer nicht den Grund.
Sie war förmlich vor ihm zurückgewichen. Ihr Benehmen erweckte in ihm das Gefühl, sie beleidigt zu haben. Und in der Hoffnung, ihre plötzliche Zurückhaltung zu überwinden, hatte er ihr sein Lieblingsbuch gezeigt – das Buch seines Onkels. Begeistert hatte er ihr über Martin Brands herrlichen Traum von der Gewinnung unendlicher AM-Energie erzählt und sie gebeten, ihm doch zu sagen, was los wäre. Sie hörte ihn schweigend an, ohne aber auf seine Argumente einzugehen.
Er hatte sie noch einmal gesehen, als das Schiff gelandet war, aber verletzter Stolz hatte ihn davon abgehalten, nach ihrer Anschrift zu fragen. Seitdem hatte er sie nicht wiedergesehen.
Noch immer war Martin Brands Traum weit davon entfernt, Wirklichkeit zu werden, und die Zeit hatte die Erinnerung an Jane verblassen lassen. Er hatte die Hoffnung aufgegeben, sie jemals wiederzusehen.
Jenkins biss die Zähne zusammen und versuchte nicht auf die leise Stimme zu hören, die ihm einzureden versuchte, dass der Mensch hier draußen nichts verloren habe. Er wusste, dass das Flüstern nur in seiner Phantasie existierte, dass sich auch bei ihm bereits die ersten Folgen der langen Einsamkeit bemerkbar machten; zu lange war er schon hier draußen allein, zu oft war er mit dem Bullen auf AM-Jagd gegangen. Wenn er erst auf das Flüstern zu hören begann, gehörte er zu dem großen Kreis hilfloser Felsläufer, die auf Freedonia zu nichts mehr zu gebrauchen waren.
Entschlossen machte er sich an die Arbeit. Es war seine Aufgabe, Antimaterie-Metall einzubringen, das für die Anlagen auf dem luftlosen Asteroiden Freedonia bestimmt war. Er hatte sich freiwillig für diese Arbeit gemeldet, weil Martin Brand sein Onkel war und er deshalb keine einfache Aufgabe wollte, und er hatte nicht die Absicht, aufzugeben.
Ein weißer Punkt wurde auf dem Radarschirm sichtbar. Er schwenkte den Bullen herum und beugte sich ungeschickt vor, um die Testkanone schussbereit zu machen. Langsam näherte er sich dann dem Meteor, bis der kleine Fleck auf dem Entfernungsmesser die Zehnkilometermarke erreichte.
Mit steifem, ungelenkem Handschuh-Finger drückte er auf den Feuerknopf. Das AM-Fragment, das sich auf dem Schirm abzeichnete, war mit bloßem Auge noch nicht zu erkennen, aber der automatische Sucher hielt die Testkanone ins Ziel gerichtet und feuerte das winzige Testgeschoss aus irdischem Metall ab.
In Erwartung der Explosion drehte Jenkins den Bullen seitwärts – ein Manöver, zu dem er sich immer wieder zwingen musste. Das vordere Ende der Maschine war nämlich mit einem schweren Bleipanzer abgeschirmt, den er instinktiv zwischen sich und dem Lichtblitz zu halten versuchte. Aber solche Instinkte waren hier draußen fehl am Platze; der Bleipanzer hätte die Strahlen des AM-Blitzes nur in ein Vielfaches an tödlicher Sekundärstrahlung verwandelt.
Ruhig zählte er die Sekunden, duckte sich schließlich und schützte seinen Kopf mit erhobenem Arm. Eine sinnlose Geste, die er sich aber nicht abgewöhnen konnte.
Ein unerträglich heller Blitz zuckte auf. Das Testgeschoss war nur wenige Milligramm schwer, ein winziger Schlüssel zu der unvorstellbaren Gewalt der AM-Reaktion. Sobald es jedoch auf Antimaterie stieß, hörte es auf zu existieren und setzte eine ungeheure Energie frei.
Unwillkürlich duckte sich Jenkins tiefer über seine Kontrollen. Die geheimnisvolle Stimme flüsterte ihm zu, dass er sich nicht gegen die gefährlichen Strahlenschauer schützen könnte und dass er früher oder später dem AM-Schock zum Opfer fallen würde. Der Menschheit war die Wirkung dieser Strahlung spätestens seit Hiroshima bekannt, und die Raumfahrer hatten den Namen »Antimaterie-Schock« dafür geprägt.
Jenkins wartete. Er zählte sechs Sekunden ab, während der mit der Testkanone verbundene analytische Spektrograph leise klickte.
Vorsichtig beugte er sich dann zur Seite, um die Analyse abzulesen. Silikon 44 Prozent, Sauerstoff, Aluminium, Magnesium und eine Spur Eisen. Ein Bruchstück des AM-Wanderplaneten, der mit dem solaren Planeten Adonis zusammengestoßen war, ehe der Mensch überhaupt von der Eroberung des Alls zu träumen begann. Wenn die Energiestation jemals fertig wurde, stellte der Brocken wertvolles Rohmaterial dar, aber im Augenblick war er nutzlos. Jenkins hatte es auf AM-Eisen und AM-Wolfram abgesehen – Metalle, die Lazarene für seine Spezialmaschinen brauchte. Er schüttelte den Kopf und steuerte den Bullen weiter.
Die Arbeit war schwer, zumal er wusste, dass er es eigentlich nicht nötig hatte, sich hier draußen abzuplagen. Sein Onkel war reich und hatte ihm mehr als einmal einen Schreibtischposten in Pallasport angeboten.
Aber Jenkins war in erster Linie Raumingenieur – Sohn eines Raumingenieurs, den die Strömung dahingerafft hatte, als Jenkins gerade drei Jahre alt war. Er selbst hatte die Abschlussprüfung mit Auszeichnung bestanden und war nun gewillt, die Tradition dreier Jahrhunderte fortzusetzen.
Ziolkowsky und Oberth gehörten zu den ersten Raumingenieuren, die allerdings die Erde nicht mehr verließen, ebenso wenig wie Goddard und Ley. Maxim-Gore schließlich befasste sich erstmals mit den Sonnenflecken und entdeckte die Paraschwerkraft, die der Menschheit den Weg in den Raum ebnete.
Später rangen die Ingenieure dem feindseligen Raum einen Planeten nach dem anderen ab und schufen neben dem Reichtum und der Macht der Interplanet-Gesellschaft auch etwas Haltbareres – einen besonderen Ehrenkodex, der den Dienst an der Menschheit in den Vordergrund stellte. Diese Tradition blieb über Jahrhunderte unangetastet, und ihre Erben waren Männer wie der alte Jim Drake.
Seit fünfzig Jahren bemühten sich Raumingenieure wie er um die Kräfte der Antimaterie. Drakes erste Großtat auf diesem Gebiet war die Erfindung der sogenannten Blinker, die auch heute noch überall eingesetzt wurden, um auf Teile der gefährlichen AM-Strömung hinzuweisen.
Jenkins starrte auf den leeren Schirm und dachte an die Tradition und den Kodex der Raumingenieure. Sein eigener Onkel, Martin Brand, war zweifellos einer der bedeutendsten Vertreter dieses Standes.
Aber die innere Stimme ließ sich nicht so einfach verdrängen. Sie forderte ihn heraus, die Probleme nicht zu vergessen, die mit der Freisetzung der AM-Energie verbunden waren. Sie erinnerte ihn daran, wie wenig der Mensch die positiven Konsequenzen der Kernspaltung genutzt hatte, und wie zweifelhaft es war, dass sich diese Entwicklung nicht wiederholen würde, zumal es um die ungleich größeren Energien ging, die durch die Reaktion irdischer Materie mit AM freigesetzt wurden.
Aber Brand fand sicher eine Lösung für dieses Problem, dachte Jenkins. Brand war mehr als nur ein ausgezeichneter Ingenieur. Auch auf politischem Parkett wusste er sich zu bewegen und hatte die großen Finanziers mehr als einmal auf eigenem Boden geschlagen. Brand konnte alles.
Nein, die AM-Energie sollte neues Leben schaffen, sollte dem Menschen neue Welten erschließen. Nicht den Tod versprachen die bunten Prospekte seines Onkels den energiehungrigen Planeten, sondern neues Leben, neue Impulse.
»Aber sieh dich doch um!« mahnte ihn die Stimme. »Schau dir die Bruchstücke zweier Planeten an, die von der gleichen Macht vernichtet wurden, die du jetzt erstrebst.«
Jenkins zuckte die Achseln und beugte sich wieder über seinen Bildschirm. Natürlich war die AM-Strömung nicht ungefährlich, aber Männer wie Martin Brand konnten bestimmt damit fertig werden.
Plötzlich wurde wieder ein Punkt auf dem Schirm sichtbar. Jenkins brachte den Bullen auf Testschussweite heran, und der Energieblitz ergab eine Zusammensetzung aus Eisen und Wolfram. Der Brocken war für Lazarenes Werkstatt geeignet.
In der nächsten Stunde war er damit beschäftigt, seinen Fund an Bord zu nehmen, und hatte keine Zeit für die unheimliche Stimme. Hinzu kam, dass die Aufnahme eines AM-Brockens noch immer mit einem gewissen Risiko verbunden war, obwohl er ein Spezialgerät zur Verfügung hatte. Vorsichtig manövrierte er den Bullen heran, wobei er den Peilpunkt immer in der Mitte des Schirms hielt. Langsam glitt der AM-Brocken in die Aufnahmekammer am Bug des Bullen. Triumphierend stellte er durch einen Blick auf die Instrumente fest, dass sein Fundstück fast zwei Tonnen wog. Jetzt fehlten ihm nur noch acht Tonnen.
Er orientierte sich an den bekannten Konstellationen und schwenkte den Bullen ein wenig herum.
»Nick Jenkins!«
Er erstarrte. Obwohl sich das leise Zischen der Sauerstoffdüse nicht verändert hatte, schien es ihn plötzlich mit der Stimme von Kapitän Rob McGee anzusprechen.
»Hörst du mich, Nick?« glaubte er zu vernehmen. »Du darfst jetzt nicht weitermachen. Komm sofort zurück – und mache dich auf Schwierigkeiten gefasst.«
»Auf Schwierigkeiten?«
Einen Augenblick lang war Jenkins überzeugt, wirklich McGees Stimme zu hören. Als loyaler Freund und nützlicher Helfer Jim Drakes beschäftigte sich der kleine Mann noch immer damit, Vorräte von Pallasport und Obania nach Freedonia zu schaffen.
Dass sich der alte Mann über das Photophongerät mit ihm in Verbindung gesetzt hatte, wie Jenkins im ersten Augenblick annahm, war nicht möglich, weil er sein Helmgerät abgeschaltet hatte.
»Hörst du mich?« Vor seinem inneren Auge erschien das breite Gesicht des alten Raumfahrers. »Komm zurück, Nick, hörst du? Wir brauchen dringend Hilfe!«
Jenkins blinzelte. Offenbar war er wirklich schon zu lange hier draußen. Er dachte daran, wie ihm sein Onkel erzählt hatte, dass McGee allgemein als Mutant galt – als einer der wenigen Menschen, die sich wirklich auf die Lebensbedingungen des Raumes eingestellt hatten. Aufgrund seiner naturwissenschaftlichen und mathematischen Ausbildung stand Nick der neuen Wissenschaft der Parapsychologie ziemlich kritisch gegenüber, aber die Art, in der McGee sein rostiges kleines Schiff durch die Strömung manövrierte, ohne dabei auf die Hilfe von Instrumenten oder Karten angewiesen zu sein, schien Beweis genug für ein ungewöhnliches Zeit-, Entfernungs- und Raumgefühl.
»Ich kann nicht mehr klar denken, Nick«, fuhr die Stimme zögernd fort. »Ich weiß nicht, was passiert ist, aber ich habe eine Ahnung …«
Die Stimme schien sich im leisen Zischen der Düse mehr und mehr zu verlieren, als wäre Rob McGee tatsächlich der Bewusstlosigkeit nahe.
»Ich spüre … Gefahr … eine AM-Explosion, die niemand aufhalten kann. Ich spüre den Verrat eines Mannes, dem wir vertraut haben …«
»Nein!« flüsterte Jenkins. »Wer von uns könnte Freedonia verraten …?«
Aber die Stimme schwieg. Jenkins drehte den Bullen herum und richtete das Photophongerät auf Freedonia. Der modulierte Leitstrahl des winzigen Asteroiden dröhnte in seinen Kopfhörern auf. »HSM T-89AK-44 – Freedonia Leitstrahl!«
Das plötzliche Geräusch ließ ihn zusammenfahren, und er drehte am Lautstärkeregler. »Es wird wirklich Zeit für einen Urlaub«, murmelte er vor sich hin. Während er der automatischen Stimme lauschte, begann er McGees Botschaft als etwas Unwirkliches zu empfinden.
»HSM T-89AK-44 – Freedonia Leitstrahl!« kam das automatische Signal. »HSM T-89AK-44 – Freed…«
Die Stimme brach ab.
Jenkins, der sich eben mit Freedonia in Verbindung setzen wollte, hielt inne. Verwirrt drehte er seinen Photophonspiegel hin und her, konnte das Signal jedoch nicht wieder auffangen. Es gab keinen Zweifel mehr – der Strahl war abgeschaltet worden. Und das bedeutete höchste Gefahr. »Wer ist der Verräter, Kapitän McGee?« fragte er.
Nur das Knistern des Lautsprechers antwortete ihm. Ungeduldig schaltete er das Gerät ab.
Er kämpfte die Panik nieder, die ihn überwältigen wollte. Ohne Leitstrahl war er verloren. Er war angewiesen auf die Instrumente und seinen schwachen Orientierungssinn und seine geringen navigatorischen Kenntnisse.
Drohend umgab ihn die unendliche Leere. Die diamantenen Sterne zogen sich vor ihm zurück, und die trauten Konstellationen veränderten sich auf unheimliche Weise. Die Sonne befand sich plötzlich in einer Richtung, in der er sie nicht vermutet hätte. Vor dem Bullen, wo Freedonia hätte liegen müssen, blitzte ein Drake-Blinker auf.
Hastig identifizierte er die Lichtsignale des Blinkers, machte schließlich einige bekannte Konstellationen aus und steuerte den AM-Bullen aus dem gefährlichen Kern der Strömung heraus.
Freedonia lag noch außerhalb der Reichweite seines Detektors. Da er jetzt die ungefähre Richtung kannte, brachte er sein Gerät auf Kurs. Gespannt suchte er das Glitzern der entfernten Sternenwolken nach seinem Ziel ab und wünschte sich den besonderen Wahrnehmungssinn des kleinen Rob McGee. Es gefiel ihm ganz und gar nicht, sich auf seine Instrumente verlassen zu müssen.
Geisterhaft erschienen Punkte auf dem Schirm und verschwanden wieder. Freedonia war von einer Million tödlicher AM-Brocken umgeben, die Drake und McGee mit Hilfe eines Paraschwerkraftfeldes in Position gebracht hatten und jetzt an Ort und Stelle hielten. Die Antimaterie diente ihnen für das Labor als Metall- und Energiereserve und zugleich als Schutz vor unerwünschten Eindringlingen.
Bei jedem neuen Fleck hielt Jenkins den Atem an. Freedonia konnte nur noch wenige tausend Kilometer entfernt sein. Vorsichtig brachte er den Bullen auf einen weit ausschwingenden Suchkurs. Er musste den Asteroiden finden, denn für eine längere Raumreise reichten seine Luft- und Wasservorräte nicht aus. Und da erschien auch schon ein bleicher Fleck auf dem Bildschirm, der sich vor dem Hintergrund der anderen Lichtpunkte bewegte – ein Fleck, der sich nach einiger Zeit tatsächlich als Freedonia entpuppte.
Er wagte es nicht, den Asteroiden mit seinem Photophongerät anzurufen; immerhin war er unbewaffnet und wusste nicht, was dort geschehen war. Sogar die AM-Testgeschosse waren ihm ausgegangen. Sein einziger Vorteil lag in der Überraschung.
Er brachte den Bullen auf volle Beschleunigung und begann abzubremsen, als er noch etwa fünfhundert Kilometer von dem Asteroiden entfernt war. Vorsichtig suchte er sich dann seinen Weg durch den dreifachen Minenring, den Drake als letzte Verteidigung um Freedonia gelegt hatte.
Langsam schob sich der gezackte Riesenbrocken des Asteroiden ins Bild. Die beiden Positionsleuchten auf den Türmen an den Polen des Himmelskörpers waren ausgeschaltet. Die Anlagen wirkten verlassen.
McGees altes Raumschiff, die ADIEU-JANE, stand auf dem kleinen Landefeld. Niemand war zu sehen; auch bei den weißgestrichenen Lagerhäusern im Hintergrund rührte sich nichts. Dann hielt er nach dem grünen Licht Ausschau, das über dem Eingang zu den Wohntunneln leuchtete, aber auch hier war alles dunkel. Panik stieg in ihm auf.
Vorsichtig steuerte er den Bullen auf das Spezial-Landegestell zu. Jetzt kam es darauf an, eine ruhige Hand zu bewahren, denn schon der geringste Irrtum konnte zu einer entsetzlichen AM-Explosion führen. Er hielt den Atem an, während er das AM-Vorderteil Zentimeter um Zentimeter über die Erzrutsche manövrierte und das Heck schließlich in die Halterung aus irdischer Materie gleiten ließ. Er sicherte die Maschine mit einem Paraschwerkraft-Feld, desaktivierte den Reaktor und kletterte zu Boden.
Hier machte er zunächst einige Lockerungsübungen, um seinen Kreislauf wieder in Gang zu bringen, bewaffnete sich dann mit dem größten Schraubenschlüssel aus dem Werkzeugkasten und machte sich auf die Suche nach dem unbekannten Gegner.
Die Werkstatt war eine in die Felsen eingebettete Höhle. Grelles Licht fiel auf die lange Reihe von Maschinen. Nick trat an das hohe Drahtgitter, das die Galerie von den Geräten trennte, warf einen kurzen Blick auf das rote Schild
ACHTUNG! ANTIMATERIE!
und betrachtete die Anlage, die im Vakuum des Alls geräuschlos arbeitete. Ein endloser Strom AM-Eisen wurde über Förderbänder transportiert, die auf AM-Fundamenten ruhten. AM-Hämmer begannen die Rohteile zu formen und zu begradigen und schoben die Werkstücke in AM-Maschinen, die die weiterbearbeiteten Gebilde schließlich auf einem Fließband absetzten.
Die fertigen Produkte schließlich, die am Ende des Bandes von einem Kran zur Seite gehoben wurden, bestanden nicht völlig aus Antimaterie. Es handelte sich um neue AM-Fundamente, die die Form riesiger umgekehrter Pilze hatten. Die kranzförmigen Gebilde aus irdischem Metall konnten mit Normalmaterie verbunden werden, während die aufrecht stehenden AM-Stiele der »Pilze« dazu gedacht waren, AM-Maschinen zu tragen. Die beiden Arten von Materie wurden innerhalb des Fundaments durch permanente negative Paraschwerkraftfelder auseinandergehalten.
Jenkins blickte sich erleichtert um. Von hier oben war niemand zu sehen, aber der Anblick der automatisch arbeitenden Maschinen beruhigte ihn. Vielleicht hatte er sich nur ins Bockshorn jagen lassen …
Doch schon hielt er wieder den Atem an. Er beobachtete gerade den automatischen Kran, der das eben fertig gestellte AM-Fundament vom Fließband nahm, um es auf einer wartenden Lore zu deponieren. Aber der Wagen war bereits voll beladen.
Atemlos wartete Jenkins darauf, dass sich die kleine elektrische Lokomotive in Bewegung setzte und einen neuen Waggon heranfuhr, aber es geschah nichts. Zitternd wartete er darauf, dass die Produktionsanlage gestoppt wurde, die durch eine besondere Sicherheitsschaltung gegen solche Vorfälle gesichert war.
Aber offensichtlich hatte sich ein Relais verklemmt, denn es tat sich nichts.
Entsetzt sah Jenkins, wie der Kran seine Last absinken ließ. Gleich musste der Kranz des hängenden Fundaments den AM-Stiel des letzten, bereits abgesetzten Werkstückes berühren – und das Ergebnis konnte nur eine Explosion von derart gigantischen Ausmaßen sein, dass ganz Freedonia zerrissen wurde.
Einen Herzschlag lang rührte er sich nicht. Entsetzen lähmte ihn. Warum sah denn niemand, was sich dort unten tat? Warum betätigte niemand die Notschaltung? Wo waren denn überhaupt die Leute? Warum …? Er schluckte und setzte sich in Bewegung. Hastig aktivierte er die Steuerung seines Raumanzugs und schwebte zu der Kontrollstation am Ende des langen Fließbandes empor, fast direkt über dem Kran, der gleich eine Katastrophe heraufbeschwören würde. Er ließ sich über das Geländer tragen und erblickte den jungen Rick Drake, der an der langen Kontrolltafel zusammengesunken war. In seinem Raumanzug wirkte er wie eine leblose Puppe. Aber Jenkins konnte sich nicht um ihn kümmern.
Er musste den Kran aufhalten.
Nick stürzte auf den Notschalter zu und legte ihn um. Dann erfüllte ihn zwei atemlose Minuten lang nur das Bewusstsein, noch am Leben zu sein. Die Maschinen waren stehengeblieben, die Hämmer bewegten sich nicht mehr, die Werkzeuge standen still, und das Fließband stoppte. Auch der automatische Kran hielt inne, und seine Last hing nur noch Zentimeter über der Lore und ihrer tödlichen Ladung.
Zitternd wandte sich Jenkins dem jungen Ingenieur zu, der schlaff in seinem Raumanzug ruhte; sein Kopf rollte haltlos im Helm hin und her, als Jenkins den Körper zu Boden gleiten ließ und heiser rief: »Rick, was ist denn geschehen?«
Jenkins glaubte, einige Lippenbewegungen festzustellen und einen seufzenden Atemzug zu hören. Aber in den Augen zeigte sich kein Ausdruck des Erkennens.
Was war nur geschehen?
Er ließ den Bewusstlosen liegen und überlegte. Warum war der Leitstrahl abgeschaltet? Warum wirkte der Asteroid so verlassen? Was hatte Rick Drakes Bewusstlosigkeit verursacht? Schaudernd warf er einen Blick auf das AM-Fundament am Kranhaken. Hatte er eine zufällige Katastrophe verhindert, oder ging es hier um Sabotage?
Eine schnelle Untersuchung der Kabel hinter den Kontrollen erbrachte keinen Hinweis auf einen gewaltsamen Eingriff. Er trat über den Rand der Plattform, fing seinen Fall mit dem Steueraggregat ab und betrat einen Tunnel, der zum Generatorraum führte.
Hier befand sich die Maschine, auf deren Fertigstellung ganz Freedonia hinarbeitete. Jenkins begab sich auf eine Plattform hoch über der Reaktorkammer und sah sich verwirrt in der dunklen Höhle um.
Die Reaktorkammer bestand aus zwei riesigen Halbkugeln, die durch unzählige scheibenförmige AM-Fundamente auseinander- und zusammengehalten wurden. Die untere Hälfte bestand aus kadmiumbeschichtetem irdischem Stahl. Das schimmernde Metall der oberen Kuppel wurde durch Stahlgeländer abgeschirmt, und rote Schilder machten darauf aufmerksam, dass es sich um Antimaterie handelte. Andere Barrieren umgaben die AM-Separatoren, Transportgeräte und Fein-Injektoren.
Eine Sekunde lang glaubte Jenkins den Generator zu sehen, wie er einmal sein würde, glaubte die Ströme aufbereiteter irdischer und fremder Materie zu erkennen, die von zwei Seiten in den Generator eingeführt und zur Reaktion gebracht wurden. Er glaubte die schimmernden Spulen aus kostbarem grauweißem Condulloy aufleuchten zu sehen, glaubte den Fluss der gewonnenen Energie zu erkennen, der aus den Lemoyne-Dahlberg-Umwandlungsfeldern in den Brand-Transmitter oben auf der höchsten Erhebung Freedonias floss.
Aber er kehrte schnell wieder in die Wirklichkeit zurück.
Der Generator war noch längst nicht betriebsbereit. Zwar war der Reaktor fertig, und auch am Konverter fehlte nicht mehr viel. Aber der Transmitter musste noch installiert werden, und vor allem fehlte das für die Energiebeförderung so wichtige Material – Condulloy.
Es handelte sich um eine neuartige Legierung aus seltenen Isotopen und war zum Preis von zwei Dollar pro Gramm zu haben – insgesamt wurden achtzig Tonnen benötigt. Der gewaltige Preis machte anscheinend sogar Martin Brand Schwierigkeiten, denn der alte Jim Drake hatte das Metall schon vor zwei Monaten angefordert. Ein anderes Leitmetall kam nicht in Frage. Nur Condulloy vermochte den Ansturm der Energien auszuhalten, der aus dem Reaktor zu den Planeten fließen und die Neue Freiheit ermöglichen sollte – die Freiheit der Energie.
Jenkins wusste, dass Paul Anders hier irgendwo an der Arbeit sein musste, aber es war niemand zu sehen. Vorsichtig ließ er sich von der Plattform gleiten und stieß schließlich auf den Gesuchten, der halb unter der Halbkugel aus irdischem Metall lag. Eine Rolle Zeichnungen lag neben seinem Arm – der Schaltplan der Lemoyne-Dahlberg-Spulen.