Zum Buch
Alfred Adler, neben Sigmund Freud und C. G. Jung einer der Urväter der modernen Psychologie, ist der Begründer der Individualpsychologie. 1911 setzte sich Adler scharf vom Übervater der Psychoanalyse ab. Er wollte eine lebensnahe Psychologie schaffen, die es ermöglicht, den Einzelnen aus seiner individuellen Lebensgeschichte heraus zu verstehen. Seine optimistische positive Lehre wurde rasch sehr populär. In den 1930er Jahren war Adler einer der bekanntesten Psychologen der Welt.
Eingebettet in die Zeitgeschichte und aktuelle Forschungserkenntnisse zeichnet Alexander Kluy das Leben Alfred Adlers nach, der, 1870 in Wien geboren, 1937 auf dem Höhepunkt seines Ruhmes unerwartet in Schottland starb. Diese Biographie mit erstmals veröffentlichten Archivfunden zeigt den Menschen Adler – und die bis heute ungebrochene, hochaktuelle Wirkung seines Werks.
Zum Autor
Alexander Kluy, geboren 1966, lebt als Autor und Journalist in München. Er schreibt regelmäßig u. a. für Buchkultur, Der Standard und Psychologie Heute. Zuletzt erschien von ihm bei DVA die Biographie George Grosz. König ohne Land.
ENTRÉE
1 Einleitung
ALFRED ADLER UND SEINE ZEIT
2 Wien 1850 1870 1900
3 Kindheit, Jugend, Studium
4 Raissa Epstein und Adlers berufliche Anfänge
5 Russen in Wien
6 Fin-de-Siècle-Wien und die Leopoldstadt
7 Der Arzt als Erzieher
8 Die Mittwochs-Gesellschaft
9 Philosophie und das Als-ob
10 »Organminderwertigkeit«
11 Sigmund Freud und C. G. Jung
12 Bruch und Neubeginn
13 Wien im Krieg, Adler im Krieg
14 Revolution in Wien und Österreich 1918/19
15 Das »Rote Wien«, Psychologie, Schulreform und Pädagogik in Wien nach 1920
16 Die Erziehungsberatungsstellen
17 Manès Sperber
18 »Gemeinschaft« und »Lebensstil«
19 19 Individualpsychologie und die sozialistischen »Kinderfreunde«
20 Individualpsychologie in Deutschland und Europa
ADLERS ZEITALTER
21 Amerika I
22 Die Familie Adler im Wien der 1920er Jahre
23 Menschenkenntnis
24 Sperber. Marxismus. Berlin. Sezessionen
25 Der Sinn des Lebens
26 Amerika II
27 Religion und Individualpsychologie
28 Das Ende
29 Valentine Adler und die Sowjetunion
30 Die Familie Adler nach 1937
31 Die Individualpsychologie nach 1933
32 Die Individualpsychologie nach 1945
33 Individualpsychologie 4.0
Zeittafel
Anmerkungen
Personenregister
»Bees are not as busy as we think they are.
They just can’t buzz any slower.«
Kin Hubbard
»der Sound der Seele hallt durch die Zeit«
Lawrence Ferlinghetti
»wie käme Leuchtkraft in die Dinge wenn wir nicht von ihnen sprächen?«
Franz Dodel
»Wir waren Pioniere in einem neu entdeckten Land, und Freud war der Führer.«
Wilhelm Stekel 1
Der Nebel war dicht, der graue Rauch wie ein Vorhang. Er waberte zwischen den Türen, über dem Tisch und zwischen den Stühlen wie träumender Weihrauch. Es war ein undurchdringlicher Nebel, in dem formlose Geister auftauchten, sich verwandelten und wieder versanken. Es brodelte von prallem, geheimnisvollem Leben und von Lebensansichten und Seelenbohrungen.
Der Nebel kam nicht auf Katzenpfoten daher. Der Qualm im Raum rührte von Zigarren und Zigaretten, die rastlos angesteckt, geschmaucht, gepafft und ausgedrückt wurden. Es wurde ohne Unterlass geraucht zwischen den vielen Worten, die vorgebracht, den vielen Kommentaren, die hingeworfen, den vielen Gedanken, die gedreht und gewendet wurden. Einmal, spätabends, wagte der älteste Sohn des Hausstandes, nachdem die Disputationsgesellschaft aufgebrochen war, einen Blick in den Raum. Es erschien ihm wie ein Wunder, dass sich darin Menschen mehrere Stunden lang aufgehalten und gesprochen hatten, ohne dass einer von ihnen um Luft ringend zu Boden gesunken war.2 Es war bei Freuds. In der Berggasse, Wien IX.
Sigmund Freuds Studierzimmer war zu eng und zu klein, um sich darin zu treffen. Es quoll über von Büchern, Antiquitäten und Kunstgegenständen. Eine durchweg eklektizistische, historistische Kollektion war dies, von einem humanistisch-antikischen Grundzug durchwoben. So nutzte man das Wartezimmer der Praxis im hinteren Teil der Wohnung.3 Die Tür zum Studierzimmer blieb offen. Man konnte auf den Schreibtisch sehen mit den vielen Figurinen aus Ägypten, auf das Sofa, das später weltberühmt wurde, auf den Armstuhl, der hinter dem Kopfteil hochragte, und auf die Büchersammlung.
Es war ein Mittwochabend. Es war ein Treffen der Mittwochs-Gesellschaft, zu der Freud Vertraute, Jünger und Adlaten, darunter einen gewissen Alfred Adler, stämmig, beschnauzbart und natürlich ebenfalls Raucher, zu sich geladen hatte. Hier verdichtete sich die Geschichte, auch die große, am kleinen Ort.4
Nach dem Abendessen, in der Regel gegen halb neun Uhr abends, kamen ihre Mitglieder in Freuds Warteraum zusammen und setzten sich an einen langen Tisch. Waren alle anwesend, wurde Rauchwerk offeriert. Erst dann betrat Freud mit federnden Schritten den Raum. Um neun Uhr stand einer der Männer auf und hielt ein maximal halbstündiges Referat. Ein Überziehen wurde gelitten, aber ungern in Kauf genommen. Dann wurde Kaffee gereicht und ein notorisch trockener Kuchen.5 Für den lukullisch etwas zweifelhaften Genuss war eine Viertelstunde vorgesehen. Danach wurde die Debatte eröffnet über die Thesen und Meinungen des üblicherweise durch Los bestimmten Redners. Usus, nein: zur Pflicht erhoben, war, dass sich keiner eines Kommentars enthalten durfte.
Freud rauchte geschätzt pro Tag an die zwanzig Zigarren. Zusammen mit den anderen Männern, die sich eingefunden hatten und von denen jeder ebenfalls rauchte, viel und heftig, in den sich anschließenden Stunden intensiven Gesprächs – nicht selten löste sich die Runde erst um Mitternacht auf –, harten Austauschs und kritischer Kommentare ergab dies nicht nur eine Abendsozietät der Rauch- und Nebelschwaden, sondern auch des Aufbruchs und der Überzeugung, als Erste im unbekannten Land der Seele eine Standarte aufzupflanzen. Dabei war die Reihenfolge klar. An der Tête: Freud, der Direktheit einforderte und vorexerzierte, auch Enthusiasmus und Scharfsinn, die hierarchische Ordnung jedoch nicht aus den Augen verlor. Er hatte stets das letzte Wort. Und er war es, der am Ende mit Entschiedenheit alles zusammenfasste.6
Es durchzitterte den Raum etwas, das einer Religionsneugründung nahekam. Eine Tafelrunde, ein Gespräch zwischen Lehrer und Schülern, Ahnvater und Ziehsöhnen, eine Atmosphäre von Prophet und Jüngern einer Tafelrunde. »Freuds Schüler waren seine Apostel.«7 Auch andere dachten ekklesiastisch. Wilhelm Stekel zum Beispiel: »Ich war der Apostel Freuds, der mein Christus war!«8 Dieser Christus hatte Charisma. Er hatte die Strenge und das Sendungsbewusstsein eines Patriarchen. Der Psychoanalyse zu attestieren, sie sei eine »(Volks-)Erlösungsreligion«, mag angesichts Freuds lebenslanger antireligiöser Impulse paradox klingen und überspitzt, traf aber zu.9 Die alten Götter und Götzen der Seelenkunde wurden gestürzt, jene heiteren, deutlichen und liebenswerten Baale, die man gern verehrt hatte, weil man wusste, auch in ihren Seelen wohnten der Regungen einige, die den Menschen zu einem Gott und den Gott zum Menschen machten.10 Freuds revolutionäre Ideen kreisten um seelisches Leid. Sie boten noch nie da gewesene Techniken, diesem ein Ende zu bereiten oder es zumindest zu lindern.11
Freud drang darauf – und duldete keine Ausnahme von dieser Regel –, dass jeder Vortragende frei spreche, ohne Manuskript, ohne Notizen. Später charakterisierte Fritz Wittels, ein Mann der zweieinhalbten Stunde der Mittwochs-Gesellschaft, Freuds Rhetorik in diesem semi- bis ganz privaten Kreis als Feuerwerk.12 Eine pyromanische Ader war in Freuds Charakter ohne Zweifel vorhanden. Diese war nicht selten für den Vortragenden mehr als spürbar. Denn das Gebot »Keine Vorbehalte!« beherzigte Freud in Person recht dezidiert. Er konnte schroff sein, »hart und unerbittlich«,13 undiplomatisch, unduldsam, wenn etwas nicht das erwünschte Niveau erreicht hatte oder Thesen ihm als schütter erschienen. Kraft seiner dominanten Persönlichkeit bügelte er Einwände, alternative Ideen, andere Auffassungen nieder. Dies fiel umso leichter, als der überwiegende Teil der Anwesenden ihm in jeder argumentativen Windung, Wendung und Interpretation getreulich folgte. Ihm Widerworte zu geben war schwer. Auch weil er auf bedingungsloser Loyalität bestand. Er konnte spotten, sarkastisch sein, hämisch und nachtragend. Letzteres auch über Jahrzehnte hinweg. Gern zitierte er einen Aphorismus aus Heinrich Heines Gedanken und Einfälle – aus der Sektion »Persönliches«: »Ja, man muss seinen Feinden verzeihen, aber nicht früher, als bis sie gehenkt worden.«14
»Das einzig wahre Ausland ist die Vergangenheit.«
Hans Magnus Enzensberger1
Das 20. Jahrhundert war das Jahrhundert der Psychologie.
Es war ein überlanges Jahrhundert, strafte es doch die Regeln der Arithmetik Lügen. Es setzte bereits 1899 ein, als der Wiener Seelenarzt Sigmund Freud ein Buch über eine uralte Kulturtechnik, die Oneirologie, veröffentlichte und sein Buch, dem er den Titel Die Traumdeutung gab – wohlgemerkt: Die, nicht eine –, auf das Jahr 1900 vordatieren ließ. Hingegen endete es erst im Jahr 2011, mit der Überführung der kremierten sterblichen Überreste Alfred Adlers nach Wien.
Eine übermannshohe, kantige Stele markiert heute seine Grabstelle auf dem Wiener Zentralfriedhof, der von Touristengruppen fast ebenso überlaufen ist wie das Stadtzentrum mit seinen Sehenswürdigkeiten. Auf Kopfhöhe ein umlaufendes Stahlband mit einer Inschrift – in englischer Sprache. Ein Stein, der Moderne signalisiert. Dabei buchstäblich leicht greifbar ist und zugänglich. Und der errichtet wurde für einen Wiener Psychologen, der am Ende seines Lebens, Mitte der 1930er Jahre, in einem Atemzug mit Albert Einstein genannt wurde. Während das Genie Einstein das Universum vermessen habe, sei dem Genie Adler etwas noch Wichtigeres gelungen, die Kartierung der menschlichen Seele.2
Wie kam es zu dieser Einschätzung und Gleichsetzung? Verdankte sie sich journalistischer Schlagzeilensucht und Zeitgebundenheit? Oder steckte hinter dieser Akklamation mehr? Etwa Fragen nach einem neuen, anderen, modernen, zeitgemäßen, dabei überzeitlichen Selbstverständnis des Menschen? Fragen nach einem Wertesystem von Individuum und Gruppe, Erkundigungen nach Weisen eines Denkens, Handelns und Empfindens, das ohne Selbstreflexion der Wissenschaft und des Schreibenden nicht mehr traktiert werden kann?3 Psychologiegeschichte hat mehr zu sein als reine Gegenstandsgeschichte.4 Denkt man über die drei größten und einflussreichsten Psychologen des 20. Jahrhunderts nach, über die Pioniere der Tiefenpsychologie Sigmund Freud, Carl Gustav Jung und Alfred Adler, Letzterer verglichen mit den beiden anderen heute zu Unrecht weniger bekannt, dann ist historisches Bewusstsein für Problemkonstellationen vonnöten, die sich über das späte 19. und das 20. Jahrhundert legten und die Psychologie prägten und noch immer prägen, im Zeitalter von Hightech-Methoden und avancierten Technologien der Humanmedizin mehr denn je. Ein historisches Bewusstsein dafür, wie Seelenkunde und Menschenkenntnis Grundsatzentscheidungen der Anthropologie und bedrängende Letztbegründungsfragen bedingt haben.5
Wohl keine der Lehren der tiefenpsychologischen Schulen dürfte ähnlich eng mit den Anstrengungen, Krankheiten und Leiden ihres Schöpfers zu überwinden, verknüpft sein wie das therapeutische System Adlers, die Individualpsychologie.6 Der Wiener Psychologe Viktor Frankl, ein früher Renegat der Individualpsychologie und Begründer der Logotherapie, im Jahr 1993 in oberflächlicher Frivolität: »Jeder Begründer einer Psychotherapierichtung hat in seinen Büchern eigentlich nur seine eigene Krankengeschichte geschrieben und dabei die Probleme zu lösen versucht, die er selbst durchgemacht hat.«7
Geschichte ohne Psychologie verstehen zu wollen erscheint müßig. So müßig wie sinnlos. Psychologie ohne Geschichte zu verstehen ist haltlos. Zudem ist es intellektuell anmaßend. Denn es greift zu kurz. Man versteht den aktuellen Stand der Tiefenpsychologie nicht ohne die historischen Entwicklungsstufen und Durchsetzungsphasen. Erst recht nicht ohne die Sackgassen, in denen sich ihre Begründer verlaufen haben, nicht ohne die mühseligen Stufen, die sie genommen, nicht ohne die Jakobsleitern der Erkenntnis, die sie erklommen haben. Fortschritte der psychologischen Forschung waren nicht nur Mainstream-Siegergeschichten.8 Professor Oskar Frischenschlager, Psychotherapeut am Zentrum für Public Health der Medizinischen Universität Wien: »Was macht es nun interessant, die Geschichte der Psychoanalyse bzw. der Psychotherapie über Biographien kennenzulernen? Die Antwort ist leicht: Es liegt am Gegenstand der Forschung selbst. Psychologie beschäftigt sich mit dem Erleben, mit dem Verhalten, die Psychoanalyse darüber hinaus mit dem noch schwerer zugänglichen Unbewussten und der komplexen Geschichte des einzelnen, in eine Kultur hineingeborenen Menschen. Aber alles, was über psychische Funktionen mit wissenschaftlichem Anspruch gesagt wird, (be)trifft gleichzeitig jeden von uns unmittelbar.«9
Ein Psychologiehistoriker meinte in den 1970er Jahren, Adler klinge ganz zeitgenössisch in seinen Implikationen für das Wir.10 Das gilt fünfzig Jahre später mehr denn je. Die Individualpsychologie hat Wirkung bis heute. Und Ausstrahlung bis heute. Adlers heilende Theorien der Psyche sind virulent für zersplitternde Gesellschaften, in denen sich Separationsdebatten, Rückzugsmanöver, Einigelungsaktionen und Auflösungsprozesse vollziehen, in denen sich Neo-Puritanismus, Neo-Rassismus und alter Hass hochschaukeln. Adler hat mit als Erster verstanden und benannt, dass der Mensch infolge faktischer oder empfundener Unzulänglichkeit und eines Mangels an Selbstachtung die Tendenz entwickelt, durch Abwertung anderer sich selbst aufzuwerten. Bei einer Gruppe oder einer ganzen Klasse, die über längere Zeit hinweg als nicht gleichwertig oder explizit als minderwertig behandelt worden ist, würden sich diese Gefühle intensivieren und zu Kompensation führen, in Ausweichmanöver münden, um Selbstzweifel und Infragestellungen zu neutralisieren.
Die Erkenntnisse Adlers bilden die Nomenklatura eines Paradigmensprungs: als psychosomatische Medizin. Die Wertung von Krankheitssymptomen als Rebellion des Organismus im Sinne des, wie er es nannte, männlichen Protestes. Schwäche und Krankheit als Machtinstrumente. Kompensation von Organminderwertigkeit. Minderwertigkeitsgefühle. Die soziale Bezogenheit des Organismus. Die Einheit von Organismus und psychischem Überbau und Persönlichkeitszielen. Symptome als Organjargon. Die gesellschaftliche Struktur des menschlichen Lebens. Das Bewusstsein eines Zieles bei der Meisterung von Aufgaben. Falsche Kompensation durch Mangel an sozialer Orientierung. Neurose als Macht- und als Geltungsproblem. Sein eigener Arzt werden als Therapieziel, also die Demokratisierung des Arzt-Patient-Verhältnisses und die Aufwertung der Mitverantwortung des Patienten für die Genesung.11 Diese Punkte sind Leit- und Schlagworte der Individualpsychologie. Sie markieren deren Behandlungsmodi. Deren sichtbarster im therapeutischen Gespräch ist unsichtbar, die fehlende Couch. Sie ist abgeschafft. Patient und Behandler sitzen sich gegenüber, Auge in Auge. Es gibt kein Oben und kein Unten. Patient und Therapeut interagieren. Bewegungen wahrzunehmen ist wichtig.
Das Adlersche Credo lautet: die Menschen so anzunehmen, wie sie sind, und sie dort »abzuholen«, wo sie stehen. Oder während einer therapeutischen Stunde sitzen. »Der Individualpsychologe begreift die Selbstentfaltung des Individuums, oder deren Scheitern, als untrennbar verbunden mit dem sozialen Umfeld, von dem es her geprägt wird und auf das es aktiv antwortend zurückwirkt. Die Individualpsychologie ist geeignet, sowohl dem Heroenkult vorzubeugen als auch der hoffnungslosen Auffassung entgegenzuwirken, derzufolge das Individuum nichts anderes sei als das Ensemble der gesellschaftlich-historischen Wirklichkeit.«12
Nun ist nicht viel Originalmaterial von ihm erhalten geblieben, mehrere laufende Meter in Archivboxen in der Library of Congress in Washington, D. C., Unterlagen einer sehr guten Bekannten in London, Dokumente in Einrichtungen in Mitteleuropa. Er pflegte Korrespondenz nach deren Beantwortung wegzuwerfen.13 Da er aber unablässig neue Kontakte knüpfte und neue Freundschaften schloss, kommt eine Fülle an durch Erinnerungssphären schwirrenden Anekdoten dazu.14 Doch: »Wo die Anekdote um sich greift, ist die Wahrheit schwerlich noch zu finden.«15 Alfred Adlers Leben ist überzogen von Zuschreibungen, beeinflusst von subjektiven Augenzeugenberichten und teils falschen Berichten, verfärbt durch Erinnerungen von Kontrahenten und Widersachern. Eine nicht geringe Rolle dabei spielte die Presse, die Fehlerhaftes kolportierte. So schrieb die New York Times, als der Schweizer Psychologe C. G. Jung 1961 starb, dieser habe den Begriff »Minderwertigkeitskomplex« geprägt. Was falsch war. Schon die Londoner Tageszeitung The Times hatte 1939 Sigmund Freud in einem langen Nachruf als Vater des Minderwertigkeitskomplexes gewürdigt.16 Was ebenso falsch war. Denn es war Adler, der diesen Begriff aufbrachte.
Die Richtungen der Historiographie sind gewunden. Fast niemals bewegt sie sich unabgelenkt geradeaus, selten ohne Unwucht. Nicht wenige Zwischen-Ergebnisse steuern wenig bis gar nichts zu einer in sich organisch und sinnvoll abgeschlossenen Lebenseinheit bei.17 Robert Musil fand dafür ein Bild. »Der Weg der Geschichte«, schrieb er in Der Mann ohne Eigenschaften, »ist also nicht der eines Billardballs, sondern er ähnelt dem Weg der Wolken, ähnelt dem Weg eines durch die Gassen Streifenden, der hier von einem Schatten, dort von einer Menschengruppe oder einer seltsamen Verschneidung von Häuserfronten abgelenkt wird und schließlich an eine Stelle gerät, die er weder gekannt hat, noch erreichen wollte. Es liegt im Verlauf der Weltgeschichte ein gewisses Sich-Verlaufen. Die Gegenwart ist immer wie das letzte Haus einer Stadt, das irgendwie nicht mehr ganz zu den Stadthäusern gehört.«18
In genau solch einem Hause wuchs Alfred Adler auf.
»Kakanien war das erste Land im gegenwärtigen Entwicklungsabschnitt, dem Gott den Kredit, die Lebenslust, den Glauben an sich selbst und die Fähigkeit aller Kulturstaaten entzog, die nützliche Einbildung zu verbreiten, dass sie eine Aufgabe hätten.«
Robert Musil 1
Das Haus, in dem Alfred Adler am 7. Februar 1870 zur Welt kam, stand in Rudolfsheim, einer Vorstadt von Wien. Väterlicherseits entstammte die jüdische Familie dem Burgenland. Sein Vater Leb Nathan (Leopold) war 1835 geboren worden. Dessen Vater Simon war Kürschnermeister in der Marktgemeinde Kittsee im Burgenland vierzehn Kilometer südlich von Preßburg, heute Bratislava. Diese Marktgemeinde gehörte zu den sogenannten Siebengemeinden, hebräisch Schewa Kehilot, die von den Fürsten Esterházy seit dem Jahr 1670 auf ihrem Herrschaftsgebiet protegiert wurden. Seit 1712 waren Juden aus Mähren nach Kittsee gezogen. 1821 zählte die jüdische Gemeinde in Kittsee 789 Personen. Das Burgenland war multiethnisch. In erster Linie wurde Deutsch gesprochen, aber es lebten dort auch Ungarn, Kroaten, Sinti und Roma und an die 3000 Juden.
Über Simon Adler ist kaum mehr bekannt, als dass er Katherine Lampl ehelichte. Irgendwann in den 1850er Jahren mussten Leopold und sein vier Jahre älterer Bruder David nach Wien übersiedelt sein. Als David, der sich als Schneider in der Leopoldstadt niedergelassen hatte, 1862 heiratete, war der Vater schon nicht mehr am Leben.
1866 ging Leopold Adler die Ehe mit der um vierzehn Jahre jüngeren Pauline Beer ein. Sie kam aus Penzing, einer anderen Vorstadt von Wien. Das Haus in der Poststraße 22, heute Linzerstraße 20, in dem sie lebte, hatte ihre Familie 1861 gekauft. Paulines Eltern Hermann und Elizabeth, geborene Pinsker, die aus Mähren stammten und seit 1858 oder 1859 in Penzing ansässig waren, hatten sieben Kinder. Pauline war das dritte und die einzige Tochter. Hermann Beer handelte mit Hafer, Weizen und Kleie und hatte die angesichts der Zahl von sechs Söhnen naheliegend benannte Firma »Hermann Beer und Söhne« aufgebaut. Er starb im Februar 1881, ein knappes Jahr später Paulines Mutter. Da stand Salomon, der Viertgeborene, der Firma vor.2 Es war eine große, weitverzweigte Familie. Arbeit im Handel war traditionell jüdisch.3
Leopold und Pauline Adler bekamen sieben Kinder. Sigmund (11. August 1868–25. Februar 1957) war der Erstgeborene, wohl der erste Lebendgeborene.4 Er reüssierte als Immobilienhändler. Alfred war der Zweitgeborene. Mit Hermine bekam Pauline Adler 1872 ihre erste Tochter. Das vierte Kind, Rudolf, Jahrgang 1873, starb früh. Im November 1874 folgte eine zweite Tochter, Irma. Sie heiratete später einen Drucker. Den vierten Sohn Max brachte Pauline Adler 1877 zur Welt. Er sollte der Einzige werden, in dessen Leben Religion eine Rolle spielte. Er konvertierte zum Katholizismus, studierte, wurde 1904 promoviert und war viele Jahrzehnte im Vatikanstaat Redakteur einer italienischsprachigen Kirchenzeitung. Schließlich kam 1884 Richard zur Welt. Er trat wie sein Bruder Max später zum Katholizismus über und wurde Klavierlehrer. Zu Anfang lebten Pauline und Leopold Adler in Penzing und in Rudolfsheim, Vorstädten, einst vor den Bastionen der Stadt gelegen.
Es klang unspektakulär. Und war doch ein großer Schritt gewesen, eine Entscheidung mit Folgen. Um das Jahr 1782 hatte Kaiser Joseph II. die Bastionen der Stadt Wien für die Bevölkerung freigegeben. Auch die kaiserlichen Gärten – Augarten, Prater und Schönbrunn – waren den Gemeinen bald zugänglich. Dienten die Parks Rekreation, Muße und einem gesitteten Miteinander, so war die De-Bastionierung hoch an der Zeit. Wiens »Innere Stadt«, der Erste Bezirk, platzte aus den Nähten. Es herrschte bittere Wohnungsnot zuzüglich damit einhergehender Malaisen: Krankheiten, Verwahrlosung, Unzufriedenheit und Hoffnungslosigkeit. Die alten Glacis wurden beseitigt und verbaut. Man legte Alleen an, Gärten und eine schöne Meile zum Zwecke des Lustwandelns, zu gesundheitlicher Prophylaxe und sozialer Kalmierung.5
Fünfundsiebzig Jahre später, vier Tage vor Heiligabend 1857, unterzeichnete Kaiser Franz Joseph I. ein Handbillet. Seine Paraphe gab den Anstoß, das Gesicht Wiens grundlegend zu verändern. Es wurde dekretiert, die letzten noch bestehenden Basteien zu schleifen und den Festungsgraben aufzufüllen – die Uridee der Wiener Ringstraße.
Im März 1858 setzte der Abriss ein. Am 1. September des Folgejahres segnete der Kaiser den Stadterweiterungsplan ab. Es verschwanden bis zum September 1863 Rotenturm-, Stuben-, Karolinen- und Kärntnertor, die Gonzagabastei und das Fischertor, die Elend-, die Schotten-, die Mölker- und die Stubenbastei sowie Schotten- und Franzenstor.6 Währenddessen wurde 1861, nach elf Jahren, wieder der Wiener Gemeinderat gewählt. Gewählt wurde weiterhin nach dem Kuriensystem, in drei Wahlkörpern. Über das Stimmrecht im ersten und im dritten Wahlkörper entschied die Steuerleistung. Wer mehr als 300 Gulden Grundsteuer oder 100 Gulden Erwerbsteuer jährlich abführte, kam in die erste Kurie. Mit weniger als 100, mindestens aber 10 Gulden Erwerbsteuer war man ein drittklassiger Wähler. Im zweiten Wahlkörper versammelt waren Beamte, Ärzte, Lehrer, Offiziere und Pfarrer. 1861 waren infolge des Kuriensystems von einer halben Million Einwohner lediglich 18 322 wahlberechtigt. Der Advokat Dr. Julius Ritter von Newald stellte sich im Bezirk Alsergrund zur Wahl. Dort lebten 60 000 Menschen. Von diesen waren 44 wahlberechtigt. Newald errang einen überwältigenden Sieg – er vereinte 34 Stimmen auf sich. 1861 wurden auch drei jüdische Kandidaten ins Rathaus gewählt.7
Was jüdische Österreicher anging, war das Regime ambivalent. Das jüdische Großkapital, Bankiers und Fabrikanten, war die Stütze des Wirtschaftsliberalismus. Um diese Großbürger von antiquierten wirtschaftlichen Einschränkungen zu befreien, hatte der Handelsminister eine neue Gewerbeordnung in Arbeit. Politisch aber waren sie, die als künftige private Ringstraßenbauherren in Frage kamen, als Liberale in Verruf.8 Zwischen 1859 und 1861 fielen im Zuge überfälliger volkswirtschaftlicher Kurskorrekturen einige Beschränkungen. Mit dem Staatsgrundgesetz wurde 1867 allen Staatsbürgern volle und umfassende Glaubens- und Gewissensfreiheit im Rahmen der bürgerlichen Rechte garantiert. Dies brachte einen deutlichen Zuwanderungsschub von Juden. 1810 waren in Wien 113 tolerierte Judenfamilien gezählt worden. Als das Revolutionsjahr 1848 auch dem Toleranzpatent ein Ende gemacht hatte, hielt die Zahl bei 197. Bei der Volkszählung 1857 wurden in der Reichshaupt- und Residenzstadt 6217 Juden registriert, 1,3 Prozent der Stadtbevölkerung. Trotz der wissenschaftlichen Erhebungsmethode täuschte diese Zahl. Erfasst wurden nur die »Zuständigen«. Erst die Volkszählung 1869 registrierte neben den Zuständigen auch anderswo Heimatberechtigte. Da ergab sich dann unter 607 514 Wienern die Zahl von 40 230 Juden, von denen nur 7867 das Heimatrecht in der Stadt besaßen. 20 Prozent der in Wien ansässigen Juden waren aus Mähren gekommen, 14 Prozent aus Böhmen, 11,5 Prozent aus Galizien und der Bukowina.9 Und eben Alfred Adlers Vater Leopold aus dem Burgenland, das zu Ungarn gehörte. »›Fremd‹ sein in Wien war keine jüdische Besonderheit. Von den mehr als 600 000 Bewohnern der Metropole stammten 165 000 aus anderen Kronländern; mehr als ein Viertel der damaligen ›Wiener‹ waren es also gar nicht.«10
Im Verlauf der Baumaßnahme »Ringstraße« verschwanden 125 Basteihäuser. Währenddessen wurde der Festungsgraben aufgefüllt, das Areal planiert, die Trassierung vorangetrieben. Es entstanden neue, großbürgerliche Stadthäuser. Der Reichsgedanke sollte hier architektonisch manifest, die alles überragende Bedeutung der Hauptstadt durch Prunk und Ornamentik unübersehbar werden.11 Am 1. Mai 1865 wurde die Ringstraße mit einer großen Feier vom Kaiser eröffnet – wenn auch etwas missvergnüglich ins Auge stach, dass entlang des Boulevards erst 64 Häuser fertiggestellt waren, die Hälfte der avisierten Zahl. Die Ringstraße war aber bereits Promenier- und Renommiermeile. Von 1863 bis 1865 hatten sich Philipp Herzog von Württemberg und seine Frau, die Erzherzogin Maria Theresia, an dieser Straße ein prachtvolles Palais erbauen lassen. Anlässlich der in Wien 1873 ausgerichteten Weltausstellung wurde dieser imperiale Stadtpalazzo veräußert, zu einem Hotel der obersten Kategorie umgebaut und als Hotel Imperial eröffnet.12 Da befand sich Österreich schon in einem längeren Krisenmodus.
1851 hatte Kaiser Franz Joseph I. die Verfassung von 1849 außer Kraft gesetzt. Ein Programm der Reformen und der Zentralisierung wurde eingeleitet, gestützt auf Bürokratie und Militär. Sonderrechte der Zünfte am kommunalen Gewerbetreiben wurden beseitigt, freie Berufswahl und Freizügigkeit ausdrücklich bestätigt und Gleichheit in einem vereinheitlichten Rechtssystem garantiert. Man baute die Bildungspolitik aus, man förderte den Handel durch das Vorantreiben eines Eisenbahnnetzes. Durch ein neues Konkordat mit dem Vatikan wurde die Bedeutung der katholischen Kirche gestärkt. Zugleich bedeuteten die militärischen Engagements, die teure Mobilisierung für den Krim-Krieg und der Krieg gegen Sardinien-Piemont und Frankreich, in dessen Verlauf die Lombardei verloren ging, eine Überstrapazierung der öffentlichen Finanzen bis an den Rand des Kollapses und einen herben Reputationsverlust für den Regenten. Franz Joseph war als Oberbefehlshaber rechtzeitig an die Tête seiner Armee getreten, um für die Niederlage bei Solferino persönlich verantwortlich gemacht zu werden.
Während der Stadtumbau vonstattenging, war das Habsburgerreich infrastrukturell ambitioniert, außenpolitisch aber gescheitert. Kreditgeber weigerten sich, Darlehen ohne budgetäre Kontrolle und ohne Systemmodifikationen zu geben. Der Gründer des Credit-Bankvereins Anselm Salomon Rothschild lakonisch angeblich dem Kaiser gegenüber: »Keine Verfassung, kein Geld.«13
1867 leiteten der Krieg gegen Preußen – nach der Schlacht von Königgrätz 1866 musste Venetien an Frankreich abgetreten werden, das es an die junge Republik Italien zurückgab – und Finanzkrisen eine konstitutionelle Änderung ein und Maßnahmen, die auf reichsinternen Ausgleich abzielten. Ungarn wurde eine gewisse Unabhängigkeit zugestanden, ein eigenes Kabinett, ein eigener Landtag. Aus Österreich wurde die Doppelmonarchie Österreich-Ungarn.14 Nationalpolitische Programme dieser Zeit bezogen sich teils auf Konzepte, die von 1848 stammten und in denen Föderalismus propagiert wurde einschließlich spezifischer Untereinheiten, womit die historischen Kronländer Ungarn, Böhmen und Galizien gemeint waren, in denen Konservative mit Nationalisten konkurrierten.15
Veränderungen in den Sektoren Transport und Kommunikation, Regionalentwicklung und Selbstbestimmung waren das eine, aus Furcht vor sozialen Unruhen in einem wirtschaftlich rezessiven Jahrzehnt antiliberale soziale Maßnahmen und stärkere polizeiliche Überwachung das andere. Seit 1870 waren in Wien 53 neue Banken gegründet worden, 1872 gab es 530 neue Aktiengesellschaften. Deren gesamtes Gründungskapital: eine Milliarde Gulden. Ihr Papierwert: drei Milliarden Gulden. Die Baukonjunktur heizte die Hausse an. Gab es 1871 in Wien und Niederösterreich drei große Baugesellschaften, so waren es 1873 44. »Alle Leute spielen auf der Börse, vom Erzherzog bis zum Stiefelputzer«, notierte General Graf Crenneville, vormals Chef der kaiserlichen Militärkanzlei. 1867 hatten 867 Börsenbesucher Dauerkarten besessen, sechs Jahre später waren es 2352. Täglich wurden bis zu 50 000 Abschlüsse getätigt.16 Am 9. Mai 1873 brach die Wiener Börse ein. Der Durchschnittskurs der Papiere sackte von 339 Punkten auf 196 Punkte ab. Der Kurstiefststand wurde 1876 erreicht, 105 Punkte. Der Gesamtverlust an Aktienwerten belief sich auf 1,5 Milliarden Gulden. 48 Banken, acht Versicherungsgesellschaften, sechzig Industriebetriebe gingen Konkurs. Der börsenspielsüchtige Erzherzog Ludwig Viktor verlor 200 000 Gulden. Die Selbstmordrate stieg sprunghaft an. Hunderte gingen in die Donau, prominentester Suizidant war Feldmarschall Freiherr von Gablenz, der Schwiegersohn des Bankiers Eskeles.17
Der Börsenkrach wurde antijüdisch verzeichnet. Der antisemitische Satiriker Franz Friedrich Masaidek warf das Traktat Wien und die Wiener aus der Spottvogelperspektive auf den Markt. Die Ringstraße tauchte darin als »Schwindelring mit seinen zahllosen Banken, Börsenkomptoirs und ähnlichen Geldschnapp-Geschäften« auf.18 Maisadek gründete mit Georg Ritter von Schönerer den antijüdischen Deutsch-Nationalen Verband. Schönerer war einer der rabiatesten Verfechter völkisch-rassistischer Theoreme. Er forderte auch die Abschaffung des christlichen Kalenders und eine neue Zeitrechnung, deren Nullpunkt das Jahr 113 v. Chr. sein sollte, als in der Schlacht von Noreia die Römer von den Kimbern und Teutonen geschlagen wurden.19
1924 sollte ein Gelehrter fünfzig Jahre zurückschauen, noch immer fühlte er stolze Vereinsamung und herbe Zurückweisung. »Die Universität, die ich 1873 bezog«, schrieb Sigmund Freud, »brachte mir zunächst einige fühlbare Enttäuschungen. Vor allem traf mich die Zumutung, dass ich mich als minderwertig und nicht volkszugehörig fühlen sollte, weil ich Jude war. Das erstere lehnte ich mit aller Entschiedenheit ab. Ich habe nie begriffen, warum ich mich meiner Abkunft, oder wie man zu sagen begann: Rasse, schämen sollte. Auf die mir verweigerte Volksgemeinschaft verzichtete ich ohne viel Bedauern.«20
1873 war auch das Jahr der Weltausstellung im Prater, die am 1. Mai eröffnete. Statt kalkulierter zwanzig Millionen Besucher zählte man lediglich sieben Millionen, ein Rekorddefizit. Das auch mit dem Ausbruch der Cholera in Wien rund acht Tage nach Eröffnung zusammenhing.21 Diese Krankheit war damals immerwährendes Hygieneproblem in den Großstädten Europas.
In der politischen Arena vertieften sich in den Rezessionsjahren nach dem Börsenkrach die Antagonismen zwischen Liberalen und Adel, Zentristen und Nationalisten. »Was Österreich-Ungarn und vor allem den österreichischen Teil der Doppelmonarchie so einzigartig machte, waren nicht so sehr die ethnische Vielfalt und Heterogenität der Bevölkerung, sondern die Verwaltungsstrukturen, die man entwickelte, um Probleme zu lösen, die sich aus der sprachlichen und religiösen Unterschiedlichkeit der Bürger ergaben.«22 Dazu kam die multikulturelle, die im »Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger« verankerte multilinguale und die religiöse Vielfalt des Reiches. Im Staatsgrundgesetz vom 21. Dezember 1867 garantierte Artikel 2 die Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz, Artikel 4 die unbeschränkte Freizügigkeit der Person und des Vermögens innerhalb des Staatsgebiets. Das ergänzte Artikel 6 noch. Hier wurde nochmals die freie Wohnsitzwahl erwähnt und auch, dass »Liegenschaften jeder Art« erworben werden durften und jeder »Erwerbszweig« ausgeübt werden durfte.23 Den Juden brachte dies Freiheit, Gleichstellung, Gleichberechtigung.24 1872 wurde der jüdische Nahrungsmittel- und Getränkeindustrielle Adolf Ignaz Mautner aus Smiritz in Böhmen, der in Wien das erste untergärige Bier herstellte, zum Ritter von Markhof geadelt; und der aus Malchin bei Schwerin in Norddeutschland zugewanderte jüdische Mechaniker Siegfried Marcus baute 1870 in der Mondscheingasse in Wien-Neubau den ersten, primitiven Kraftwagen mit Benzinmotor und meldete später 38 Patente an.25
1879 schmiedete Graf Taaffe, Jugendfreund des Kaisers, den »Eisernen Ring«, eine Koalition aus Katholisch-Konservativen, Tschechen, Polen und Slowenen. Das Bündnis hielt bis 1893. Diese reaktionäre Allianz zog starke Kritik auf sich. »Zum Grafen Taaffe gehen wir nicht!«, so der Sprecher der Israelitischen Kultusgemeinde Josef Ritter von Wertheimer.
Ab etwa 1880 verharrten viele Einwohner des Habsburgerreiches nicht mehr in der Beobachterposition, sie engagierten sich.26 Sie ließen sich mental und politisch infizieren vom immer dynamischeren Wandel und dem Entwicklungssprung der Infrastruktur. Die Mobilität nahm zu, dank der Eisenbahn, und dadurch auch die Abwanderung in die Städte. 1881 brachen in Russland nach der Ermordung des Zaren Alexanders II. Pogrome aus. Eine Flüchtlingswelle wurde losgetreten, von Galizien in die Bukowina, von dort nach Wien. In der Leopoldstadt nahm der Anteil orthodoxer Juden zu. Aus Odessa stammte der Arzt Leon Pinsker. Doch die Orthodoxie lehnte der Mediziner zugunsten der Haskala, der jüdischen Aufklärung, ab. 1882 veröffentlichte Pinsker in Berlin Autoemancipation! Ein Mahnruf an seine Stammesgenossen von einem russischen Juden, ein erster proto-zionistischer Aufruf, Alija zu machen, nach Palästina auszuwandern. In Wien stießen er und die Auswanderungsbewegung »Chibbat Zion« auf Widerstand. Wiens Juden sahen nicht ein, das von ihnen Erreichte aufzulassen.
Zeitgleich begann sich der Antisemitismus politisch zu organisieren und schlagkräftig zu werden. Am 11. Februar 1882 gründete sich der Antisemitische Österreichische Reformverein. »Hinaus mit den Juden!«, lautete das Motto der Rotte aus Kleingewerbetreibenden, Handwerkern und Akademikern. Die ihnen nahestehende Zeitung Volksfreund gab das Kommando »Kauft nur bei Christen!« aus.27
Wien erlebte einen Bevölkerungszuwachs von rund 60 Prozent zwischen 1890 und 1910, so wie auch Budapest, Prag, Czernowitz und Lemberg, Innsbruck und Klausenburg, das spätere Cluj, oder Agram alias Zagreb. Nachdem in Ungarn 1889 die Eisenbahngesellschaften nationalisiert worden waren, schoss die Zahl der Reisenden innerhalb weniger Jahre in die Höhe, von fast null – bis dahin war die Eisenbahn nur für den Gütertransport genutzt worden – auf sieben Millionen Passagiere pro Jahr.28 Die Mobilität hob auch Grenzen auf. An die vier Millionen Österreicher wurden zwischen 1876 und 1910 zu Arbeitsmigranten, manche nur für ein halbes oder ein Dreivierteljahr, andere kehrten erst nach Jahren wieder zurück.29
Im Lauf der 1880-er und der 1890er Jahre begann sich simultan zur Bildung patriotischer Veteranenvereine in allen Lagern der Nationalismus zu regen.30 Als im April 1897 Graf von Baden, der Ministerpräsident des österreichischen Teils des Habsburgerreiches, eine Sprachenverordnung für Böhmen verabschiedete, derzufolge Tschechisch dem Deutschen im Amtsgebrauch gleichgestellt werden solle und alle deutschen Beamten sich bis zum Jahr 1901 perfekte Kenntnisse in Wort und Schrift anzueignen hätten, liefen Nationalisten Sturm. Im Parlament kam es zu Handgreiflichkeiten. Die protestierenden Massen vor dem Parlament konnten Polizisten nur mit Hilfe von Husaren zerstreuen.31 Fast ein Jahr lang wurde gegen die Verordnung demonstriert. Die Presse fachte die Konflikte an. Die Parteien verfielen in einen Kampfmodus. Diese Turbulenzen zeigten die Instabilität im Reich an. Bis 1914 wurde an regionalen Kompromisslösungen gearbeitet. Dem Nationalismus sollte so die Spitze genommen werden.32
Bis 1914 war Wien eine Stadt, die tatkräftig umgebaut, in der umfassend neu projektiert wurde – kein Wunder, wuchs doch die Einwohnerzahl binnen 45 Jahren, zwischen 1869 und 1914, um das Zweieinhalbfache auf etwas mehr als zwei Millionen.33 Dies verschlang gewaltige Summen, von 1858 bis 1914 100 Millionen Gulden. Es entstanden die bis heute das Weichbild beherrschenden Hochbauten, Museen, Theater, öffentliche Einrichtungen und Institutionen der Kunst und der höheren Bildung: die Hofoper, das Burgtheater, das Naturhistorische und das Kunsthistorische Museum, das Neue Rathaus, die Akademie der Schönen Künste, der Justizpalast, der Parlamentsbau, die Votivkirche und die Universität. Dazu kamen Markthallen, Brücken, Parks, Fontänen und Denkmäler.34
Früh schon wurden Einwände vorgebracht. So hatte die Wiener Vorstadtzeitung bereits 1858 auf eine Schieflage aufmerksam gemacht. »Die projektierte Stadterweiterung wird uns eine große Menge palastartiger Häuser schaffen, die eben nur für den wohlhabenden Geschäftsmann, hohen Beamten und Rentier bewohnbar sind. Was aber geschieht für das mittlere Wien, für die große Zahl von kleinen Leuten, als da sind: die Unzahl von Privatbeamten und Arbeitern aller Kategorien, den kleinen Gewerbsmann und Beamten nicht zu vergessen? Wahrscheinlich nicht viel.«35 Wien zählte damals, Ende der 1850er Jahre, knapp eine halbe Million Einwohner, Paris rund 1,3 Millionen und London drei Millionen. Statistisch lebten in der Hauptstadt Britanniens zehn Personen in einem Haus, in Wien dagegen drängten sich 55 in einem Gebäude.36 Tatsächlich war es zehn Jahre später so, dass eine Wiener Arbeiterfamilie eine Wohnung mit einer Größe von durchschnittlich 35 Quadratmetern bewohnte. Bürgerliche Familien lebten in der Regel auf 120 Quadratmetern. Das Großbürgertum residierte. Ein Stadtpalast an der Ringstraße konnte durchaus auf 600 Quadratmeter kommen. Unter den für Repräsentations-, Veranstaltungs- und Empfangszwecke genutzten Räumlichkeiten waren mitunter ein Musikzimmer und ein Wintergarten, hie und da sogar ein eigener Saal für Bälle und Redouten.37
Mit der Bebauung der Ringstraße aufs Engste verbunden war der Gedanke der Repräsentation und der Nobilitierung.38 Rasch verbreitete sich die Kunde von diesem Boulevard des Glanzes bis in die französische Hauptstadt, deren Bewohner gerade erlebten, wie große, gerade Boulevards durch die alte Stadt geschlagen wurden und Altes, Krummes verschwand. 1878 schwärmte Victor Tissot: »Le Ring est le Quartier élégant de la capitale. Hier findet man die Juweliere, die renommierten Kunstgewerbetreibenden. Die schönste Zeit für den Ring ist zwischen drei und fünf Uhr, besonders an Sonntagen zu Ende des Herbstes und zu Beginn des Frühjahrs. Man führt die neuen Toiletten vor, man trifft sich hier wie in einem ungeheuren Salon.« Er unterließ nicht, dies durch eine Mokanterie zu ergänzen: »In Paris gibt es nichts Vergleichbares, denn die Ringstraße ist ein Ort, an dem die ganze Welt zusammenkommt – die große Welt, die Halbwelt, die Viertelwelt, ja sogar die Welt der Diplomaten und des Hofes.«39 Der Kunstkritiker Ludwig Hevesi fasste, was man auf der Ringstraße sehen konnte, zoologisch: »Ganze Prozessionen von zweibeinigen Bibern und Zobeln drücken sich aneinander vorbei.« Und Adolf Loos, ein Wegbereiter der modernen Architektur, spöttelte: »Wenn ich den Ring entlangschlendere, so ist es mir immer, als hätte ein moderner Potemkin die Aufgabe erfüllen wollen, jemandem den Glauben beizubringen, als würde er in eine Stadt von lauter Nobili versetzt.«40
Am 27. April 1879, einem Sonntag, erreichte der Potemkinismus seinen historistischen Höhepunkt. Der Festzug zur fünfundzwanzigjährigen Vermählungsfeier des Allerhöchsten Kaiserpaares, veranstaltet von der Haupt- und Residenzstadt Wien, so der offizielle Titel, zog sich, vom Prater kommend, lang über die Ringstraße. Der Maler Hans von Makart inszenierte diese Dankeskarawane zur Silbernen Hochzeit von Franz Joseph und Elisabeth. Der Salzburger war damals Wiens gefragtester und berühmtester Künstler und erschuf ein opulentes Neo-Barock mit elektrischen Leitungen. Ab neun Uhr morgens setzten sich 14 000 Personen, im historischen Teil 3000 Teilnehmer, und dreißig Festwagen in Bewegung. Hundertzwanzig Tribünen mit 50 000 nummerierten Sitzplätzen am Ring und entlang der Praterstraße waren aufgebaut worden. Rund 300 000 Zuschauer bestaunten das Spektakel, an dem der Malerfürst mit großem Federhut selbst teilnahm, hoch zu Ross, wobei er ob seiner unterdurchschnittlichen Körpergröße einen wenig imposanten Eindruck machte.
Fünf Jahre später war Makart tot. Die junge Generation entsorgte »das verlogene Makartbukett, das mit viel Anmaßung und wenig Erfolg Blumenstrauß spielt«, im Orkus des Vergessens.41 Der Schriftsteller und Kritiker Hermann Bahr bespöttelte diese Festivität wenige Jahre später als »Kostümball in der Luft« und »Atelierscherz von unsterblicher Improvisation«.42 Bahr diagnostizierte einen Übergang der Gesellschaft: »Mit der Ringstraße war der Spielplatz einer neuen Gesellschaft improvisiert. Es galt nun über Nacht auch diese selbst herzustellen; der Ringstraße war rasch noch erst das dazu passende Wien zu liefern.«43
Inzwischen war Österreich-Ungarn eine mittelsüdosteuropäische Kolonialmacht geworden, wenn auch unter dem Deckmäntelchen eines Mandats. Nach dem russisch-türkischen Krieg von 1877/78 und dem Berliner Kongress wurde das geschwächte Osmanische Reich vor dem Zusammenbruch bewahrt. Die bis dahin osmanischen Provinzen Bosnien und Herzegowina und der Sandschak Novi Pazar wurden okkupiert. Serbien war nun Österreichs unmittelbarer Grenznachbar.44 Auf dem »unzivilisierten« Balkan »zivilisatorisch« zu wirken, so erklärte 1895 Benjámin von Kállay, zuvor Gouverneur von Bosnien-Herzegowina, nun Finanzminister, einem britischen Journalisten die dem Habsburgerreich auferlegte Mission. Sie bestünde in einer Balance, dem Bewahren alter Traditionen mit deren Aufladung durch moderne Ideen.45
In diesem Jahr wurde Karl Lueger zum Bürgermeister von Wien gewählt. Da hatte der Anwalt mit Doktorgrad, der kleinbürgerlichsten Verhältnissen entstammte, zwei Jahrzehnte in der Kommunalpolitik hinter sich und einen gewundenen Weg zwischen Überzeugung und Opportunität. Lueger, Leitfigur der christsozialen Partei, war ein Demagoge reinsten Wassers, der Konflikte anzufachen liebte. Dies machte ihn bei den kleinen Leuten populär. Zudem fühlten sie sich von ihm verstanden, sprach er doch eine im damaligen öffentlichen Leben ganz ungewöhnliche Sprache: »wienerisch, bürgerlich, gutmütig und derb, sogar hausbesorgerisch«.46
Die Zunahme jüdischer Zuwanderung nach Wien korrespondierte mit dem Verfall des politischen Liberalismus. Zu einem Teil mag dies als Erklärungsmuster herbeigezogen werden, weshalb der Antijudaismus immer lauter wurde und teils tollwütig. Die christlichsoziale Partei besaß einen antisemitischen Flügel, der als wahlopportun geduldet wurde. Für die Mehrzahl der Christsozialen lag die Ausprägung von Antijudaismus im eigenen Ermessen.47 Lueger, der »schöne Karl«, Sohn eines Trafikanten und promovierter Jurist, »der Heros der Vorstadtwirtshäuser«,48 hatte seit 1887 Judenhass als politische Strategie eingesetzt, um Wähler aus dem konservativen und klerikalen Segment für sich zu gewinnen. Aufsehenerregend war 1890 seine Rede zum Israelitengesetz, eine Aneinanderreihung von Bosheiten, Beschuldigungen und Lügen.49 Lueger wusste antisemitische Töne nach Gusto einzusetzen.50 Einschlägig wurde sein Ausspruch: »Wer ein Jud’ ist, bestimme ich.« Dieser geschmeidige Fall-für-Fall-Opportunismus war bei hartleibigsten Judengegnern zu finden, bei einem Wiener Pfarrer etwa, der flammend wider die »Christusmörder« predigte und sich vor Gericht mehrfach vom konvertierten Anwalt Dr. Max Löw vertreten ließ.51 »Wien war nicht nur deutsch, sondern auch antijüdisch.«52 Dies in den ersten Häusern wie in den letzten.