Hochverrat
Based on
Star Trek
created by Gene Roddenberry
Ins Deutsche übertragen von
Helga Parmiter und Claudia Kern
Die deutsche Ausgabe von STAR TREK – NEW FRONTIER: HOCHVERRAT wird herausgegeben von Amigo Grafik, Teinacher Straße 72, 71634 Ludwigsburg.
Herausgeber: Andreas Mergenthaler und Hardy Hellstern, Übersetzung: Helga Parmiter und Claudia Kern; verantwortlicher Redakteur und Lektorat: Markus Rohde; Lektorat: Katrin Aust; Satz: Rowan Rüster/Amigo Grafik; Cover Artwork: Martin Frei; Print-Ausgabe gedruckt von CPI Moravia Books s.r.o., CZ-69123 Pohorelice. Printed in the Czech Republic.
Titel der Originalausgabe: STAR TREK – NEW FRONTIER: TREASON
German translation copyright © 2018 by Amigo Grafik GbR.
Original English language edition copyright © 2006 by CBS Studios Inc. All rights reserved.
™ & © 2018 CBS Studios Inc. STAR TREK and related marks and logos are trademarks of CBS Studios Inc. All Rights Reserved.
This book is published by arrangement with Pocket Books, a Division of Simon & Schuster, Inc., pursuant to an exclusive license from CBS Studios Inc.
Print ISBN 978-3-95981-535-2 (Mai 2018) · E-Book ISBN 978-3-95981-536-9 (Mai 2018)
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RAUMSCHIFF EXCALIBUR
KAPITEL I
KAPITEL II
KAPITEL III
KAPITEL IV
KAPITEL V
NEU THALLON
KAPITEL I
KAPITEL II
KAPITEL III
RAUMSCHIFF EXCALIBUR
KAPITEL I
KAPITEL II
KAPITEL III
NEU THALLON
DIE LYLA
KAPITEL I
KAPITEL II
RAUMSCHIFF EXCALIBUR
STERNENFLOTTEN-HAUPTQUARTIER
RAUMSCHIFF EXCALIBUR
DIE SPECTRE
DIE LYLA
KAPITEL I
KAPITEL II
RAUMSTATION BRAVO
DIE LYLA
RAUMSTATION BRAVO
KAPITEL I
KAPITEL II
KAPITEL III
KAPITEL IV
KAPITEL V
KAPITEL VI
KAPITEL VII
KAPITEL VIII
KAPITEL IX
KAPITEL X
KAPITEL XI
RAUMSCHIFF EXCALIBUR
KAPITEL I
KAPITEL II
KAPITEL III
KAPITEL IV
DIE SPECTRE
KAPITEL I
KAPITEL II
RAUMSCHIFF EXCALIBUR
DIE SPECTRE
KAPITEL I
KAPITEL II
RAUMSCHIFF EXCALIBUR
DIE SPECTRE
RAUMSCHIFF TRIDENT
KAPITEL I
KAPITEL II
KAPITEL III
RAUMSCHIFF EXCALIBUR
KAPITEL I
KAPITEL II
KAPITEL III
KAPITEL IV
KAPITEL V
?
DIE TRIDENT
?
RAUMSCHIFF TRIDENT
KAPITEL I
KAPITEL II
KAPITEL III
AF1963
RAUMSCHIFF EXCALIBUR
KAPITEL I
KAPITEL II
KAPITEL III
KAPITEL IV
KAPITEL V
KAPITEL VI
AF1963
RAUMSCHIFF EXCALIBUR
AF1963
KAPITEL I
KAPITEL II
KAPITEL III
RAUMSCHIFF EXCALIBUR
KAPITEL I
KAPITEL II
KAPITEL III
HAUPTQUARTIER DER STERNENFLOTTE
Die Schwärze winkt ihm/ihr zu. Sie ist kalt und einladend und er/sie ist versucht, seine/ihre Last abzulegen, wie sein/ihr heimischer Religionsführer immer sagte. Und doch ist er/sie unschlüssig, denn er/sie kann die Überzeugung nicht abschütteln, dass es noch etwas für ihn/sie zu tun gibt. Er/Sie kann sich nur nicht daran erinnern, was das war oder ist.
Er/Sie versucht, sich an der Schiffskonsole hochzuziehen, aber sein/ihr Körper weigert sich, die Befehle seines/ihres Gehirns entgegenzunehmen. Das ist eine Entwicklung, die er/sie nicht so einfach hinnehmen will, und so schreit er/sie weiter. Dann brüllt er/sie in seinem/ihrem Kopf seinen/ihren schmerzerfüllten Körper an, er solle etwas Sinnvolles tun, statt nur herumzuliegen. Sein/Ihr Körper ignoriert ihn/sie.
Er/Sie hätte nicht für möglich gehalten, dass jede Zelle schmerzen kann, aber das scheint der Fall zu sein. Er/Sie versucht, es als reinigenden Schmerz anzusehen, der alle seine/ihre weltlichen Sünden auslöschen wird – und davon gibt es einige –, um ihn/sie auf die nächste Existenzebene vorzubereiten.
Und dennoch weigert er/sie sich, anzuerkennen, dass es vielleicht an der Zeit ist, hinüberzugleiten. »Zu viel zu tun«, sagt er/sie und ist überrascht, wie erstickt seine/ihre Stimme klingt.
Er/Sie sieht zu dem Bildschirm hoch und sieht gerade noch, dass etwas Gigantisches darauf erscheint. Er/Sie glaubt, es könnte ein Schiff sein, und findet den Zeitpunkt höchst interessant. Er/Sie kann es nicht erwarten, denen an Bord seine/ihre Meinung über ihr Timing mitzuteilen – doch dann überwältigt ihn/sie die Schwärze, die sich nicht geschlagen gibt. »Nicht fair!«, ruft er/sie im Geiste aus. »Ich habe an etwas anderes gedacht.«Doch die Schwärze ignoriert den Protest und zerrt ihn/sie in ihre Tiefe.
»Burgoyne hat bei mir Annäherungsversuche gemacht.«
Diese Mitteilung erwischte Mackenzie Calhoun, Captain des Raumschiffs Excalibur, auf dem falschen Fuß. Er saß in seinem Bereitschaftsraum, legte die antike xenexianische Streitaxt, die er vor Kurzem gekauft hatte, beiseite und sah mit fragendem Gesichtsausdruck zu Tania Tobias hoch. Die Pilotin stand an der Tür, trat verlegen von einem Fuß auf den anderen und spielte mit ihren Haarspitzen.
»Hat er/sie das?«
Tobias nickte.
»Ich entschuldige mich«, sagte er, »falls sein/ihr Verhalten Ihnen Unbehagen bereitet hat, Lieutenant, und ich versichere Ihnen …«
»Ich fühle mich dadurch nicht vor den Kopf gestoßen, Captain.«
»Oh.« Calhoun war stolz auf seine Fähigkeit, schnell und bestimmt auf jede Situation zu reagieren. Diese geistige Beweglichkeit hatte ihn und seine Mannschaft heil durch viele gefährliche Situationen gebracht. Dennoch empfand er manchmal eine gewisse Orientierungslosigkeit, wenn er sich mit den Mitgliedern seiner vielschichtigen Mannschaft unterhielt – und das hier war eine dieser Situationen. »Also ist das etwas, über das ich mir keine Sorgen machen muss?«
»Doch, ich denke, das sollten Sie.«
Er lehnte sich in seinem Sessel zurück und widerstand der Versuchung, seine Hände als Geste der Kapitulation hochzureißen.
Seine Verwirrung schien für Tobias offensichtlich zu sein, denn sie sagte entschuldigend: »Es tut mir leid, wenn Sie mir nicht folgen können, Captain.«
»Ich würde nicht sagen, dass ich Ihnen nicht folgen kann, Lieutenant«, sagte er, ohne jedoch laut hinzuzufügen: Ich war von Anfang an nicht bei Ihnen. »Mir ist nur nicht ganz klar, wie genau Ihre Beschwerde lautet. Betrachten Sie das als eine disziplinarische Angelegenheit?«
»Ich betrachte es als einen Grund, besorgt zu sein.«
»Warum? Burgy war schon immer ein wenig zügellos. Zugegeben, er/sie hat das eingeschränkt, als er/sie eine Beziehung mit Doktor Selar einging, aber sie waren nie wirklich verheiratet und die Beziehung scheint den Bach runtergegangen zu sein. Also wüsste ich nicht, wo moralische Bedenken ins Spiel kommen sollten.«
»Es ist nichts dergleichen, Captain. Es tut mir leid, dass ich mich nicht deutlich ausgedrückt habe.«
Das können Sie laut sagen. Er zwang sich zu einem Lächeln. Seine Mundwinkel schmerzten von der ungewohnten Muskelanstrengung. »Nun, dann wäre vielleicht eine Klarstellung an irgendeinem Punkt innerhalb unserer Lebensspanne angebracht.«
Sie ließ sich nicht anmerken, ob sie den dezenten Seitenhieb bemerkt hatte. »Das Problem ist«, sagte sie, »dass sein/ihr Herz nicht bei der Sache war, als er/sie sich mir genähert hat.«
»Ich verstehe ni…« Doch dann brach er ab, als er begriff, was sie meinte.
Tobias war immer noch in dem für sie typischen Zustand liebenswürdiger Ahnungslosigkeit und merkte nicht, dass eine weitere Erklärung unnötig war. »Wenn Burgoyne sein/ihr Interesse an anderen bekundet, ist er/sie sehr begeistert. Er/Sie …« Tobias zögerte und versuchte, herauszufinden, wie sie sich am besten ausdrücken sollte. »Wenn er/sie sich auf diese Weise für jemanden interessiert, dann gibt er/sie einem das Gefühl, die einzige Person in der ganzen Galaxis zu sein. Als gäbe es nichts, das er/sie lieber täte, als in den Augen seines Gegenübers zu versinken.« Ihre Stimme war sanft und verträumt und sie sah versonnen zur Seite, als hätte sie den Bereitschaftsraum gedanklich schon vor Minuten verlassen. »So macht er/sie das. Er/Sie erweckt einen zu neuem Leben. Er/Sie spricht sinnliche Aspekte der Persönlichkeit an, von denen man sich nicht hätte träumen lassen, dass man sie überhaupt …«
Calhoun räusperte sich laut. Die Unterbrechung riss Tobias aus ihren Tagträumen. Sie wirkte kurz verwirrt, als hätte sie vergessen, wo sie war. Schnell sammelte sie sich wieder und sagte: »Wenigstens habe ich das gehört.«
»Offenbar gehört und gründlich darüber nachgedacht.«
»Ich will darauf hinaus, dass er/sie bei mir nicht so war. Er/Sie hat scheinbar einfach nur …«
»So getan, als ob?«
»Ja!«, sagte sie aufgeregt, als hätte Calhoun gerade drei Tauben aus seinem Ärmel gezaubert. »Ja, genauso ist es. So getan, als ob. Er/Sie hat das getan, weil er/sie dachte, dass man das von ihm/ihr erwartete, oder vielleicht, weil er/sie das Gefühl hatte, er/sie könnte sich irgendwann dazu bringen, so zu fühlen.«
»Und Ihre Sorge ist, wenn er/sie bei so etwas nicht bei der Sache ist, könnte das auch seine/ihre Pflichten als Erster Offizier negativ beeinflussen?«
»Um ehrlich zu sein, ist mir das noch nicht mal in den Sinn gekommen. Meine Sorge war, dass ein Freund in Schwierigkeiten steckt.« Sie legte den Kopf schief und sah ihn mit offener Neugier an. »War das nicht auch Ihre Sorge, Captain?«
»Doch, natürlich war es das«, erwiderte Calhoun, der leicht beunruhigt war, dass ihm das in Wirklichkeit nicht in den Sinn gekommen war. »Ich hatte … mir ist an Burgy nichts Ungewöhnliches aufgefallen. Andererseits hat Burgoyne bei mir noch nie Annäherungsversuche gemacht, deshalb könnte mir das entgangen sein.«
»Nun denn«, sagte sie fröhlich. »Ich habe meine Pflicht getan. Ich bin sicher, Sie wissen, was ab jetzt zu tun ist.«
»Ich weiß Ihr Vertrauen zu schätzen, Lieutenant.«
Tobias verließ den Bereitschaftsraum. Calhoun sah ihr nach und fragte sich, wie er jetzt am besten in dieser Sache vorging. Mackenzie Calhoun, einer der besten Strategen in der gesamten Sternenflotte, wusste nicht, wie er damit umgehen sollte. Was sollte er sagen? Er hätte womöglich einen Weg gefunden, die Angelegenheit anzusprechen, wenn Burgys Pflichterfüllung irgendwie zu wünschen übrig ließe, aber das war nicht der Fall. Tobias’ Bedenken hatten Calhoun auf dem falschen Fuß erwischt, weil er tatsächlich nichts Außergewöhnliches an dem Verhalten von Burgoyne 172 bemerkt hatte. »Wie soll ich ihn/sie nur darauf ansprechen?«
»Haben Sie daran gedacht, es als Freund zu versuchen?«
Calhoun erschrak – was nicht oft vorkam. Wenn es allerdings geschah, war Morgan Primus meistens irgendwie daran beteiligt. Dieses Mal bildete da keine Ausnahme, obwohl man auf den ersten Blick nicht gedacht hätte, dass es sich tatsächlich um Morgan handelte, denn sie hatte Mackenzie Calhouns Gestalt angenommen. Es hätte genauso gut sein Klon sein können, der den Raum betrat.
»Fragen Sie, wie die Dinge allgemein so stehen«, sagte der doppelte Calhoun, »und warten Sie ab, ob er/sie Ihnen eine Angriffsfläche bietet. Wäre das nicht sinnvoll?«
»Werden Sie wieder Sie selbst, Morgan.« Er versuchte gar nicht, seinen Unmut zu verbergen.
»Es ist nur, dass Sie normalerweise die einzige Person sind, von der Sie einen Rat annehmen würden. Außer natürlich …« und plötzlich stand Elizabeth Shelby – Calhouns Ehefrau – vor ihm.
»Morgan …«
Zu Calhouns Überraschung schlenderte »Elizabeth« auf ihn zu. Jede Bewegung, jeder Aspekt ihres Aussehens war vom Original nicht zu unterscheiden. Sie hatte sogar Elizabeths Lächeln perfektioniert. Calhoun stand hinter seinem Schreibtisch und das Abbild seiner Frau kam um den Tisch herum und umfing sein Kinn mit ihrer Hand. »Morgan …«
»Ich kann sie sein, wenn Sie das wollen«, sagte der Mund von Elizabeth Shelby. »Sie würde Ihnen mit Sicherheit guttun.«
»Ach ja?«
»Sie sind einsam und werden immer frustrierter, Mac, weil Sie hier sind und Ihre Frau weit weg das Kommando über die Raumstation Bravo hat. Das ist Ihnen beiden gegenüber nicht fair, aber für Sie ist es ganz besonders unfair. Sie könnten die Ablenkung gebrauchen. Alle möglichen Endorphine auszuschütten würde Sie wieder auf Spur bringen.«
»Mir war nicht bewusst, dass ich neben der Spur bin. Rücken Sie mir nicht so auf die Pelle, Morgan.«
Sie legte eine Hand gegen seine Brust. »Ich versuche doch nur …«
Calhoun packte ihr Handgelenk, umklammerte es fest und sagte: »Zurück!«
Morgan gehorchte und riss ihre Hand los. Ihre Erscheinung waberte und die holografische Gestalt von Morgan Prime verwandelte sich wieder zu ihrem normalen Aussehen. »Burgoyne ist nicht der Einzige, der ein wenig Privatleben gebrauchen könnte. Mehr will ich gar nicht sagen.«
»Ich weiß, was Sie sagen wollen. Und jetzt hören Sie mir mal gut zu: Ich werde Tobias und Xy befehlen, alle Ihre Operationssysteme komplett zu überprüfen.«
Morgan lächelte. »Ich denke nicht, dass das nötig ist, Captain.«
»Ich sage aber, dass es so ist. Und da ich der Captain bin, möchte ich behaupten, dass meine Meinung hier mehr zählt als Ihre. Wollen Sie das bestreiten, Morgan?«
»Nein, aber …«
»In dieser Sache gibt es kein ›Aber‹, Morgan. Offenbar ist Ihnen nicht bewusst, dass Sie seit dem Neustart nicht mehr Sie selbst sind.«
»Und ich dachte, Sie wären froh, dass ich von den Toten zurückgekehrt bin.«
»Das war ich. Das waren wir alle. Obwohl ich nicht ganz sicher bin, ob das, was Ihnen zugestoßen ist, als ›tot‹ zu definieren ist. Aber Ihr Verhalten ist in den letzten Monaten zunehmend unberechenbar geworden.«
Sie stellte sich kerzengerade hin und fixierte ihn mit ernstem Blick. »War ich etwa nicht pflichtbewusst in der Ausführung meiner Aufgaben als Ops-Offizier? Ganz zu schweigen davon, dass ich das Herzstück der Betriebssysteme dieses Schiffs bin.«
»Doch, das waren Sie.«
»Dann verstehe ich den Grund für eine vollständige Diagnostik nicht. Es ist eine invasive Prozedur und allein die Vorstellung bereitet mir Unbehagen.«
»Sie sind ein Computerwesen, Morgan, ganz gleich, was Sie in ihrem früheren Leben gewesen sind. Die Tatsache, dass Ihnen so etwas Unbehagen bereitet, sollte Ihnen etwas sagen, meinen Sie nicht?«
Sie hatte nicht sofort eine Antwort parat. Dann zuckte sie mit den Schultern, als sei die Sache es nicht wert, sich weiter damit zu befassen. »Wie Sie bereits sagten, Sie sind der Captain.«
»Danke für die Bestätigung«, sagte er und versuchte, nicht allzu sarkastisch zu klingen. Es gelang ihm nur teilweise.
»Übrigens, Sie sollten vielleicht hinaus auf die Brücke gehen. Da braut sich etwas Neues zusammen.«
»Etwas Neues? Wovon reden …«
Sein Kommunikator piepte. Er tippte darauf und ließ Morgan nicht aus den Augen. »Calhoun hier, sprechen Sie.«
Die Stimme von Zak Kebron, dem Sicherheitschef, erklang. »Die Langstreckensensoren haben etwas entdeckt, Captain. Ein treibendes Schiff.«
»Verlassen? Oder gibt es Überlebende?«
»Das ist aus dieser Entfernung unmöglich zu erkennen, Sir.«
»Dann verringern Sie die Entfernung, Mr. Kebron. Ich bin unterwegs.«
Calhoun marschierte zur Tür. Morgan trat beiseite. »Captain«, sagte sie.
Er drehte sich zu ihr um und erstarrte.
Sie hatte wieder die Gestalt von Elizabeth Shelby angenommen und war vollkommen nackt. Sie lächelte außerdem verführerisch. »Falls Sie Ihre Meinung ändern sollten, rufen Sie einfach meinen Namen. Oder ihren. Unterschätzen Sie nie die Macht eines guten Endorphinrauschs.« Morgan verschwand, bevor er noch etwas sagen konnte.
»Grozit«, murmelte er.
Commander Burgoyne zog eine Augenbraue hoch, als er Calhoun aus dem Bereitschaftsraum kommen sah. »Captain, alles in Ordnung mit Ihnen?«
»Bestens, Burgy.«
»Weil Sie irgendwie sehr merkwürdig gehen …«
»Ich sagte, alles bestens«, sagte Calhoun ungeduldig. Schnell ging er zu seinem Kommandosessel und schlug die Beine übereinander. Burgoyne fand das etwas seltsam, da Calhoun normalerweise stand oder auf der Brücke umherlief wie ein Tiger im Käfig. »Was haben wir?«
»Ein Schiff, das von nur einem Piloten geflogen werden kann und bei drei zwei fünf Komma vier treibt. Sieht aus«, er/sie betrachtete die Messungen der Sensoren, »wie eine Art umgebauter Frachter.«
»Schmuggler?«
»Oder Forscher. Diese umgebauten Schiffe sind besonders bei denen beliebt, die sich als umherstreifende Abenteurer sehen und die geeignete Transportmöglichkeiten haben wollen, falls sie über Schätze stolpern sollten.«
Calhoun warf Kebron einen Blick zu. »Lebenszeichen?«
»Eins. Die Sensoren zeigen an …« Der riesige Brikar brach ab. Hätte er Augenbrauen gehabt, um sie hochzuziehen, hätte er das sicherlich getan.
»Zeigen was an?«
Kebron sprach zu Calhoun, sah aber Burgoyne dabei an. »Der Pilot scheint … Hermat zu sein.«
»Wie bitte?« Burgoyne traute seinen/ihren Ohren nicht. Er/Sie ging zur Wissenschaftsstation. »Xy, überprüfe bitte diese Messungen.«
»Ein weniger selbstbewusster Offizier«, sagte Kebron mit einem Hauch Verärgerung, »könnte Ihren Mangel an Vertrauen als Beleidigung auffassen. Aber ich tue das nicht. Ich verstehe Ihr Widerstreben, die …«
»Später, Kebron«, unterbrach ihn Calhoun.
Nicht zum ersten Mal verspürte Burgoyne eine gewisse Wehmut, wenn er an die Tage dachte, in denen Zak Kebron eine distanzierte, düstere Persönlichkeit gewesen war, die kaum je mehr als drei Worte aneinanderreihte.
Er/Sie stellte sich neben seinen/ihren Sohn Xy, der die Sensorinformationen, die Kebron an ihn weiterleitete, eingehend betrachtete. Langsam nickte er. »Auf jeden Fall ein Hermat. Kebron hat recht.« Kebron gab angesichts von Xys Feststellung nicht mehr als ein süffisantes »Hmpf« von sich. »Man findet nicht sehr viele Hermat so weit hier draußen.«
»Man findet überhaupt keine«, sagte Burgoyne. »Vertrauen Sie mir, ich kenne mein Volk. Einer der Gründe, weshalb ich so ein Außenseiter war, war mein Verlangen, die Galaxis zu erforschen. So eine Geisteshaltung hielt man für …« Er/Sie zögerte und da ihm/ihr kein besseres Wort einfiel, fuhr er/sie fort mit: »… unanständig. Ich war sozusagen schon ein Ausgestoßener, bevor ich beschloss, ins Exil zu gehen …«
»Diese Abhandlung über die sozialen Gepflogenheiten der Hermat ist wirklich faszinierend«, schaltete sich Calhoun ein, »aber können wir uns vielleicht auf den Gestrandeten da draußen konzentrieren, der möglicherweise unsere Hilfe braucht?«
»Tut mir leid, Captain«, sagte Burgoyne betreten.
»Zustand des Piloten?«
»Lebenszeichen liegen im unteren Grenzbereich, sind aber stabil«, meldete Xy.
»Lassen Sie ihn/sie direkt in die Krankenstation beamen«, sagte Calhoun und erhob sich aus seinem Sessel. »Informieren Sie Doktor Selar, dass sie einen neuen Patienten bekommt.«
Innerlich zuckte Burgoyne zusammen. Mit Selar zu sprechen war eine Aufgabe, die Burgoyne in diesen Tagen nicht gerade begrüßte. Um genau zu sein, war es schmerzlich, ihre Stimme zu hören, die noch distanzierter und emotionsloser war als für Vulkanier üblich. Einen kurzen Moment lang erwog er/sie, Xy oder Tobias den Befehl zu geben, das zu übernehmen, doch dann riss er/sie sich zusammen. Er/Sie war schließlich der Erste Offizier der Excalibur. Er/Sie konnte nicht einfach einen Befehl des Captains auf jemand anderen abwälzen, nur weil die Ausführung ihm/ihr Unbehagen bereitete.
Burgoyne tippte auf seinen/ihren Kommunikator. »Brücke an Krankenstation.«
»Krankenstation, Selar.«
»Wir haben einen verletzten Hermat in einem Wrack gefunden. Der Captain möchte, dass er/sie direkt in die Krankenstation gebeamt wird.«
»Das ist gegen die Vorschriften«, antwortete ihre Stimme. »Er/Sie sollte für eine Ersteinschätzung in den Transporterraum gebeamt werden, wo seine/ihre Transportersignatur im Puffer überprüft und auf schädliche Bakterien oder Keime untersucht werden kann.«
»Befehl des Captains.«
»Man sollte doch meinen, dass mein Wunsch als leitender medizinischer Offizier, sich nach den Vorschriften zu richten, wenigstens in Betracht gezogen wird.« Ihr Tonfall war gleichmütig und monoton, als würde sie über die Gefühle von jemand anderem sprechen. »Tun Sie, was Sie für richtig halten. Aber beamen Sie ihn/sie in den Quarantänebereich der Krankenstation und nicht in den Hauptbereich. Dann wird nur das Personal der Quarantänestation auf Befehl des Captains sterben, falls er/sie irgendwelche ansteckenden Krankheiten hat. Wenn Sie mich brauchen sollten, ich bin in der Quarantäne. Selar Ende.«
Burgoyne spürte den Blick des Captains auf sich und konnte sich nicht überwinden, diesen zu erwidern. Stattdessen sagte er: »Der leitende medizinische Offizier bereitet die Krankenstation für den neuen Patienten vor.«
»Gut«, war Calhouns einzige Antwort.
Xy wechselte einen mitfühlenden Blick mit seinem Vater. Burgoyne lächelte schwach. In den letzten Monaten hatten die beiden versucht, so gut wie möglich mit Selars schwelendem Zorn und ihrer Frustration umzugehen, die diese hinter einer undurchdringlichen Wand aus Stoizismus verbarg. Wäre sie keine Vulkanierin gewesen, hätte man damit leichter fertigwerden können. Aber sie war, was sie war, und sie mussten einfach damit leben und beten, dass die Dinge sich irgendwann wieder bessern würden.
Leider hatte Burgoyne diesbezüglich nur wenig Hoffnung.
Was mache ich nur mit meinem Zorn?
Die merkwürdige Frage schoss Doktor Selar durch den Kopf und sie war darüber erstaunt. Da sie aber war, was und wer sie war, gestattete sie weder der Wut, die sie empfand, noch der Überraschung darüber, dass sie sie empfand, sich auf ihrem Gesicht zu zeigen. Stattdessen beschäftigte sie sich mit der Aufgabe, alles für ihren neuen Patienten vorzubereiten.
Sie betrat den Quarantänebereich und trug unter absoluter Missachtung jeglicher Vorschriften keinerlei Schutzausrüstung. Dies hatte zu verwirrten Kommentaren von einigen ihrer medizinischen Assistenten geführt. Selar hatte sie knapp wissen lassen, dass ihre vulkanische Physiologie es ihr erlaubte, fast allem zu widerstehen, das ein hereinkommender Patient – sogar ein infektiöser – ihr entgegenschleudern mochte. In Wahrheit war es ihr schlicht vollkommen egal, ob ihr etwas zustieß. Sollte das der Fall sein und sollte sie sterben, hätte das den Vorteil, dass sie sich nicht länger mit Unannehmlichkeiten wie ihrem inneren Aufruhr herumschlagen musste.
Selar warf einen Blick auf die medizinischen Assistenten. Sie beobachteten sie und gaben leise Kommentare von sich. Ihr scharfes Gehör hätte diese dennoch wahrnehmen können, aber sie befand sich bereits im Quarantänebereich, der vom Rest der Krankenstation abgetrennt war. Sie glaubte allerdings mit ziemlicher Sicherheit, zu wissen, worüber sie sprachen. Sie würden über sie herziehen und darüber, wie sie sogar für eine Vulkanierin unerträglich kalt geworden war. Sogar für eine Vulkanierin. Das war genau der Wortlaut, den sie belauscht hatte, als ihre Mitarbeiter glaubten, sie würde nicht zuhören.
Sie hatten doch keine Ahnung. Sie waren alle der Auffassung, dass Vulkanier emotionslose Wesen waren, statt sie als das zu sehen, was sie wirklich waren: Ein Volk, das jeden Tag daran arbeitete, seine Emotionen in Schach zu halten, weil diese sonst zu endlosen Konflikten führen würden. Sie waren aus freien Stücken unerbittlich vernunftbezogen und nicht, weil sie so geboren wurden. Wie schön wäre es, wenn diese Lüge die Wahrheit wäre. Dann wären Emotionen kein Thema für sie.
Wenn sie jemals zuließe, dass die in ihr tobenden Emotionen nach außen drangen, wäre dieser Anblick entsetzlich für ihre Mitarbeiter. Sie würden schreiend aus der Krankenstation rennen.
Selar wartete ruhig und hielt ihre Instrumente bereit. Sie war immer noch der Meinung, dass es nicht die richtige Vorgehensweise war, den Patienten direkt in die Krankenstation zu beamen. Aber wenn sie ihren Ratschlag unbedingt in den Wind schlagen wollten, dann stand es ihr genauso zu, die Vorschriften zu ignorieren und ohne Schutzausrüstung auf ihren Patienten zu warten. Das würde ihnen eine Lehre sein.
Selar wusste, dass ihre Einstellung bestenfalls bockig und schlimmstenfalls unprofessionell war. Aber es war ihre Einstellung und sie war der Meinung, dass sie ein Recht darauf hatte.
Sie blieb an Ort und Stelle, als der Quarantänebereich sich allmählich mit dem Licht und dem lauter werdenden Summen von Energie füllte, das den Transporterstrahlen vorausging. Eins musste man Transporterchief Halliwell lassen: Ihre Peilung war präzise. Der hereinkommende Patient materialisierte auf dem Rücken liegend auf dem Diagnosetisch. Selar ging sofort zu dem Hermat – es gab keinen Zweifel an der Herkunft ihres Patienten – und aktivierte die verschiedenen Scangeräte, um Messungen von ihm/ihr zu erhalten.
Sie brauchte die Scanner allerdings nicht, um das Hauptproblem des Patienten auf Anhieb zu erkennen: Strahlenvergiftung. Die Zellschäden und der Hautzerfall passten zu ihrer Diagnose.
Selar arbeitete schnell. Mit applizierter Biohaut konnte man die oberflächlichen Wunden schnell heilen, aber wie sie gegen die Vergiftung selbst vorgehen konnte, hing vom Umfang des Schadens ab. Als Erstes musste sie den Patienten stabilisieren, und das tat sie mit der für sie typischen zügigen Effizienz. Innerhalb von Minuten hatte sie die Vitalzeichen des Hermat auf niedrigen, aber akzeptablen Werten.
Sie spürte eine vertraute Präsenz hinter sich. Sie musste sich nicht einmal umdrehen, um ihn/sie anzusehen. Sie wusste es einfach. Die Tatsache, dass sie immer noch eine derartige Verbundenheit hatten, war beunruhigend. Sie beschloss, dass das nicht ihre Arbeit beeinträchtigen durfte.
»Wieso bist du hier?«, fragte Selar.
Burgoyne stand auf der anderen Seite der Quarantänetrennwand und sagte: »Der Captain möchte über seinen/ihren Zustand informiert werden.«
»Dann hätte der Captain mich einfach selbst fragen können. Gehe ich recht in der Annahme, dass das Kommunikationssystem funktionsfähig ist?« Sie sah nicht von ihren Instrumenten hoch.
»Ja, aber angesichts der Spezies des Patienten, dachte ich, ich komme persönlich her, um …« Burgoynes Stimme brach ab und dann sagte er/sie leise: »Da soll mich doch der Teufel holen.«
Selar verkniff sich den Kommentar, wie unwahrscheinlich es war, dass Burgoyne in die Tiefen der Hölle geschleift würde. Es schien in der gegenwärtigen Situation unangebracht. »Darf ich davon ausgehen, dass du dieses Individuum kennst?«
»Rulan«, sagte Burgoyne. »Rulan 12. Ich erinnere mich nur allzu gut an ihn/sie.«
Zum ersten Mal sah Selar Burgoyne direkt an. »Eine frühere Affäre von dir?«
»Nein. Nicht, dass ich es nicht versucht hätte«, antwortete Burgoyne. In seiner/ihrer Stimme lag weder Scham noch Verlegenheit. Es war unmöglich, Burgoyne zu beschämen, wenn es um sexuelle Abenteuer ging. »Wir sind gemeinsam zur Schule gegangen. Unsere Lehrer mochten uns beide nicht. Sie sagten, wir hätten schlechten Einfluss aufeinander.«
»Dann überrascht es mich umso mehr, dass ihr keine sexuelle Beziehung hattet, wenn eure Emotionen so sehr im Einklang waren.«
Burgoyne sah sie neugierig an. »Du scheinst plötzlich sehr fasziniert von meinem vergangenen Liebesleben zu sein.«
»Ich habe einen Patienten, der/die an einer Strahlenkrankheit stirbt, und keine Ahnung, wie er/sie sich diese zugezogen hat. Alles an und über seinen/ihren Hintergrund könnte von Belang sein.«
Der Erste Offizier wirkte skeptisch, zuckte dann aber mit den Schultern. »Wir haben nichts miteinander gehabt, weil Rulan stolz auf seine/ihre Keuschheit war.«
»Wirklich?« Sie zog eine Augenbraue hoch. Mehr gestattete sie sich üblicherweise nicht als Reaktion. »Warum?«
»Das hat er/sie nie gesagt.«
»Hmm. Außergewöhnlich für einen Hermat.«
»Sehr außergewöhnlich.«
»Und teilte er/sie auch dein Fernweh?«
»Nein. In der Hinsicht war er/sie so konservativ wie der Rest unseres Volks.«
»Offensichtlich hat sich etwas geändert.«
»Offensichtlich«, bestätigte Burgoyne. »Wird er/sie wieder in Ordnung kommen?«
»Es ist zu früh, um das mit Sicherheit sagen zu können. Ich konnte seine/ihre Vitalwerte stabilisieren und habe mit einem biozellularen Regenerationsprozess begonnen.«
»Das klingt positiv«, sagte er/sie hoffnungsvoll.
»Das Problem ist, der Prozess dauert seine Zeit. Bis zu zweiundsiebzig Stunden. Bei derartig verheerenden Schädigungen könnten während dieser Zeit lebenswichtige Organe jederzeit unter der Belastung versagen. Sollte das passieren, kann ich ihn/sie womöglich nicht retten. Wenn er/sie in drei Tagen noch am Leben ist, hat er/sie gute Chancen. Ansonsten …«
»Ich weiß, dass du dein Bestes tust.«
»Deine Zuversicht ist höchst erbaulich.«
Burgoyne öffnete seinen/ihren Mund, als wollte er/sie noch etwas sagen. Selar wartete. Burgoyne verharrte einige Sekunden und sah – in Selars Augen – absolut lächerlich aus. Selar war klar, was Burgoyne vorhatte. Er/Sie wollte wieder einmal ihre Beziehung – oder den Mangel an einer solchen – ansprechen. Doch alles, was es zu sagen gab, war bereits ausführlich besprochen worden, mehrmals und ohne etwas zu bewirken. Wo lag der Sinn darin, ihrer beider Zeit erneut zu verschwenden?
Sie musste Burgoyne wohl ihre Gedanken deutlich gemacht haben – oder auch nur ihre Gemütsverfassung –, denn er/sie schloss schließlich seinen/ihren Mund, nickte, als sei alles, was gesagt werden musste, tatsächlich gesagt, und verließ dann die Krankenstation. Selar merkte, dass die anderen sie anstarrten. Sie wandten schnell ihre Blicke ab, wie Spanner, die die persönlichen Angelegenheiten anderer Leute belauscht hatten. Selar fand, dass genau das auch der Fall war, aber es war ihr ziemlich egal. Sie musste sich um weit wichtigere Dinge sorgen. Sollten sie doch lauschen, wenn es ihnen Spaß machte. Sollten sie doch aus all dem, das ungesagt geblieben war, ihre Schlussfolgerungen ziehen.
Sie hatte Arbeit zu erledigen.
Burgoyne starrte in das Glas, das vor ihm/ihr auf dem Tisch stand, als seien die Antworten auf alle Fragen des Lebens in der bernsteinfarbenen Flüssigkeit zu finden. Wenig überraschend schienen sie sich nicht zu zeigen.
Er/Sie hatte seine/ihre Schicht vor einer Stunde beendet und war im Gemeinschaftsraum gelandet. Das war der inoffizielle Name für den Aufenthaltsraum. An einem normalen Tag war Burgoyne einer der zugänglicheren Offiziere. Jeder vom Lieutenant Commander bis zum jüngsten Ensign zögerte nicht, sich Burgoyne zu nähern und sich mit ihm/ihr zu unterhalten.
Allerdings konnte Burgoyne hervorragend durch Haltung und Körpersprache vermitteln, dass er/sie allein bleiben wollte. Das geschah nicht oft, aber zu den seltenen Gelegenheiten, wenn Burgoyne andere davon abhalten wollte, ihm/ihr Gesellschaft zu leisten, hatte er/sie wenig Probleme damit.
Also saß Burgoyne allein an einem Tisch hinten im Gemeinschaftsraum, nickte jedem, der vorbeiging, grüßend zu und genoss ansonsten seine Einsamkeit. Oder, falls er/sie sie nicht genoss, so war er/sie zumindest erleichtert, keinen Umgang mit anderen pflegen zu müssen.
Ein Schatten fiel auf seinen/ihren Tisch. Er/Sie blickte hoch, obwohl er/sie auch ohne hinzusehen ahnte, um wen es sich handelte. Er/Sie hatte recht. »Hallo, Xy«, sagte er/sie leise.
»Dad.« Xy zeigte mit seinem Kinn auf den anderen Stuhl am Tisch. »Was dagegen, wenn ich mich zu dir setze?«
Jeder andere hätte nicht einmal daran gedacht, zu fragen. Sie hätten Burgoyne seinen/ihren Freiraum gelassen. Xy hingegen musste nicht einmal fragen, tat es aber aus Höflichkeit.
»Tu dir keinen Zwang an«, erwiderte Burgoyne.
Xy nahm auf dem Stuhl gegenüber von seinem Vater Platz. Er hielt bereits ein Getränk in der Hand. Burgoyne erkannte es sofort und sagte mit hochgezogener Augenbraue: »Romulanisches Ale? Ist das nicht immer noch illegal?«
»Nur theoretisch«, antwortete Xy. »Seit dem Krieg ist es viel einfacher zu bekommen.«
»Trotzdem, Regeln sind Regeln. Ich werde einen Bericht darüber einreichen müssen … es sei denn, etwas geschieht, das mein Gedächtnis beeinträchtigt …«
Wortlos tauschte Xy sein Glas gegen das, aus dem Burgoyne getrunken hatte. Burgoyne hob es hoch, nippte daran und seufzte zufrieden.
»Nun?«, sagte Xy.
»Mein Kopf ist völlig leer.«
»Das dachte ich mir. Wie ich höre, kennst du den Hermat, den Mutter behandelt.«
Burgoyne neigte leicht seinen/ihren Kopf. »Sein/Ihr Name ist Rulan. Wir sind flüchtige Bekannte. Obwohl«, sagte er/sie und klang aufgekratzt, »Selar äußerst interessiert an den Einzelheiten der Beziehung war, die ich zu ihm/ihr hatte.«
»Wie meinst du das?«
»Ich meine«, Burgoyne machte eine theatralische Pause, »sie klang eifersüchtig.«
»Eifersüchtig.« Xy wiederholte das Wort. Seine Skepsis war deutlich zu hören.
»Ja. Eifersüchtig«, wiederholte Burgoyne nachdrücklich, weil er den Zweifel in Xys Stimme hörte.
»Eigentlich …«
»Eigentlich, was?«
»Eigentlich kann ich mir das nicht vorstellen. Ich meine, Eifersucht ist eine Emotion. Sie ist nicht gerade mit emotionaler Tiefe gesegnet. Wenn du verstehst, was ich damit sagen will.«
»Ja, das tue ich. Du willst sagen, dass ich mir das einbilde. Dass ich es erfunden habe.«
»Ich will sagen«, erwiderte Xy sanft, »dass du versuchst, dich dazu zu zwingen, daran zu glauben, weil du unbedingt willst, dass es so ist.«
»Ist das so unmöglich?« Aber Burgoyne kannte die Antwort auf die Frage, noch bevor er/sie sie gestellt hatte. Xy musste nicht einmal antworten. Burgoyne kippte den restlichen Inhalt von Xys Glas hinunter und murmelte: »Du brauchst mich gar nicht so anzusehen.«
»Wie?«
»Mitleidig. Traurig. Als ob ich eine Witzfigur wäre.«
»Ich halte dich nicht für eine Witzfigur.«
»Wieso nicht? Ich tue es doch auch.«
»Dad …«
»Das ist alles deine Schuld, weißt du.«
»Meine Schuld?« Xy klang angesichts dieser Anschuldigung nicht verärgert. Er war eher belustigt als alles andere. »Wie kann das meine Schuld sein?«
»Du weißt, warum.«
»Weil ich so schnell altere«, sagte Xy geduldig. »Weil ich, dank der Kombination der vulkanischen und der Hermat-Biologie, durch mein Lebe rase. Nur habe ich meine Stoffwechselprozesse nicht geschaffen, Dad. Ich habe nicht darum gebeten, so zu sein, wie ich bin. Ich habe nicht einmal darum gebeten, geboren zu werden. Alles in allem sollte ich derjenige sein, der herumläuft und mit dem Finger auf dich und Mutter zeigt, weil ihr überhaupt zusammengekommen seid, ohne euch über die Resultate einer solchen Verbindung Gedanken zu machen.«
»Deine Mutter hatte keine allzu große Wahl.«
»Ich weiß.« Xy wirkte zum ersten Mal bedrückt. »Und wir sollten eigentlich auch nicht darüber reden.«
Burgoyne lächelte über den Anflug von Prüderie seines/ihres Sohnes. Themen wie das Pon Farr – der vulkanische Paarungstrieb – wurden allgemein als unpassende Gesprächsthemen angesehen. Normalerweise galt das nur für Außenweltler. Burgoyne war wohl kaum ein x-beliebiger Außenweltler, da er mit Xys Mutter zusammen gewesen war. Und Xy war natürlich kein reiner Vulkanier, obwohl er Selars elegante spitze Ohren und ihre geschwungenen Augenbrauen geerbt hatte. Dennoch respektierte er die vulkanischen Traditionen und schreckte davor zurück, über diese heiklen Themen zu sprechen, sogar mit seinem eigenen Vater.
»Also schön«, sagte Burgoyne, der/die das Thema nicht weiter vertiefen wollte. Er/Sie lehnte sich auf seinem/ihrem Stuhl zurück und seufzte tief. »Weißt du … für jemanden, der behauptet, keine Emotionen zu haben, ist deine Mutter eins der leidenschaftlichsten Wesen, die ich je getroffen habe.«
»Müssen wir wirklich darüber reden?«, fragte Xy und rutschte unbehaglich auf seinem Stuhl herum.
Burgoyne lachte und zeigte dabei seine/ihre spitzen Zähne. »Ich meinte nicht die Art Leidenschaft. Ich meine, dass sie so fixiert auf etwas sein kann, dass es sie nahezu vollkommen vereinnahmt.«
»Meinst du etwas Bestimmtes?«
»Das weißt du doch.«
»Du denkst an mich«, sagte Xy. »Und ihre Besessenheit, einen Weg zu finden, um mich zu ›heilen‹. Statt die Zeit, die sie mit mir hat, zu genießen, kann sie sich nur auf die Zeit konzentrieren, wenn ich nicht mehr da sein werde.«
Burgoyne nickte.
»Fairerweise muss man sagen, dass die zweite Zeitspanne wesentlich länger sein wird als die erste, also ist es nicht weiter verwunderlich, dass sie ihr schwerer auf dem Gemüt liegt. Außerdem waren es ihre … Impulse«, fuhr er fort, weil ihm kein besserer Ausdruck einfiel, »die die Ereignisse in Gang gesetzt haben, die schließlich zu meiner Geburt geführt haben. Also ist es durchaus gerechtfertigt, dass sie sich dafür verantwortlich macht.«
»Ja. Es ist gerechtfertigt. Es ist nur tragisch, dass es jeden anderen Aspekt ihres Lebens überschattet, sodass sie an nichts anderem mehr Freude hat.«
»Mit ›nichts anderem‹ meinst du dich.«
Burgoyne musste unwillkürlich kichern. »Das ist sicherlich ein Gesichtspunkt. Da ist allerdings noch so was hier – wie wir gerade zusammensitzen. Ich habe genug Selbstvertrauen, um zu glauben, dass deine Mutter eine Menge verpasst, indem sie nichts mit mir zu tun haben will. Aber ich weiß mit Sicherheit, dass sie noch mehr verpasst, indem sie nichts mit dir zu tun haben will.«
»Ich bin nicht beleidigt, falls es dich tröstet«, sagte Xy. »Sie hält mich nicht auf Distanz, weil sie mich nicht mag. Es ist nur, dass es ihr zu weh tut, sich zu lange mit mir zu beschäftigen, und meine Mutter kommt nicht allzu gut damit zurecht, wenn sie Schmerz empfindet. Oder wenn sie überhaupt etwas empfindet.«
»Also sollte sie mir leidtun, so wie sie dir leidtut. Willst du mir das damit sagen?«
»So hätte ich es nicht ausgedrückt …« Er zögerte und gestand dann: »Ja. Ich schätze, das will ich sagen.«
»Ich auch.«
»Was wäre, wenn sie wüsste, dass sie uns leidtut?«, fragte Burgoyne.
»Ganz ehrlich? Ich bezweifle, dass es sie großartig belasten würde. Wenn überhaupt.«
»Wenn überhaupt«, stimmte Burgoyne zu.
Selar kümmerte es nicht, dass sie mehr als dreißig Stunden nicht geschlafen hatte. Sie wusste, was ihr Körper aushalten konnte, und ihr Ruhebedürfnis war nicht so groß wie das der Menschen. Verschiedene Assistenten nahmen ihre Schichten auf und beendeten sie wieder, während die Stunden vergingen, doch Selar blieb, wo sie war, und überwachte Rulans Vitalwerte. Sie redete sich ein, dass sie das tat, weil sie die logische Wahl für so eine lang anhaltende Pflicht war.
Selar hatte während der ganzen Zeit, in der sie Rulans Befinden überwachte, den Quarantänebereich nicht verlassen. Sie hatte eine Kleinigkeit gegessen und sorgfältig darauf geachtet, das Minimum, das ihr Körper zur Funktionsfähigkeit brauchte, nicht zu unterschreiten. Mit der Flüssigkeitszufuhr war sie gleichermaßen sparsam. Ihre Assistenten hatten ihr in den ersten zwanzig Stunden hin und wieder angeboten, sie abzulösen. Sie hatte jedes Mal rundheraus mit einem kurzen Kopfschütteln abgelehnt und hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, zu antworten. Danach hatten sie aufgehört, zu fragen.
Während der einunddreißigsten Stunde, in der sie Rulans Heilungsprozess minutiös verfolgte, bemerkte sie etwas Merkwürdiges. Sie überprüfte die Ergebnisse mehrfach und es fiel ihr immer noch schwer, das Gesehene zu verstehen oder auch nur zu wagen, es zu glauben.
Die Ergebnisse der Zellüberwachung hatte sie im Stehen überprüft. Jetzt entdeckte sie zu ihrer Überraschung, dass sie saß. Selar erinnerte sich nicht daran, sich auf einen Stuhl gesetzt zu haben – in einem Moment stand sie auf den Füßen und im nächsten saß sie auf ihrem Hinterteil. Dass sie einen kurzen Filmriss hatte, war ein Zeichen dafür, wie verblüfft sie war – dabei war Selar diejenige auf der Excalibur, die sich immer und jederzeit ihrer Umgebung bewusst war.
Konzentriere dich, befahl sie sich selbst. Konzentriere dich auf die Abläufe. Nur so kannst du funktionieren.
»Medizinisches Logbuch, Nachtrag«, sagte sie. Ihre Stimme klang distanziert und sogar in ihren Ohren fremd. »Obwohl der bioregenerative Prozess weiter fortschreitet, übertreffen die Ergebnisse die Erwartungen in einem Maß, das weitere Untersuchungen rechtfertigt. Die Zellschäden, die Subjekt Rulan 12 erlitten hat, insbesondere die Schäden an den inneren Organen, heilen dreiundvierzig Prozent schneller, als meine ursprünglichen Schätzungen vorgesehen hatten. Da meine Schätzungen auf dokumentierten Ergebnissen angewandter Bioregeneration beruhten, ist dies ganz offensichtlich eine Abweichung. Nun stellt sich die Frage, ob diese Abweichung auf irgendeine Weise repliziert werden kann. Könnte beispielsweise …« Sie zögerte. Zu ihrem eigenen Entsetzen klang ihre Stimme beinahe von Emotionen erstickt. Ein zufälliger Beobachter hätte diese Reaktion nicht feststellen können, aber sie war sich dessen nur allzu bewusst. Sie hatte jahrelange Erfahrung darin, sich selbst unter Kontrolle zu halten. Es gelang ihr, ihre Emotionen zu zügeln, sodass in ihrem Lobbucheintrag nur ein minimales Zögern zu hören war, als würde sie innehalten, um mit gewohnter Präzision das richtige Wort zu wählen. »… einem Individuum wie Xy, das an beschleunigtem Zellverfall leidet, mit einer kontrollierten Verabreichung geholfen werden? Eine Infusion von Rulans DNA in seine Genstruktur? Die Idee hätte keinen praktischen Nutzen, wenn Xy nicht bereits biologische Marker der Hermat in seiner eigenen DNA hätte. Es muss nur noch untersucht werden, wie genau Rulan an diese Attribute gekommen ist. Wenn er/sie einem Prozess unterzogen wurde, der ihn/sie Zellen in ungewöhnlicher Schnelligkeit nachproduzieren lässt, dann sind Rulans genetische Bestandteile möglicherweise nicht für weitere Forschungen notwendig. Ich könnte direkt an die Quelle gehen. Solange Rulan allerdings bewusstlos ist, kann ich nicht bestimmen …«
Sie brach ab, da sie plötzlich die Anwesenheit von Mackenzie Calhoun spürte.
Calhoun trat an die Trennwand, die den Quarantänebereich vom Rest der Krankenstation abteilte. Er betrachtete den bewusstlosen Hermat einen Moment. Dann richtete er seine Aufmerksamkeit auf Selar. »Bitte, lassen Sie sich von mir nicht stören, Doktor. Sie können gerne Ihr medizinisches Logbuch vervollständigen.«
»Das kann ich auch später noch, Captain.«
»Doktor, im Ernst, Sie sollten sich nicht durch meine Anwesenheit …«
»Ich glaube nicht, dass es Ihnen zusteht, mir vorzuschreiben, wann und wo ich meine Pflichten ausübe, Captain. Wollten Sie etwas Bestimmtes besprechen?«
Calhoun antwortete nicht sofort. Stattdessen starrte er sie eine ganze Weile an, bevor er in förmlichem Ton fragte: »Wie lautet die Prognose?«
Sie zögerte. Sie hatte Burgoyne gesagt, es würde zweiundsiebzig Stunden dauern, bevor sie mit Sicherheit sagen konnte, ob Rulan überleben würde. Doch sie wusste jetzt, dass Rulan auf jeden Fall wieder genesen würde. Selar konnte nicht genau sagen, wann er/sie das Bewusstsein wiedererlangen würde, doch sie wusste, dass er/sie die Strahlenvergiftung überleben würde, die mit großer Wahrscheinlichkeit jeden anderen getötet hätte. Das Problem war, wenn Selar die optimistischere Einschätzung von Rulans Chancen bekanntgab, dann würde Calhoun wahrscheinlich fragen, welcher Aspekt von Rulans Zustand sich geändert hatte. Und wenn man sie direkt fragte, würde Selar ihm das natürlich sagen müssen …
Wieso solltest du es ihm nicht sagen? Er ist dein kommandierender Offizier. Er hat ein Recht auf die Informationen, die dir zur Verfügung stehen.
Selar öffnete ihren Mund, um ihm alles über den Zustand des Hermat zu erzählen, über die erstaunliche Zellregenration, die er/sie an den Tag legte, darüber, was das womöglich für ihren Sohn bedeuten konnte. Stattdessen sagte sie, sehr zu ihrer eigenen Überraschung: »Seine/Ihre Prognose ist positiv und schreitet planmäßig voran.« Sie hatte keine Ahnung, weshalb sie das gesagt hatte, und was noch schlimmer war, sie wollte es auch gar nicht herausfinden.
Calhouns violette Augen blitzten auf, als ahnte er, dass sie nicht vollkommen aufrichtig zu ihm war. Er war sich aber nicht sicher genug, um sie darauf anzusprechen. Dann neigte er leicht seinen Kopf und sagte: »Das sind ausgezeichnete Neuigkeiten. Sie sollten allerdings wissen, dass wir einen medizinischen Notfall haben.«
»Jeder meiner Mitarbeiter kann sich darum kümmern, Captain, egal worum es geht.«
»Ich bin sicher, dass sie das können, aber man hat um Ihre Anwesenheit gebeten und ich bin geneigt, dieser Bitte stattzugeben.«
»Sir, ich überwache einen Patienten, der/die sich in einem kritischen Stadium seiner/ihrer Heilung befindet«, beharrte Selar. Sie merkte, dass sie sich anstrengen musste, um ihren gleichmäßigen und leidenschaftslosen Tonfall beizubehalten. »Mich zu diesem Zeitpunkt von ihm/ihr wegzuholen …«
»Niemand holt Sie von ihm/ihr weg, wenigstens nicht sofort. Sie haben noch ein paar Stunden bei ihm/ihr. Wir müssen erst unser Ziel erreichen, bevor man Ihre Dienste braucht. Danach kann ich nichts versprechen.«
»Ich verstehe nicht. Unser Ziel? Es handelt sich nicht um einen Notfall an Bord?«
»Nein. Um genau zu sein, handelt es sich nicht einmal um Sternenflottenpersonal.«
»Dann verstehe ich nicht, warum meine Beteiligung erforderlich ist.«
»Weil die werdende Mutter um Sie gebeten hat.«
»Die …« Dann verstand sie. »Robin Lefler.«
»Stimmt, Doktor. Robin Lefler bringt den Sohn des verstorbenen Si Cwan auf Neu Thallon zur Welt und Sie sind die einzige Person, der sie genug vertraut, sie zu entbinden.«
Ist mir egal. Mich kümmert nur mein eigener Sohn. Lass mich in Ruhe, du arroganter Bastard.
»Bitte informieren Sie mich, sobald wir Neu Thallon erreichen«, sagte Doktor Selar. »Ich werde natürlich alles in meiner Macht Stehende tun, um den männlichen Erben des Hauses Cwan zu entbinden.«
Kallinda, Schwester des verstorbenen Si Cwan, saß auf dem Boden in der hinteren Ecke des Zimmers. Ihre Beine waren angewinkelt, ihr Kinn ruhte auf ihren Knien und ihre Arme umschlangen ihre Beine und zogen sie dicht an sich. Sie schaukelte langsam vor und zurück und flüsterte wiederholt dieselben sinnlosen Kommentare, die sie im Verlauf der letzten Monate von sich gegeben hatte.
Tusari Gyn, der Oberste Schlichter im Rat des Protektorats Neu Thallon, kam nicht umhin, Mitleid mit dem Mädchen zu haben. Oder – um genau zu sein – er kam nicht umhin, es so aussehen zu lassen. Tusari Gyn war besonders gut darin, solche Emotionen vorzutäuschen. Ob er überhaupt etwas fühlte, war nur sehr schwer zu erkennen. An manchen Tagen war er sich selbst nicht sicher.
Tusari Gyn war noch nicht Oberster Schlichter gewesen, als das Protektorat gegründet worden war. Diese Ehre war dem verstorbenen und betrauerten Fhermus vom Haus Fhermus zugefallen, einem äußerst würdigen und tapferen Nelkariten. Einem Nelkariten, der Lady Cwans Klinge zum Opfer gefallen war, die den Tod ihres Ehemannes gerächt hatte, dem ebenfalls verstorbenen Si Cwan aus dem Hause Cwan, dem jedoch niemand nachtrauerte.
Zumindest trauerte ihm niemand im Rat nach. Leider war Si Cwans Mythos in Erzählungen noch gewachsen und seine Macht sowie der Einfluss seines Märtyrerstatus nahmen immer mehr zu. Es lag eine gewisse Ironie in der Tatsache, dass Cwan im Tode beliebter wurde, als er zu Lebzeiten gewesen war, aber das war durchaus nicht beispiellos. Tusari Gyn hatte sich immer mit Geschichte beschäftigt und er war beeindruckt von der atemberaubenden Zahl der Leute, die lange nach ihrem Tod große Dinge erreicht hatten.
Kallindas Problem war, dass sie sich offensichtlich den Tod ihres Bruders erst einmal eingestehen musste.
Es schien Tusari Gyn, als sei es erst gestern gewesen, dass er sich im Rat des Protektorats darum gestritten hatte, ob Kallindas Verlobung mit dem Sohn von Fhermus gestattet werden sollte, da derartige Vermählungen normalerweise von anderen arrangiert wurden. Kallinda war in jenen Tagen ein anderes Mädchen gewesen – lächelnd und fröhlich, glücklich und beinahe engelsgleich in ihrer Erscheinung. Obwohl Tusari Gyn sich gegen den Gedanken ausgesprochen hatte, konnte er insgeheim nicht anders, als das Mädchen zu bewundern und auf Fhermus’ Sohn neidisch zu sein.
Wie lange dieser Disput her war. Jetzt vermoderten Vater und Sohn in der Krypta des Hauses Fhermus. Si Cwan war ebenfalls tot und das einzige Wesen, das dieses ganze Trauma überlebt hatte, war Kallinda, die aber nur körperlich anwesend war. Der Geist des armen Mädchens war vollkommen verschwunden.
»Ist sie die ganze Zeit so?« Die Frage wurde ihm von Norkai gestellt, dem neuen Botschafter von Nelkar, den Tusari Gyn unter seine Fittiche genommen hatte. Augenscheinlich hatte er das aus Herzensgüte getan, in Wahrheit aber wollte er Norkais Stimme bei allen Ratsangelegenheiten beeinflussen, wenn nicht sogar kontrollieren.