Jürgen Leskien
Einsam in Südwest
Tagebuchroman
Aus dem Nachlass des Eisenbahners Hermann Köppen, Beamter an der Strecke Swakopmund - Windhuk, Südwestafrika
ISBN 978-3-86394-745-3 (E-Book)
Die Druckausgabe erschien 1991 im Verlag Neues Leben GmbH, Berlin
Gestaltung des Titelbildes: Johannes Leskien
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Ich weiß nicht, welches Datum wir heute schreiben und wie lange ich geschlafen habe.
Es ist sehr heiß, obwohl es nur wenige Meter bis zum Meer sind. Unter den angeschwemmten Sachen, die die Eingeborenen in die Hütte getragen hatten, wo sie mir mit Gesten bedeuteten, dass dies alles mir gehöre, fand ich ein Heft mit festem schwarzem Deckel. Wie durch ein Wunder steckten die Stifte noch in meiner Jackentasche, auch der silberne Drehbleistift, den mir Vater nach der Gesellenprüfung geschenkt hatte, gekauft vom Ersparten.
Die Schwarzen machen mir angst, aber sie geben mir Fisch zu essen und klares Wasser zu trinken, überall bloße Brüste, und das andere ist auch nur spärlich bedeckt. Ich werde meine Beobachtungen in dieses Heft schreiben. Wenn man mich verschleppt, bleibt vielleicht das Heft erhalten und trägt zu meiner Rettung bei.
Ich kann nicht glauben, dass es Mutter nicht mehr gibt und Vater ertrunken sein soll. Ich sehe noch Mutters erhobenen Arm. Die Planke war zu klein, um uns alle zu halten. Aber wenn die Fischer mich noch rechtzeitig gefunden haben, warum dann nicht auch Mutter und Vater und all die anderen der Nanny.
Seit dem frühen Morgen herrscht unter den Schwarzen große Aufregung. Ein alter Mann hat meinen Leib befühlt und dabei ununterbrochen vor sich hin gemurmelt. Zwei Frauen haben dann meinen geprellten Rücken mit klebrigem Fett eingerieben. Als sie fertig waren, musste ich mich übergeben. Ich fühle mich sehr elend und möchte nur schlafen.
Ob die Männer der Schutztruppe schon nach uns suchen?
Es ist sicher die Wahrheit, wenn Vater Tanneberg sagt, der Herr habe mir ein neues Leben gegeben, wie könnte ich sonst bei den Missionaren auf Obongo sein.
Vater Tanneberg sah, wie ich im schwarzen Heft schrieb. Er lobte mich und meinte, ich solle es ruhig zur Gewohnheit werden lassen, für die, die nach uns hier sein werden, denn wir stehen noch ganz am Anfang. Von nun an werde ich das Wichtigste vom Tage notieren und auch sonst alles zusammenhalten, was von unserem Leben auf neu gewonnener Scholle kündet. Ich sehe es auch als meine Pflicht nach dieser wundersamen Rettung.
Sie sagen, einem jungen Mann in meinem Alter, mit dieser eisernen Gesundheit, mit solch einem Beruf, dem ständen in Südwest alle Wege offen, wenn er sich nur rechtschaffen mühe. Sie müssen es ja wissen, die Leute um Vater Tanneberg, sie sind ja schon so lange hier.
Vater und Mutter war es nicht vergönnt, ich aber werde siedeln, hier mein Heim einrichten. Ein Haus aber später bauen, jetzt kann ich erst einmal bei Vater Tanneberg bleiben, in der Mission, sobald ich mich erholt habe, als Schmied nützlich sein. Trotz meiner siebzehn Jahre, denke ich.
Die Ausübung unserer Schutzherrlichkeit über so ausgedehnte, in unwirtlichen Regionen gelegene Gebiete, deren Einwohner ja wirklich keine besonders sympathischen Gefühle in uns Deutsche erwecken können, ist für uns eine kulturell hohe Aufgabe. So ungefähr Vaters Worte. Die dunkle Wohnung in der Kleiststraße war fast vergessen und auch die Sorge, in der Not Herbert vielleicht aus der Lehre nehmen zu müssen. Wir hatten alle an der Reling gestanden, Vaters Arm lag auf den Schultern der Mutter. Die Sonne stand tief, am Horizont zeichnete sich als schmaler Streif Land ab, von dem der Erste Offizier meinte, dass es Südwest sei. Dann kam der Sturm. Als lehnten sich fremde Götter gegen unsere Ankunft auf.
Aber Vaters Wort gilt, da ich die erste schlimme Heimsuchung überstanden habe.
Es ist richtig, wie der Mann vom Siedlerverein beim Abschied sagte, wir müssten es wagen, in unseren Schutzgebieten Pflanzstellen der Moral, der deutschen Gesinnung und des reinen christlichen Glaubens zu errichten.
Vater und Mutter konnten ihren Fuß nicht mehr auf Südwest setzen, aber ich werde in ihrem Sinne handeln. Ich werde siedeln und Vater Tanneberg und den anderen tapferen Deutschen helfen, den Schwarzen Glauben und handwerkliches Geschick beizubringen. Auch wenn uns noch nicht alle lieben können, wie Vater Tanneberg meint.
Ob Herbert schon von dem Unglück weiß?
Am Morgen zeigte mir Vater Tanneberg mein Zimmer, es wird noch hergerichtet. Er nahm sich trotz der vielen Arbeit Zeit, mit mir zu reden. Dabei erklärte er, dass es nicht richtig sei, ihn und Holländer Vater zu nennen, so bezeichne man ja wohl die katholischen Missionare. Sie seien aber, wie ich wisse, Angehörige der protestantischen Rheinischen Missionsgesellschaft, die korrekte Anrede wäre also Missionar und nicht Vater. Ich bat ihn, beim Vater bleiben zu dürfen, sehe ich ihn und Vater Holländer doch tatsächlich an des Vaters statt. Mein Wunsch schien ihn zu ehren, aber in der Öffentlichkeit, so bat er es sich dringend aus, solle ich diese Anrede tunlichst vermeiden ...
Mit dem heutigen Tag nun habe auch ich einen Bambusen, sie nennen ihn Isaak.
Isaak ist dünn und lächelt immer, wenn ich ihn anschaue, obwohl er mindestens zehn Jahre älter ist als ich. Sein Gesicht erinnert mich an den ersten Schwarzen, den ich nach der Rettung am Strand erblickte.
Er setzt sich nicht zu mir an den Tisch, sicher sind ihm Tisch und Stuhl ganz und gar fremd. Ebenso fremd scheinen ihm Wasser und Seife, er riecht sehr streng, vor allem wenn er schwitzt. Seine Haut glänzt, sie scheint mir eingefettet. Isaak wohnt einen Kilometer entfernt, auf der Werft, wie die Schwarzen ihr Dorf hier bei der Missionsstation nennen. Ich habe mir das Afrika Hand-Lexikon bringen lassen und nachgeschaut. Nach der sehr breiten Nase und dem Amulett, das Isaak versteckt trägt, zu urteilen, ist er ein heidnischer Ovambo. Dabei sollen hier nur getaufte Hereros leben! Vielleicht gehört Isaak zu den Taufbewerbern?
Ich werde Vater Tanneberg bei der nächsten Gelegenheit danach fragen. Es gibt zu vieles, für das ich keine Erklärung habe. Will hoffen, dass Vater Tanneberg mit mir Geduld hat!
Vater Tanneberg gestattete mir in Schwester Ursulas Begleitung den ersten längeren Spaziergang.
Mein Besuch galt natürlich auch der Schmiede. Leider erwartete mich ein schlimmer Anblick. Die Schmiede selbst ein finsteres, stickiges Loch, in dem seit ewig wohl niemand gearbeitet hat. Der Amboss, mehr als eine Handbreit im Boden versunken, zum Dorn hin geneigt und schräg dazu, wie flügellahm, unterstrich die Trostlosigkeit.
Nur mit Mühe hatten wir das Tor geöffnet, es war niemand in der Nähe, der uns hätte helfen können, so musste Schwester Ursula ordentlich zupacken, aber es machte ihr nichts aus.
Ein Vogel strich an uns vorbei, suchte das Weite. Zwei der großen Zangen steckten noch im Kohlebecken, von Staub und Spinnweben bedeckt. Der Blasebalg, aus festem Ziegenleder, war seltsamerweise unversehrt. Einige der an den Wänden lehnenden Wagenräder, deren Reifen wohl irgendwann mal aufgezogen werden sollten, sind von Termiten zerfressen.
Schwester Ursula konnte sich nicht erinnern, wann hier je ein Pferd beschlagen worden war. Die Ochsenkarren repariere man schon lange in Omaruru, dort gebe es auch eine Wagenmacherei, das aber sei alles fast vierzig Kilometer von Obongo entfernt.
Der letzte Schmied, ein Hüne aus Potsdam, namens Friedhelm Kelch, sei über Nacht auf und davon, und sein Gehilfe, ein Ovambo, sei fünf Wochen später, als die Blutseuche unter den Schafen grassierte, in Panik nach Etjo geflohen. Dort habe er sich bald darauf verheiratet. Das habe sich begeben, bevor dieser Samuel Maharero mit dreihundertfünfzig Mann nach Obongo gekommen sei.
Als sich Schwester Ursula bückte, weil sich ein herumliegender Draht im Saum ihrer Tracht verhakt hatte, rutschte ihr das Tuch vom Kopf, und ihr schönes dunkelbraunes Haar fiel auf die Schultern. Ich musste staunen, wie jung sie noch ist!
Schwester Ursula bestand darauf, die Tür der Schmiede wieder ordentlich zu verriegeln, auch das Wagenrad, das umgekippt davor gelegen hatte, musste wieder an den alten Platz.
Vater Tanneberg rügte Schwester Ursula. Die Schmiede habe er mir selbst zeigen wollen, Erklärungen dazu seien notwendig. Ich vernahm die Schelte zufällig, als ich mir einen kleinen Topf Wasser holen ging. Weder Vater Tanneberg noch Schwester Ursula hatten mich in ihrer Nähe bemerkt. Wenig später kam Schwester Ursula hochrot in mein Krankenzimmer, um das Handtuch zu wechseln. Sie schlug die Augen nieder, als ich ihr meinen Gruß entbot, und verschwand sogleich wieder.
Am späten Nachmittag durfte ich mich in Vater Tannebergs Begleitung bis zum Fluss wagen. Zu meinem Erstaunen war das Flussufer, so weit ich sehen konnte, kahl geweidet. Die Unvernunft der Hereros und der Händler, erklärte mir Vater Tanneberg.
Als Schwester Ursula mir am Abend die Medizin brachte, fragte ich sie nach den Viehweiden am Fluss. Sie schien unentschlossen, darüber reden zu wollen. Dann aber sprach sie doch. Unsere Station sei im Grunde schuld an diesen kahlen Flecken, von denen der Wind schon die Krume weggetragen habe. Einige der getauften Hereros und auch so mancher Taufbewerber haben unter Zureden der Missionare das ursprüngliche Weiterziehen mit dem Vieh aufgegeben. Sie wollten die Glocken hören und sonntags die Predigt, dazu aber musste man sesshaft werden, was sich die Missionare von ihren Schäfchen eigentlich wünschten. Das aber war ein anderes Leben, ja, sie waren bald ganz und gar angewiesen auf die Arbeit für Lohn von der Station, wie der Schmiedegehilfe damals. Neuerdings fürchteten sie die Rinderpest, die vor Jahren schon so schlimm gewütet hatte, und sie blieben auch deshalb am liebsten im Schutz der Kirche.
Die Glocken hatten einen vollen Klang, ich konnte verstehen, dass die Viehtreiber sie gern hörten, aber ob man deshalb sein gewohntes Leben aufgibt?
Vor Sonnenuntergang kam Besuch. Mein Bambuse Isaak brachte mir in einem Käfig aus Gerten einen hellgrünen Vogel mit orangefarbener Brust und wunderschönem, glänzendem Gefieder. Er möge helfen, dass ich schnell gesund werde, gab Isaak mir zu verstehen. Der Vogel schrie entsetzlich, und ich glaubte nicht, dass wir Freunde würden, solange ich ihn gefangenhielt. Als der Bambuse aus dem Zimmer war, ließ ich den Vogel fliegen. Schwester Ursula belohnte mich mit einem Lächeln, von dem ich die ganze Nacht träumte.
Es bleibt auch nach Sonnenuntergang sehr heiß. Habe zwei Kakerlaken erschlagen.
Ob die Fischer am Strand, in der Hütte, Hereros waren? Vater Tanneberg wich meiner Frage aus. Es stimmte schon, Gottvater habe die Hand über mich gehalten. Aber aus dem Wasser hätten mich die Schwarzen gezogen, meinte er. Wer auch sonst?
Morgen werde ich an Herbert schreiben, ich habe schon ein schlechtes Gewissen. Er braucht doch ein Lebenszeichen von mir. Warum muss er unbedingt Landvermessergehilfe werden! Allein seine Kammer beim Landvermesser Grau! Ein düsterer Schlauch, nur vom Ofenrohr des Nachbarzimmers beheizt. Ich denke mir, der Grau wird sich für das vom Vater im Voraus bezahlte Geld ein neues Peilgerät kaufen und Herbert bei Kohlrüben und Kartoffelpamps halten, wie schon im ersten Lehrjahr. Lehrjahre sind keine Herrenjahre, mahnte Vater immer, aber Herberts eingefallene Wangen machten ihm Sorgen und der Mutter erst recht.
Heute habe ich mein Zimmer bezogen. Es ist nicht sehr groß, hat nur Bett, Tisch, Stuhl, Regal und Kleiderriegel, aber es geht in ihm ein leichter Luftzug. Auf dem schmalen Bord an der Wand zwei Bücher, Geschenke von Vater Tanneberg, die Bibel und von einem gewissen Sudermann das Buch Frau Sorge. Sicher wird Zeit sein für das Lesen, obwohl ich von nun an für mich selbst sorgen muss. Aber mein Bambuse hilft mir ja dabei.
In der Dämmerung führte mich der junge Vater Holländer, der zweite Missionar hier in Obongo, an den Rand der Eingeborenenwerft, zum heiligen Platze der Hereros. Niemand ist uns begegnet.
Heilige Holzstücke, die Vaterstöcke, konnte ich sehen. Dorthin werden die heiligen Krüge und die heiligen Kalebassen gebracht, wenn man aus ihnen trinken will.
Dieser Platz entspricht unserem Altar, erklärte Vater Holländer. Hier geschieht die Namensgebung der Kinder, die Frauen werden hier mit Fett bestrichen, und die Töchter bringt man an diesen Platz, wenn sie im heiratsfähigen Alter sind und ihnen die Haube aufgesetzt wird.
Sie nennen diesen besonderen Fleck in ihrer Sprache okuruuo. Fast alle Worte beginnen hier mit O, jedenfalls bei den Hereros. Wie aber unterscheidet man die Hereros von den Hottentotten? Vater Holländer lächelte über meine Frage. Die Hereros seien fast immer hochgewachsene Menschen dunkler Haut, wie Isaak zum Beispiel. Die Hottentotten hingegen seien, an den Hereros gemessen, klein von Wuchs, ihre Haut sei eher gelb als braun oder gar schwarz. Das schwarze Afrika ist also nicht nur schwarz, und Isaak ist kein Ovambo - wer soll sich da auskennen!
Habe den ganzen Tag Schwester Ursula nicht gesehen. Sie wird doch nicht krank sein?!
Die Hitze macht mir sehr zu schaffen, möchte nur trinken, kaum essen. Dabei, Ursula ist schon länger als ein Jahr hier. Krankenpflege in dieser Hitze, in der Gesellschaft von Geckos und Kakerlaken! Sie ist wirklich ein tapferes Weib. Warum habe ich sie nicht nach ihrem Alter gefragt?
In der Nacht habe ich von Herbert geträumt. Er hockte in einem Baum und kam nicht herunter. Am Fuße des Baumes stand der Landvermesser Grau und lachte. Ich konnte dem Bruder nicht helfen, weiß aber nicht mehr, warum.
Vater Tanneberg führte mich heute in die Schmiede. Die zerfressenen Wagenräder waren verschwunden und der Amboss gerichtet. Im Oktober ist die Mission Obongo fünfzig Jahre alt, das wird natürlich gefeiert. Ob ich bis dahin die Schmiede wieder in Schwung bringe? Ich bin froh, wieder nützlich sein zu können, obwohl ich mich nach längerem Laufen immer noch schwach fühle. Vater Holländer gestattet, dass ich seinen Wallach Hannibal reite, bis ich ein eigenes Pferd bekomme, vielleicht eins von der Schutztruppe.
Vater Tanneberg fragte ich nach Schwester Ursula. Er wurde über und über rot und fertigte mich sehr kurz ab - sie habe viel zu tun. Mehr sagte er nicht. Meine Frage schien ihn zu verärgern. Ist der Vater eigentlich verheiratet? Er hat nie darüber gesprochen. Warum sollte er auch!
Der Brief an Herbert ist nun mit der Missionspost nach Swakopmund unterwegs. Vater Tanneberg meint, einen Monat wird er unterwegs sein, bis Herbert ihn liest. Selbst wenn er gleich antwortet, wird es lange dauern, bis sein Brief hier eintrifft. Zehntausend Kilometer, das ist sehr weit. Wie wird er vom Unglück erfahren haben?
Schwester Ursula bat mich, nicht ihre Nähe zu suchen. Missionar Tanneberg achte sehr auf korrekten Umgang innerhalb der Station. Heißt das, ich solle mich mit ihr außerhalb der Einfriedung treffen?
Die Schmiede ist ein ausgesprochenes Dreckloch - und das auf einer deutschen Missionsstation! Isaak zeigt sich überraschend gelehrig. Mich stört, dass er sich ständig entschuldigt, sich bei jeder Gelegenheit vor mir verneigt, immerhin ist er der Ältere von uns beiden.
Isaak kam völlig verstört in die Schmiede, ich musste Hannibal satteln und zur Werft reiten, er lief nebenher. Seine Frau lag in den Wehen. Zwei alte Weiber klagten, anstatt zu helfen, als gäbe es einen solchen Fall auf der Werft das erste Mal, dabei wimmelt es hier von Kindern!
Ich ritt zurück und holte Schwester Ursula. Sie schickte mich vor die Tür der Hütte, wenig später hörte ich das Kind schreien. Zu meiner Überraschung war das Negerbaby weiß! Oder besser rosarot, wie die Kinder daheim. Nur an den Ohren und am Hodensack zeigte sich die tatsächliche Herkunft. Die Augen des Jungen seien sogar blau, behauptete Schwester Ursula lachend.
Wie schön sie lachen kann!
Als wir heimritten, ging die Sonne blutrot unter, und Schwester Ursula schmiegte sich eng an mich.
Vater Tanneberg erwartete uns schon am Eingang zur Station, er war sehr freundlich. Als er Schwester Ursula aus dem Sattel half, schien sein Griff an Ursulas Arm fester als nötig. Für einen winzigen Augenblick verzog sie das Gesicht wie im Schmerz, war aber gleich wieder heiter.
Was ist mit Vater Tanneberg und Schwester Ursula? Werde ich eifersüchtig? Und warum auf Vater Tanneberg, wo doch sein Stellvertreter, Vater Holländer, viel jünger ist? Was nehme ich mir heraus!
Das Wichtigste ist nun, gute Holzkohle zu beschaffen. Mein Vorgänger habe sie in der Nähe von Erindi gekauft, erklärt mir Vater Tanneberg, aber dahin könne man im Moment nur in militärischer Begleitung reiten, und selbst das sei nicht ungefährlich, einige Viehtreiber wilderten herum.
Als das erste Eisen auf dem Amboss sang, kamen die Schwarzen angelaufen. Hellkirschrot zog ich das Vierkant nach wenigen Minuten aus dem Feuer. Leider ist Isaak als Zuschläger zu schwach, gab schon nach einem knappen Dutzend von Schlägen eine lächerliche Figur ab. Er war gekränkt, als die anderen Bambusen spotteten. Isaak ist einfach schlecht ernährt, denke ich.
Am Abend standen Blumen auf meinem Tisch. Blüten wie der heimatliche Phlox, Isaak nennt sie Kuss der Mulattin. Angeblich hat er nicht gesehen, wie die Blumen auf meinen Tisch gekommen sind, aber die gleichen wachsen hinter dem kleinen weißen Haus, in dem Schwester Ursula wohnt!
Vater Tanneberg war zu Tisch des Lobes voll - nun gibt es auf Obongo wieder eine ordentliche Schmiede! Nur muss neue Holzkohle bald her, und das heißt nach Erindi reiten.
Vater Holländer meint, dass die Strecke auch durch mich, als mäßigen Reiter, mit Hannibal in einem Tag zu schaffen sei. Dann könne man ja ausruhen, alles verabreden. Man müsse auf dem Rückweg nicht unbedingt die Ochsenkarren mit der Holzkohle begleiten, was aber ist mit den herumziehenden Viehtreibern?
Wünschte mir sehr, dass Vater und Mutter hier in Obongo ihre letzte Ruhe fänden. Ob man sie umbetten kann, vom Strand an der Sandwichbai hierher?
In Frau Sorge erst auf Seite zehn. Das Lesen unter der blakenden Lampe ist doch sehr mühsam. Wie Vater Tanneberg das Abend für Abend durchhält!
Vater Tanneberg kommt jeden Abend in die Schmiede, immer mit neuer Arbeit, aber auch immer mit einem freundlichen Wort, er lobt meine Tatkraft. Der Küchenbambuse
Jacob bringt zwischendurch in einem irdenen Krug frisches Wasser.
Drei blütenweiße Schweißtücher hingen am Morgen über meinem Stuhl. Natürlich weiß ich, wer sie genäht und hingehängt hat. Sie riechen so frisch und so rein ...
Isaak wird von Tag zu Tag geschickter im Zuschlagen, ich aber bin am Abend wie ausgelaugt, falle auf mein Lager. Bin heute Morgen so erwacht, wie ich mich gestern, am späten Nachmittag, für Minuten nur niedergelegt habe, angezogen und nicht zur Nacht gewaschen. Scheinbar hat mich niemand bei der Abendmahlzeit vermisst, das ist merkwürdig.
Morgen besucht Vater Tanneberg Erindi, er will sich auch um Holzkohle kümmern.
Schwester Ursula sollte ihn begleiten, aber sie zeigte sich unpässlich, so musste Schwester Hilde, die Ältere, aufs Pferd. Vater Holländer riss, zu meinem Erstaunen, wie befreit die Arme hoch, als die kleine Karawane hinter den Schirmakazien verschwand. Noch vierzehn Tage, bis das nächste Schiff mit Post aus Deutschland vor Swakopmund festmacht. Wenn ich mich nicht verrechnet habe.
Blutrot ging die Sonne unter, wie auf unserem gemeinsamen kurzen Ritt. Ursula mag die Bäume am Fluss, das schwache Grün inmitten der versengten Landschaft. Wenn erst einmal der Regen kommt, sagt sie verträumt. In Deutschland ist Ursula ohne Eltern aufgewachsen und ohne Verwandte, in einem kirchlichen Heim bei Hannover. Es war für sie selbstverständlich, die dort übliche Tracht anzuziehen, als sie das Alter dafür hatte. Sie habe Gutes an sich erfahren und wolle nun selbst Gutes tun, so ihre Rede.
Wir gingen dicht nebeneinander, ohne Angst. Manchmal berührte sie, wie versehentlich, meine Hand. Dann war endlich die Nacht gekommen, und das Konzert der Zikaden setzte wieder ein.
Ursula duftet nach Lavendel - überall -, und Vater Tanneberg ist in Erindi ...
Nun bin ich nicht mehr allein. Es ist ein Glück mit uns und mein erster wirklicher Sonntag in Südwest, für den ich Dir, Herr, von ganzem Herzen danke!
Schon am frühen Abend war Vater Tanneberg aus Erindi zurück, natürlich mit zwei Sack Kohle, er trug sie, mit Isaaks Hilfe, eigenhändig in die Schmiede!
Die neue Holzkohle ist fest und macht gute Hitze. Fünf Reifen an einem Tag aufgezogen, langsam gewöhne ich mich an die Temperaturen.
Das schwarze Heft lag mittags nicht links unter meinem Kopfkissen, sondern rechts. Mein Bambuse wird nachlässig.
Wie schaffe ich es nur, am großen Tisch Ursula nicht anzusehen!
Vizefeldwebel Schirmer, mit zwei Gemeinen in Begleitung, nimmt für drei Tage Quartier bei uns. Einer der Soldaten, ein großer, schwarzhaariger Kerl, versuchte mit Ursula anzubändeln. Vater Tanneberg wies ihn scharf zurecht. Er ist eben doch die Seele der Missionsstation! Seit langem wieder Pferde beschlagen, durchweg schöne Tiere, die Schirmers Leute reiten. Nur bei einem jungen Wallach musste ich den Huf kräftig nachschneiden, der Reiter, einer der Gemeinen, sah es nicht gern. Was wundert's, sich darum zu kümmern ist seine Angelegenheit. Meine Sorge um das Tier sehen er und der Vize sicher als Kritik.
Mit Ursula in unserem Versteck am Fluss.
Isaak hat Vater Tanneberg in die Werft gelockt, er möge sich doch endlich den Neugeborenen anschauen. Isaak wusste längst von mir und Ursula, er gab es mir heute zu verstehen. Woher nur?
Es ist die traurige Wahrheit, Vater Tanneberg stellt Ursula nach, seit einem Jahr, eigentlich seit dem Tag ihrer Ankunft. Er ist hartnäckig, aber nie zudringlich, sagt Ursula.
Schon nach Mitternacht, längst ist es still in der Station, auch kein Gesang mehr, nur die Zikaden und die Insekten an der Lampe, aber ich finde keine Ruhe.
Wenn es Arbeit für die Schmiede gibt, bittet mich Vater Tanneberg neuerdings in seine winzige Amtsstube, die stets kühl und dämmrig ist. Dort wird jetzt alles abgemacht zwischen ihm und mir, immer freundlich und kein Wort über Ursula.
Mir ist, als brenne eine Lunte am Pulverfass und auf dem Fass sitze ich. Manchmal, wenn ich in Frau Sorge lese, geht es mir für ein Weilchen besser.
Die Station gleicht einem Wespennest, selbst die Sonntagspredigt wurde von Vater Holländer nur so heruntergehaspelt, in großer Eile. Die Kinder rennen aufgeregt hin und her. Geschrei und Staub. Jede Stunde wird der Ochsentreck aus Swakopmund erwartet, ein Bote hat dessen Abgang gemeldet.
Dann ist es soweit, ich halte an mich und bleibe in meinem Zimmer. Nach Mitternacht ist alles ausgepackt. Für mich war nichts dabei.
Von Vater Holländer, wohl als Trost gedacht, ein Blatt aus den eben eingetroffenen Zeitungen. Die Deutsche Kolonialzeitung schreibt über unser Unglück!
NANNY VOR SÜDWEST GESTRANDET
Wundersame Rettung fast aller Passagiere
Eigener Bericht. Von Bremen nach Lüderitzbucht unterwegs, das ersehnte Land vor Augen, packte eine gewaltige Faust das Schiff.
Kapitän Ernst Gau, ein mit den Wassern aller Meere gewaschenen Fahrensmann, bestätigte später, einen solchen Sturm bei hellem Himmel und klarer Sicht noch nicht erlebt zu haben. Das Ruder brach, und die Nanny trieb auf eine Sandbank, die es ja hier in der Sandwichbai so zahlreich gibt. Die Matrosen banden sich an der Reling mit Tampen fest, um wenigstens einen Teil der Decksladung zu retten. Die Passagiere wähnte man alle zu Tisch in der Messe. Dem war leider nicht so. Familie Köppen aus Frankfurt an der Oder, rechtschaffene Leute, die auf Überfahrt waren, um in Südwest zu siedeln, sie konnten sich nicht sattsehen, denn Land war schon in Sicht.
Die plötzliche Schlagseite des Schiffes beim Stranden ließ sie und zwei Besatzungsmitglieder über Bord gehen.
Zwei männliche Leichname und der einer Frau wurden nach zwei Tagen gefunden. Ob Karl Köppen dabei war, ist nicht mit Sicherheit zu sagen, die Suche ging bis dato weiter.
Wie durch ein Wunder wurde der Sohn der Familie Köppen gerettet. Offensichtlich hatte ihn jemand an eine Planke gebunden, wie das Oberhaupt einer dem Strand nahe gelegenen Hottentottensiedlung gestenreich erklärte.
Die Wilden hatten den deutschen Jungen versteckt, offensichtlich wollten sie ihn bei sich behalten, vielleicht sogar mit einem ihrer Weiber verheiraten. Aber Hermann Köppen, siebzehn Jahre jung, frischgebackener Schmiedegeselle, widerstand, und so konnte ihn schon drei Tage später der herbeigerufene Pfarrer Tanneberg von der Missionsstation Obongo in seine Arme schließen. Die Qual des Jungen hatte ein Ende. Wir sind sicher, dass wir von Hermann Köppen noch hören werden! Ehren wir die Heimgegangenen! Hoch leben unsere tapferen Siedler, es lebe unser schönes Südwest!
Die halbe Nacht habe ich wach gelegen.
Vater ist tot, das ist die bittere Wahrheit, ich habe selbst seinen Leichnam gesehen.
Auch hat mich niemand gefangengehalten, im Gegenteil, die Schwarzen waren froh, als einer ihrer Männer mit Vater Tanneberg auftauchte und er mich mit nach Obongo nahm. Warum machen sie Hoffnung, wo keine sein kann? Warum schreiben sie das?
Eben kam Vater Tanneberg. Er zeigte auf das schwarze Heft und lobte meine Beharrlichkeit. Den Zeitungsausschnitt, der neben dem Heft lag, übersah er. Es habe sich noch ein Brief für mich angefunden, erklärte er und zog einen lädierten Umschlag aus der Tasche. Endlich das lang erwartete Zeichen!
Herbert weiß alles, und er ist stolz auf mich, seinen Bruder. Ich solle mir keine Sorgen machen, es gehe ihm bei den Graus nicht schlecht, und bald sei ja die Lehre als Landvermessergehilfe beendet. Die Oder schiebe nun das Eis an der Großen Brücke zusammen, und die dicke Metha aus dem Nachbarhaus habe ihr Kind.
Wie fern das alles schon ist! Schön wäre es, mit Ursula jetzt durch den Schnee zu gehen.
Ursula ist zwei Jahre älter als ich, die dicke Metha war drei Jahre ihrem Mann voraus. Das macht überhaupt nichts, wie man sehen kann.
Ursula ist für zwei Wochen nach Swakopmund gereist, Vater Tanneberg bestand auf ihrer Begleitung.
Die Arbeit in der Schmiede wird erträglicher, da die Tage nicht mehr so heiß sind und Isaak dies und jenes schon allein zustande bringt. Der Bambuse ist überhaupt guter Laune, sein Neugeborenes gedeiht prächtig, wie er beteuert.
Der oberste Reichsbeamte ist in Südwest nun der Major Leutwein. Er führte sich auf ziemlich unglückliche Art ein, da er den Häuptling der Khauas wegen Ungehorsams erschießen musste.
Mit Hannibal zurück von der Farm Hartveld. Der Farmer Stenzel hatte drei Ochsenwagen zu reparieren. Eine einfache Sache, da er selbst eine Feldschmiede besitzt, nur nicht damit umgehen kann. Selbstverständlich, dass ich kein Geld nahm.
Er lud mich zur Straußenjagd ein. Nicht schießen, nur jagen, hetzen, hetzen, bis sie umfallen. Schießen zerreißt die Federn. Endlich einmal raus aus meinem Rußloch!
Hannibal dampfte ordentlich. Stenzel schaffte drei, ich nur zwei. Gut für den Anfang und einen schönen Schwung bester Federn, die Damen in der Reichshauptstadt werden entzückt sein, dorthin liefert Stenzel nämlich, direkt über die Woermanns, via Hamburg, Schwerin. Verdeckt natürlich, wird nicht gern gesehen, da Strauße seltener werden.
Das Land ist groß und wunderbar.