Dietger Lather
FÜR DEUTSCHLAND IN DEN KRIEG
Für Deutschland in den Krieg
Auslandseinsätze der Bundeswehr
und was Soldaten, ihre Angehörigen
und die deutsche Gesellschaft
darüber wissen müssen
Tectum
Dietger Lather
Für Deutschland in den Krieg.
Auslandseinsätze der Bundeswehr und was Soldaten, ihre Angehörigen und die deutsche Gesellschaft darüber wissen müssen
Tectum Verlag Marburg, 2015
ISBN 978-3-8288-6277-7
(Dieser Titel ist zugleich als gedrucktes Buch unter
der ISBN 978-3-8288-3535-1 im Tectum Verlag erschienen.)
Lektorat: Saskia Schulte
Umschlagabbildung: Deutscher Scharfschütze auf dem Weg zur Stellung, Fotografie von PO 2nd Class Walter Wayman
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Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
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Die Waffen sind unheilvolle Geräte,
nicht Geräte für den Edlen.
Nur wenn er nicht anders kann, gebraucht er sie.
Ruhe und Frieden sind ihm das Höchste.
Er siegt, aber er freut sich nicht daran.
Wer sich daran freuen wollte,
würde sich ja des Menschenmordes freuen.
Wer im Kampfe gesiegt,
der soll wie bei einer Trauerfeier weilen.
Lao Tse
Tao te King – Das Buch vom Sinn und Leben
Für alle,
die in den Einsatz gehen
oder
ihn nicht vergessen können
Inhalt
Vorwort
1. Geburtswehen eines souveränen Staates
Am Anfang war das Misstrauen
Der Wandel zur weltweit einsetzbaren Armee
Der Hindukusch – Zur Verschleierung einer fehlenden nationalen Strategie
Zum Erfolg und zur Aussichtslosigkeit von Einsätzen
Streitkräfte als Instrument der Außenpolitik
2. Ausbildung für den Einsatz
Individuelle Vorbereitung
Sicherheit über alles – das Worst-Case-Prinzip und seine unbeabsichtigten Nebenwirkungen
Schießausbildung
Aufbau der eigenen Leistungsfähigkeit für den Einsatz
Ankunft in der Realität
3. Die Ausrüstung
Persönliche Ausrüstung
4. Familie und Partnerschaft
Literatur und Ratgeber
Vor dem Einsatz
Wie sage ich es meinem Partner?
Wer genießt mein vollständiges Vertrauen?
Wie sag ich es meinem Kinde?
Das Testament
Noch zu Hause oder schon im Einsatz – Abschied und Abflug
Der Alltag der Daheimgebliebenen
Die Familienbetreuung
Die Zentren der Bundeswehr
Die Betreuung durch die Stammeinheit
Zeit nehmen für Gespräche – je früher, desto besser
5. Die Tabuisierung der Ängste
Lebensnotwendiges, erlebtes und unterdrücktes Gefühl
Ängste der Kinder
Durch das soziale Umfeld geschürte Ängste
Ängste der Soldateneltern
Wer wird denn da weinen?
Nur schlechte Nachrichten sind gute Nachrichten
6. Als Reservist in den Einsatz
Die Beweggründe der Reservisten
Der Zivilist in Uniform
Persönliche Vorbereitungen
7. Kontakt in den Einsatz und nach Hause
Telefonieren und Internet – eine unendliche Geschichte
Der gläserne Soldat
Die Wiederentdeckung des geschriebenen Wortes
8. Urlaub
Von der Distanz zur Nähe
Die Wahl des richtigen Zeitraums
9. Exkurs zur interkulturellen Kompetenz
Führungskulturen in der Bundeswehr
Interkulturelle Differenzen in einem Bündnis
»Wir sind doch beide Arier!« – Zur Wahrnehmung der Deutschen
Müssen Kirchen und Klöster brennen?
Der Befehl des Oberst Klein
Indianer, Nazgul, Klingonen – Von der Wortwahl im Einsatz und ihren Auswirkungen
Frauen, Soldatinnen und Prostituierte
10. Die mediale Präsenz des Einsatzes
Der Verlust der Wirklichkeit
Skandale sind sexy und erregen die Gemüter
Vom Umgang mit Journalisten
Wie lerne ich, nichts und nein zu sagen
11. Im Einsatz
Die Monotonie des Lagerlebens
Die Anschläge der »Märtyrer«
Gewalterlebnisse totschweigen
Vom Funktionieren in extremen Situationen
Parallelgesellschaft Bundeswehr?
12. Exkurs zum ethischen Handeln
Aus Solidarität mit den USA nach Afghanistan
Vom »gerechten Krieg« zum Krieg um die Menschenrechte
Das ethische Dilemma des Soldaten
Der Schutz der Zivilbevölkerung
Der Staatsbürger in Uniform als ethisch handelnder Soldat
13. Empfehlungen für Vorgesetzte
14. Rückkehr in die neue alte Welt
Jeder Mensch ändert sich – positiv wie negativ
Schritte zurück in den Alltag
15. Schlussbemerkungen
Literaturverzeichnis
Vorwort
Die Idee zu diesem Buch wurde von einem Freund zusammen mit dem Espresso im wahrsten Sinne des Wortes serviert. Er legte dazu ein Buch über die Karrieren in der Bundeswehr auf den Tisch. Da ich auf dem Gipfel der meinigen bereits angekommen war und die Aussicht genoss, die angebotene frühzeitige Pension zu genießen, wunderte ich mich. Es wäre doch wunderbar, so die Erklärung dazu, wenn jemand ein Sachbuch schreiben würde, der selbst den Wandel der Bundeswehr erlebt hat und mehrfach im Einsatz gewesen war. Zu Beginn sprachen wir noch über einen Ratgeber für Einsatzfragen. Manche Projekte entwickeln jedoch eine Eigendynamik. So hat sich das vorliegende Buch von einem reinen Ratgeber auch zu einer Streitschrift gewandelt.
Viel zu oft wird über die Einsätze der Bundeswehr mit Worten berichtet, die sie nicht im Entferntesten realistisch beschreiben. Bereits in der Diskussion um zukünftige Einsätze werden verniedlichende Worte gewählt, »Risiken« anstelle von »Gefahren« geschildert und das Unwort »Krieg« wird wo immer möglich vermieden.
Der verkürzt zitierte Spruch, Deutschland am Hindukusch zu verteidigen, begründete auch in seiner ursprünglichen Version keinen Einsatz in Afghanistan. Über die Wortwahl von Politikern ist viel geschrieben worden und auch über ihren Unwillen, Krieg beim Namen zu nennen. Doch auch in der Bundeswehr selbst werden sprachliche Weichmacher benutzt oder mit einer formalisierten militärischen Sprache Berichte über die Realität von Einsätzen vernebelt. Das oft zu vernehmende Argument, man könne die Grausamkeit eines Krieges in der friedensliebenden, allumfassende Sicherheit suchenden Gesellschaft nicht kommunizieren, vermag ich nicht zu teilen. Im Gegenteil, die Tabuisierung des Gewalterlebens, die in Bereichen der Bundeswehr selbst praktiziert wird, führt zum Leben in einer parallelen Welt. In Publikationen wird von jungen Offizieren bereits gefordert, andere Normen und Werte zu leben als die Bevölkerung. Es mögen Anfänge sein, doch ihnen gilt es zu begegnen. Deswegen setze ich mich dafür ein, Dinge beim Namen zu benennen, Tabuisierungen zu bekämpfen, Soldaten auf alle Höhen und Tiefen menschlicher Reaktionen in Extremerfahrungen vorzubereiten sowie darüber ehrlich und in der Öffentlichkeit zu sprechen.
In einigen Kapiteln greife ich mehrmals auf meine eigenen Erfahrungen zurück. In ihnen wird der andere Charakter dieses Buches deutlich: Es ist nämlich auch als Ratgeber gedacht für all diejenigen, die in Einsätze der Bundeswehr gehen, vor allem Soldaten, aber auch Zivilisten. Welche Belastungen sich aus den Einsätzen für Familien und Angehörige ergeben, wird besonders in den Kapiteln 4 und 5 angesprochen. Welche Emotionen treten bei Soldaten und ihren Familien auf und wie geht man mit den daraus resultierenden Ängsten um? Wie kann man sich im Familien- und Verwandtenkreis sowie im sozialen Umfeld auf Einsätze vorbereiten? Wie erlebt man die Einsätze? Welche Erfahrungen werden vielleicht in den extremen Situationen des Gefechts gemacht? Wie wird die Rückkehr in die dann neue, alte Welt Deutschland erlebt? Wie bereits angesprochen werden dabei Themen berührt, die bisher in der Diskussion von offizieller Seite tabuisiert werden.
Soldaten lieben es, ihren Waffen Kosenamen zu geben und sie mit martialischen Bildern zu schmücken, deren Aggressivität den Betrachter oftmals erschreckt, vermutet der doch eine humanitäre Operation. Zudem erfinden Soldaten auch für die Zivilbevölkerung in den Einsatzgebieten und insbesondere für die Gegner Namen, die sie herabsetzen. Im Gegensatz dazu wird der interkulturellen Kompetenz bei den weltweiten Einsätzen der Bundeswehr eine Schlüsselqualifikation zuerkannt, um sich in fremden Kulturen angemessen zu verhalten. Zweifelsohne sind deutsche Soldaten in den Einsatzgebieten anerkannt und oft willkommen. Es darf aber bezweifelt werden, ob dies das Ergebnis einer interkulturellen Kompetenz ist. Selten liegen Anspruch und Wirklichkeit so weit auseinander wie auf diesem Gebiet.
Pazifistische Kreise behaupten oft, Soldaten würden in der Ausbildung zum Töten gedrillt. Als seelenlose Maschinen würden sie gut trainiert im Extremfall funktionieren. Nichts ist so falsch wie diese gerne geglaubten Vorurteile. Doch wie begründet man den Einsatz von Waffen, der letztlich Menschenleben tötet? Die dem Töten zugrunde liegende Ethik wird kaum thematisiert, Einsätze eher unter juristischen Aspekten beurteilt. Diesem Thema ist ein gesondertes Kapitel gewidmet, in dem auch die Rolle der christlichen Religionen kritisch betrachtet wird.
Hätte ich damals, als mir der Espresso zusammen mit der Buch-Idee gereicht wurde, geahnt, wie viel Engagement aufzubringen ist, um solch ein Projekt zum Abschluss zu bringen, wäre meine Zusage zögerlicher ausgefallen. Ohne die Hilfe, die ich von Soldaten, Wissenschaftlern und Autoren erhalten habe, hätte ich das Buch kaum im vorliegenden Umfang schreiben können. Besonders danke ich Saskia Schulte, die mich als Lektorin immer wieder mit der bundeswehreigenen Fachsprache konfrontierte und Formulierungen einforderte, die ein jeder verstehen kann. Ohne sie wäre das Buch nicht in dieser Qualität erschienen. So mag sich manch Uniformierter über die zivile Sprache wundern, mit der ein militärischer Begriff nicht eindeutig zu erläutern ist. Dafür verstehen es mehr Leser. Für jeden Hinweis, der eine bessere Formulierung mit sich bringt, bin ich dankbar. Wenn ich im Buch von Soldaten schreibe, sind natürlich die Soldatinnen eingeschlossen. Die in offiziellen Schriften gewählte Schreibweise »Soldaten und Soldatinnen« ist in den Zitaten übernommen, hätte aber ansonsten lediglich die Seitenzahl erhöht.
Die Zusammenarbeit mit dem Tectum Verlag habe ich als sehr angenehm empfunden. Sie war von einer offenen und konstruktiven Zusammenarbeit geprägt, die auch den Stil des Verlegers Heinz-Werner Kubitza auszeichnet. Mein Dank gilt ebenfalls Sabine Manke und Ina Beneke, die das Werden des Projektes von Beginn an begleiteten.
Die manchmal ungewöhnlichen Arbeitszeiten wie auch die wiederholten Fragen, ob das Geschriebene verständlich sei, haben meine Frau, Marion Näser-Lather, nur hin und wieder aus der Fassung gebracht. Ihre Anregungen und Kommentierungen sowie die inhaltlichen Diskussionen waren sehr wertvoll.
1. Geburtswehen eines souveränen Staates
Am Anfang war das Misstrauen
Die Bundesrepublik Deutschland ist ein junger Staat – mit seinen 24 Jahren noch nicht einmal eine Generation alt. Geboren aus der Vereinigung zweier deutscher Staaten wurde sie von ihren nächsten Nachbarn zunächst misstrauisch und mit Sorge beobachtet. Der britischer Minister für Handel und Industrie, Nicolas Ridley, der an den Fortbestand der balance of power glaubte und der Vereinigung beider deutscher Staaten öffentlich widersprach, verlor sein Amt. Dabei hatte er nur Magarete Thatchers Obstruktionspolitik gegenüber der Vereinigung Deutschlands enthüllt. Sie selbst sprach beim Staatsbankett der zwölf Regierungschefs der damaligen Europäischen Gemeinschaft am 8. Dezember 1989 den Satz: »Zweimal haben wir die Deutschen geschlagen, jetzt sind sie wieder da«1.
Etwas vornehmer liest sich die Gegnerschaft des italienischen Ministerpräsidenten Andreotti, der sagte: »Ich mag Deutschland sehr … Ich mag das Land so sehr, dass ich mir wünsche, es wären noch zwei Länder.«2
Das Unbehagen, ein vereinigtes Deutschland könne sich auf seine alte Stärke besinnen und zum bestimmenden Machtfaktor in Europa werden, verdrängte anfangs die historische Erkenntnis, dass geteilte Staaten fast immer Resultat und Ursache von Kriegen waren. Auch die zu diesem Zeitpunkt schon über 44 Jahre andauernde Integration der Bundesrepublik Deutschland in die westliche Staatengemeinschaft und in die kollektiven Sicherheitssysteme demokratischer Staaten, an erster Stelle der NATO, vermochte dieses Unbehagen nicht zu dämpfen.
Der Wandel zur weltweit einsetzbaren Armee
Die Vereinigung Deutschlands verunsicherte auch viele höhere und höchste Offiziere der Bundeswehr. In die Genugtuung darüber, zum Zusammenbruch des Warschauer Paktes beigetragen zu haben, mischten sich Zweifel, ob die Bundeswehr zukünftig noch ihren ursprünglichen Verteidigungsauftrag wahrnehmen müsse. Umringt von Freunden erschien ein Angriff auf Deutschland sehr unwahrscheinlich, wenn er nicht sogar auszuschließen war. Den Auftrag der Streitkräfte, die Bundesrepublik Deutschland zu verteidigen, sahen sie als erfüllt an. In Streitkräften aufgewachsen, die auf die Verteidigung des eigenen Staates fixiert waren, versagten sie sich innerlich einer Verpflichtung, außerhalb des eigenen Landes eingesetzt zu werden. Viele der Offiziere äußerten Zweifel, ob es mit dem Grundgesetz überhaupt vereinbar war, die Bundeswehr zur Kriegsführung außerhalb Deutschlands einzusetzen. Mit dieser Auffassung wurden ironischerweise die bereits existierenden Planungen in einem multinationalen Bündnis – der NATO – völlig außer Acht gelassen. Marine- und Luftwaffenoperationen beinhalteten schon immer das Eindringen in die Hoheitsgebiete angreifender Staaten. Teile des Heeres und der Luftwaffe waren in die sogenannte NATO-Feuerwehr integriert.3 Sie war eine schnell verfügbare multinationale Truppe in Stärke einer Brigade, verstärkt durch Luftstreitkräfte. Aufgestellt wurde sie, um bei einem Angriff sofort an den Flanken des NATO Bündnisses eingesetzt zu werden. Im Verteidigungsfall der NATO wären die integrierten deutschen Einheiten zum Beispiel in Norwegen, in Anatolien oder in Italien eingesetzt worden. Die Beschränkung der Verteidigung auf das Gebiet der Bundesrepublik Deutschlands schloss ebenfalls die im Grundgesetz enthaltenen Optionen aus, im Rahmen eines Systems kollektiver Sicherheit weltweit eingesetzt zu werden.
Das geschilderte Unbehagen innerhalb der militärischen Elite spiegelte sich in der Politik wider. Mit dem Zusammenbruch des Warschauer Paktes, dem Ende des Kalten Krieges, forderten viele Politiker eine Friedensdividende. Der Verteidigungshaushalt wurde wiederholt gekürzt, bis die Einsicht wuchs, die Bundeswehr dürfe nicht zum Steinbruch der Finanzpolitiker verkommen. Die Rechtmäßigkeit des ersten größeren Einsatzes der Bundeswehr 1993 in Somalia ließen die Freien Demokraten, obwohl sie Regierungspartei waren, vom Bundesverfassungsgericht überprüfen. Das Studium des Grundgesetztes hätte das Verfahren jedoch überflüssig machen können. In diesem Vorgehen offenbarte sich die Kapitulation einer politischen Elite vor den Herausforderungen, die an einen souveränen Staat gestellt werden. Anstelle Strategien zu entwickeln, wozu zukünftig Streitkräfte der Bundesrepublik eingesetzt werden sollen, wurden juristische Grundsatzfragen diskutiert. So wurde die politische Verantwortung an das Bundesverfassungsgericht abgegeben. Das Gericht verwies diese Verantwortung an das Parlament zurück.
Die Vereinigung Deutschlands wurde zunächst vor allem von den angrenzenden Nationen wachsam, teils mistrausch begleitet. Mit der Bestätigung, dass Deutschland seine Sicherheit unverändert in multinationalen Strukturen suchen wird, schwand der Argwohn gegenüber einem möglicherweise wiedererstarkenden Deutschland. In den ‚Verteidigungspolitischen Richtlinien‘ von 1992 wird dazu ausgeführt:
»Verteidigungsvorsorge kann künftig nicht auf das eigene Territorium beschränkt bleiben, denn sie ist ein kollektiver Ansatz. Für Deutschland bedeutet Verteidigung immer Verteidigung im Bündnis im Sinne einer erweiterten Landesverteidigung. Ein Teil der deutschen Streitkräfte muß daher zum Einsatz außerhalb Deutschlands befähigt sein.«4
Hierbei ist zu berücksichtigen, dass Verteidigungspolitische Richtlinien vom Verteidigungsminister herausgegeben werden – ein Dokument des Verteidigungsministeriums, das natürlich im Kabinett vorgestellt wird, nicht jedoch der Billigung der Regierung bedarf. Die vom damaligen Verteidigungsminister Volker Rühe gewählte Vorgehensweise war der gesellschaftlichen Situation geschuldet. Über die Rolle der Bundeswehr jenseits der Verteidigung Deutschland und deren Einsatz als Instrument der Außenpolitik herrschte weder in der Gesellschaft noch im Kabinett ein Konsens. So sind auch die Aussagen zum Leitbild und Selbstverständnis des Soldaten als Auffassung des Verteidigungsministeriums zu werten:
»Unsere Soldaten müssen künftig aber auch bereit sein, in einer eng verflochtenen Welt neben der Verantwortung für ihr Land Mitverantwortung für die bedrohte Freiheit und das Wohlergehen anderer Völker und Staaten zu übernehmen. Sie sollen mit derselben Tatkraft und Tüchtigkeit, mit der sie ihre Kampfaufträge durchführen, zur internationalen Kooperation, zur Hilfe und zur Rettung fähig sein. Soldatische Professionalität muß sich dazu an den realen Bedingungen von Krieg, Gefahr und menschlichem Elend orientieren, unter denen Soldaten künftig ihren Dienst leisten werden. Dieser notwendige Anpassungsprozeß stellt eine erhebliche Herausforderung dar – mit Blick auf Führung, Ausbildung und Erziehung. Unter allen Herausforderungen, die wir bewältigen müssen, ist die geistige Auseinandersetzung mit den revolutionär veränderten Bedingungen für unsere Sicherheit von besonderem Gewicht.«5
Im Unterschied zu den Vereidigungspolitischen Richtlinien wird ein Weißbuch von der Regierung gebilligt. Im Weißbuch des Jahres 1985 zur Lage und Entwicklung der Bundeswehr war deren Auftrag noch ausführlich in den Kategorien Frieden, Krise und Krieg beschrieben.6
Neun Jahre später erscheint im Jahr 1994 das nächste Weißbuch. Der Auftrag der Bundeswehr wird jetzt an die gewandelte Rolle der Streitkräfte als Instrument der Außenpolitik angepasst. Eine Rolle, über die im Jahr 1994 kein gesellschaftlicher Konsens herrschte. In der öffentlichen Diskussion wurde der Auftrag der Bundeswehr von vielen unverändert aus der Verfassung abgeleitet. Nach Artikel 87a stellt der Bund Streitkräfte zu seiner Verteidigung auf. Im Weißbuch wird die Verteidigung Deutschlands immer noch als bedrohlichster, gleichzeitig aber als unwahrscheinlichster Fall beschrieben. Deswegen wird man einen Auftrag der Bundeswehr für den Kriegsfall vergeblich suchen. Die mögliche Beteiligung an Kriegen wird mit den Worten umschrieben, zur Bewältigung »der wahrscheinlichen internationalen Krisen und Konflikte«7 beizutragen. Den Spagat zwischen verfassungsmäßigem Auftrag und der zukünftigen Rolle als weltweit einsatzbare Streitmacht löst das Ministerium, indem es den Auftrag in fünf gleichrangige Aufgaben unterteilt.
»Die Bundeswehr
•schützt Deutschland und seine Staatsbürger gegen politische Erpressung und äußere Gefahr;
•fördert die militärische Stabilität und die Integration Europas;
•verteidigt Deutschland und seine Verbündeten;
•dient dem Weltfrieden und der internationalen Sicherheit im Einklang mit der Charta der Vereinten Nationen und
•hilft bei Katastrophen, rettet aus Notlagen und unterstützt humanitäre Aktionen«8.
Vor allem die letzten beiden Strichaufzählungen nutzte das Verteidigungsministerium, um den Wandel zur weltweit einsetzbaren Armee in der Öffentlichkeit zu verankern. Das hier gewählte Vokabular war am ehesten zu vermitteln. Dem Weltfrieden zu dienen und humanitär tätig zu werden, war ein selbst von Gegnern der Bundeswehr kaum angreifbarer Auftrag für die Streitkräfte. Der Krieg hingegen war in den Dokumenten, die für die Öffentlichkeit bestimmt waren, tabuisiert worden. Die weitgehende Vermeidung des Begriffes Krieg setzte sich jedoch genauso in den militärischen Dokumenten fort. Die in einem zweijährigen Diskussionsprozess im Bundesministerium der Verteidigung und in den obersten Führungszirkeln des Heeres entstandene »vorläufige Leitlinie für die operative Führung des Heeres« vermeidet konsequent, von Aufträgen des Heeres im Krieg zu sprechen. Stattdessen wird der oben angeführte Auftrag der Streitkräfte für das Heer in Schutzaufgaben, Gestaltungsaufgaben sowie Hilfs- und Sonderaufgaben unterteilt.9 Was sich später in Afghanistan für den Soldaten ganz real als Krieg darstellte, wird in diesem Dokument den Gestaltungsaufgaben zugeordnet.10 Es werden Begrifflichkeiten gewählt, die eher verschleiern als auf zu erwartende Realitäten vorzubereiten.
In den Streitkräften wurde die geforderte geistige Auseinandersetzung über das sich wandelnde Selbstverständnis der Bundeswehr keineswegs als selbstverständlich angesehen. Das Zentrum für Innere Führung in Koblenz versteht sich als zentrale Bildungseinrichtung, an der die Unternehmensphilosophie der Bundeswehr – die »Innere Führung« – beständig weiter entwickelt wird. Die Integration der Streitkräfte in die Gesellschaft ist ein Wesensmerkmal der Inneren Führung. 1991, ein Jahr vor dem Erscheinen der Vereidigungspolitischen Richtlinien hätte man also am Zentrum eine Diskussion über den oben erwähnten Anpassungsprozess erwarten können. Doch selbst bei einem Seminar für Kommandeure lehnten es die Dozenten – auf den Verteidigungsauftrag der Bundeswehr verweisend – ab, über Auslandseinsätze und die oben angesprochenen Herausforderungen zu diskutieren. Als im Jahr 1994 die konzeptionellen Grundlagen für das Kommando Spezialkräfte entworfen wurden, fragte ein beteiligter Generalstabsoffizier in einer Sitzung, ob diese Soldaten in einem Einsatz außerhalb Deutschlands auch töten dürften, während in unserem Land Frieden herrsche. Es folgte eine Diskussion, deren bejahendes Ergebnis bei mehr als einem anwesenden Stabsoffizier ungläubiges Staunen auslöste, weil sie die Konsequenzen weltweiter Einsätze nicht durchdacht hatten.
Anhand dieser beiden Begebenheiten zeigt sich beispielhaft, dass der weltweite Einsatz auch in Kriegsgebieten mit den Konsequenzen des Kampfes und des Tötens keineswegs von allen akzeptiert war. Die in den Verteidigungspolitischen Richtlinien geschilderte erhebliche Herausforderung wurde nicht in aller Konsequenz zu Ende gedacht. Es trat eher eine gegenteilige Entwicklung ein. Die notwendige, breite Diskussion innerhalb der Bundeswehr über den in der Realität grundlegend veränderten Auftrag der Streitkräfte, weltweit eingesetzt zu werden, wurde bei den Berufssoldaten, die ihren Beruf mit dem Selbstverständnis ausübten, das eigene Land zu verteidigen, nicht geführt. Jedoch diskutierten vor allem Zeitsoldaten in inneren Zirkeln über den Wandel, den manch einer nicht mitvollziehen wollte und deswegen die Bundeswehr verließ. Es fand ein schrittweiser Wandel statt, der sich im Wesentlichen klassisch militärisch in den Kategorien Befehl und Gehorsam vollzog. Die Bundeswehr ist eine Armee, die in den Einsätzen lernte, mit Kampf, Verwundung, Verstümmelung und Tod umzugehen. Sie durchlief einen schmerzhaften und in der militärischen Bürokratie oftmals zum vorübergehenden Stillstand verdammten Lernprozess – einen Lernprozess, der sich aus den militärischen Erfahrungen speiste und sich damit zwangsläufig auf die Verbesserung der Ausbildung, der Ausrüstung und der funktionalen Abläufen von Operationen konzentrierte. Ethische und moralische Aspekte wurden dabei oftmals ausgeblendet oder die Diskussion darüber den religiösen Einrichtungen innerhalb der Streitkräfte überlassen.
Damit die Bundeswehr in Deutschland als weltweit verfügbare Streitkraft gesellschaftliche Akzeptanz erlangte und die Zustimmung des Parlamentes zu den Einsätzen erreicht werden konnte, wurde bei Einsätzen vor allem ihr humanitärer und defensiver Charakter betont. Die bundeswehrinternen wie auch öffentlichen Diskussionen um diesen Wandel standen in krassem Widerspruch zu den Auffassungen innerhalb der NATO und vor allem zum Selbstverständnis der anglo-amerikanischen Streitkräfte. Bei dem wichtigsten militärischen Bündnispartner, den Vereinigten Staaten von Amerika, widerspricht eine defensive Ausrichtung der Streitkräfte dem nationalen Selbstverständnis als Weltmacht. Der Golfkrieg des Jahres 1991 bewies dies mit der Operation Desert Storm eindrucksvoll. Auch in den Folgejahren wurden die Streitkräfte der USA unverändert darauf ausgerichtet, mit offensiven Operationen einen Krieg zu gewinnen. Die sogenannten war fighting capabilities wurden ausgebaut, um weltweit eingreifen zu können. Auf den am 11. September 2001 erlittenen nationalen Schock reagierten die USA mit der Ausrufung des Krieges gegen den Terrorismus. Dieser war against terrorism wurde in Deutschland als »Kampf« gegen den Terrorismus bezeichnet und so bereits sprachlich in seinen Konsequenzen weichgespült. Schließlich führten die US-amerikanischen Streitkräfte einen Krieg in Afghanistan, um die Terrorherrschaft der Taliban zu beenden. Die Bundeswehr an einem Krieg zu beteiligen, war zum damaligen Zeitpunkt jedoch unvorstellbar. Selbst der Einsatz der deutschen Spezialkräfte wurde vor der Öffentlichkeit geheim gehalten – eine zum Scheitern verurteilte Kommunikationsstrategie. Ein US-amerikanischer Oberstleutnant lobte in einem Interview die Professionalität der deutschen Kräfte in Afghanistan.
Die in der Allianz eingesetzten deutschen Offiziere wurden von ihren alliierten Kollegen hingegen mit Forderungen konfrontiert, sich vollständig in die Operationen des Bündnisses einzubringen. Es wurde den bisher in der Weltpolitik militärisch abstinenten Deutschen eine Zeitspanne zugebilligt, um sich an die Verantwortlichkeiten einer souveränen Nation und einer wirtschaftlichen Großmacht zu gewöhnen. Die unverhältnismäßig lange Dauer des Wandels, das deutsche Zögern, sich uneingeschränkt zu beteiligen und die strikt defensive Ausrichtung deutscher Einsätze wurden jedoch mit zunehmender Verwunderung zur Kenntnis genommen. Die Deutschen wurden als sunshine soldiers verspottet, die es verlernt hätten zu kämpfen, die keinen Mut zum Kampf besäßen. »Die Deutschen müssen das Töten lernen«11, titelte der Spiegel im Jahr 2006 und nahm Bezug auf die Kritik der Alliierten. Nur selten vernahm man Stimmen, die den deutschen Soldaten zwar zubilligten, kämpfen zu können, aber den Politikern die Schuld daran gaben, dass der Beruf des Soldaten von den Deutschen nicht vollständig ausgeübt werden durfte. Offiziere und Generale, die in NATO-Verwendungen eingesetzt waren oder bereits Erfahrungen im Einsatz mit Alliierten besaßen, drängten auf robuste Mandate, die auch den Kampfeinsatz legitimierten.12 Der Satz, der Kampf unterscheide Männer von Buben, machte die Runde. Die Reputation der Streitkräfte wurde in internationalen Einsätzen von den Bündnispartnern an der Bereitschaft zum Kampf und unterschwellig an der Anzahl der Toten gemessen.13 Nichts zeigte deutlicher die kulturellen Unterschiede zwischen US-amerikanischen und britischen zu den deutschen Streitkräften. Die ethische und moralische Fragwürdigkeit, den Wert von Streitkräften an der Anzahl von Gefallenen zu messen, wird an späterer Stelle aufgegriffen.
Es ist dem damaligen Verteidigungsminister Volker Rühe gelungen, die Öffentlichkeit in Deutschland schrittweise auf die neuen Aufgaben der Bundeswehr vorzubereiten. Langsamer und behutsamer, als einige Generale und Admirale es vorschlugen, aber doch schnell genug, um zumindest im Bundestag eine breite Mehrheit zu den Einsätzen der Bundeswehr zu erlangen. Die Prinzipien der Inneren Führung, die Soldaten vom Wandel zu überzeugen, damit sie aus Einsicht handeln würden, missachtete er. Den Gehorsam der Soldaten erzwang er unter anderem dadurch, dass er abweichende Meinungen unnachgiebig ahndete, weil er eine aus der Bundeswehr in die Öffentlichkeit getragene Diskussion fürchtete, die seine politischen Zielsetzungen gefährden könnte. Doch auch ohne die eigentlich notwendige interne Auseinandersetzung über die gewandelte Rolle der Bundeswehr war es eine Dekade nach dem Einsatz in Somalia für die jüngeren Soldaten selbstverständlich geworden, dass weltweite Einsätze zu ihrem Beruf gehören werden.
Hingegen waren noch im Jahr 2000 weit über 90 Prozent der an der Führungsakademie der Bundeswehr lehrenden Oberste nicht bereit, freiwillig einen Einsatz auf dem Balkan auf sich zu nehmen. Dies spiegelte sich auch in der Umfrage des Deutschen Bundeswehrverbandes wider: Danach würden circa 73 Prozent der Berufssoldaten ihren Kindern abraten, in ihre Fußstapfen zu treten.14 An diesen Beispielen wird deutlich, wie groß die innerliche Distanz in der Führungsschicht der Streitkräfte gewesen war, die Bundeswehr zu einer weltweit einsetzbaren Streitmacht umzugestalten. Trotz alledem genießen die deutschen Streitkräfte in den Einsätzen mittlerweile eine sehr hohe Reputation.
Der Hindukusch – Zur Verschleierung einer fehlenden nationalen Strategie
Die Legitimation der Wehrpflicht war seit der Vereinigung Deutschlands im politischen und öffentlichen Raum diskutiert worden. Zwar argumentierten die Befürworter der Wehrpflicht, sie sei legitimes Kind der Demokratie, doch in den Einsatz durften die Wehrpflichtigen nicht. Der war den Freiwilligen, den Zeit- und Berufssoldaten vorbehalten. Spätestens mit der im Weißbuch 1994 getroffenen Feststellung, die Verteidigung Deutschlands sei der unwahrscheinlichste Auftrag für die Bundeswehr, argumentierten die Befürworter einer Abschaffung, damit sei der Wehrpflicht jegliche Grundlage entzogen. Die damalige Regierungskoalition und vor allem die CDU/CSU hielten jedoch die Wehrpflicht für unverzichtbar. In dieser Situation erläuterte der damalige Verteidigungsminister Dr. Peter Struck auf der Pressekonferenz am 5. Dezember 2002 die Gedanken zur Weiterentwicklung der Bundeswehr und stellte sich wie üblich den Fragen der Journalisten. Michael Inacker, Journalist der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung verknüpfte mit seiner Frage die weltweiten Einsätze der Bundeswehr mit der Aufrechterhaltung der Wehrpflicht:
»Sie (Struck, d. Verf.) haben davon gesprochen, dass es nicht mehr der primäre Auftrag ist, die Landesverteidigung zu betreiben. Andererseits haben Sie deutlich gemacht, dass man in Afghanistan schon auch etwas für die Sicherheit des eigenen Landes tut. Wäre das quasi eine Uminterpretation, dass man sagt, Landesverteidigung bedeutet eben auch, am Hindukusch möglicherweise Soldaten einzusetzen, und wäre das dann die Rechtfertigung zur Aufrechterhaltung der Wehrpflicht?«15
»… Herr Inacker. Ich will jetzt nicht so weit bis zum Hindukusch gehen, aber theoretisch könnte man schon sagen, die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland wird auch am Hindukusch verteidigt.«16
Seine Antwort wurde zum wohl bekanntesten Ausspruch zum Afghanistaneinsatz, auch wenn sie seitdem verkürzt wiedergegeben wird: Deutschland wird auch am Hindukusch verteidigt. Struck äußerte in einem späteren Interview, seine Antwort darauf sei spontan gewesen. So spontan wie die Antwort gewesen sein mag, so falsch war sie. Wie beschrieben wurden Wehrpflichtige nicht zu Einsätzen herangezogen, sondern nur Zeit- und Berufssoldaten. Warum also die Wehrpflicht aufrechterhalten, um »theoretisch« die Sicherheit Deutschlands zu verteidigen? Es war Bequemlichkeit. In einem Dokument des Bundeswehrverbandes findet sich der reale Grund: 40 Prozent der Berufs- und Zeitsoldaten wurden zunächst als Wehrpflichtige in die Streitkräfte eingezogen.17 Allein aus diesem Grunde wurde seitens des Militärs an der Wehrpflicht festgehalten. Im Verteidigungsministerium war es daher inoffiziell verboten, über eine Alternative zur Wehrpflicht nachzudenken. Die offizielle Sprachregelung bemühte sich natürlich, die Wehrpflicht als legitimes Kind der Demokratie darzustellen und deren Beitrag zur Integration der Bundeswehr in die Gesellschaft zu betonen. Geradezu paradox mutete aber die Argumentationslinie an, aus gesamtgesellschaftlicher Sicht sei die Beibehaltung der Wehrpflicht notwendig. Das Militär begründete die Wehrpflicht mit dem Recht auf Kriegsdienstverweigerung und den daraus hervorgehenden Zivildienstleistenden. Ohne deren Dienst würde der Sozialstaat leiden und die medizinische Versorgung seiner Bürger.
In der Regierungserklärung vom 11. März 2004 hatte Struck seinen wohl bekanntesten Ausspruch zum Afghanistaneinsatz leicht abgewandelt:
»Unsere Sicherheit wird nicht nur, aber auch am Hindukusch verteidigt, wenn sich dort Bedrohungen für unser Land, wie im Falle international organisierter Terroristen, formieren.«18
Der Kampf gegen den Terrorismus wird nun als Legitimation für den gewandelten Auftrag der Streitkräfte herangezogen. Allerdings sind reguläre Streitkräfte kaum geeignet, um Bedrohungen durch den Terrorismus zu begegnen. Lediglich Spezialkräfte sind es in einem gewissen Umfang. Terrorismus wird vor allem durch die Aufklärung der Geheimdienste, deren nationale und multinationale Zusammenarbeit mit anderen Diensten und im Inland durch die Polizei bekämpft. Also trägt auch dieses Argument kaum, um weltweite Einsätze zu begründen. Insbesondere der Afghanistaneinsatz war primär der Solidarität innerhalb der NATO-Allianz geschuldet. Deutschland sollte und wollte ein verlässlicher Bündnispartner bleiben und nicht einem drohenden Zerfallsprozess in der NATO Vorschub leisten. Damit war die Bundeswehr ein Instrument der Außenpolitik geworden. Innenpolitisch war diese Argumentation für die Gesellschaft nicht tragfähig. Es musste eine Bedrohung für die Republik konstruiert werden, die den Einsatz von Streitkräften legitimierte. Noch Jahre später verlor Horst Köhler sein Amt als Bundespräsident, weil er den Einsatz der Marine außen- und wirtschaftspolitisch begründete. In den Streitkräften indes wurde dies übereinstimmend so bejaht und man bedauerte, dass kein im Amt befindlicher Politiker den Mut fand, die Gründe für die weltweiten Einsätze zu nennen.
Zum Erfolg und zur Aussichtslosigkeit von Einsätzen
Die Behauptung, dass Krisen nicht militärisch gelöst werden können, ist ein politisches Mantra. Dies bestimmte in jüngster Vergangenheit die Position der Bundesregierung zu den internationalen Militäreinsätzen in Libyen, Syrien und jüngst in der Ukraine sowie im Irak. Andererseits war es eine übereinstimmende Auffassung in den Neunzigerjahren, dass militärische Präsenz in Krisengebieten notwendig sei, um ein sicheres Umfeld für den zivilen Wiederaufbau von Staaten zu schaffen. Diese Einsicht war für den Einsatz in Somalia, in Bosnien-Herzegowina, im Kosovo und in Mazedonien sowie für Afghanistan bestimmend gewesen. Den damit verbundenen Aufgaben stellte sich das Verteidigungsministerium und endsandte Soldaten in die Einsätze. Aber von den wichtigsten Ministerien stellten weder das Auswärtige Amt, das Innenministerium, das Justizministerium noch das Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung die notwendigen Ressourcen bereit, um den zivilen Wiederaufbau in den Krisengebieten entscheidend zu unterstützen. Auch war ein ressortübergreifender Ansatz, eine zwischen den oben genannten Ministerien abgestimmte Strategie, nicht erkennbar. Die Gründe sind vielfältig. Soldaten können in den Einsatz befohlen werden, für Polizisten und Beamte gilt das Prinzip der Freiwilligkeit. Außer dem Verteidigungsministerium verfügt kein anderes Ministerium über Operationszentralen, um umfangreichere Auslandseinsätze steuern zu können. Zusätzliche finanzielle Mittel stellte das Finanzministerium kaum bereit, was die Bereitschaft der Ministerien senkte, sich außerhalb ihrer originären Aufgaben zu engagieren. Polizisten und Richter wurden in Deutschland benötigt, wozu also sie in Einsätze entsenden, die nicht einmal überzeugend begründet waren.
Am Beispiel des vollständig gescheiterten ersten deutschen Ansatzes zum Aufbau von Polizeistrukturen in Afghanistan wird dies besonders deutlich. Da für den zweiten Ansatz nur sehr wenige Polizisten, Entwicklungshelfer und Diplomaten in den Einsatzgebieten anwesend waren, übernahmen zunächst die Streitkräfte deren Aufgaben. Der Soldat wurde in Deutschland wie in Afghanistan plötzlich als Entwicklungshelfer in Uniform wahrgenommen, der in einem humanitären Einsatz den zivilen Wiederaufbau unterstützt. Soldaten übernahmen Polizeiaufgaben und bildeten afghanisches Sicherheitspersonal aus.
Der Einsatz in Somalia stand hingegen unter völlig anderen Prämissen. Die UNO-Mission in Somalia (UNOSOM) war als humanitäre Operation geplant, um die Hungersnot der Bevölkerung zu lindern. Deutschland wollte sich in einer befriedeten Region in Somalia beteiligen. Der erste größere Einsatz nach der Vereinigung Deutschlands bei UNOSOM war als logistische Operation zur Unterstützung einer indischen Brigade in Belet Huen geplant. Militärischer Zwang, also der Einsatz von Waffen, war den Soldaten untersagt, es sei denn für die Selbstverteidigung.19 Als die anfängliche militärische Planung im Verteidigungsministerium abgeschlossen war, waren auf dessen Fluren bereits Gerüchte im Umlauf, die indische Brigade werde nicht nach Belet Huen kommen. Der Einsatz wurde trotzdem durchgeführt, um Politik und Öffentlichkeit in Deutschland auf Auslandseinsätze vorzubereiten und um Deutschland als unverändert verlässlichen Bündnispartner zu etablieren. Ein Einsatz in einem »sicheren Umfeld«, so die offiziellen Verlautbarungen, war dafür besonders gut geeignet.
Wo allerdings findet sich in einem vom Bürgerkrieg erschütterten Land ein »sicheres Umfeld«? Neben Volleyball spielenden Soldaten explodierte eine Granate, die wundersamerweise keinen deutschen Soldaten verletzte. Der Vorfall wurde nicht publik. Über den Granateinschlag auf dem »sicheren« Umfeld des Flughafens von Mogadischu wurde in den Morgennachrichten berichtet, weil ein Reporter anwesend war, der sich beinahe enthusiastisch über die professionelle Reaktion der dort lagernden Soldaten äußerte. Es wurde niemand verletzt, weil die Granate nicht detonierte. Sicherlich gab es weitere Vorfälle. In die öffentliche Wahrnehmung hingegen gelangte ein Schuss, der möglicherweise auf einen Wachposten gefeuert wurde. Vielleicht hat der diensthabende Offizier dies als normales Ereignis eingestuft und deshalb den Vorfall nicht unverzüglich an das Ministerium gemeldet. Die Atmosphäre in Deutschland hingegen war so aufgeheizt, dass der Vorfall zum Anlass genommen wurde, in der Bundespressekonferenz wiederholt zu fragen, ob der Verteidigungsminister Volker Rühe die Bundeswehr noch unter Kontrolle hätte. Von ihm wurde weiterhin das »sichere Umfeld« beschworen, in dem die Soldaten eingesetzt wären. Tatsächlich versank Somalia erneut im Bürgerkrieg, nachdem Mohammed Farah Aidid, ein dominanter politischer Führer und Kriegsherr, von der UNO zur Gefangennahme ausgeschrieben wurde und die USA auf sein Ergreifen ein Kopfgeld ausgesetzt hatten. An den Folgen dieser Maßnahmen scheiterte letztlich die UNOSOM in Somalia.
Für Volker Rühe hingegen war der Einsatz unter innen- und außenpolitischen Gesichtspunkten erfolgreich. Die Bundeswehr war in Somalia gewesen, hatte ein Lager aufgebaut und konnte es unter extremen klimatischen Bedingungen betreiben. Sie hätte UNOSOM unterstützen können, wenn Indien sich entschieden hätte, eine Brigade nach Somalia zu endsenden. So verpackten die Streitkräfte wieder ihr Material und reisten ohne Verluste wieder zurück nach Deutschland. Die Bundeswehr hatte Erfahrungen sammeln können.
Unter militärischen Gesichtspunkten erfolgreich sind die Einsätze auf dem Balkan zu bewerten. Sowohl in Bosnien-Herzegowina, im Kosovo wie auch in Mazedonien haben sie Bürgerkriege, Vertreibungen und humanitäre Katastrophen beendet. Sie schufen die Voraussetzungen für die Befriedung der Länder und politische Lösungen, die teilweise immer noch militärisch abgesichert werden müssen. Einzelne Operationen wurden dennoch völlig unterschiedlich bewertet. In Prizren stürmten im März 2004 radikale Kosovo-Albaner, die Kinder und Frauen in die vorderen Reihen eingereiht hatten, den Bischofssitz der Serbisch-Orthodoxen Kirche, anschließend das Erzengelkloster und setzten beide in Brand. Die Angriffe überraschten die seit Jahren eingesetzten Truppen der UNO und von KFOR vollständig. Die zur Sicherung eingesetzten deutschen Soldaten retteten die Priester und überließen die Gebäude dem Mob. Das Vorgehen der Soldaten wurde vor allem von Politikern begrüßt, weil Menschen in Sicherheit gebracht worden waren, ohne dass ein Schuss gefallen wäre. Die offizielle Sprachregelung des Verteidigungsministeriums schloss sich dem weitgehend an. Die Kritik, dass die Soldaten ihren Auftrag nur teilweise erfüllt hätten, wurde nach hiesiger Kenntnis nicht in der Öffentlichkeit diskutiert. In den sogenannten Rules of Engagement, die für jedes deutsche Kontingent in Einsatzregeln übersetzt werden, sind die Bedingungen für den Einsatz von Waffen festgelegt. Wären sie angewendet und Schusswaffen eingesetzt worden, hätte zumindest das Erzengelkloster verteidigt werden können, lautete die intern geäußerte Kritik. Vielleicht ist in dieser internen Analyse der Grund dafür zu suchen, dass die Klosteranlage mit Geldern der internationalen Gemeinschaft wieder aufgebaut wurde. Das Kloster, das 1455 durch das osmanische Reich zerstört wurde, war der Vergessenheit anheimgefallen. Die Ruinen wurden erst im 20. Jahrhundert wieder entdeckt. Über 540 Jahre nach der Zerstörung zogen 1998 sieben von Belgrad entsandte serbische Priester ein, die über Jahre hinweg beschützt werden mussten. Der Grund für diese Entscheidung liegt wohl in der Verbundenheit des christlichen Abendlandes mit der Serbisch-Orthodoxen Kirche und ist aus militärischer Sicht durchaus zu hinterfragen.
Wie unsicher der Frieden im Kosovo unverändert zu beurteilen ist, wurde in jüngster Vergangenheit erneut deutlich. Im Norden des Kosovo wurden Straßensperren errichtet, um den serbischen Anspruch auf dieses Gebiet zu untermauern. Es kam zu Gefechten mit serbischen Milizen, bei denen Soldaten verwundet wurden. Dennoch ist das Engagement der Streitkräfte auf dem Balkan eine Erfolgsgeschichte ohnegleichen.
Der Einsatz der Bundeswehr im Kongo hingegen war gegen den militärischen Ratschlag des Verteidigungsministeriums angeordnet worden. Die deutsch-französische Freundschaft besaß eine höhere Priorität als militärische Erwägungen. Der durch die Europäische Union geführte Einsatz20 diente der militärischen Absicherung der ersten freien demokratischen Wahlen, die am 30. Juli 2006 im Kongo stattfanden. Die Operation war eingebettet in die Operation der UNO (MONUC)21 und weitere Operationen der Europäischen Union zum Aufbau einer funktionierenden Sicherheitsstruktur im Kongo. Wenn es das Ziel war, die Durchführung der Wahlen zu gewährleisten, ist diese Operation ebenfalls erfolgreich gewesen und widerlegte die Skeptiker.
Ein Aspekt soll jedoch erwähnt werden, der die ethische Dimension von Einsätzen beleuchtet. Um die Präsidentschaft im Kongo bewarben sich Joseph Kabila, der amtierende Präsident, und Jean-Pierre Bemba, der amtierende Vizepräsident. Beide standen sich feindlich gegenüber. Sie verfügten zur Durchsetzung ihrer Interessen über ihnen treu ergebene Truppen. Am 21. August 2006 wurden die Ergebnisse der Wahl veröffentlicht. Bemba unterlag zwar Kabila, doch eine Stichwahl war erforderlich. Am Abend gab Bemba in seiner privaten Residenz ein Essen, zu dem auch mehrere Botschafter anderer Länder eingeladen waren. Sie alle flüchteten in den Keller der Residenz, als sie von der Präsidentengarde Kabilas unter anderem mit schweren Waffen angegriffen wurde. EUFOR und MONUC intervenierten und beendeten den Angriff der Präsidentengarde. Bemba und die Botschafter waren in Sicherheit. Da in Kinshasa Bemba hoch angesehen war, die EUFOR jedoch von vielen als Schutztruppe für den Präsidenten angesehen wurde, stieg deren Ansehen nach der nächtlichen Operation. Zu fragen ist aber, wer dabei eigentlich gerettet wurde. Denn der Vizepräsident Jean-Pierre Bemba wurde im Jahr 2008 aufgrund eines Haftbefehls des Internationalen Gerichtshof festgenommen. Er ist der Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen angeklagt, die er in der Zentralafrikanischen Republik begangen haben soll. Seit dem 22. November 2010 wird der Prozess gegen ihn geführt.22
Wie in anderen Missionen auch, sind Streitkräfte in ihren Einsätzen immer wieder dazu verpflichtet, mit zwielichtigen Persönlichkeiten zu verhandeln, sie zu schützen oder auch mit ihnen Verträge abzuschließen. Personen, gegebenenfalls Kriegsverbrecher, die nach allgemeinem Rechtsverständnis zu verhaften und Gerichten zu überstellen wären, sitzen mit am Verhandlungstisch. Inwieweit solche Erfahrungen Auswirkungen auf die ethischen und moralischen Grundsätze von Soldaten und deren Handeln haben, wird an späterer Stelle behandelt.
Am Abend des 11. Septembers 2001 saßen in Pristhina im Kosovo einige deutsche Offiziere im Zelt der deutschen Bar auf den Biergartengarnituren und dachten darüber nach, sich sofort den USA anzuschließen und nach Afghanistan zu gehen. Für sie hatte die KFOR-Mission an Bedeutung verloren. Mittags schauten sie auf die unwirklich anmutenden Bilder der in sich zusammenfallenden Türme des World Trade Center. Die Erschütterungen reichten bis in den Kosovo hinein: Den amerikanischen Offizieren war der Schock körperlich anzusehen. Nie zuvor hatten ihre alliierten Kameraden erlebt, dass US-amerikansiche Soldaten aller Dienstgrade mit gesenkten Köpfen durch die Gänge des Hauptquartiers liefen. Die Erkenntnis beugte sie, dass auch die USA selbst Ziel von furchtbaren terroristischen Anschlägen sein können, dass niemand unverwundbar war. In einer Versammlung aller Angehörigen des Hauptquartiers wurde den US-amerikanischen Soldaten am nächsten Morgen Beileid ausgesprochen und Solidarität zugesichert. Es richtete sie sprichwörtlich wieder auf.
Etwa vier Monate später begannen die Einsätze der Bundeswehr in Kabul und Kunduz in Afghanistan. Der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder erhob die uneingeschränkte Solidarität mit den USA zur Maxime politischen Handelns. Ein nationales strategisches Konzept fehlte genauso wie eine detaillierte Lageanalyse der Situation in Afghanistan oder eine militärische Planung, bevor die Entscheidung zur Beteiligung Deutschlands an den Operationen in Afghanistan getroffen wurde.23 Von Beginn an war der Einsatz US-amerikanisch dominiert. Die nationale Zielsetzung der USA, den Terrorismus zu bekämpfen, Osama bin Laden für den Angriff auf das World Trade Center und die Taliban in Afghanistan als dessen Gastgeber zur Rechenschaft zu ziehen, führte zu der Operation ENDURING FREEDOM, an der auch die Bundeswehr teilnahm. Die Operation wurde von einem US-amerikanischen Hauptquartier aus Tampa, Florida geführt, um im Krieg gegen den Terror Terroristen zu ergreifen und vor Gericht zu stellen. Sie unterlag teilweise strenger Geheimhaltung, wurde aber im gleichen Gebiet wie die ISAF-Operation ausgeführt. Im Norden Afghanistans waren dagegen die Deutschen angetreten, um den Wiederaufbau zu unterstützen, der von dem ISAF-Hauptquartier in Kabul koordiniert wurde. Eine Abstimmung beider Operationen erfolgte grundsätzlich nicht. Die Festnahme von Terroristen hatte eine deutlich höhere Priorität und wurde fast ausschließlich von Spezialkräften durchgeführt. Es kam einer Quadratur des Kreises gleich, den Bewohnern eines Dorfes zu erklären, man wolle Schulen gründen und die Wasserversorgung aufbauen helfen, wenn kurz darauf eine schwerbewaffnete Einheit landete, Häuser durchsuchte, Dorfbewohner gefangen nahm oder sie im Extremfall sogar tötete. Der später wieder im Dorf erscheinende Angehörige der ISAF konnte weder den Dorfältesten noch den Polizeichefs glaubhaft versichern, er hätte von dieser Operation nichts gewusst. So wirkte sich die Operation Enduring Freedom auch auf die ISAF aus, selbst wenn es in der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit kaum wahrgenommen wurde. Zu Beginn des ISAF-Einsatzes wurden die Einsatzkräfte in Kabul sogar als Wachmannschaft für den späteren Präsidenten Hamid Karzai belächelt.
Für den Einsatz in Kunduz hingegen bewarben die bundeswehreigenen ebenso wie die öffentlichen Medien und auch die Politik die humanitären Aspekte. Schulen bauen, Brunnen bohren und Bildung für Mädchen wurden in Deutschland als Aufgaben der Bundeswehr wahrgenommen. Dann starben die ersten deutschen Soldaten bei einem Selbstmordanschlag auf einen Bus. Über die nächsten Jahre änderte sich die Wahrnehmung der Lage bei den Soldaten. Sie fühlten sich außerhalb der Lager permanent bedroht. Während vor dem Hauptquartier in Kabul fast täglich die Flaggen auf Halbmast gesenkt wurden, um der Gefallenen in Afghanistan zu gedenken, sprach in Deutschland immer noch kein Politiker von Krieg. Erst fast zehn Jahre nach Beginn des Einsatzes wurde das Wort in den Mund genommen und zugestanden, dass man zu Beginn von falschen Vorstellungen ausgegangen war. Die angestrebte Demokratisierung Afghanistans war westlichem Wunschdenken entsprungen, die man zu Recht als Kulturimperialismus geißeln konnte. Vor allem aber war es von einer gänzlichen Missachtung der afghanischen Kultur geprägt.
Counter-Insurgency-Operations24