Alexander Groth
Der Chef,
den ich nie
vergessen
werde
Wie Sie Loyalität und Respekt
Ihrer Mitarbeiter gewinnen
Campus Verlag
Frankfurt/New York
Über das Buch
Großartige Führungskräfte sind vor allem großartige Persönlichkeiten. Und eine große Persönlichkeit steckt in den meisten Menschen – muss aber freigelegt werden. Deshalb zeigt Alexander Groth in diesem Buch, wie jeder Manager seine starken persönlichen Eigenschaften nach und nach entwickeln kann. Am Ende des Prozesses steht ein Mensch, der sein Leben nicht auf Karriereoptimierung ausrichtet, sondern andere mit Demut, Akzeptanz, Vertrauen und Liebe führt. Nur so hinterlässt man Spuren in den Unternehmen sowie in den Köpfen und Herzen seiner Mitarbeiter. Dies ist die größte Auszeichnung, die ein Manager erreichen kann.
Vita
Alexander Groth ist Experte für Leadership im oberen und mittleren Management. Als Professional Speaker gibt er Führungskräften auf Tagungen und Konferenzen mit seinen Vorträgen neue Impulse für ihre Arbeit. Groth ist Lehrbeauftragter an drei Universitäten. Zu seinen Kunden zählen die Führungsetagen internationaler Konzerne.
Für meine Söhne
Vorwort
Vorwort zur 2. Auflage
1. Wer wollen Sie sein? — Von zwei grundsätzlichen Entscheidungen, die Sie als Führungskraft treffen müssen
Die erste Entscheidung
Die zweite Entscheidung
Werden Sie ein Chef, den man nie vergisst
Serving Leader versus Selfserving Leader
Was macht gute Führung aus?
Stakeholder-Value versus Shareholder-Value
Vom Shareholder-Value zum Stakeholder-Value
2. Von der Kopie zum Original — Wie Sie erreichen, dass Ihre Mitarbeiter Ihnen folgen
Suchen Sie sich ein Vorbild
Zeigen Sie Humor
Seien Sie wahrhaftig
Wahren Sie Ihre Würde
Beweisen Sie Rückgrat
Entwickeln Sie Klugheit
Halten Sie Versprechen
Übernehmen Sie Verantwortung
Unangenehmes selbst erledigen
Walk the Talk
Schreiben Sie eine Gebrauchsanweisung für sich selbst
Ressourcen
3. Der innere Hochofen — Wie Sie eine wirkungsstarke Persönlichkeit werden
Die eigenen Emotionen wahrnehmen und zeigen können
Männer und Frauen werden unterschiedlich sozialisiert
Erweitern Sie Ihre Handlungsmöglichkeiten
Ressourcen
4. Das alles entscheidende Element — Wie Sie sich verändern müssen, um die Welt zu verändern
Vertrauen
1. Die Ernte folgt oft mit zeitlichem Verzug
2. Die Ernte ist von anderer Art als die Saat
3. Sie können die Ernte von einer anderen Person erhalten
Anwendung auf Führung
Akzeptanz
Anwendung auf Führung
Metapher 1
Metapher 2
Demut
Hochmut aus Stolz auf den Verstand
Hochmut aus Stolz auf den Erfolg
Hochmut aus Stolz auf Besitz
Anwendung auf Führung
5. Das Beste fordern — Was gute Mitarbeiter wollen, ohne es selbst zu wissen
Empowern Sie Ihre Mitarbeiter
Empowerment in sechs Stufen
Beurteilen Sie Fehler differenziert
Ihre Einstellung ist entscheidend
Menschen wollen produktiv sein
Fordern Sie Ihre Mitarbeiter
Professionelles und regelmäßiges Feedback
Gezielte Aufgabenübertragung
Ihr Karriereentwicklungsplan
6. Das Beste fördern — Warum Sie Ihre Mitarbeiter nicht verändern müssen
Persönlichkeitsmerkmale sind relativ stabil
Talente wahrnehmen und fördern
Die richtigen Mitarbeiter einstellen und entwickeln
Worauf Sie achten sollten, wenn Sie Mitarbeiter einstellen
1. Achten Sie auf die Integrität
2. Stellen Sie die Besten ein
3. Sorgen Sie für Meinungsvielfalt
Bewerberauswahl professionell gestalten
Strukturiertes Interview
Beziehen Sie Arbeitsbeispiele ein
Befragung ehemaliger Kollegen und Mitarbeiter
Wählen Sie aus mindestens drei Kandidaten
Binden Sie seine oder ihre zukünftigen Kollegen ein
Zeichnen Sie ein realistisches Bild des Jobs und Ihrer Erwartungen
Die Einstellungsvorgaben von Google
7. Sehen, was andere nicht sehen — Was Menschen wirklich inspiriert
Wer braucht Visionen?
Marken versprechen Zugehörigkeit
Was Menschen begeistert
Unternehmenskultur und Mitarbeiterengagement
Kultur der Mitarbeiterorientierung
Mitarbeitertypologie nach Engagement und Zufriedenheit
Aktiv-Engagierte
Passiv-Zufriedene
Akut-Unzufriedene
Desinteressierte
Mitarbeiterorientierte Kultur
Ressourcen
8. Den Kern verstehen — Das größte Leadership-Prinzip aller Zeiten
Warum viele das Prinzip nicht verstehen
Was ist der Kern guter Führung?
1. Den anderen sehen
Präsent sein
2. Den anderen achten
3. Verantwortung übernehmen
4. Gutes im Leben anderer bewirken
Ihre ersten Schritte zum Leader
Danksagung
Literatur
Anmerkungen
Register
Haben Sie Vorgesetzte, deren Führungsqualität Sie in jeder Hinsicht beeindruckt? Eher nicht? Dann geht es Ihnen wie den meisten Menschen. Nur wenige Berufstätige bekommen die Chance, unter einer herausragenden Führungspersönlichkeit zu arbeiten. Die meisten lernen ihr ganzes Berufsleben lang keinen echten Leader kennen. Warum gibt es so wenige exzellente Vorgesetzte, obwohl doch die meisten von ihnen genügend Führungsseminare besuchen und Bücher zum Thema Führung lesen? Das Problem ist, dass man sich auf diese Weise nur Werkzeuge und Techniken aneignen kann, wie zum Beispiel Selbstmanagement-Methoden, Führen mit Zielen oder Situatives Führen. Doch erlernte Methoden stoßen früher oder später an ihre Grenzen. Um Außergewöhnliches zu leisten, Menschen nachhaltig zu beeinflussen und damit in Erinnerung zu bleiben, genügen sie nicht. Sie verbessern zwar die Führungskompetenz, machen aber aus einem Vorgesetzten keinen Leader.
Großartige Führungskräfte sind vor allem großartige Persönlichkeiten. Diese steckt zwar in den meisten Menschen – sie muss aber freigelegt und entwickelt werden. Deshalb geht es in diesem Buch in erster Linie darum, die persönlichen Eigenschaften einer Führungskraft Schicht für Schicht herauszuschälen, statt außen etwas anzuheften. Dabei vermittelt der Ratgeber neue, teils ungewohnte Denkhaltungen, mit denen Vorgesetzte ihre Mitarbeiter wirklich zu Höchstleistungen animieren. Am Ende des Prozesses steht ein Mensch, der sein Leben nicht auf Karriereoptimierung ausrichtet, sondern andere mit Demut, Akzeptanz, Vertrauen und Liebe führt.
Wahre Führung geht von innen nach außen. Im ersten Teil des Buchs wird daher erörtert, wie Sie als Chef eine Persönlichkeit werden können, die nicht nur Respekt genießt, sondern Spuren in den Unternehmen und in den Köpfen und Herzen der Menschen hinterlässt. Im zweiten Teil beschäftigt sich das Buch mit den Prinzipien, die heute für die Führung von motivierten Wissensarbeitern in einem komplexen Umfeld tatsächlich wesentlich sind.
Dieses Buch kann Ihnen einen herausragenden Chef nicht ersetzen, aber es kann etwas anderes leisten. Neben einem großartigen Chef würden sich die meisten Führungskräfte einen Mentor wünschen, also jemanden, der ihnen aus seiner langjährigen Erfahrung heraus wertvolle Hinweise für den Weg als Führungskraft und für die persönliche Weiterentwicklung geben kann. Dieses Buch enthält die Erkenntnisse, die Ihnen ein lebenserfahrener Leader bei abendlichen Kamingesprächen mit auf den Weg geben würde. Planen Sie regelmäßige Sequenzen für diese Kamingespräche ein. Wenn Sie pro »Sitzung« einen guten Gedanken mitnehmen, den Sie umzusetzen beginnen, wird dieses Buch eine wunderbare Herausforderung für Sie sein.
In der ersten Auflage wurde Der Chef, den ich nie vergessen werde sehr gut aufgenommen. Ich freue mich über die positive Resonanz, die das Buch bei Managern findet, und sehr wohlwollende Rezensionen in führenden Medien wie der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Zeit online und Harvard Businessmanager.
Wie ich im Vorwort zur ersten Auflage geschrieben habe, ähnelt dieses Buch Kamingesprächen mit einem Mentor. Solche Gespräche dienen der Reflexion und sollen interessante Gedanken und Ideen zutage bringen. Im nächsten Schritt stellt sich die Frage, wie sich die im Buch vorgestellte Geisteshaltung systematisch in die Unternehmen tragen und an Führungskräfte vermitteln lässt.
Die Resonanz auf das Buch sowie auf meine Vorträge und Schulungen haben mich angeregt, ein Leadership-Modell zu entwerfen, das die wesentlichen Inhalte in einer klar strukturierten Form vermittelbar macht. Das Modell betont die beiden Schwerpunkte Leistungsorientierung und Menschlichkeit.
Seit 2015 publiziere ich zudem regelmäßig Artikel auf der Website www.leadershipjournal.de und stelle dort ergänzende Informationen zur Verfügung. Dort finden Sie neben dem Leadership-Modell ein E-Book zum kostenlosen Download. Das kleine Leadership-Buch bietet in knappen Texten und Zitaten einen Leitfaden für die Prinzipien, die im vorliegenden Buch vorgestellt werden. Wenn Sie diesen Führungsansatz in Ihrem Unternehmen umsetzen möchten, können Sie sich gern an mich wenden.
Die fortgesetzte Arbeit zum Thema Leadership hat zu manchen Differenzierungen und Ergänzungen für die zweite Auflage geführt. Die bewährte Kapitelgliederung ist jedoch erhalten geblieben. Jedes Kapitel hat einen Schwerpunkt und eine klare Struktur. Es ist ein Angebot zur (Selbst-)Reflexion über die Entwicklung als Führungspersönlichkeit.
Viel Freude beim Lesen wünscht Ihnen
Alexander Groth
Von zwei grundsätzlichen Entscheidungen, die Sie als Führungskraft treffen müssen
Stehe an der Spitze, um zu dienen, nicht, um zu herrschen!
Bernhard von Clairvaux
(französischer Zisterzienser-Abt)
Es war eines der wichtigsten Ereignisse des Jahres. Die Vertreter eines asiatischen Konzerns waren angereist, und wir präsentierten ihnen unsere Vorschläge für eine Zusammenarbeit. Dieses Treffen war über Monate vorbereitet worden. Wir hatten sogar eine interkulturelle Schulung erhalten. Während ein Kollege am Beamer vortrug, blinkte plötzlich das stummgeschaltete Handy meiner Kollegin, die zwischen mir und meinem Chef saß. Ich dachte: »Wie kann man bei so einem Ereignis vergessen, das Handy auszuschalten?«, denn ihre Präsentation sollte als nächste folgen. Auf dem Display stand »Schule«. Die Kollegin drückte den Anruf weg. Ungefähr eine Minute später leuchtete es erneut auf: »Schule«. Die Nervosität der Kollegin war zu spüren, denn sie hatte eine siebenjährige Tochter, die in die zweite Klasse ging. Es war aber unmöglich, den Anruf jetzt anzunehmen. Ihr gegenüber saß die gesamte asiatische Delegation, und es ging für unser Unternehmen um sehr viel. Außerdem musste sie sich auf ihren Vortrag konzentrieren. Es ging jetzt einfach gar nicht, zu telefonieren. Plötzlich hörte ich die Stimme meines Chefs, der links von ihr saß: »Wollen Sie nicht drangehen? Es könnte wichtig sein!« Sie: »Ja, aber ich kann doch jetzt nicht stören.« Mein Chef mit Nachdruck: »Gehen Sie raus und telefonieren Sie!« Sie stand unter den verwunderten Blicken aller Anwesenden auf und verließ den Raum. Ungefähr anderthalb Minuten später kam sie wieder. Ich sah, dass sie nur mit Mühe die Fassung bewahrte. Mein Chef hob den Arm und unterbrach den Kollegen in seiner Präsentation. Er fragte: »Was ist passiert?« Meine Kollegin antwortete mit zittriger Stimme: »Meine Tochter ist in der Pause von einem Klettergerüst auf den Rücken gefallen. Sie wird gerade ins Krankenhaus gebracht. Mehr weiß ich noch nicht.« Mein Chef reagierte mit ruhiger, fester Stimme: »Soll ich Ihnen einen Fahrer rufen oder wollen Sie selbst fahren?« Meine Kollegin zögerte kurz und sagte dann: »Nein danke, ich fahre selbst.« Sie nahm ihre Tasche und verließ den Konferenzraum. Mein Chef entschuldigte sich bei der mittlerweile sehr irritierten Delegation und übernahm kurz darauf den Vortragsteil meiner Kollegin.
Die Tochter meiner Kollegin war, wie sich noch am gleichen Tag herausstellte, nicht schlimm verletzt. Den Auftrag verloren wir später, aber das hatte andere Gründe. Meine Kollegin erzählte mir an einem der folgenden Tage, dass sie sich bereits entschieden hatte, zuerst ihre Präsentation zu halten und die Schule dann zurückzurufen. Der Grund des Anrufs hätte ja auch harmlos sein können. Außerdem hätte das Handy ohnehin ausgeschaltet sein sollen. Sie war unserem Chef deshalb überaus dankbar, dass er ihr in einer Situation hoher Anspannung und persönlicher Befangenheit die klare Anweisung gegeben hatte, das Gespräch zu führen. Unser Chef hatte in diesem Moment ihre Bedürfnisse über die der Delegation und des für die Firma sehr wichtigen Auftrags gestellt.
Ich hatte großes Glück. Mein erster Chef hatte viel von dem, was ich für vorbildlich halte und was mancher im gesamten Berufsleben kein einziges Mal erlebt. Er war und ist eine Persönlichkeit von Format. Ich habe viel von ihm lernen dürfen. Er hatte als Chef und als Mensch unsere uneingeschränkte Loyalität. Wir wären für ihn durchs Feuer gegangen. Ich würde es sogar heute noch tun. Er ist ein sehr erfolgreicher Manager, der in der Sache hart verhandeln kann, wenn es erforderlich ist. Er besitzt aber auch Herzensgüte und Demut, beides Eigenschaften eines besonderen Charakters, der in Erinnerung bleibt.
Reden wir über Sie. Vermutlich sind Sie ein hervorragender Manager. Mit großer Wahrscheinlichkeit verfügen Sie über eine sehr gute Ausbildung und große Praxiserfahrung. Im Organisieren, Umsetzen, Kontrollieren und Problemlösen macht Ihnen so schnell keiner etwas vor. Sie wissen, wie man Prozesse aufsetzt und anschließend optimiert. Projekte managen Sie routiniert. Sie erreichen auch sehr anspruchsvolle Ziele. Jeden Tag holen Sie die Eisen aus dem Feuer. In Management sind Sie großartig und verdienen unbesehen Bestnoten! Wozu also sollten Sie dieses Buch lesen? Wenn es Ihnen ergeht wie den meisten Managern, liegt Ihr Wachstumspotenzial nicht mehr in der Verbesserung Ihrer Managementfähigkeiten, sondern beim Thema Leadership. Der amerikanische Berater und Autor Tom Peters bringt es auf die Formel, die meisten Unternehmen seien »overmanaged« und »underled«. Weshalb ist das so?
Leadership-Fähigkeiten sind ganz überwiegend abhängig vom Charakter und der menschlichen Reife des Leaders und nur zu einem kleinen Teil vom Wissen über Führungstechniken. Bei Management-Fähigkeiten ist es genau umgekehrt. Jemand kann sich umfangreiches Managementwissen aneignen und mit der entsprechenden Erfahrung ein guter Manager werden. Aber irgendwann stoßen Manager an eine Grenze. Diese kann darin bestehen, dass sie auf der Karriereleiter stehen bleiben oder unabhängig davon für sich selbst einen Mangel verspüren, den sie beheben wollen. In solchen Lebenslagen wünschen sich viele einen herausragenden Chef, der ihnen als Vorbild dienen und dabei helfen könnte, selbst besser zu werden und weiter zu wachsen. Ich hatte einen solchen Chef. Was ihn und andere Leader gegenüber bloßen Managern auszeichnet, erfahren Sie in diesem Buch. Es vermittelt Ihnen das Wissen, das Sie gern von einem Spitzenchef oder einem älteren, erfahrenen Mentor hätten lernen wollen, den Sie vielleicht nie hatten. Es zeigt Ihnen den inneren und äußeren Weg, auf dem Sie vom Manager immer mehr zu einem Leader werden.
Beginnen wir mit der Frage: Wer wollen Sie sein? Im Lauf unseres Lebens treffen wir einige wenige Grundsatzentscheidungen. Mit zwei dieser Entscheidungen stellen Sie die Weichen dafür, ob Sie eine Führungskraft werden, der die Mitarbeiter Respekt und Loyalität entgegenbringen. Viele Führungskräfte haben diese beiden Entscheidungen nie bewusst getroffen. Sie gehen einfach den Weg des geringsten Widerstands. Keine bewusste Entscheidung zu treffen ist aber auch eine Entscheidung – meist die schlechtere. Diese Vorgesetzten machen auf eingefahrenen Gleisen einfach weiter wie bisher. Wer jedoch die Weichen für seine Entwicklung als Führungskraft nicht selbst stellt, bewegt sich zuverlässig in Richtung Mittelmaß.
Ich vermute, die erste Entscheidung haben Sie bereits getroffen. Jetzt geht es um die zweite, die Ihr Leben verändern wird. Die zweite Entscheidung wird noch seltener bewusst getroffen als die erste. Deshalb gibt es auch nicht viele großartige Leader. Betrachten wir kurz die erste Entscheidung, um dann zu sehen, vor welcher Sie wahrscheinlich jetzt stehen.
Sicher erinnern Sie sich noch an die Zeit, in der Sie Ihre erste Führungsposition erhalten haben. Wahrscheinlich hatten Sie gehofft, diese Position zu bekommen, und sich sogar darauf beworben. Und dann kam endlich der Tag, an dem Sie erfuhren, dass Sie die oder der Glückliche sind. In Zukunft würde auf Ihrer Visitenkarte ein Synonym für »Chef« stehen. Sie waren im Glücksrausch, aber vermutlich nur für kurze Zeit. Wie die meisten neuen Vorgesetzten empfanden Sie den Rollenwechsel vom Kollegen zum Chef wahrscheinlich als schwierig. Gestern standen Sie noch mit den Kollegen in der Kaffeeküche und haben über das unfähige Management diskutiert, und heute verstummen plötzlich alle Gespräche, wenn Sie den Raum betreten. Ihr Versuch, mit einigen Sätzen eine lockere Atmosphäre zu schaffen, misslingt. Sie gehören offensichtlich nicht mehr dazu, denn Sie sind jetzt Teil einer anderen Gruppe. In dieser werden Sie aber noch nicht voll akzeptiert. Zwar behandeln Sie die Managerkollegen einigermaßen höflich, die Zwölfender lassen Sie aber deutlich spüren, dass Sie noch ein sehr kleiner Hirsch ohne ernst zu nehmendes Geweih sind. Wenn Sie in der Leitungsrunde das Wort ergreifen wollen, finden Sie keine passende Gesprächslücke, weil trotz deutlicher Signale ihrerseits niemand für Sie eine Redepause macht.
Im Führungsalltag werden Sie sich nach und nach Ihrer Defizite bewusst. Keiner hat Sie ausreichend auf die Rolle als Führungskraft vorbereitet. Bei verschiedenen Anlässen verhalten Sie sich unangemessen, und Sie merken das nur zu deutlich. Ihnen wird bewusst, dass Ihr Rückgrat für manche Situationen noch nicht genügend ausgebildet ist. So etwas kennen Sie von sich bisher gar nicht. Das ist eine unangenehme Erkenntnis, die Sie verunsichert und ärgert. All das will emotional verarbeitet werden. Irgendwann akzeptieren Sie die Situation, auch wenn sie Ihnen nicht gefällt.
Nach der Akzeptanz gewöhnen Sie sich nach und nach an den neuen Job. Das alleine reicht aber noch nicht. Um eine wirkliche Führungskraft zu werden, der die Menschen folgen, ist mehr nötig als nur Gewöhnung an die neuen Umstände. Alfred Herrhausen, in den 1980er Jahren Vorstandssprecher der Deutschen Bank, hat einmal treffend formuliert: »Führung muss man wollen.«
Es war, als hätten Sie mental einen Schalter im Kopf umgelegt. Sie haben sich zu einem bestimmten Zeitpunkt entschieden, Menschen führen zu wollen und nicht nur per Stellenbeschreibung zu müssen. Von der Position, führen zu müssen, in die Positon, führen zu wollen, haben Sie sich innerlich selbst befördert. Von diesem Zeitpunkt an wurden Sie tatsächlich ein Chef. Sie haben die Führungsrolle nicht nur erhalten, sondern für sich angenommen. Ihr inneres Selbstbild rastete in die äußerlich bereits erteilte Position ein. Damit gingen die ersten Weichenstellungen einher, sich in bestimmten Situationen wie eine Führungskraft zu verhalten. Ihre Managerkollegen begannen, Ihnen zuzuhören. Auch der Blick der Mitarbeiter auf Sie veränderte sich. Sie nahmen wahr, dass diese Ihnen in Alltagssituationen mehr Respekt entgegenbrachten. Ihre innere Entscheidung, ein Chef sein zu wollen, wurde nach außen hin sichtbar.
Kennen Sie die Art Vorgesetzte, die dem Titel nach zwar Chef sind, sich aber nie entschieden haben, führen zu wollen? Sie bleiben als Vorgesetzte ihr Leben lang brave Verwalter. Sie machen in einem geregelten Umfeld vielleicht sogar einen ganz ordentlichen Job, aber mehr ist nicht zu erwarten. Wer wirklich führen will, muss sich willentlich dafür entscheiden. Treffen Sie diese Entscheidung für sich nicht, ist das auch eine Entscheidung. Sie wählen den bereits ausgetretenen Weg hin zum Verwaltertyp und zum Mittelmaß als Führungskraft.
Neben der Entscheidung, Menschen führen zu wollen, gilt es noch eine weitere Entscheidung zu treffen. Diese verändert Sie noch mehr als die erste. Jeder Mensch kann diese Entscheidung für sich treffen. Wenn Sie aber eine Führungskraft sind, hat sie besonders deutliche Konsequenzen, weil Sie dann ein Multiplikator sind. Als solcher können Sie im Sinne der zweiten Entscheidung Großes leisten.
Welches ist nun die zweite wesentliche Entscheidung, nachdem Sie sich entschlossen haben zu führen? Die alles entscheidende zweite Frage ist jetzt: Was für eine Führungskraft wollen Sie sein?
Es gibt zwei Arten von Vorgesetzten. Es gibt diejenigen, die sich hauptsächlich um sich selbst kümmern. Sie sind in ihrer Sicht auf die Welt und das Leben sehr eingeschränkt, als wäre ihr Blick durch einen Schleier getrübt. Sie können all das, was hinter dem Schleier liegt, nicht scharf sehen. Diese Art von Vorgesetzten hat nur genau so viel Interesse an ihren Mitarbeitern, dass sie sich selbst einreden können, sie täten doch einiges für ihre Leute und seien im Großen und Ganzen gute Chefs. Auf einer Skala von 1 bis 10 (1 bedeutet »sehr schlechter Chef« und 10 heißt »exzellenter Chef«) würden sich diese Vorgesetzten wahrscheinlich selbst eine 8 geben. Die zwei zur Maximalzahl fehlenden Punkte sind dem zukünftigen Wachstum geschuldet. Man hat ja schließlich noch etwas vor sich. Von dieser Art Manager gibt es leider viel zu viele, und das Ergebnis ihrer Arbeit ist die tägliche Demotivation der Mitarbeiter. Sie sorgen dafür, dass Menschen ihr Potenzial nicht entwickeln. Sie sind der Grund für ein schlechtes Arbeitsklima, für gestresste Mitarbeiter und Eltern, die ihrer Familie nicht mehr gerecht werden.
Auf der anderen Seite gibt es Vorgesetzte, die sich als Leader erweisen. Das sind Führungskräfte, deren Können ebenfalls mit einer Schätzung von 8 und auch darüber bedacht wird, allerdings nicht von ihnen selbst, sondern von deren Mitarbeitern. Diese Leader sind außergewöhnliche Persönlichkeiten. Sie wecken das Beste in den Menschen. Wenn deren frühere und aktuelle Mitarbeiter an sie denken, empfinden sie vor allem Respekt, Loyalität und Dankbarkeit. In diesem Buch werde ich Ihnen zeigen, was diese Leader auszeichnet und wie Sie ein solcher werden. Die Grundhaltung, die das Handeln solcher Leader bestimmt, lässt sich so zusammenfassen:
Merksatz
We care!
Den ersten Kontakt zu einem Leader hatte ich auf dem Gymnasium. Dort gab es einen Lehrer, Robert Link, der damals schon kurz vor seiner Pensionierung stand. Er unterrichtete unter anderem Geschichte, und er verstand es, Begeisterung dafür zu wecken. Er war ein hervorragender Didaktiker. Eine Eigenschaft aber machte ihn einzigartig, die ich bei kaum einem anderen Lehrer und auch später in der Wirtschaft nur selten erlebt habe. Besonders deutlich wurde diese beim sogenannten Pausendienst, den Robert Link in den neun Jahren, in denen ich die Schule besuchte, jeden Tag freiwillig (!) beaufsichtigte. Dabei musste man in der zweiten großen Pause mit einer langen Metallklammer in der einen und einem Müllsack in der anderen Hand gemeinsam mit anderen Schülern und Herrn Link den Schulhof vom Müll befreien. Es war ein Strafdienst für Schüler, die im Unterricht auffällig geworden waren und zu denen ich gelegentlich auch gehörte. Meist befand man sich beim Pausendienst in Gesellschaft der schwierigsten Charaktere, die ein Gymnasium mit 1 200 Schülern zu bieten hat. Es war eine gute Schule, aber natürlich gab es auch einige ernsthafte Herausforderungen unter den Schülern. Es waren zur Hälfte immer dieselben Anwärter mit schlechten Noten und auffälligem Verhalten, die sich in der Pause zum Dienst trafen. Sie waren die schwarzen Schafe in ihren Klassen und ihnen war klar, dass sie nicht als Kandidaten für das Abitur galten. Sie kannten es bis dahin nicht, dass jemand ihnen gegenüber Respekt, Vertrauen und Anerkennung zeigte. Robert Link tat genau das. Er begegnete auch Schülern, die auf den Pausendienst abonniert schienen, immer mit echter Freundlichkeit und großem Respekt, als seien sie Musterschüler, die sich freiwillig für einen Dienst an der Gemeinschaft gemeldet hätten. Wenn jemand etwas Unverschämtes zu Herrn Link oder auch einem Mitschüler sagte, war er sichtlich bestürzt und fragte sofort zurück, wie man so etwas denn sagen könne. Er suchte auf der Stelle (also im Pausenhof) das Gespräch mit demjenigen. Stets wurde sein unbedingter Glaube an das Gute in jedem von uns deutlich. Auch die Hartgesottenen blieben ihm gegenüber nach ein oder zwei Ausreißern höflich. Man wollte ihn einfach nicht enttäuschen. Dieser Glaube an uns entsprang aber nicht einer Naivität, sondern seinem inneren Bild davon, wie wir sein könnten.
Im Hintergrund setzte er sich regelmäßig still und leise für einige der »schwierigen Fälle« ein und versuchte bei ihnen, den Eltern und der Schulleitung das Vertrauen zu stärken, dass sie das Abitur schaffen könnten. Auch der Schuldirektor ließ sich von »Papa Link«, wie wir ihn heimlich nannten, beeinflussen. Nicht wenige haben seinem Glauben an sie ihr Abitur zu verdanken. Dieser Mann beeindruckt mich im Nachhinein noch mehr als damals, weil ich erst heute verstehe, welche Charakterstärke und welches Menschenbild er hatte. Damit bewirkte er bei manchen Schülern mehr als das ganze restliche Lehrerkollegium zusammen. Er war weder ein strenger noch ein besonders dominanter Lehrer, aber er besaß Herzensgüte, Überzeugungskraft und Demut. Als wir zum Schulabschluss unsere Abizeitung herausgaben, war er einer von zwei Lehrern, die rundweg positiv dargestellt wurden. Dieser Mann hatte sich unseren Respekt verdient. Er war eine außergewöhnliche Persönlichkeit und hat sehr wahrscheinlich nicht nur mich nachhaltig beeindruckt.
Knapp 30 Jahre nach meiner Schulzeit fand ich in einem Buch über Glück den Wink, dass es nicht nur den Empfänger, sondern auch den Absender glücklich macht, einen Dankesbrief zu schreiben. Ich wusste, dass Robert Link bereits über 90 Jahre alt sein musste, falls er noch lebte. Über meine alte Schule fand ich tatsächlich seine Adresse heraus und schickte ihm dieses Buch. In einem Brief erzählte ich ihm, wie er mich und mein Leben beeinflusst hatte. Seine Frau und seine Kinder antworteten mir in seinem Namen, da er selbst erkrankt war. In dem Brief schrieben sie etwas, das bezeichnend für ihn ist: »Früher antwortete unser Vater/mein Mann hin und wieder, wenn er nach seinem Beruf gefragt wurde: ›Ich bin von Beruf Mensch.‹ Bis zum heutigen Tag bemüht er sich, sein Bestes zu geben. ›Mensch zu sein und Mensch zu werden – trotz alledem und alledem‹ ist immer noch sein Lebensmotto.«
Später hörte ich an der Universität Mannheim im Grundstudium mit über 500 Kommilitonen Marketingvorlesungen von Prof. Dr. Hans Raffeé, der auch ein Leader ist. Er war ein begnadeter Rhetoriker, und wir BWL-Studenten hingen an seinen Lippen. Die letzten 15 bis 20 Minuten seiner 90-minütigen Vorlesungen nutzte er jeweils, um uns einen Artikel über gesellschaftliche Themen aus der ZEIT oder der FAZ vorzulesen, den er anschließend kommentierte. Raffeé hielt uns BWL-Studenten zu einem Studium generale an und ermahnte uns immer wieder: »Werden Sie nicht zu Fachidioten und besuchen Sie auch Vorlesungen an anderen Fakultäten. Hören Sie mal bei den Kollegen etwas über Ethik oder Geschichte. Bilden Sie sich.« Raffeé stand in dem Ruf, sehr viel für die Studenten zu tun. Unter anderem organisierte er Besuche von Kunstausstellungen in den Mannheimer Museen. Mit seinen Wahlpflichtfachstudenten unternahm er mehr Kursfahrten als andere Professoren, die unter anderem regelmäßig ins Kloster führten. Dort trafen die Studenten auf einen sehr gebildeten Mönch, der Vorstände beriet und mit dem sie stundenlang die Bedeutung von Werten diskutierten. Professor Raffeé förderte die Studenten nicht nur beruflich, indem er zum Beispiel Kontakte zu Unternehmen herstellte, sondern auch in ihrer menschlichen Entwicklung. Er nahm sich Zeit, wann immer ein Student ihn darum bat. Raffeé war für mich ein Vorbild an Integrität, lebensbejahender Energie und Menschlichkeit. Obwohl er unter anderem wegen seiner brillanten Rhetorik ein in Kreisen der nationalen Wirtschaft bekannter Professor war, redete er mit uns Studenten sowohl in der Vorlesung als auch im Einzelgespräch immer auf Augenhöhe. In den Vorlesungen zeigte sich sein humanistisches Menschenbild und sein Glaube an uns Studenten als herausragende Persönlichkeiten. Auch er sah das Beste in uns und forderte uns auf, es zu entwickeln und hervorzubringen. Die Wirkung eines solchen ausgesprochenen Vertrauens ist so fulminant, dass man es am liebsten auf der Stelle rechtfertigen würde. Ich habe gehört, dass ihn zu seiner nächtlichen Emeritierungsfeier über hundert ehemalige Doktoranden und Studierende überraschten, die aus aller Welt angereist waren, um ihn mit einem Fackelzug von seinem Haus zur Universität zu geleiten. Kennen Sie jemanden, der mit hundert Fackelträgern, von denen viele Tränen in den Augen hatten, aus seinem Amt geleitet wurde?
Natürlich geht jemand wie Hans Raffeé nicht einfach in den Ruhestand, nur weil er ein bestimmtes Lebensalter erreicht hat. Er setzte sich auch weiterhin für seine Studenten ein. Damals brach der Kontakt der Alumni zu ihrer deutschen Universität nach Beendigung des Studiums in der Regel vollständig ab. Alumni-Organisationen, wie man sie aus den USA und vielen Ländern der Welt kennt, gab es hierzulande nicht. Nach seiner Emeritierung 1994 beteiligte sich Raffeé deshalb als erster Vorsitzender am Aufbau der Absolventenvereinigung AbsolventUM (Absolventen der Universität Mannheim). Die 1995 ins Leben gerufene Organisation wurde unter anderem 1998 vom damaligen Bundespräsidenten Roman Herzog als Innovation im Hochschulbereich ausgezeichnet und heute noch gilt AbsolventUM als der Maßstab für alle universitären Absolventennetzwerke im deutschsprachigen Raum. 2003 wurde Raffée für sein universitäres, kirchliches und kulturelles Engagement mit dem Bundesverdienstkreuz 1. Klasse geehrt.
Der dritte großartige Leader auf meinem Weg war der Chef, von dem ich Ihnen in diesem Buch berichte. Ich nenne seinen Namen nicht und habe die Inhalte zum Teil etwas verfremdet, denn einiges, was ich in diesem Buch über ihn erzähle, ist doch sehr persönlich, wie Sie noch merken werden. Von ihm erfahren Sie jeweils etwas zu Beginn der einzelnen Kapitel.
Hinter dem Lebenswerk so hervorragender Leader steckt eine Geisteshaltung. Ich kam der Geisteshaltung dieser großartigen Leader das erste Mal inhaltlich auf die Spur, als ich mich mit dem 1990 verstorbenen amerikanischen Autor Robert K. Greenleaf beschäftigte, der mit dem Aufsatz »The servant as leader« von 1970 international bekannt wurde. In diesem Artikel hatte er den Begriff Servant-Leader geprägt. Da der Begriff »servant« nicht dieselbe Konnotation hat wie das deutsche »Diener«, ist die Übersetzung nicht ganz adäquat. Sie finden den Originaltext in den Endnoten. Greenleaf beschreibt den Servant-Leader so (eigene Übersetzung, A. G.):
»Der dienende Führer ist in erster Linie Diener […]. Zunächst verspürt er den natürlichen Wunsch zu dienen, primär zu dienen. Darauf folgt die bewusste Entscheidung zu führen […]. Der Unterschied äußert sich in der Sorgfalt, die der Diener aufwendet – als Erstes sicherzustellen, dass die wichtigsten Bedürfnisse anderer erfüllt werden.
Der beste, aber am schwierigsten anzuwendende Test: Wachsen diejenigen, denen die Fürsorge gilt, als Persönlichkeiten? Werden sie dadurch gesünder, klüger, freier, selbstständiger und besser befähigt, selbst Dienende zu werden? Und wie sind die Auswirkungen auf die, die in der Gesellschaft am wenigsten privilegiert sind: Profitieren sie oder werden sie zumindest nicht benachteiligt?«1
Diese Fragen, die sich ein Leader stellen sollte, sind nach fast 50 Jahren noch immer aktuell und relevant. Sie führen weg von der Perspektive des Selfserving Leaders hin zum Serving Leader. Als Leser dieses Buches haben Sie vermutlich nicht den Anspruch, Ihr Leben ausschließlich in den Dienst Ihrer Mitmenschen zu stellen. Mit großer Wahrscheinlichkeit wollen Sie Karriere machen und sich selbst und Ihrer Familie ein ordentliches Maß an Wohlstand ermöglichen. Deswegen habe ich mich nicht für den Begriff Servant-Leader entschieden, sondern einfach für Leader. Ein Leader, der diese Bezeichnung verdient, stellt eine gute Balance her zwischen den eigenen Ansprüchen und denen seiner Mitmenschen. Er findet einen Sinn in seiner Arbeit und kann diesen vermitteln.
Der Anspruch von Greenleaf an den Servant-Leader in diesem und anderen Texten, er solle das natürliche Verlangen »to serve« haben und sich ganz in den Dienst anderer stellen, bevor er zu führen beginnt, erscheint mir etwas idealisiert und übertrieben. Wenn ein Mensch geboren wird, ist er erst einmal ausschließlich »self-serving«, denn ein Baby nimmt zunächst nur die eigenen Bedürfnisse wahr. Es weckt die Eltern nachts im Zwei-Stunden-Takt, obwohl diese am nächsten Tag früh aufstehen und arbeiten müssen. Auch in unserer Jugend zählen unsere eigenen Bedürfnisse meist mehr als die anderer Personen. Alle Eltern von Kindern in der Pubertät wissen zum Beispiel, dass diese nicht im Traum daran denken, freiwillig die Spülmaschine auszuräumen, obwohl sie wissen, dass sie die oft sehr stark angespannten Eltern damit entlasten würden. Wenn die Kinder dann nach Schule und Studium in den Beruf einsteigen, wollen sie sich erst einmal selbst beweisen. Danach kommt die Zeit der ersten Führungsverantwortung und parallel dazu oft auch die Verantwortung für den eigenen Nachwuchs. Jetzt geht es für die Führungskräfte darum, die berufliche Entwicklung in die richtige Bahn zu lenken, während gleichzeitig der Aspekt der Sicherheit eine immer größere Rolle spielt. Erst mit über 40 Jahren, wenn Führungskräfte oft schon einiges erreicht haben, kommt die Frage nach dem Sinn und danach, wie es weitergehen soll, noch einmal neu auf.
Meine Beobachtung ist, dass viele Führungskräfte mit Anfang 40 etwas in ihrer Arbeit vermissen. Bis dahin stand die Karriere im Mittelpunkt, und der Erfolg war sinnstiftend. Auch jetzt noch managen sie jeden Tag das Abarbeiten der auftretenden Probleme und gehen dabei kontinuierlich ihren Karrierepfad weiter. Aber das kann doch irgendwie nicht alles sein?
Viele vermissen in ihrer Arbeit einen übergeordneten Sinn. Sie würden gern für etwas stehen, das mehr bedeutet. Sie wollen Teil von etwas Großem sein, vielleicht sogar mit Begeisterung für etwas brennen. In dieser Hinsicht haben die meisten Unternehmen und auch die jeweiligen Vorgesetzten aber wenig zu bieten. Wo nichts brennt, kann auch keine Funke fliegen, der andere entzündet. In diesem Buch will ich Ihnen aufzeigen, wie Sie genau das erreichen, wie Sie Ihrer Arbeit und Ihrem Leben etwas Großes hinzufügen. Sie können eine Führungskraft werden, welche die eigenen Mitarbeiter durch Charakter und Vision inspiriert. Und nicht zuletzt werden Sie auch ein besserer Partner in der Beziehung und ein besserer Vater oder eine bessere Mutter. Alles, was Sie benötigen, steckt in Ihnen. Sie haben das Zeug dazu, ein außergewöhnlicher Leader zu werden! Das Buch vermittelt Ihnen konkrete Ideen und Haltungen, es zeigt, was Sie tun können, um sich selbst und Ihre Mitarbeiter zu inspirieren.
Viele Vorgesetzte halten sich selbst für gute, oft sogar für brillante Führungskräfte. Hatten Sie mal einen Chef oder eine Chefin, der oder die Ihre Nerven so richtig strapaziert hat? Und hielt sich diese Person selbst für unfähig? Sehr wahrscheinlich nicht. Es ist wie mit den Autofahrern. 94 Prozent der europäischen Fahrer halten sich für gute bis sehr gute, also überdurchschnittliche Autofahrer. Das liegt daran, dass all diese Fahrer »gutes Fahren« mit einer Eigenschaft verbinden, die sie zu besitzen glauben. Wer gut im Einparken ist, definiert »gutes Fahren« über das Einparkenkönnen. Wer vorsichtig und seit Langem unfallfrei fährt, definiert »gutes Fahren« eben so, auch wenn er all den »sportlichen« Autofahrern mit seiner zögerlichen Fahrweise das Nervenkostüm ruiniert. Mit der Führung ist es genauso. Viele Führungskräfte schätzen ihre Führungsfähigkeit als hoch ein. Befragt man ihre Mitarbeiter, sieht das Ergebnis oft anders aus. Wie steht es mit Ihnen? Halten Sie sich für einen guten bis sehr guten Chef?
Ob jemand eine gute Führungskraft ist, hängt, ähnlich wie beim »guten Fahren«, zuerst einmal davon ab, wie man »gute Führung« definiert. Jeder, der führt, weiß, was mit Führung gemeint ist. Bittet man aber jemanden darum, zu definieren, was er oder sie unter »Führung« versteht, fällt das den meisten sehr schwer. Es folgt fast immer eine Aufzählung von Tätigkeiten, die eine Führungskraft ausübt. Das hat aber nichts mit einer Definition zu tun. Jetzt werden Sie vielleicht denken: Wen interessiert denn die Definition von Führung, wenn doch jeder weiß, was gemeint ist? Oder anders gefragt: Warum ist eine klares Verständnis des Begriffs für Sie als Führungskraft von Bedeutung?
Die Antwort ist so einfach, dass man sich wundert, wie wenige sich damit beschäftigen. Die Definition von Führung ist der Maßstab, an dem Sie und auch jeder andere feststellen kann, wie gut Sie darin sind. Eine gute Definition stellt auch klar, woran man eine echte Führungskraft erkennen und von einem bloßen hierarchischen Vorgesetzten ohne Führungsqualitäten unterscheiden kann.
Darf ich Ihnen einen Vorschlag machen, wie Sie Führung in Zukunft für sich definieren könnten? Es kommt dabei nicht auf eine wissenschaftliche Definition an. Uns genügt hier eine praxisnahe Definition, unter der sich Führungskräfte etwas vorstellen können und mit deren Hilfe sie einschätzen können, ob und wie gut sie führen.
Führung heißt, die Energie der Mitarbeiter auf Handlungen auszurichten, um einen von der Führungskraft gewünschten Zustand in der Zukunft zu erreichen, und die Energie der Mitarbeiter auf Dauer zu mehren.
Die etwas verkürzte Formel zum Merken lautet:
Merksatz
Führung heißt, Energie auszurichten und auf Dauer zu mehren.
Die Definition hat drei Aspekte, mit deren Hilfe Sie Ihre eigene Führung kritisch hinterfragen können:
Führung muss sich an der Erreichung eines gewünschten Zustands in der Zukunft messen lassen. Die Voraussetzung für die Erreichung eines gewünschten Zustands ist aber, dass die Führungskraft ein Bild davon hat, was sie anstrebt. Das klingt banal, ist aber viel zu oft nicht der Fall. Viele Vorgesetzte in Unternehmen verbringen ihre Zeit Tag für Tag mit den drei Managerdisziplinen Feuerlöschen, Hühnerfangen und Kühe-vom-Eis-Schieben. Das ist nach der eben genannten Definition keine Führung, denn die Energie der Mitarbeiter wird hier von den aktuellen Umständen gelenkt und nicht von einem selbst gewählten Bild der Zukunft. Natürlich geben die Unternehmen den Führungskräften Ziele vor, die im besten Fall sogar inspirierend und deckungsgleich mit denen der Führungskräfte sind. Letzteres ist allerdings eher selten der Fall, denn viele Ziele sind als Kennziffern oder zu erreichende Zahlen formuliert. Zahlen inspirieren Menschen aber nun mal nicht. Nicht von oben vorgegebene operative Ziele, sondern Ihr persönliches Bild von der Zukunft kann Sie und andere inspirieren. Dieses Bild könnte zum Beispiel eine neue Kultur sein, die Sie in Ihrem Bereich einführen wollen.
Welchen Anspruch haben Sie an sich selbst? Wenn Sie einfach einen ordentlichen Job machen und Ihre Mitarbeiter dabei fair behandeln wollen, ist das respektabel. Wenn sich aber nach Ihrer jahrelangen Tätigkeit als Chef in den Köpfen und Herzen der Menschen nichts verändert hat und nur die tagesaktuellen Probleme bearbeitet und der Status quo aufrechterhalten wurde, kann man kaum von Führung, sondern eher von Verwaltung sprechen. Ein Leader hat ein Bild vor Augen, wohin er will. Er hat eine Richtung, er geht voran und andere folgen ihm. Der erste Präsident der Stanford-Universität, David Starr Jordan, hat einmal gesagt: »Die Welt tritt zur Seite, um jemanden vorbeizulassen, der weiß, wohin er geht.« Wohin gehen Sie? Was wollen Sie mit Ihrer Führung für die Menschen, das Unternehmen und die Gesellschaft erreichen? Für welche Idee begeistern Sie sich?
Jeder Mensch hat Lebensenergie. Im Idealfall wird diese Energie durch Ihre Arbeit als Führungskraft im Lauf der Zeit vermehrt. Ihre Mitarbeiter empfinden Gemeinschaft, Herausforderung und Sinn. Sie entwickeln mehr Selbstbewusstsein und Selbstvertrauen und reifen in ihrer Persönlichkeit. Wie ist es bei Ihnen? Wenn Ihre Mitarbeiter abends nach Hause gehen, in welchem Zustand sind sie dann? Und wie treffen sie auf ihre Familien? Natürlich gibt es auch im Job die harten Zeiten, die für alle anstrengend sind. Die Frage ist aber, was bleibt den Menschen in Erinnerung, wenn sie an ihre Zeit mit Ihnen als Chef zurückdenken? Der von mir für seine Weisheit und Demut sehr geschätzte Anselm Grün hat ein Buch mit dem perfekten Titel Menschen führen – Leben wecken verfasst. Genau darum geht es. Wecken Sie durch Ihre Persönlichkeit und Führung Leben in den Menschen oder bewirken Sie das Gegenteil?
Zu Beginn des Kapitels hatte ich Ihnen drei Leader vorgestellt, die diese Aspekte in hohem Maße umsetzen. Dafür muss man aber nicht einmal eine Führungskraft im engeren Sinn sein. Denken Sie an das Beispiel von meinem Lehrer Robert Link, der ein Leader war. Er hatte ein Bild im Kopf, wie die Zukunft für uns Schüler aussehen sollte oder besser gesagt was für Menschen wir werden sollten. Und dieses Bild hat er uns stets vermittelt, im Unterricht ebenso wie im Pausendienst. Mit seinem Glauben an uns hat er auch unsere Energie erhöht und bei manchem Schüler einen erstaunlichen Wandel bewirkt. Mit dieser Energie haben manche ihr Abitur geschafft, denen es niemand mehr zugetraut hatte.