ISBN: 978-3-95428-629-4
1. Auflage 2016
© 2016 Wellhöfer Verlag, Mannheim
Wellhöfer Verlag
Ulrich Wellhöfer
Weinbergstraße 26
68259 Mannheim
Tel. 0621/7188167
www.wellhoefer-verlag.de
Titelgestaltung: Uwe Schnieders, Fa. Pixelhall, Mühlhausen
Alle Rechte vorbehalten.
Für Carolin,
die mir Einblicke in die Welt
eines nicht sprechenden Menschen gewährt hat
Wir sehen uns jeden Tag. Er hält meinem Blick stand und weicht mir nicht aus, so wie es die meisten Menschen tun. Sie machen einen Bogen um mich, als ginge eine Gefahr von mir aus. Nur die Kinder sind anders. Sie bleiben stehen und glotzen mich an, als wäre ich ein Ungeheuer aus ihren Märchen, sie verharren mit offenen Mündern, bis jemand kommt und sie fortzieht.
Es ist furchtbar, in das Gesicht eines Mörders zu blicken, von dessen Tat niemand weiß. Es ist unerträglich, ihn täglich zu sehen und doch nichts tun zu können als zu warten, bis er auch mein Leben auslöscht. Mein Körper ist ein Kerker, der meinen Geist und meinen Willen gefangen hält. Hätte ich einen Wunsch frei – nur einen einzigen Wunsch – so würde ich nicht einen Moment zögern und mir wünschen sprechen zu können, sei es auch nur für einen Tag, ja, nur für eine Stunde.
*
Die Möbel, die drei kräftige Männer aus dem Wagen luden, sahen schäbig aus. Alle Möbel sehen schäbig aus, wenn sie auf der Straße stehen, dachte Manuel, wie Sperrmüll, den niemand mehr haben will. Auch seine eigenen. Er sollte sie bald ersetzen, jetzt, wo er der Besitzer eines Einfamilienhauses war. Einfamilienhaus klang gut, fand er, doch dies war ein dehnbarer Begriff. Seines war ein winziges Häuschen mit steilen Treppen und kleinen Fenstern, die nur wenig Licht in die nicht gerade großen Zimmer ließen. Es war auch keines von diesen bunt angestrichenen Schmuckkästen, die es in der Nachbarschaft gab, sondern lehnte wie ein Anhängsel an einem größeren Haus, als könnte es nicht mehr aus eigener Kraft aufrecht stehen. Trotzdem war er stolz darauf und jetzt, wo die Renovierung abgeschlossen war, fühlte er sich stark und erfolgreich wie schon seit langer Zeit nicht mehr. Jahrelang hatte das Häuschen leer gestanden – wegen Erbstreitigkeiten, hatte die Bank gesagt, in deren Besitz es zwischenzeitlich gelangt war.
Cornelia hatte das heruntergekommene Gebäude vor einem halben Jahr entdeckt und die Besitzerin ausfindig gemacht. Ihre Zuversicht, aus der Bruchbude ein schönes Haus in guter Lage für ein gemeinsames Leben auferstehen zu lassen, hatte ihn angesteckt. Der erste Anblick des Hauses von innen war allerdings selbst für Cornelias Optimismus ein Schock gewesen. Zwei Obdachlose hatten sich hier für Monate eingenistet. Ohne Strom, Wasser oder Heizung hatten sie im Erdgeschoss gehaust und den Müll von Monaten zurückgelassen. Auf der Rückseite hatten sie ein Fenster eingeschlagen und durch die mit Pappe zugeklebte Öffnung ein Ofenrohr nach draußen geführt. Die letzten Reste des verheizten Treppengeländers waren zerschlagen neben dem alten Kanonenofen zurückgeblieben, zu dem das Rohr gehörte. Die Toilette war schwarz von Kot gewesen und der Wasserkanister, der wohl einmal zum Spülen gedacht war, leer.
Manuel freute sich darauf, sein Leben als überarbeiteter Junggeselle aufzugeben, um mit Cornelia, ihrer bald neunjährigen Tochter Pauline und dem hinkenden Kater Herbert wie eine richtige Familie unter einem Dach zu leben. Pauline ließ allerdings keinen Zweifel daran, dass sie am liebsten mit ihrer Mutter allein geblieben wäre. Kurz nach ihrem ersten Zusammentreffen hatte er noch gehofft, dass sie eines Tages Papa zu ihm sagen würde. Später war er froh gewesen, wenn sie überhaupt ein paar Worte mit ihm wechselte. Jetzt war ihr größtes Entgegenkommen, ihn mit Manuel anzureden und nicht nur in der dritten Person über ihn zu sprechen.
Mit Cornelia hingegen hatte er Glück gehabt, ein unerwartetes Glück. Eine Frau, die bereit war, seine im langen Junggesellendasein erworbenen Eigenarten zu ertragen, war schon für sich gesehen ein Glücksfall. Eine, die seine Liebe zu Opern teilte, dabei auch noch hübsch und klug und trotzdem liebevoll war, grenzte schon an ein Wunder. Dass sie ausgerechnet für ihn ihr Leben als unabhängige alleinerziehende Mutter aufgab, war die größte Überraschung.
Bislang war jede seiner Beziehungen nach ein paar Jahren gescheitert. Wahrscheinlich war er immer an die falschen Frauen geraten – oder er hatte schlichtweg keine Zeit für die richtige Frau gehabt. Dabei hatte er bis vor Kurzem geglaubt, ein besonders attraktiver Mann zu sein: gleichmäßiges Gesicht mit einer geraden Nase und einem kräftigen Kinn, volles, leicht gewelltes dunkelbraunes Haar, blaue lebhafte Augen mit Lachfalten in den Augenwinkeln. Eine gewisse Ähnlichkeit mit Hugh Grant war unübersehbar. – Den leichten Bauchansatz hatte er sich erst in den letzten Jahren zugelegt. Luisa, seine letzte Freundin vor Cornelia, hatte ihn jedoch darüber aufgeklärt, dass ihm schöne Frauen nicht deswegen lange Blicke zuwarfen, weil sie ihn attraktiv fanden, sondern weil sie seine bewundernden Blicke suchten. Attraktiv oder nicht, Cornelia hatte sich jedenfalls in ihn verliebt.
Die Beziehung zu Luisa hatte immerhin sechs Jahre gehalten. Sie endete, weil Luisa eines Tages während seiner Abwesenheit alles, was ihr gehörte, abgeholt hatte, außerdem eine alte silberne Zuckerdose und eine Designerblumenvase, die noch von ihrer Vorgängerin in Manuels Wohnung zurückgeblieben war. Luisas einzige Hinterlassenschaft war ein Zettel auf dem Küchentisch:
»Ich bin gespannt, wann du merkst, dass ich weg bin.«
Offenbar spielte sie darauf an, dass er ohnehin nur selten zu Hause war und wenn er da war, Dinge tat, bei denen sie nur störte. Opern im Fernsehen ansehen oder auf CD anhören zum Beispiel. Voller Wut über ihr demütigendes Verhalten hatte er alle Fotos von ihr zerrissen und vom Computer gelöscht. Er fühlte sich ungerecht behandelt. Anders als seinen früheren Bekanntschaften war er Luisa treu gewesen – bis auf ein einziges Mal, von dem sie nichts wusste. Trotzdem hatte sie die fixe Idee gehabt, er habe ein Verhältnis mit einer Sängerin an der Basler Oper, nur weil er einmal über Umwege eine Freikarte bekommen hatte und ohnehin täglich in der Nähe von Basel war. Luisas Neuer war Immobilienmakler und besaß ein Haus mit Garten am Kaiserstuhl, was ihr Häuslichkeit zu versprechen schien. Der Sprengstoff, den seine Mitgliedschaft in der Narrenzunft, bei der freiwilligen Feuerwehr und als Basstubaspieler im örtlichen Musikverein barg, schien ihr vorerst entgangen zu sein.
Nach Luisas Abgang hatte Manuel beschlossen ein anderer Mensch zu werden – ein Neuanfang, allerdings nicht der erste in seinem Leben, aber der radikalste: Dr. Manuel Fechner, neunundvierzig Jahre, Immunbiologe, bislang alleinstehender gut bezahlter Drug Regulatory Affairs Director einer großen Pharmafirma in der Nähe von Basel. Jetzt war er Familienvater in einer Patchwork-Familie, hatte ein eigenes Haus und war Inhaber einer aufstrebenden, wenn auch verschuldeten Firma in Freiburg. Statt als Gruppenleiter mit einem halben Dutzend Mitarbeitern für die Zulassungsverfahren von neuen Medikamenten im In- und Ausland zuständig zu sein, verließ er sich jetzt auf die Fähigkeiten eines Kompagnons, der hektische Bewegungen hatte und fast pausenlos rauchte. Dafür konnte er sich jetzt seine Zeit einteilen wie er wollte, ohne die hohen Erwartungen eines mächtigen Arbeitgebers hinsichtlich ständiger Bereitschaft weit über seine vertraglich festgelegte Wochenarbeitszeit hinaus.
Über seine Möbel hinweg fiel Manuels Blick auf die Einfahrt neben dem gegenüberliegenden Haus. Dort bewegte sich etwas. Von irgendetwas Unsichtbarem gesteuert fuhr ein Mann mit seinem Rollstuhl zielsicher aus einer Einfahrt heraus auf die schmale Straße. Jemand hatte ihn im Rollstuhl festgebunden und die Oberarme mit einem breiten Gurt neben dem Oberkörper fixiert. Der rechte Unterarm war verdreht und zur Seite ausgestreckt, während der linke vor der Brust gebeugt war. Beide Arme waren trotz ihrer Fesseln in fortwährender Bewegung. Auch die Hände bewegten sich, jeder einzelne Finger vollführte einen langsamen bizarren Tanz. Über die Oberschenkel war ein breiter Riemen gespannt. Selbst der Kopf des Mannes war über der Stirn mit einem Gurt fixiert und lehnte an einer Kopfstütze, die vom Hinterkopf bis zu den Schläfen reichte und die Rückenlehne des Rollstuhls überragte. Das ausgezehrte Gesicht unter den dunklen strähnigen Haaren verzerrte sich zu wilden Grimassen. Das Alter des Mannes? Seine ungezügelte Mimik hatte tiefe Spuren hinterlassen. Er konnte fünfzig sein, vielleicht aber auch zehn oder zwanzig Jahre jünger.
Manuel trat einen Schritt zurück und ließ den Mann in dem schmalen Durchlass passieren, der zwischen den Häusern und einem Möbelwagen frei geblieben war. Als sie auf einer Höhe waren, bewegten sich die Arme des Mannes heftiger, und für einen Moment schienen sich ihre Blicke zu begegnen. Vielleicht versuchte der Mann zu sprechen, aber es drangen nur unverständliche gurgelnde Laute aus seinem Mund. Dann war der Kranke vorüber. Mehr verwundert als entsetzt sah ihm Manuel nach, wie er an den niedrigen Häusern vorbei in Richtung der Kirche St. Urban weiterrollte. Erst als Autos den Mann verdeckten, wandte er sich dem Haus zu, aus dem der Behinderte gekommen war. Dort hielt an einem Fenster im ersten Stock eine magere Hand die Gardine ein Stück zur Seite. In dem Spalt erschien mit langsamen und eckigen Bewegungen eine gebeugte Gestalt mit kahlem Schädel. Das Gesicht eines Greises näherte sich der Fensterscheibe. Reglos starrte der Alte zu Manuel hinunter. Als sich ihre Blicke kreuzten, ließ der Alte die Gardine los, die sich sofort wieder schloss.
Manuel drehte dem nun hinter der Gardine lauernden Alten den Rücken zu. Keine Frage, Herdern war eng hier, ein Dorf in der Stadt Freiburg, in dem früher Winzer und Bauern lebten, mit Dorfbach, Kirchplatz und ein paar wenigen dem Bauboom trotzenden kleinen Häuschen. Achtzehntes Jahrhundert schätzte er deren Alter. An dieser Stelle gab es keine noblen Anwesen wie die Häuser in Hanglage, keine Jugendstilvillen wie anderswo in Herdern. Aber immerhin war das hier ein Einfamilienhaus, was im Stadtgebiet von Freiburg eine Seltenheit war.
»Manuel, willst du nicht raufkommen und den Möbelpackern zeigen, wo sie deine Sachen hinstellen sollen?«
Er blickte zum ersten Stock hinauf, wo sich ein blau gestrichenes Fenster geöffnet hatte und Cornelias Gesicht erschienen war. Die blaue Farbe für Fensterrahmen, Türen und Fensterläden war ihr Wunsch gewesen. Eine rötliche oder braune Farbe wäre besser gewesen, dachte er, als er sie dort oben sah. Zu ihren kurzgeschnittenen braunen Haaren mit den rötlichen Strähnchen passte das kalte Blau nicht, auch nicht zu ihrer Kleidung und ihrem Gesicht. Cornelia war ein Typ für warme Farben. Die blaue Farbe erinnere sie an griechische Inseln, an Retsina, an Urlaub und Meer, hatte sie gemeint. – Aber wozu brauchte sie die Erinnerung an Griechenland, wenn sie es hier so schön hatten? Er warf noch einen letzten Blick auf die Einfahrt, aus der der Behinderte gekommen war. Er hätte gern gewusst, wie er das machte, so allein im Straßenverkehr zu fahren. Mit den Händen sicher nicht. Mit den Füßen?
»Ich komme«, rief er.
Eigentlich wollte er nicht. Ohne Möbel hatten die frisch gestrichenen Zimmer geräumig ausgesehen. Mit Cornelias Möbeln waren sie winzig geworden, mit seinen würde das Haus vollgestellt sein wie ein billiges Möbelhaus. In dem hundert Jahre alten Stadthaus in der Oberau zwischen Hirzberg und Dreisam war sein Wohnzimmer doppelt so groß gewesen wie jetzt und die Decke einen ganzen Meter höher. Immerhin standen alle seine Möbel schon nach drei Stunden dort, wo er es nach einigem Hin und Her für gut befunden hatte. Cornelia wäre wahrscheinlich zu einem anderen Ergebnis gekommen, wahrscheinlich zu einem besseren, aber sie war mittlerweile fort. Sie holte Pauline von einer seit dem Umzug nach Herdern weit entfernten Freundin ab.
Die Möbel standen zwar, aber das Schlimmste kam noch. Die Umzugskartons waren noch nicht ausgeräumt, die Stereoanlage noch nicht angeschlossen und die Lampen fehlten. Und dann noch die Bilder. Und die Gardinen, die würden sie hier brauchen. Die Fenster des Hauses auf der anderen Straßenseite waren so nah, dass die Leute dort sonst sehen konnten, welche Marmelade er sich morgens aufs Frühstücksbrötchen schmierte. Heute waren in dem gegenüberliegenden Haus alle Fenster geschlossen. Bei offenen Fenstern würden die Leute drüben vermutlich sogar jedes Wort verstehen. Vielleicht hätten sie doch warten sollen, bis eine der Villen weiter oben am Hang frei geworden wäre. Von dort ging der Blick auf die Häuser und Türme der Stadt und an klaren Tagen bis hin zu den Vogesen, die dem Kaiserstuhl einen würdevollen Hintergrund gaben. Doch so ein Haus hätten sie sich vermutlich niemals leisten können.
Die Möbelpacker wollten wegfahren, aber ein großer dunkelblauer Lieferwagen versperrte den Weg. Manuel sah vom Fenster aus zu, wie der Transporter zurücksetzte und der Möbelwagen langsam aus der engen Straße hinausrangierte. Gleich darauf kehrte der Lieferwagen zurück und hielt vor einem kleinen Mehrfamilienhaus, von dem er nur den Eingang sehen konnte. Der Fahrer stieg aus und klingelte. Er drückte die Tür auf und verschwand im Haus. Wenig später kam er mit zwei anderen Männern wieder heraus. Der Typ, der gefahren war, hatte einen kahlen Schädel und die Statur eines Gewichthebers, der zweite Mann war groß und dünn. Seine langen dunkelblonden Haare hatte er zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Der dritte war ein dicklicher junger Mann, dessen X-Beine in einer bis in die Kniekehlen hängenden Hose steckten. Darüber trug er einen hellgrauen Kapuzensweater. Alle drei mochten Anfang zwanzig sein.
Wenn seine Möbel schon schäbig aussahen, war das, was die Typen aus dem Lieferwagen luden, der reine Müll. Das meiste waren einfache Bretter, dazu ein schäbiger Tisch, vier alte Stühle, Unmengen von Kissen, ein paar rote Mauersteine, ein Mülleimer, allerlei undefinierbares Gerümpel: die Wohnungseinrichtung der neuen Nachbarn offenbar. Manuel war nicht der Einzige, der die Männer beobachtete, die so wenig hierher passten wie eine Grundschulklasse auf den Presseball. Auch der Greis am Fenster gegenüber hatte wieder seinen Beobachtungsposten bezogen.
Manuel zog sich vom Fenster zurück, als er Cornelias roten MINI one mit dem schwarzen Dach und den schwarzen Kotflügeln die Straße heraufkommen sah. Im nächsten Augenblick polterte Pauline an ihm vorbei die Treppe hinauf, ohne ihn auch nur eines Blickes zu würdigen. »Herbert«, rief sie. »Wo ist Herbert?«
Sie fand den Kater auf der Fensterbank vor einem offenen Fenster im Treppenhaus, von wo er ebenfalls die Straße beobachtete. Pauline stürzte sich auf ihn und streichelte heftig sein schwarzes glänzendes Fell, was er mit zuckender Schwanzspitze, aber im übrigen geduldig über sich ergehen ließ. Nach Paulines Überzeugung brauchte Herbert besonders viel Liebe, weil er in seinem Leben Schlimmes erlitten hatte. Mit einem steifen, weil mehrfach gebrochenen und ohne medizinische Behandlung zusammengewachsenen Bein war er im Tierheim gelandet, von wo ihn Cornelia und Pauline abgeholt hatten. Pauline fand, er sei ein ganz besonders hübsches Tier mit seinem weißen Gesicht, einem kleinen weißen Lätzchen und der weißen Schwanzspitze. Um die Augen herum war das Fell schwarz, sodass es aussah, als habe ihm jemand eine dunkle Brille aufgesetzt.
»Was ist denn das für einer?«, rief Pauline plötzlich mit ihrer viel zu lauten Kinderstimme und zeigte nach draußen. »Wohnt der etwa auch hier?«
Manuel sah ihr über die Schulter. Unten fuhr der Behinderte vorüber.
»Psst«, machte Cornelia in diesem Augenblick. »Nicht so laut.«
Pauline zog sich vom Fenster zurück und stöhnte, als wäre ihr etwas Schreckliches zugestoßen, dann verschwand sie mit Herbert in ihrem Zimmer.
Cornelia sah dem Mann im Rollstuhl nach. »Armer Kerl«, sagte sie, als er in der Einfahrt verschwunden war. Dann drehte sie sich zu Manuel um. »Ich bin so froh, dass wir jetzt eine eigene Wohnung haben!«
»Sogar ein ganzes Haus«, korrigierte er, als sei Cornelia der Umstand bislang entgangen, und atmete tief durch die Nase ein. Er genoss den Geruch von frischem Putz und Farbe. Es roch wie in einem richtigen Neubau.
Cornelia lehnte sich weit aus dem Fenster und betrachtete von hier die neue Umgebung. »Manuel. Komm doch mal.«
Manuel blickte nun ebenfalls nach draußen. Unten schleppten die drei Männer immer noch ihr Zeug ins Haus. Umzugskartons hatten sie offenbar für überflüssig gehalten.
»Sind das etwa Lautsprecherboxen?« Cornelia zeigte auf zwei gewaltige schwarze Kästen, die neben dem Eingang auf dem Boden standen.
»Ich glaube schon. Was soll das sonst sein?«
»Die Typen gefallen mir nicht, vor allem dieser Bulle mit dem kahlen Schädel.«
Er legte seinen Arm um ihre Hüften. »So sehen viele junge Männer heute nun einmal aus.«
»Aber nicht in Freiburg und schon gar nicht in Herdern.«
Manuel setzte ein unbekümmertes Lächeln auf. »Der dünne Langhaarige passt sowieso nicht in dieselbe Szene wie der Glatzkopf und die anderen beiden sehen aus wie die Typen, die nachts im Stadtgarten saufen und herumgrölen, ohne deswegen gleich Neonazis zu sein.« Er küsste Cornelia auf den Scheitel. »Komm. Die drei gehen uns nichts an.«
Sie hatten in der Zürcher Oper zufällig nebeneinander gesessen, Cornelia und er, als ihr Handy plötzlich vibrierte, laut genug, um den Kunstgenuss jäh zu stören. Es geschah in Rigolettos Auftritt, als er seine Tochter Gilda im Palast des Herzogs von Mantua sucht. In das von Pausen unterbrochene La-rà, La-rà, La-rà, in diesen Schmerz des Vaters, der seine geliebte Tochter im Bett des Lüstlings weiß, tönte unüberhörbar das wiederkehrende Summen des Handys seiner Nachbarin. Mit dem Nesteln in ihrer Handtasche machte sie die Sache noch schlimmer. Wütende Blicke von allen Seiten. Die Frau war Manuel schon aufgefallen, als sie mit einem Lächeln den Platz neben ihm eingenommen hatte. Sie war ihm sofort sympathisch gewesen und ihr Missgeschick tat ihm leid. Am Ende der Szene raunte er ihr zu, dass ihm dasselbe auch schon passiert war.
In der Pause lud sie ihn – zur Entschuldigung oder aus Dankbarkeit für seine Bemerkung – zu einem Glas Sekt ein. Sie stellten überrascht fest, dass sie beide aus Freiburg kamen. Sie wohnte in der Dreikönigstraße in der Oberwiehre, Manuel nicht weit entfernt in der Oberau. Seine neue Bekanntschaft war freie Journalistin und schrieb für verschiedene Kulturredaktionen. Den Vater ihrer Tochter hatte sie nach drei konfliktreichen Jahren leichten Herzens nach Südafrika ziehen lassen, wo er Strauße züchten wollte. Angeblich hatte er dabei sein ganzes Geld verloren, was zur Folge hatte, dass er die Unterhaltszahlungen bald eingestellt hatte. Ihre Tochter Pauline, die beim Verschwinden ihres Vaters zwei Jahre alt war, hatte sich schnell daran gewöhnt, ihre Mutter für sich allein zu haben.
Als sie am Ende der Pause wieder ihre Plätze einnahmen, kannte Manuel zwar den Vornamen ihrer Tochter und den ihres Ex, aber ihren genauso wenig wie sie seinen. Nach der Vorstellung hatte sie, ohne Manuel auch nur im Geringsten zu beachten, ihren Mantel an der Garderobe abgeholt und war einfach verschwunden, obwohl er nicht den geringsten Zweifel hatte, dass er ihr ebenfalls gefallen hatte.
Als er in der Tiefgarage in sein Auto stieg, hatte sich Manuel gefühlt, als habe er die Chance seines Lebens verpasst. Ausgerechnet jetzt, wo Luisa ihn verlassen hatte, lief ihm diese sympathische Frau, die seit sechs Jahren allein mit ihrer Tochter lebte und sich obendrein noch für Opern interessierte, über den Weg. Luisa hatte keine Kinder haben wollen und mittlerweile fühlte er sich zu alt für eigenen Nachwuchs. Und dann begegnete er dieser alleinerziehende Mutter! Deren Tochter brauchte einen Vater und die Sicherheit einer intakten Familie. Das hatte er deutlich aus den Erzählungen herausgehört. Während er mit 120 Stundenkilometern über die Schweizer Autobahnen fuhr, stellte er sich vor, was er mit dieser Pauline, die wahrscheinlich ebenso hübsch war wie ihre Mutter, alles hätte unternehmen können. Radtouren zum Beispiel, es musste ja nicht gleich das Mountainbike sein. Vielleicht war sie schon groß genug, um mit ihm in den Waldklettergarten bei Kenzingen zu gehen. Auf einem Segelboot war sie wahrscheinlich auch noch nie gewesen. Auch Mädchen brauchten Abenteuer! Pauline würde begeistert von ihrem neuen Papa sein. – Den Rest der Fahrt stellte er sich vor, was er mit der Mutter alles tun würde, und spürte wie ihm warm dabei wurde.
Er hatte sie sofort wiedererkannt, als er drei Wochen später nach einer Aufführung von Wagners Tannhäuser im Freiburger Stadttheater das Theatercafé betrat. Sie war nicht allein, sondern in Begleitung einer Frau. Alle Tische waren besetzt, und der einzige freie Stuhl stand neben den beiden. Nichts lag näher als zu fragen, ob er sich dort setzen dürfe. Die Frau, an die er so oft gedacht hatte, erhob sich überrascht, als sie ihn sah, errötete und begrüßte ihn so herzlich, als wären sie hier für ein langersehntes Treffen verabredet. Eine Viertelstunde später waren sie allein an dem Tisch. Sie blieben, bis um ein Uhr das Café geschlossen wurde. Als sie sich mit einem langen Kuss vor dem Cafe verabschiedeten, war Manuel sicher, dass er endlich die Frau seines Lebens gefunden hatte.
Bis zum Nachmittag hatte Manuel seine mehr als tausend CDs nach Komponist und Musikgattung geordnet im Regal einsortiert und seine Kleidung und Wäsche in den Schrank geräumt, dann hatte er keine Lust mehr. »Ich gehe zum Bäcker«, sagte er. »Soll ich euch etwas mitbringen?«
Cornelia wünschte Zwetschgenkuchen. Pauline sah ihn mit offenem Mund an, als sei sie überrascht, dass der Freund ihrer Mutter zu irgendetwas nützlich sein konnte. »Einen Berliner«, sagte sie und blickte dann wieder an ihm vorbei.
Als Manuel aus der Haustür trat, stand draußen am Zaun ein großer dünner Mann, die Finger beider Hände in den rostigen Maschendraht gehakt. Er trug ein schwarzes T-Shirt, eine dreiviertellange Hose und auf dem Kopf eine graue Wollmütze, obwohl es nicht kalt war. Auf den ersten Blick sah es aus, als trüge er unter dem schwarzen Hemd noch ein enges blau, grün und rot gemustertes Trikot, das bis zu seinen Fingerspitzen reichte. Auf den zweiten Blick erkannte Manuel, dass die Haut an Armen und Beinen vollständig mit Tätowierungen bedeckt war. Der Kerl stand nur ein paar Meter von ihm entfernt und spähte angestrengt durch den Draht. Irgendetwas schien ihn besonders zu interessieren und Manuel war sich nicht sicher, ob es der verwilderte Garten war oder das Gartenhäuschen, vielleicht auch etwas ganz anderes. Der Mann ließ den Zaun los, machte ein paar Schritte nach rechts, dann nach links, ohne auf die wuchernden Brennnesseln zu achten, so als suche er eine günstige Position für irgendetwas. Jetzt bemerkte er, dass er beobachtet wurde, und wandte sich mit einer hastigen Bewegung um. Manuel fror plötzlich, als habe ihn ein eisiger Windhauch getroffen. Das Gesicht des Mannes war eingefallen wie bei einem Verhungernden und die großen dunklen Augen lagen tief in ihren Höhlen. Unter seinen kantig vorstehenden Wangenknochen wanden sich zwei blaue Schlangen, und nach seiner Stirn griff etwas, das aussah wie die Hand eines Monsters oder ein abgerissenes Stück vom Flügel einer Fledermaus. Am Hals des Mannes hockte vom Ohr bis zum Kehlkopf eine dicke behaarte Spinne umgeben von Honigwaben statt eines Spinnennetzes. Der Schöpfer der Tattoos musste ein Meister seines Fachs sein.
»Schon gut«, sagte der Tätowierte, als müsste er Manuel beschwichtigen. Er drehte sich um und ging mit schlenkernden Armen so rasch davon, als hätte er ein Ziel, das er schnell erreichen musste.
Manuel ging zu der Stelle, wo eben noch der Tätowierte gestanden hatte, und versuchte vergeblich zu erkennen, was den an ihrem Garten so interessiert haben konnte. – Der Garten, so nannte jedenfalls Cornelia das kleine Grundstück auf der Rückseite des Hauses. Er hingegen fand, zu einem Garten gehörten Blumen und Sträucher oder Rasen oder wenigstens eine Blumenwiese. Aber nichts von alledem gab es hier. Trümmergrundstück wäre der passende Ausdruck gewesen. Oder Schutthaufen. Dort, wo das Grundstück nach wenigen Metern an dem steiler ansteigenden Hang endete, lagen von Gestrüpp überwucherte bemooste Sandsteine, die einmal zu einer Begrenzungsmauer gehört haben mochten. Daneben vermoderten Teile eines alten Bretterzauns und allerlei Gerümpel, das irgendjemand hier abgeladen hatte, als sollte es dem übrigen Unrat Gesellschaft leisten. In der hinteren Ecke des verwilderten Grundstücks stand ein windschiefes Gartenhäuschen, dessen Tür mit einem Vorhängeschloss gesichert war. Durch die schmutzigen Scheiben hatte er gesehen, dass dort Gartenstühle standen, deren Polsterauflagen grau vom Schimmel waren.
»Den Garten bepflanzen wir erst im Herbst«, hatte Cornelia gesagt, als die Handwerker das Haus in Angriff nahmen. Jetzt war Herbst, aber pflanzen konnte man hier noch lange nicht. Man brauchte Leute, die zupacken konnten und die sich mit der Anlage eines Gartens auskannten, aber die kosteten Geld. Doch zum ersten Mal seit dreißig Jahren reichte seines nicht einmal für einen Gärtner. Diese Erkenntnis war niederschmetternd.
Zwei Stunden später standen die restlichen Umzugskartons noch immer unverändert in dem Raum, der einmal Manuels Arbeitszimmer sein sollte. Die vielen Ordner darin, die er schon seit Jahren nicht mehr gebraucht hatte, lähmten ihn. Zum Wegwerfen war es noch zu früh, also musste er eine andere Lösung finden.
»Was machst du mit den Kartons?« Cornelia stand plötzlich hinter ihm, als er den ersten Umzugskarton aus dem Zimmer trug. Sie hatte die Augenbrauen hochgezogen und ihr Blick erinnerte ihn an den seiner Mutter, wenn sie seine schlampig erledigten Hausaufgaben entdeckte.
»Die kommen in den Keller.«
»In den Keller? Der stinkt doch.«
»Der riecht wie alte Keller immer riechen.«
Cornelia rümpfte die Nase. »Andere Keller stinken nicht so widerlich.«
Kopfschüttelnd folgte sie ihm die steile Kellertreppe hinunter. »Wir hätten den Keller doch streichen lassen sollen«, stellte sie fest.
Und bei der Gelegenheit hier unten einen Stall für einen Dukatenesel einrichten lassen, dachte er. Natürlich war es leichtsinnig gewesen, ein renovierungsbedürftiges Haus zu kaufen und kurz darauf einen gutbezahlten Job zu kündigen. Andererseits würde er mit seiner neu gegründeten Firma vielleicht eines Tages mehr Geld verdienen, als er es als Angestellter bis zum Rentenalter getan hätte. – Vielleicht.
Er stellte den Umzugskarton zögernd auf dem Boden ab. »Ich sollte wohl besser etwas unterlegen«, überlegte er laut mit Blick auf die Flecken am Boden, über die er bislang lieber hinweggesehen hatte. »Vielleicht ein Brett.«
»Wie wäre es mit dem Regal?«, schlug Cornelia vor und zeigte auf die Einzelteile eines Kellerregals am Boden. Sie bückte sich. »Was sind das eigentlich für Flecken? Waren die schon immer hier?«
Manuel fuhr mit der Fußspitze über den Boden. Er war sich nicht sicher, ob die dunklen Stellen schon immer so deutlich gewesen waren. Ein paar Flecken mehr oder weniger hatten in dem heruntergekommenen Haus keine Rolle gespielt. »Altes Öl vielleicht, damit müssen wir jetzt leben«, stellte er fest. »Der Boden ist aus festgestampftem Lehm, den kann man nicht einfach streichen.«
»Kein Öl«, sagte Cornelia mit dem dunklen Klang in der Stimme, der einer Katastrophe angemessen war. »Das sieht aus wie Blut.« Sie sah ihn mit weit offenen Augen an. »Blut von einer Gewalttat.«
Einen Augenblick wurde Manuel unsicher. »Wenn du meinst«, sagte er dann leichthin. Er wollte nicht an eine schreckliche Erklärung denken. Er war ohnehin davon überzeugt, dass mehr Menschen durch ihre Furcht vor etwas unglücklich wurden als durch die Tatsachen selbst. Er ging nach oben, um den nächsten Karton zu holen. Als er zurückkam, hatte Cornelia die Teile des Regals geordnet. Die Flecken erwähnte sie nicht mehr.
»Wir sollten das Regal nicht an eine Außenwand stellen«, sagte sie.
In der Tat, der Keller war der Schwachpunkt des Hauses: alle Außenwände waren feucht, aber das war bei alten Kellern nun mal die Regel. Putz und Farbe hatten sich im unteren Bereich gelöst und an mehreren Stellen die Mauersteine freigelegt. Dort, wo der Putz nicht abgefallen war, blühten Kristalle und überzogen die Wände mit glitzernden Girlanden. Er hätte sich über die Kunstwerke gefreut, wären sie nicht die unübersehbaren Zeichen des Zerfalls. An anderen Stellen hingen Farbreste, verbogen wie verwelkte Blätter. Als Manuel sie berührte, zerbröckelten sie und rieselten zu Boden. Gemeinsam bauten sie das Regal auf, dann ließ Cornelia ihn wieder allein in dem nach Moder stinkenden Keller. Er untersuchte noch einmal die Flecken am Boden. Und wenn ihre schaurigen Phantasien wirklich zutrafen? Wenn hier kein Öl am Boden klebte, sondern Blut? Die Vorstellung war entsetzlich.
Er hatte das Haus aufwendig renovieren lassen: Wärmedämmung außen, Dachisolierung, neue Fenster, Pelletheizung und was man zum Klimaschutz sonst noch so brauchte. Vor Paulines Zimmer hatte er einen kleinen Balkon anbauen lassen, von dem eine Katzentreppe für Herbert nach unten führte. Nur die Kellerräume hatten sie gelassen, wie sie waren. Aus Nostalgie: damit hatte er Cornelia überzeugt. Aus Geldmangel, das war die Wahrheit, der er höchst ungern ins Auge sah. Die feuchten Wände hätten sich sowieso nur mit großem Aufwand sanieren lassen und ein dauerhafter Erfolg wäre fraglich gewesen. Auch deswegen hatte er nichts unternommen, denn was er tat, musste Hand und Fuß haben – oder er ließ es bleiben. Ohnehin maß er dem Zustand des Kellers keine große Bedeutung zu. Hauptsache, die Wohnräume vermittelten die Geborgenheit, die er Cornelia und Pauline geben wollte.
Nachdem er weitere fünf Kartons in den Keller geschleppt hatte, kehrte er zu Cornelia zurück. Sie stand an einem der Fenster im ersten Stock, von denen alles zu überblicken war, was sich in der Nachbarschaft abspielte. Die Enge zwischen den Häusern lud offenbar dazu ein. Cornelia zeigte zu dem Haus gegenüber, wo vorhin im ersten Stock das Gesicht des Greises erschienen war. Auch jetzt glaubte Manuel die Silhouette des Alten hinter der Gardine zu erkennen. Im Erdgeschoss war nun die Gardine an einem Fenster zur Seite gezogen. Im Halbdunkel des Raumes sah man eine dunkle Gestalt sitzen, die aus dem Fenster zu blicken schien. Der Behinderte?
»Haben die schon so gegafft, als unsere Möbel kamen?«, fragte Cornelia.
»Vermutlich. Der Möbelwagen war ja nicht zu übersehen.«
Am späten Abend ging Manuel wieder in den Keller, um noch ein paar von den vollen Kartons verschwinden zu lassen. Im Kellerregal war kein Platz mehr. Er durchsuchte den Keller nach einer Möglichkeit, den Karton hier unten zu lassen, ohne ihn auf den feuchten und fleckigen Boden zu stellen. Er hätte sich die Zeit nehmen müssen, um die verkommene Unterwelt des Hauses zu entrümpeln, dachte er, wenigstens das, wenn schon die Wände feucht blieben und der Boden fleckig. Aber wann hätte er das tun sollen? Eine Firmengründung nahm nun einmal den ganzen Mann in Anspruch. Außerdem hatte er schlichtweg keine Lust zu der Drecksarbeit gehabt und Cornelia ebenfalls nicht. Überall hatten ihre Vorgänger nicht mehr benötigte Dinge zurückgelassen, wahrscheinlich seit Generationen. Auf einem niedrigen Schuhregal aus rohem Holz, auf dem zwei Paar schmutzige Gummistiefel und etliche verschimmelte, längst aus der Mode gekommene Damenschuhe zurückgeblieben waren, stellte er den Karton ab und sah sich um. Hier unten gab es Ecken und Durchlässe, die ihm bei den ersten Besichtigungen der dunklen Kellerräume nicht aufgefallen waren. Als sein Haus an das Nachbarhaus angebaut wurde, waren die Keller der beiden Gebäude aus irgendwelchen Gründen offenbar verbunden worden. In einer Wand war einen halben Meter über dem Boden eine Öffnung wie für eine Tür, aber viel niedriger. Von oben wurde der Durchlass weiter eingeengt durch Rohre, die hier horizontal entlang der Wand verliefen. Er kletterte durch die Öffnung und gelangte in einen etwas höher gelegenen Keller, in dem er nur tief gebückt stehen konnte. Die Höhe des Raumes hätte vielleicht für Pauline gereicht, aber selbst Cornelia hätte nicht aufrecht stehen können. Er betastete die Wand neben dem Durchlass. Genau wie in den anderen Kellerräumen fand er hier eine dieser schwarzen Bakelitdosen mit einem Schalter zum Drehen, wie es sie schon vor einem halben Jahrhundert im Keller seines Elternhauses gegeben hatte. Eine mit einem Drahtkorb geschützte und von staubigen Spinnweben eingehüllte Lampe erleuchtete notdürftig den niedrigen Raum. Dieser Keller war leer und die Wände waren weniger feucht als in den vorderen Räumen. Er wunderte sich, wie groß und verwinkelt das Untergeschoss war. Spätestens hier konnte er nicht mehr unter seinem eigenen Haus sein. Vielleicht war er schon bei den quer verlaufenden Rohren unter das Nachbarhaus gelangt. Tief gebückt durchquerte er den niedrigen Raum und kam zu einer Lattentür, deren Scharniere aus der Wand herausgebrochen waren. Offenbar war die Tür gewaltsam geöffnet worden. Auch hier fand er einen Lichtschalter. Er drehte ihn, aber das Licht funktionierte nicht. Im Halbdunkel erkannte er eine massive Kommode von ungewöhnlichen Ausmaßen: fast zwei Meter breit und einen Meter tief mochte sie sein, somit nahezu so groß wie ein Bett. Sie musste hier unten aufgebaut worden sein, ein Transport über eine Kellertreppe und durch die Türen wäre unmöglich gewesen. Er tastete nach den Beschlägen und versuchte, das oberste Schubfach ein Stück herauszuziehen, aber es klemmte. Auch sonst war der Keller nicht leer. Weiter hinten lehnten Bretter oder ein zerlegtes Möbelstück an der Wand, daneben schien ein raumhoher Schrank zu stehen. Er forschte nicht weiter, wohin ihn der nächste Durchlass führen würde, und trat den Rückweg an. In der Stille der Nacht hatten die dunklen Räume etwas Gespenstisches. Hier unten fühlte er sich bedroht, ohne eine Erklärung dafür zu haben.
Ehe er seinen Platz im breiten Doppelbett einnahm, öffnete er leise die Tür zu Paulines Kinderzimmer. Ihr Nachtlicht, ein leuchtender Bär aus Kunststoff, tauchte den Raum in ein bläuliches Licht. Pauline schlief hinter einem kleinen Gebirge, das sich vor ihrem Bett auftürmte: mindestens ein Dutzend Kuscheltiere, Stapel von Comics, etliche Puppen, ein Lerncomputer und was sie noch in ihrer Nähe brauchte. Wahrscheinlich half ihr das, die fremde Umgebung vertrauter zu machen. Am Boden neben dem Kopfende des Bettes saß weiß wie ein Gespenst ein riesiger Plüschbär, den sie im vergangenen Frühjahr beim Jahrmarkt gewonnen hatte, und natürlich war Herbert bei ihr. Zusammengerollt lag er am Fußende und ließ ein leises Schnarchen hören, das kaum anders klang als sein Schnurren bei Tag. Manuel betrachtete das ruhig schlafende Kind und plötzlich überfiel ihn ein solches Vorgefühl eines Unglücks, dass sich eine Gänsehaut vom Rücken über den ganzen Körper ausbreitete. Er lauschte auf Paulines ruhige Atemzüge, und wie eben im Keller fragte er sich vergeblich, was ihn so ängstigen mochte. Als er die Tür leise wieder schloss, spürte er sein Herz, das wie ein Hammer in seiner Brust schlug. Draußen fiel eine Autotür mit einem Knall ins Schloss. Er fuhr zusammen und hätte fast aufgeschrien. Er schüttelte verwundert den Kopf. Was war los mit ihm, dass er plötzlich so empfindlich war? War es die neue Verantwortung, die er übernommen hatte, oder lag es an diesem Haus? – Wahrscheinlich hatte er heute nur zu viel gearbeitet.
Am nächsten Morgen stieg Manuel um Punkt acht Uhr auf sein Fahrrad. Als selbstständiger Unternehmer konnte er sich keinen weiteren freien Tag leisten. Früher hatte er mit dem Auto fast eine Stunde für den Weg zur Arbeit gebraucht, jetzt konnte er die Strecke in die Unterwiehre bis zum Technologiezentrum in der Wippertstraße mit dem Fahrrad in einer Viertelstunde zurücklegen. Er versorgte sein noch ziemlich neues Rad an dem überdachten Fahrradständer, wo drei Mountainbikes, ein Rennrad und ein knappes Dutzend von den betagten Drahteseln standen, die es in Freiburg zu Tausenden gab. Das Gebäude selbst – nur ein Stockwerk höher als die Bungalows ringsum – passte weniger zu den Mountainbikes und Rennrädern als zu den bescheidenen Rädern. Die Waschbeton-Fassade aus den achtziger Jahren war ernüchternd, nur der rotgestrichene Rahmen der gläsernen Eingangstür, der rote Papierkorb vor dem Haus und die roten Fensterrahmen verbreiteten den Optimismus, auf den ein Firmengründer nicht verzichten konnte. Die Autos vor dem Haus waren durchweg bescheiden, eben die Fahrzeuge von Unternehmern bei den ersten Gehversuchen. Anders als an seinem früheren Arbeitsplatz wurde in diesem Haus noch auf den großen Erfolg gewartet. Manuel warf einen irritierten Blick auf sein Spiegelbild, das ihm in der Glastür entgegenkam. Er hatte sich immer noch nicht daran gewöhnt, statt im Sakko und mit Krawatte jetzt mit Jeans und Pullover bei der Arbeit zu erscheinen. Er schloss die Tür auf und trat in das Treppenhaus. Durch große Fenster drang selbst an diesem trüben Tag genug Licht. Sein Weg jedoch führte abwärts, was er nicht als böses Omen werten wollte. Unten endete das Treppenhaus vor drei schmalen Toilettentüren. Daneben begann ein enger abschüssiger Kellergang, in den durch ein paar aus der Mode gekommene Glasbausteine ein Rest des Tageslichts fiel. An seinem Ende waren zwei Türen. Manuel öffnete die eine der beiden und stand in seinem neuen Reich.
In dem kleinen Büroraum hinter der Tür saß ein magereres Männchen in einem ausgeleierten Pullover vor einem weißen Laptop und tippte mit rasender Geschwindigkeit auf der Tastatur. Es war Ralf Hartung, sein Kompagnon und Mitbegründer der gemeinsamen Firma.
»Bin gleich fertig«, sagte Hartung, als er Manuel bemerkte. Augenblicke später hörte er mit dem Tippen auf. Er speicherte die Seite und unter dem sich schließenden Textprogramm erschien eine Internetseite mit dem Foto einer üppigen Schwarzhaarigen mit rotem Tangaslip und entblößtem Busen. Hartung klappte den Computer zu und wandte sich mit einer raschen Bewegung um. Er hatte ein Gesicht, das genauso gut zu einem alten Chinesen wie zu einem alten Leistungssportler passen konnte: das Gesicht eines in die Jahre gekommenen Kettenrauchers.
»Bist du wieder mit dem Fahrrad gekommen?« Seine Frage hatte etwas Vorwurfsvolles.
Manuel nickte. »Natürlich. Das gehört zu meinem neuen Lebensstil.«
Hartung fuhr sich mit einer fahrigen Bewegung durch die aschblonden Haare, die wie ein ausgefranster Belag die bräunliche Haut des Scheitels bedeckten. »Wenigstens einer von uns sollte mit dem Auto kommen. Oder sollen sich unsere potenziellen Kunden darüber mokieren, dass der eine Firmenchef mit dem Fahrrad und der andere mit der Straßenbahn kommt?«
Manuel sah seinen Kompagnon überrascht an. Er schien die Bemerkung ernst zu meinen. »Wie wäre es mit dir?«, konterte er.
»Du weißt, dass ich kein Auto besitze.«
»An meinem Fahrrad werden wir nicht scheitern.«
Hartung zog die Mundwinkel herunter und schwieg.
»Wenn in Freiburg Bürgermeister, Stadträte, Professoren und ein Bundestagsabgeordneter mit dem Fahrrad fahren, kann ich das als selbstständiger Unternehmer schon lange«, dozierte Manuel und dachte an seinen in die Jahre gekommenen BMW Cabrio, der noch weniger zum Chef einer erfolgreichen Firma passte als in Freiburg ein Fahrrad. »Unsere potenziellen Kunden interessieren sich einzig und allein für unsere Produkte, sonst dürften wir auch nicht in diesen Kellerräumen hausen.«
Hartungs Gesicht blieb zerknittert. »Ich hoffe, dass du recht hast.«
Manuel rief das Bankkonto ihrer Firma auf. Die Zahlen stiegen bereits in abenteuerliche Bereiche – leider nicht in der Rubrik »Haben« sondern in der Rubrik »Soll«. Sechstausend Euro für das Serum von Kälbern war gestern abgebucht worden. Sechstausend Euro für etwas, was letztlich im Abfall landen würde. Er druckte den Kontoauszug aus und eilte damit zu Hartung. »Willst du uns arm machen?«
Sein Kompagnon grinste. »Nein, reich natürlich.«
»Würdest du mir das bitte erklären?«
Hartung wurde ernst. »Ein Liter von dem Serum kostet vierhundert Euro. Bei fünfzehn Litern sind das sechstausend. Du weißt so gut wie ich, dass unsere Zellkulturen ohne dieses teure Zeug nicht wachsen würden.«
Manuel nickte zerknirscht. In der Tat wusste er das.
Bis vor einem halben Jahr war Geld kein Thema gewesen, das ihn sonderlich interessiert hatte. Es hatte immer gereicht, schon deswegen, weil Luisa mehr als genug als erfolgreiche Anlageberaterin bei einer Freiburger Bank verdient hatte und ihre Ausgaben selbst bestreiten konnte. Nicht dass er knauserig gewesen wäre, aber es hatte sich einfach nicht ergeben, dass er viel Geld ausgegeben hatte. Außerdem hatte ihm für umfangreiche Einkäufe schlichtweg die Zeit gefehlt. Deswegen hatte er gemeint, er käme fast ohne Geld aus. Jetzt war das Missverhältnis zwischen Schulden und Einkommen dramatisch geworden und schon drehten sich seine Gedanken doch ständig ums Geld. Leichten Herzens konnte man offenbar nur auf das verzichten, was einem unwichtig war oder was man nicht brauchte. Diese Erkenntnis hatte ihn kürzlich eine halbe Nacht wach gehalten. Der Schlaf der anderen Nachthälfte war dem Grübeln darüber zum Opfer gefallen, ob er seine Schulden überhaupt jemals würde abtragen können. Von Cornelia war in der Hinsicht nicht viel zu erwarten. Als freie Journalistin waren ihre Einnahmen vergleichsweise dürftig.
Um eine Biotechnologiefirma zu gründen reichte leider nicht ein Schreibtisch mit einem schlichten Computer. Sie brauchten Geräte wie Zentrifugen und Brutschränke, sie brauchten einen sterilen Arbeitsplatz, einen kleinen Raum mit Lüftung und Klimaanlage für ein gutes Dutzend Mäuse, auf die sie nicht verzichten konnten, außerdem diverse Kleinteile wie Pipetten, Kunststoffplatten mit Löchern für kleinste Flüssigkeitsmengen, Chemikalien und vieles andere mehr, und sie mussten Miete bezahlen. Die günstige Staffelmiete hatte sie in diese Räume geführt, die mit ihrem Einzug wieder zu dem geworden waren, was sie vor gut zwanzig Jahren schon einmal gewesen waren: Laborräume mit der Sicherheitsstufe 1 für gentechnische Arbeiten.
Manuel starrte noch eine Weile auf die deprimierenden Zahlen, zu denen er die Schulden für die Renovierung des Hauses noch dazuaddieren musste, dann ging er durch eine in der oberen Hälfte verglaste Tür hinüber in das Labor. Es war ein großer übersichtlicher und trotz der Lage im Kellergeschoss heller Raum. Hier fehlte nicht mehr viel. Auch der Sterilblock war in der vergangenen Woche geliefert worden. Der Anblick des fast vollständig eingerichteten Labors besserte seine Stimmung sofort. Hier war er sein eigener Herr und alles, was hier stand, gehörte nicht der Uni oder dem Land, sondern war sein Eigentum, jedenfalls zur Hälfte – theoretisch zumindest, wenn man in Hartung und ihm gleichberechtigte Partner sah und nicht danach fragte, wer das meiste Geld beigesteuert hatte. Er atmete tief ein und wieder aus: Genau genommen gehörte der größte Teil der Bank.
Als er vorgestern gegangen war, hatte noch ein Homogenisator gefehlt. Zu seiner Überraschung stand heute ein solches Gerät auf dem Platz, der dafür vorgesehen war. Er betrachtete den formschönen Apparat genauer. Auf seinem Deckel war ein deutlich sichtbarer grauer Aufkleber mit der Aufschrift »Albert-Ludwigs-Universität, Landeseigentum« sowie einem Strichcode.
»Geklaut?«, rief er Hartung entsetzt durch die offene Tür zu.
»Nein, geliehen«, rief der zurück. »Dauerleihgabe bis an das Ende unserer Tage.«
Manuel presste die Lippen zusammen und nickte mehrmals heftig, als könne er sich damit Mut machen. Er konnte sich nicht vorstellen, dass die Universität ihre Geräte bis zum Sankt Nimmerleinstag verleihen würde. Außerdem schien das Gerät ziemlich neu zu sein.
»Wann kommt unser eigenes?« rief er.
Hartung zuckte mit den Schultern. »Weiß nicht. Vielleicht nie.«