Rafik Schami
© Root Leeb
Rafik Schami, geboren 1946 in Damaskus. Von 1966 bis 1969 Herausgeber und Mitautor einer Wandzeitung im alten Viertel von Damaskus. 1971 siedelte er in die Bundesrepublik über; Studium der Chemie mit anschließender Promotion, Arbeit in der Industrie. Seit 1982 lebt er als freier Schriftsteller bei Kirchheimbolanden. Er ist Mitbegründer der Literaturgruppe »Südwind« und des Literatur- und Kunstvereins »PoliKunst«. Für sein literarisches Werk erhielt er viele wichtige Auszeichnungen, u. a. den Adelbert-von-Chamisso-Förderpreis für sein Gesamtwerk und den Thaddäus-Troll-Preis.
Bei Beltz & Gelberg erschienen von ihm außerdem Eine Hand voller Sterne (Auswahlliste zum Deutschen Jugendliteraturpreis, Zürcher Jugendbuchpreis »La vache qui lit«, »Die Blaue Brillenschlange« des Schweizerischen Kinderbuchfonds Dritte Welt), Erzähler der Nacht (u. a. Rattenfäger-Literaturpreis der Stadt Hameln und Phantastik-Preis der Stadt Wetzlar) sowie die Bilderbücher Der Wunderkasten und »Hast du Angst?«, fragte die Maus.
Dieses E-Book ist auch als Printausgabe erhältlich
(ISBN 978-3-407-74785-3)
www.beltz.de
© 1992, 2016 Beltz & Gelberg
in der Verlagsgruppe Beltz · Weinheim Basel
Werderstraße 10, 69469 Weinheim
Alle Rechte vorbehalten
Neue Rechtschreibung
Einbandgestaltung: Dorothea Göbel
ISBN 978-3-407-74787-7
In Verehrung aller Circusleute möchte ich die von ihnen seit Jahrhunderten bevorzugte Schreibweise CIRCUS in meinen Roman übernehmen. C ist rund wie die Manege und die Arbeit, die die Artisten in ihr leisten.
Für Root Leeb, die mit mir, alle Gefahren missachtend, das Reich der Fabeltiere erforschte.
1
Die Ankunft oder Der Anfang aller Dinge
2
Die Falle oder Die Gefahren einer Dauerliebe
3
Mala oder Wie soll man das Glück sonst nennen?
4
Die Straße oder Wie jemand unwiderruflich zu seinem Ruf kommt
5
Das Krokodil oder Wie manchmal nur eine dicke Haut retten kann
6
Kindheit oder Wie die Hebamme dem Tod ins Handwerk pfuschte
7
Der dreizehnte Josef oder Wie Aberglaube durch Feuer zu Glauben wird
8
Wieder Mala oder Wie man mit Lügen ehrliche Arbeit leistet
9
Großmutter oder Wie eine Tigerin lange für eine graue Maus gehalten wurde
10
Die Tigerin oder Wie eine Lüge nach Wahrheit schmeckte
11
Das Scheu oder Wie eine Vogelscheuche zum Räuber wurde
12
Der Hasenmarder oder Wie die halbe Wahrheit zur doppelten Lüge wird
13
Der Erfinder oder Wie das sprechende Brett zur rechten Zeit schwieg
14
Der Affe oder Was sich auf einem Ausflug Merkwürdiges zutrug
15
Straßenzauber oder Wie eine kleine Schlauheit die Grobheit besiegte
16
Dschamil oder Die Reise ins Paradies
17
Sahar oder Von der Unverdaulichkeit der direkten Rede
18
Der Fakir oder Warum man nicht alles schlucken soll
19
Die Fliege oder Wie man ein Vermögen zusammenfurzen kann
20
Der Papagei oder Der Wille zum eigenen Wort
21
Der Hund oder Warum keine Gesellschaft ohne Bettler auskommt
22
Die Katze oder Warum man auf einer roten Wassermelone bestehen soll
23
Faris oder Wie man mit allem übertreiben kann
24
Die Ziege oder Wie sich die Zeiten ändern
25
Der Esel oder Warum Tarzane Morgana verließ
26
Der Doppelgänger oder Warum das Spiegelbild dem Original nie gleich ist
27
Mona oder Wie man sich im eigenen Labyrinth verliert
28
Der Wolf oder Über die Scheinheiligkeit der Lämmer
29
Das Feuerwerk oder Wie man lästige Zuhörer nach Hause schickt
30
Der Angsthase oder Von der Schwierigkeit, ein Vorbild zu sein
31
Das Nasenohr oder Warum man nicht immer zuhören soll
32
Der Elefant oder Vom mörderischen Gedächtnis
33
Das Tunk oder Was ein neugieriger Rüssel alles anrichten kann
34
Noch einmal Mala oder Wie man vom Glück leben kann, ohne dass es weniger wird
35
Die Lachhornelle oder Wer kann den Clown aufheitern?
36
April oder Wie ein Kopf seinen Besitzer wechselt
37
Der Semperpro oder Wie man sich auf nichts mehr verlassen kann
38
Elias oder Wie Grobiane bisweilen in Ohnmacht fallen
39
Das Chamäleon oder Wie man das Blatt zur rechten Zeit wendet
40
Der Schattenflatter oder Wie das Eis der Meere zu Tränen wurde
41
Das Huckepack oder Der Gast als Last
42
Der Pelikan oder Wie man Niedriges erhebt
43
Der Rabe oder Von der Tarnung der Tauben
44
Der Wasserjammer oder Wie einer vergeblich nach Komplimenten fischt
45
Die Schnecke oder Der Kampf um den letzten Platz
46
Der Aufbruch oder Wieder ein Anfang aller Dinge
Nachwort
1
Ich heiße Sadik, aber nicht einmal das ist sicher. Denn bereits das erste Wort, das ich sprach, war gelogen. Ich war damals nicht einmal sechs Monate alt. An jenem Tag kam mein Vater von der Arbeit und beachtete mich nicht. Das ärgerte mich. Stunden später bückte er sich zu mir herunter. Ich dachte mit geschlossenen Augen über meine Zukunft nach. Mein Vater merkte nichts davon und fragte mich laut, ob ich noch lebe. Ich kochte vor Wut, und da ich wusste, dass mein Vater nichts mehr hasste, als mit meiner Mutter verwechselt zu werden, streckte ich ihm meine Ärmchen entgegen und nannte ihn »Mama«. Das war meine erste Lüge und sie wirkte.
»Aus deinem Sohn wird nichts!«, sagte er zornig zu meiner Mutter. Er irrte sich gewaltig. In meinem langen Leben habe ich viel gesehen und erlebt, Ruhm und Wissen erworben, Elend und Qualen durchlitten. Und wenn wieder einmal der Todesengel kommt und mich fragt, ob ich bereit sei, dann werde ich diesmal, anders als in der Vergangenheit, Ja sagen, weil ich in einem einzigen Aufenthalt auf der Erde ein so erfülltes Leben genossen habe, dass es für zehn Menschen reicht. Aber ich werde bestimmt nicht sterben, bevor ich meine Geschichte erzählt habe. Und meine Geschichte geht erst zu Ende, wenn ich in ein paar Tagen Mala noch einmal getroffen habe.
Nun bin ich sehr alt geworden, aber wie alt, weiß ich nicht. Ich will es auch nicht wissen. Ich werde alt und jung je nach Tages- und Jahreszeit.
Und doch, sooft ich sage, dass ich in meinem langen Leben nun genug wundersame Dinge erlebt habe, belehrt mich dieses Leben selbst immer aufs Neue, dass die wundersamsten Dinge noch nicht geschehen sind.
Vor einer Woche hörte ich, dass ein Circus aus Indien in unserer Stadt angekommen sei. In mir wurden alte Erinnerungen wach, und ich beschloss, diesen Circus zu besuchen, doch drei Tage lang war ich verhindert, wegen der Voruntersuchungen für eine Operation an meinem rechten Auge. Erst vorgestern machte ich mich auf den Weg zum Circus und ärgerte mich, als ich erfuhr, dass die Vorstellung schon ausverkauft war. Erst nach langem Verhandeln bekam ich noch einen Platz, ungünstig in der hintersten Reihe.
Der Circus war nicht schlecht. Die Raubtiernummer war etwas zu hastig, doch die Pferdedressur ließ sich wie ein Traum von edlen Pferden genießen, und die Zuschauer waren, wie in Arabien üblich, allesamt Pferdeliebhaber. Sie spendeten der Nummer begeisterten Beifall.
Plötzlich erstarrte mir das Blut in den Adern. Ich sah die Seiltänzerin und hätte im ersten Augenblick schwören können, dass sie niemand anderes war als Mala. Doch dann befielen mich Zweifel und nagten an meiner Sicherheit.
Aber gewiss, sie war es, und mit jedem Schritt, den sie oben auf dem Seil tat, wurde ich wieder sicherer. Doch, doch, sie war es. Mala hätte ich nie verwechseln können. Wie auch? Ich habe sie damals wahnsinnig geliebt. Aber sie war über zehn Jahre älter als ich, und diese Frau auf dem Seil war zu jung, höchstens fünfundfünfzig. Aber wer weiß, es gibt Menschen, die der Zeit trotzen und ab einem bestimmten Jahr nicht mehr altern. Oder hatte Mala damals geschwindelt mit ihrem Alter?
Diese Artistin führte ihre Nummer leichtfüßig und anmutig wie eine Gazelle vor. Lächelnd überspielte sie die Angst auf dem Hochseil – genau wie vor vierzig Jahren. Sie war es. Niemand ging so wie Mala. Auch ihre alte Nummer mit dem Rückwärtssalto riss das Publikum zu einem Beifallssturm hin, der genau wie damals nicht enden wollte.
Als sie herunterkletterte, verbeugte sie sich, strahlte die Zuschauer an, und einen Augenblick lang dachte ich, sie hätte mich gesehen und angelächelt, doch sicher war ich mir nicht. Und wo war das große Muttermal an ihrem Hals geblieben? Es hatte die Form eines Schmetterlings gehabt, und Mala hatte mir erzählt, dass dieser Schmetterling sie dreimal vor einem Sturz bewahrt hatte. Wir lachten damals, und ich küsste den Schmetterling und bat ihn, noch besser auf Mala aufzupassen.
Vielleicht hatte sie es wegoperiert oder ich hatte nicht richtig gesehen. Ja wirklich, meine Augen sind nicht mehr die besten. Vor allem auf dem rechten konnte ich vor der Operation kaum noch sehen.
Ich hätte sie fragen sollen. Aber sie wurde von Journalisten umlagert und ich bin mein Leben lang schüchtern gewesen. Die ganze Nacht plagten mich Zweifel, ob die Frau meine Mala war oder nicht. Vielleicht war sie auch meinetwegen nach all den Jahren nach Morgana zurückgekommen. Bei diesem Gedanken machte ich mir große Vorwürfe. Ich beschloss, gleich am nächsten Tag den Circus aufzusuchen und die Artistin zu fragen, wie sie hieß.
Mittlerweile war ich ganz sicher, dass es Mala war, doch als ich gestern Vormittag den Messeplatz erreichte, war der Circus verschwunden. Ein Platzwächter beruhigte mich und sagte, dass der Circus noch in Tania und Palope im Norden gastieren würde, bevor er wieder nach Indien zurückkehrte.
Natürlich wollte ich am liebsten sofort hinterherfahren, doch ich hatte ja am Nachmittag den Operationstermin.
Nun gut, ich habe heute bei der Visite mit dem Arzt gesprochen. Er war sehr zufrieden mit der Operation und sagte, wenn es in den nächsten drei Tagen keine Komplikationen gäbe, würde ich schon am Dienstag entlassen. Und dann hält mich nichts mehr zurück. Ich muss Mala sehen. Und ich werde sie entweder in Tania oder in Palope einholen, und wenn nicht dort, dann irgendwo auf dem Weg nach Indien; denn der Platzwächter hat gesagt, in Tania allein würde der Circus eine Woche bleiben, und in einer Millionenstadt wie Palope kommt erst recht kein Circus unter einer Woche weg.
Sie war es bestimmt. Wie sollte ich Mala und den indischen Circus jemals vergessen?
Heute noch weiß ich jede Einzelheit, obwohl das alles vierzig Jahre zurückliegt. Viele Zeitungen des In- und Auslands schrieben wochenlang über Mala, den Circus und auch über mich. Mein Bild erschien in der Presse sogar öfter als das des damaligen Staatspräsidenten Hadahek.
Wie ich Mala begegnet bin und wieso ich für die Presse so interessant wurde, das ist eine lange Geschichte, die, wie bescheiden ich sie auch erzähle, übertrieben erscheinen wird.
Ich weiß heute noch, es war Anfang Mai, als der Circus India in unserer Hauptstadt Morgana auftauchte. Halb verhungert kamen die Circusleute mit ihren Tieren an. Die Bewohner von Morgana beobachteten den Einzug der bunten Circuswagen eher mit Mitleid als mit Neugier. Sie wussten, dass der indische Circus zur falschen Zeit gekommen war.
Kurz zuvor im April war der Schweizer Circus Bein nach einer erfolgreichen dreimonatigen Tournee durch das ganze Land abgereist. Die Schweizer hatten viele exotische und sehr gepflegte Tiere vorgeführt. Ihre tollkühnen Akrobaten und die strahlend schönen Frauen in ihren glitzernden Kleidern hatten die Herzen der Menschen im Sturm erobert. Ein Zauber der Farbe, des Lichtes und der Bewegung! Aber schnell wie eine Verliebtheit war alles vorbei. Viel zu schnell hieß es: Die Abschiedsvorstellung ist ausverkauft.
Dieser letzte Auftritt der Artisten und ihrer Tiere in Morgana wird für immer unauslöschlich in der Erinnerung der Zuschauer bleiben. Der Zauberer Libano Connectio ließ die Zuschauer vor Staunen das Atmen vergessen. Er schluckte eimerweise alte, schmutzige Geldscheine und verrostete Münzen, trank aus einer Flasche einen kräftigen Schluck bläulichen Zaubermittels und spuckte danach gebügelte Geldscheine und funkelnde Münzen. Sogar der damalige Staatspräsident Hadahek, der – außer auf Plakaten – selten lächelte, lachte Tränen bei dieser Nummer, klatschte begeistert und verlangte eine Zugabe.
Nun aber zurück zum indischen Circus. Die Polizei geleitete ihn bei seiner Ankunft in Morgana nicht zum Messegelände im reichen Stadtviertel, wo der Schweizer Circus noch im April seine bunten Zelte mitten im Grünen und nahe dem Fluss aufgeschlagen hatte, sondern auf das düstere, staubige Gelände vor dem Armenviertel am Osttor unserer Stadt.
Die bunten Wagen, die Elefanten, Kamele, exotischen Rinder, Pferde und Esel zogen wie eine Karawane durch die engen Straßen der Altstadt. Als die Kolonne das große Gelände vor dem Osttor erreichte, hatte sie unzählige Kinder im Schlepptau.
Der Circusdirektor verabschiedete sich von den Polizisten und gab jedem zwei Eintrittskarten. Manch einer wollte noch mehr und stotterte in gebrochenem Englisch: »Ich, zwölf Kinder, alle Circus gucken!« Der Circusdirektor lächelte dann höflich und sagte: »Ich auch, und meine lieben auch den Circus, deshalb kann ich nur zwei geben.«
Als Erstes ging der Circusdirektor im Kreis herum und begutachtete den Platz. Die Schaulustigen rannten in Scharen hinter ihm her, drängten sich aber nur bis zu einem bestimmten Punkt, als würde eine unsichtbare Mauer den kleinen Circusdirektor umgeben.
Er war Ende vierzig und hatte einen merkwürdig leichten Gang, als berührte er mit seinen Füßen nur ab und zu die Erde. Seine Bewegungen ließen eher an eine religiöse Zeremonie als an eine technisch genau berechnete Messung denken. An einem bestimmten Punkt schlug er einen Eisenpflock in den Boden. Dieser Punkt wurde so zum Zentrum nicht nur des Hauptzelts, sondern der ganzen Circusstadt.
Als die Artisten anfingen, die Zeltmasten aufzustellen, dauerte es keine halbe Stunde, bis eine einzigartige Welle der Sympathie durch die anwesenden Männer unter den Zuschauern ging und sie mit anpackten. Einige Inder konnten ein paar Höflichkeitsfloskeln der arabischen Sprache, und fast alle sprachen Englisch, doch die Araber leider nicht. Aber nach kurzer Zeit sah ich, wie sie sich verstanden. Schweigend kamen sie sich näher.
Wohnwagen, Lastwagen und Tierkäfigtransporter bildeten bald eine schützende Außenmauer. Kinder schleppten mit ihren Eimern Wasser in den Trog, aus dem die Tiere getränkt wurden. Die Zuschauer staunten über die riesigen Mengen, die ein durstiges Kamel in sich hineinschlürfen konnte. Und die Kinder meines Viertels, die zu Hause großes Theater machten, wenn man sie um ein Glas Wasser bat, hier rannten sie freiwillig ächzend und schwitzend mit überschwappenden Eimern, um die Tiere zu tränken.
Wie von Zauberhand ging der Aufbau vor sich, und im ständigen Hin und Her von Leuten, die nur herumzulaufen schienen, erblickte ich eine planvolle Handlung und genaue Ordnung. Kein Schritt und keine Handbewegung waren überflüssig. Kinder und Erwachsene, die den Circusleuten im Weg standen, wurden mit barschen Rufen vertrieben.
Die Morganier wunderten sich, dass für den ganzen Bau einschließlich der Ränge und Sitze kein einziger Nagel notwendig war. Und das gewaltige Zelt wurde von Masten gehalten, die nicht einmal in die Erde eingegraben werden mussten. Mit welchem Geschick wurden die Masten aufgestellt und die schwere blaue Zeltplane hochgehisst! Der Circusdirektor beaufsichtigte die Arbeiten und gab seine Anweisungen schnell und leise. In weniger als sechs Stunden stand das Zelt, einschließlich der Sitze und vornehmen Logen. Und als schließlich die Fahnen Indiens und Morganas über dem Zeltdach flatterten, atmete der Circusdirektor erleichtert auf.
Am selben Tag noch hatten die Wasser- und Elektrizitätswerke die notwendigen Anschlüsse geschaffen, und mancher Bewohner beneidete die Inder, wie schnell sie versorgt wurden. »Seid froh, dass ihr Ausländer seid. Als Morganier hättet ihr einen Monat auf das Wasser und mindestens zwei auf den Strom gewartet«, sagte ein Lehrer in gutem Englisch zum Circusdirektor. Dieser lächelte und erwiderte: »In Indien ist es nicht anders.« Seine Antwort machte die Runde, die Menschen lachten, und als sie erfuhren, dass der Circusdirektor Amal hieß, riefen einige begeistert: »Du hast uns wirklich gefehlt! Willkommen!« Aus Höflichkeit übersetzte der Englischlehrer dem Circusdirektor den Satz nicht genau, denn die Leute wollten damit sagen, dass ihnen die Hoffnung gefehlt hatte. Amal bedeutet auf Arabisch nämlich nichts anderes als Hoffnung.
»Wir brauchen Sägemehl«, sagte der Direktor zu einem alten Morganier. Der Englischlehrer war plötzlich irgendwo in der Menge verschwunden und der alte Mann schien nicht zu verstehen. Da erklärte Circusdirektor Amal in geübter, international bewährter Pantomime mithilfe einer Feile und eines Holzstücks, was er brauchte, und sofort ging ein Gemurmel durch die Versammlung. »Er braucht Sägemehl. Nichts leichter als das! Warum Sägemehl? Die Elefanten fressen es, nein, die Büffel«, rätselten einige alte Frauen in meiner Nähe, doch bald war auch ihnen klar, dass der Direktor das Sägemehl für die Manege brauchte.
In unserem Viertel gab es an die zwanzig Tischler, Zimmerleute und Intarsienwerkstätten, wo Sägemehl anfiel. In Windeseile waren Jugendliche mit mehreren gefüllten Säcken zurück, doch der Circusdirektor wollte mehr und dann noch mehr, bis ein haushoher Hügel mit Sägemehlsäcken aufgetürmt war.
In der Zwischenzeit hatten die Artisten Lehm für den Untergrund der Manege gemischt. Dieser gibt den Hufen der Tiere Halt bei ihren artistischen Nummern. Für die Kinder unseres Viertels war es eine Riesenfreude, als sie erfuhren, dass sie den Lehm mit ihren nackten Füßen stampfen durften. Sogar zwei alte Frauen mischten sich unter die Kinder und lachten vergnügt über ihren Tanz im feuchten Lehm.
Als Letztes wurden die Teile der kreisrunden Absperrung, die die Circusleute Piste nennen, um die Manege herum aufgebaut.
An diesem Tag begegnete ich Mala zum ersten Mal. Beim Lehmkneten war plötzlich der Wasserstrahl unterbrochen, und ein Maurer schickte mich nachschauen, woran das lag. Ich folgte dem Verlauf des Schlauches bis zum Kassenwagen und da sah ich Mala. Sie war sehr zierlich und versuchte verzweifelt, den schweren Wagen etwas zur Seite zu schieben, da bei einem Manöver die Räder auf den Schlauch gerollt waren. Ich half ihr, und mit großer Mühe schafften wir es, den Schlauch wieder freizulegen. Dann blieben wir stehen, schauten einander an, lächelten verlegen und wiederholten fast zehnmal: »Danke schön!« – »Oh, bitte, gern geschehen!«, bis wir uns trennten.
Es war noch hell, als die Aufbauarbeiten beendet waren, und wir durften als Dank für die Hilfe einen letzten Rundgang machen, während die Circusleute sich wuschen und draußen vor den Wagen ihr verdientes Abendbrot aßen.
Die Wohnwagen waren Wunderwerke der Technik. Es waren komplette Häuser auf Rädern. Nicht einmal Mäuse fehlten, doch die Circusleute ließen sich von ihnen nicht stören.
Fast alle Wagen waren weiß-rot-grün gestrichen und trugen in schwarzer Farbe große Nummern von eins bis sechsunddreißig. Nur die Zahl dreizehn fehlte. Viele Circusse meiden die Dreizehn nicht nur bei der Nummerierung ihrer Wagen, sondern auch in ihren Programmen. Sie machen nach der zwölften Darbietung eine Pause und dann folgt die vierzehnte Nummer.
Circus India kam in Morgana ohne einen Wagen Nummer dreizehn an, und es war weder Freitag, noch hatte eine schwarze Katze seinen Weg überquert, noch war eine Eule auf einem Wagendach gelandet. Im Gegenteil, mit frohen Gesichtern waren die Artisten unter der Führung eines Direktors namens Hoffnung in Morgana eingezogen. Und doch lauerte das Unheil auf diesen Circus.
2
Ein unsichtbarer Magnet zog mich gleich am nächsten Morgen wieder zum Circus. Ich war weder der Einzige noch der Erste vor dem noch verschlossenen Eingang. Auch die Circusleute waren schon zu dieser frühen Stunde sehr geschäftig. Ich hielt Ausschau nach Mala und tatsächlich hatte ich Glück. Ich sah sie in der Ferne mit einem Baby im Arm. Sie spürte wohl meine Blicke, drehte sich um und lächelte mir zu. Ich wusste, sie meinte mich mit ihrem Lächeln, obwohl ich unter mindestens zwanzig Neugierigen stand.
Wenn nur die Hälfte dessen stimmte, was die Leute in meinem Viertel nach ein paar Stunden in Erfahrung gebracht hatten, dann hatte der Circusdirektor unglaubliches Pech. Kein Wunder, dass ich mich von ihm angezogen fühlte. Pechvögel zogen mich immer an.
Sein Circus war schon in Indien ziemlich arm gewesen. Aber er konnte immer gerade so viel Geld einspielen, dass er seine Artisten und Tiere so recht und schlecht ernähren konnte. Mit Geduld hatte er seinen Traum von einem erfolgreichen Circus wahr machen wollen. Als eines Tages sein Bruder Biren tödlich verunglückte, wurde ihm das große Indien zu eng. Er hoffte, im Ausland vergessen zu können und auch mehr Erfolg zu haben.
Überraschend für alle eröffnete er eines Tages den Artisten und Arbeitern seine Reisepläne und forderte in seiner kurzen Rede alle auf, sich besondere Mühe zu geben, um der Welt zu beweisen, was in ihnen stecke. Seine Augen, so erzählte Mala mir später, waren voller Tränen gewesen.
Keiner außer seiner Frau Shanti hatte gewusst, dass der Circusdirektor Amal die Reise Schritt für Schritt geplant hatte. Jahrelang hatte er die Route dieser Reise studiert.
Für viele seiner Mitarbeiter bedeutete die Abreise Trennung von Freunden und Verwandten, denn im Circus gilt das eherne Gesetz: Nur wer für die Manege arbeitet, wird mitgenommen.
Von Indien nach Pakistan und von dort nach Afghanistan, in den Iran und dann über die Türkei nach Arabien zog der Circus, bis er Anfang Mai in Morgana ankam. Ein Jahr und drei Monate hatten alle Durst und Hunger ertragen.
Und gerade als der Circus seine Zelte am Rande Islamabads, der Hauptstadt Pakistans, aufgeschlagen hatte, brach ein Krieg zwischen Pakistan und Indien aus. Der Circus erlebte ein Debakel. Die Menschen, die noch am Abend zuvor im Zelt gelacht hatten, demonstrierten nun vor dem Circus und wollten ihn in Brand stecken. Über Nacht mussten die Artisten und ihr Direktor die Stadt verlassen, als wären sie Diebe.
»Afghanistan, meine Freunde, ist das Paradies«, versuchte Amal seine Mitarbeiter zu trösten. »Die Afghanen sind edel und mutig!« Mancher Artist hatte zum ersten Mal in seinem Leben das Wort Afghanistan gehört, aber der Mut des Direktors steckte alle an.
Tatsächlich waren die Afghanen gastfreundlich und überaus mutig, aber in den Circus kamen nur wenige Zuschauer. Und es war fast unmöglich, diesen etwas Außergewöhnliches zu bieten. Jedes zweite Kind fand die Nummer mit den Löwen harmlos. Einige flehten sogar den Direktor an, sie auch in den Löwenkäfig zu lassen. Selbst ältere Leute wollten einen Gang auf dem Hochseil wagen. Und so brachten die Zuschauer von Nummer zu Nummer die Artisten immer mehr in Verlegenheit. Ein Circus ist eben nichts für übermutige Zuschauer, die keine Angst vor Löwen und Hochseil haben.
Als der Zauberer abwechselnd eine Taube und einen Raben in einen leeren Käfig zauberte, soll ein alter Schäfer gerufen haben: »Eine Taube? Schau her!« Und er ließ einen Hammel und eine Ziege aus seinem breiten Mantel hervortreten. Die Zuschauer tobten vor Lachen und der Zauberer trat blass von der Bühne ab. Natürlich hatte der Afghane den Hammel und die Ziege nicht hervorgezaubert, sondern einfach mit in den Circus hineingeschmuggelt, weil er sie sehr liebte und ihnen eine Circusvorstellung gönnen wollte.
Eines Abends wurde Amal nach der Vorführung in einem afghanischen Bergdorf von einem Bauern gefragt, ob der Wolf, der in dieser rührenden Paradiesnummer aufgetreten war, ein Weib hätte. Der Circusdirektor verneinte, und der begeisterte Bauer schenkte dem Circus eine Wölfin, die er kurz zuvor gefangen hatte.
Auch im Iran wurden die Circusleute freundlich begrüßt und bekamen schon am zweiten Tag von einer reichen Schäferfamilie ein wunderschönes Karakulschaf geschenkt. Doch nach wenigen Tagen wollten sich offensichtlich nur noch die Ärmsten der Armen im Circus amüsieren. Wer Geld hatte, ging lieber ins Kino. Damals erlag das ganze Land gerade einem Kinofieber. Als ein junger Mann den Direktor fragte, warum er in seinem Zelt nicht statt dieser zittrigen Seiltänzerin den berühmten Film von Burt Lancaster und Tony Curtis zeigen wollte, war das Maß voll, und der Circusdirektor blies zum Abmarsch.
»In der Türkei wird das Paradies sein«, schwärmte er.
»Dort fließt Honig von den Bergen und der Tee wächst wie Unkraut sogar am Straßenrand. Die Türken sind großzügig, sie schenken jedem Gast eine Schafherde!«
Die Mitarbeiter gähnten müde und gleichgültig, denn sie merkten, dass der Direktor immer länger redete, je größer das Unglück wurde.
Die Türken waren zwar freundlich und aufgeschlossen gegenüber den Circusleuten, doch waren sie oft noch ärmer als sie. Die bettelarmen Bauern der östlichen Dörfer wollten gerne in die Vorstellungen kommen, doch hatten sie außer ein paar kärglichen Nahrungsmitteln nichts, womit sie den Eintritt hätten bezahlen können.
»Auf nach Arabien! Ihr werdet euch wundern, was für ein Glück dort auf uns wartet. Das glückliche Arabien wartet auf euch! Morgana, meine Lieben, Morgana ist die Perle Arabiens. Mein Großvater hat mir erzählt, dass jedem Besucher dieser Herrlichkeit für jeden Tag, den er in dieser Stadt verbringen darf, ein Tag von seiner Zeit im Paradies abgezogen wird, da er diesen Tag schon zu Lebzeiten in Morgana, im irdischen Paradies, verbracht hat.«
»Wenn dein Großvater recht hat, dann kommen ja alle Bewohner der Stadt in die Hölle«, rief der alte Elefantenführer Ganesh, und alle Mitarbeiter lachten.
So war der Circus nach Morgana gekommen. Gleich am ersten Tag hörte ich diese Geschichte. Und hätte ich nicht Morgana und seine Einwohner gekannt, so hätte ich nicht geglaubt, dass ein Volk auf der Erde existiert, das so schnell und so genau alles über Fremde in Erfahrung bringen kann.
Nun hatte der Circus India auch in Morgana großes Pech. In jenem Jahr nämlich war der Mai so heiß, als hätte er mit dem Juli getauscht. Es war so heiß, dass am Tag nur noch Hühner und Touristen in der Sonne lagen; die Bewohner der Stadt blieben lieber im Schatten versteckt.
Bei der Eröffnungsvorstellung waren es vielleicht hundert Kinder und etwa genauso viele Erwachsene. Schon bei der zweiten Vorstellung waren es nur noch wenige Zuschauer. Tiere, Seiltänzer und Clowns bemühten sich, ein paar vereinzelt sitzende Kinder zum Lachen zu bringen. Und je mehr Tage vergingen, umso spärlicher kamen die Zuschauer. Amal hoffte immer noch auf den großen Ansturm, aber die Hitzewelle ließ Morgana nahezu versengen. Auch am Abend war die Luft unter dem Zeltdach unerträglich stickig, obwohl der Circusdirektor jeden Nachmittag reichlich Wasser spritzen ließ. Wer sich in dieser Zeit vergnügen wollte, kaufte sich lieber ein Eis oder ging ins Schwimmbad.
Ein Unglück kommt selten allein. Als hätte die Hitze nicht gereicht, die die Zuschauer vom Circus fernhielt, gab es nach einer Woche einen Aufstand. Ein Schwager und auch ein Neffe des Staatspräsidenten rebellierten, um Hadahek zu stürzen. Der Schwager riegelte Morgana vom Norden her ab und der Neffe besetzte mit seinen Panzern den Süden des Landes. Die Hauptstadt selbst war zwar nicht in Gefahr, aber Reisen in den Norden und in den Süden des Landes waren außer in Notfällen untersagt. Der Circus saß also plötzlich mit den Bewohnern der Stadt Morgana in der Falle.
War der Besuch des Schweizer Circus wie ein kurzes Feuerwerk der Verliebtheit gewesen, so zeigte der Besuch des indischen Circus Anzeichen einer dauerhaften Alltagsliebe mit all ihren Problemen.
Schnell war das wenige Geld verbraucht, das der Circusdirektor auf der Reise von Indien bis Morgana gespart hatte. Ende Mai hatte er trotz Rationierung der Nahrung keine Vorräte mehr.
Amal war wie viele Circusleute abergläubisch. Er ließ sich dazu hinreißen, einen berühmten Schicksalsbeschwörer einzuladen. Der Mann kam, machte ein Feuer mitten in der Manege und sprach eine halbe Stunde lang mit seinen Dschinn, die nur ihm in den Weihrauchwolken sichtbar waren. Doch bei allem Aberglauben war Amal der Preis von zweihundert Lira zu hoch: »Wenn Zuschauer drei Tage lang das Zelt füllen, gebe ich dir dreihundert Lira, sonst haben die Dschinn dich nicht erhört, und dafür muss man dich peitschen und nicht auch noch bezahlen.«
Als aber einer von Amals Mitarbeitern im Schlachthof dabei ertappt wurde, wie er Knochen und Fleischreste zu stehlen versuchte, sah man den verzweifelten Circusdirektor bis spät in der Nacht in seinem Wohnwagen auf und ab gehen.
Am nächsten Tag kam der Mann frei, und der Circusdirektor warnte eindringlich alle Mitarbeiter, auch nur einen einzigen Strohhalm zu stehlen. Schweren Herzens beschloss er, Morgana zwei seiner prächtigen Elefantenkühe zu schenken, wofür sich die Stadt verpflichten sollte, seine Tiere bis zum Ende der Belagerung zu ernähren. Er machte sich auf den Weg zum Bürgermeister.
Der Bürgermeister der Stadt Morgana empfing Amal mit höflicher Zurückhaltung. Nach einer langen Dankesrede bot der Circusdirektor der Stadt schließlich seine zwei Elefanten an. Statt sich jedoch für das Geschenk zu bedanken, rief der Bürgermeister abwehrend: »Um Gottes willen! Ich will doch nicht von den Morganiern erschossen werden. Heute noch verfluchen die Bewohner dieser Stadt die Seele eines früheren Bürgermeisters, obwohl dieser seit über hundert Jahren tot ist.«
Und warum? Die Geschichte hatte auch ganz harmlos angefangen. Ein Maharadscha war damals Gast der Stadt gewesen und hatte dem Bürgermeister einen prächtigen Elefanten geschenkt. Dieser Elefant trampelte dann in der Stadt herum, zerstörte Gärten, Obstbäume und Gemüseläden. Die Bevölkerung geriet in Aufruhr, und eines Tages war die Wut so groß, dass sich eine aufgebrachte Menschenmenge auf das Haus des Bürgermeisters zubewegte. Je näher sie aber ihrem Ziel kam, umso kleiner und leiser wurde sie, da viele plötzlich Angst hatten.
Dieser frühere Bürgermeister war jedoch informiert worden und hatte bewaffnete Soldaten vor seinem Haus Stellung beziehen lassen. Bei diesem Anblick verließen immer mehr Menschen den Protestzug und machten sich unauffällig davon. Nur ein besonders eifriger Mann blieb unbeirrt bei der Sache. Der Armselige blickte nicht nach rechts und links und lief so direkt in die Arme der Soldaten. Erst jetzt erkannte er, dass er verloren war. Er wurde vor den Bürgermeister gezerrt, und dieser fragte ihn streng, wogegen er protestiere. Enttäuscht von der ganzen Welt, antwortete der Mann: »Exzellenz! Wir haben deinen Elefanten so sehr ins Herz geschlossen, dass wir seine Einsamkeit nicht mehr mit ansehen können. Wir protestieren gegen die Einsamkeit des Elefanten und fordern dich auf, ihm ein Weib zu schenken.« Der Bürgermeister war gerührt. Er ließ dem Elefanten ein Weib bringen. Von da an tobten die zwei Kolosse in Morgana und zerstörten, was ihnen in die Quere kam, bis eines Tages ein ruinierter Blumenhändler Elefanten und Bürgermeister erschossen hat.
Amal konnte also den Bürgermeister nach dieser Geschichte nicht von der Kostbarkeit seines Geschenks überzeugen. Auch wollte dieser nicht versprechen, für Futter aufzukommen, da er ja selbst nicht wusste, wie lange die Belagerung noch andauern würde.
Einen letzten Ausweg suchte der Circusdirektor bei der indischen Botschaft. Man konnte ihm dort jedoch auch nicht helfen und warnte ihn, nicht in den von Rebellen besetzten Gebieten herumzureisen. Der Botschafter erklärte sich allerdings bereit, Flugkarten für die Circusleute zur Verfügung zu stellen. Der Circus hätte das Geld dann in Indien zurückzuzahlen. Für den Transport der Tiere wollte die Botschaft jedoch nicht aufkommen. Amal kämpfte verbissen um die Rettung aller seiner Circustiere und schwor, niemals ohne seine Tiere nach Indien zurückzukehren. Doch auch nach stundenlangen Auseinandersetzungen mit dem Botschafter lehnte dieser jede weitere Hilfe ab und wiederholte lediglich sein Angebot mit den Flugkarten. Er hielt den Circusdirektor wohl für verrückt, als dieser aufstand und entschlossen sagte:
»Niemals werde ich Morgana ohne das Nilkrokodil verlassen.«
3
Nein, ich irre mich nicht, die Frau ist Mala, es sind ihre klugen Augen. Alles verändert sich an einem Menschen, nicht jedoch seine Augen, mag er auch Falten bekommen und graue Augenbrauen, der Blick bleibt von Geburt an derselbe.
In ein paar Tagen werde ich sie sehen, hoffentlich reist ihr Circus nicht zu schnell. Gestern fiel mir ein, dass ja ein Freund von mir in Tania wohnt, wo der Circus auftreten soll. Ich telefonierte gleich, habe ihn aber bis jetzt nicht erreicht. So ein Pech!
Meine Mutter meinte, ich hätte immer Glück. Sie nannte mich einen »Glückspilz«, aber darin irrte sie sich. Viele halten es für Glück, wenn einer sein Pech gerade mit Mühe noch abwenden kann. Wirkliches Glück habe ich nie gekannt. Ich bin der geborene Pechvogel und ziehe nur solche an.
Der erste Pechvogel, den ich anzog, war ein blinder Buchhändler. Ich lernte ihn durch einen Schulkameraden kennen. Er handelte mit alten Büchern aller Art. Das waren aber keine teuren Bücher wie die der Antiquare, sondern alles Mögliche vom Schulbuch über Werke der Weltliteratur bis zum Groschenroman. Auf seinem kleinen Ladenschild stand: Bücher – auch zum Verleihen. Damals gab es in Morgana noch keine Leihbücherei.
Als Kind war ich auf die Bücher meines Vaters angewiesen gewesen. Anschließend verschlang ich die bescheidenen Bibliotheken der Nachbarn und bald kannte ich alle Bücherregale der Gasse. Danach saß ich drei Monate lang auf dem Trockenen, bis ich von dem besagten Buchladen erfuhr.
Man musste eine Lira als Pfand hinterlegen und konnte jeden Roman für einen Piaster pro Woche ausleihen. Das war die Entdeckung meines Lebens. Ich weiß heute noch, wie ich das erste Mal zwischen den übervollen Bücherregalen mit ihrem sonderbaren Geruch stand und angesichts so vieler Bücher zitterte. Ich wusste einfach nicht, wo ich anfangen sollte. So nahm ich zwei Bücher voller Geschichten der alten Araber, legte zwei Lira als Pfand und zwei Piaster als Gebühren für eine Woche auf den Tisch. Der Blinde nahm die Bücher in die Hand, betastete sie und sagte: »Junge, bei Band eins fehlt die Seite dreihundertelf und beim zweiten hat ein Idiot eine Miniatur herausgeschnitten. Du bringst die Bücher so zurück, wie du sie genommen hast, sonst bekommst du kein einziges Buch mehr bei mir.«
Dieser Mann war ein Wunder an Witz und Scharfsinn bis zu seiner Heilung. Ich war zwei Monate lang sein bester Kunde und jahrelang sein Helfer, obwohl ich durch ganz Morgana fahren musste, um zu ihm zu kommen, aber ich hatte meine eigene Methode entwickelt, um Geld zu sparen und meine Füße zu schonen. Ich lauerte vor unserer Gasse auf eine Kutsche, und wenn die Pferde an mir vorbeitrabten, sprang ich auf den Absatz hinter dem Verdeck. Das spürten die Kutscher vorne und schlugen mit ihrer Peitsche rückwärts über den Kasten. Wenn man geübt war, konnte man jedoch so flach liegen, dass die Peitsche einen nie erreichte. Zu meinem Glück fuhren die Kutschen so langsam, dass ich jederzeit wieder abspringen konnte, ohne mich oder die Bücher unter meinem Arm zu gefährden.
Nach zwei Wochen hatte ich beschlossen, um etwas Geld zu sparen, Romane wie bisher zu leihen und zusätzlich einen Roman heimlich im Laden in Fortsetzung zu lesen. Ich wählte »Die Elenden« von Victor Hugo, hockte mich hinten im Laden unter ein Fenster und las die ersten zwei Kapitel. An diesem Tag war viel los, unauffällig ging ich nach einer ganzen Weile zur Kasse und zahlte für meine zwei Leihbücher.
Beim nächsten Besuch freute ich mich schon auf die Fortsetzung, doch unterwegs befielen mich fürchterliche Zweifel, ob ich das Buch noch vorfinden würde. Wie groß war meine Freude, als ich es an seinem Platz entdeckte. Der Laden war an jenem Tag nicht so gut besucht, aber ich las wieder zwei Kapitel, und diesmal versteckte ich das Buch, da ich mich, wie gesagt, nicht auf mein Glück verlassen konnte, sondern es überlisten wollte.
Nach zwei Monaten hatte ich bereits mehr als zehn Bücher durchgelesen und den großen Roman von Hugo heimlich und gebührenfrei beendet. Ich werde nie vergessen, wie der blinde Ladenbesitzer lachte, als ich an jenem Tag zur Kasse kam.
»Ach, Sadik, du bist es«, sagte er freundlich. »Was hast du in den letzten Wochen dahinten gelesen?« Ich war so überrascht, dass ich plötzlich an seiner Blindheit zweifelte. »Dem Geräusch nach war es ein französisches Buch aus dem dritten Regal hinten, ein Klassiker. Balzac, oder war es Zola?« fragte er freundlich, fast verschmitzt.
»Nein, Hugo, Victor Hugo, aber ich zahle, wenn du das wünschst«, sagte ich leise und etwas beschämt, wie jeder, der auf frischer Tat ertappt wird.
»Ach was, du kannst, wenn du willst, mir zwei bis drei Stunden in der Woche helfen und dafür dann so viele Bücher lesen, wie du nur willst. Ich brauche jemanden für meine Leihhefte. Mein Gedächtnis spielt in letzter Zeit nicht mehr so mit. Am besten kommst du zweimal in der Woche, je zwei Stunden. Das würde reichen. Ich zahle dir auch die Busfahrten. Was hältst du davon?«
Das war keine Frage, sondern ein Geschenk. Von nun an ging ich regelmäßig zum Buchhändler, half ihm und las mich unersättlich durch die Weltliteratur.
Dieser blinde Buchhändler war ein strenggläubiger Muslim. Ich hatte ihm von Anfang an gesagt, dass ich Christ war. Ihm war das gleichgültig, nicht aber seiner Frau. Wenn sie ihm sein Mittagessen brachte, nörgelte sie an mir herum und sagte ihm halblaut, er solle mich die Teller nicht anfassen lassen, da ich bestimmt unreine Hände hätte. Ich war oft sehr wütend auf sie, doch ihr Mann beruhigte mich: »Sie ist so misstrauisch gegen die ganze Welt, dass sie sich nicht einmal selbst vertraut.«
Dieser Mann war nicht von Geburt an blind. Im Alter von zehn Jahren hatte er nach einem Fieberanfall sein Augenlicht verloren, dafür aber ein sagenhaftes Gehör, Gedächtnis und Tastgefühl entwickelt. Manchmal begleitete ich ihn zum Basar, und im Geschrei der Käufer und Verkäufer konnte er selbst aus großer Ferne einzelne Stimmen heraushören und unvermittelt sagen: »Wir gehen zu lsmail, der streitet gerade mit einem Kunden.« Dabei war lsmails Laden noch über hundert Meter entfernt!
Eigentlich hatte ich immer geglaubt, ein ausgezeichnetes Gedächtnis zu haben, doch bei diesem Mann kam ich mir alt und vergesslich vor. Er wusste nämlich noch nach Wochen, wer diesen oder jenen Roman geliehen hatte und ob ein Mathebuch der vierten Klasse vorrätig war oder nicht.
Er konnte sehr witzig und knapp erzählen. »Zu Hause habe ich so eine Katze, die hat ein richtiges Tigerfell«, erzählte er mir eines Tages. »Stell dir vor, sie verwandelt sich jedes Mal bei Vollmond von Mitternacht bis zum Sonnenaufgang in eine Tigerin. Meine Frau hat große Angst vor ihr, obwohl sie immer friedlich bleibt, auch wenn sie für ein paar Stunden tigert. Aus Liebe zu meiner Frau brachte ich die Katze zum Tierarzt. Er untersuchte sie genau, schlug in seinen Büchern nach und sagte mir schließlich, so etwas gäbe es, wenn auch sehr selten. Wenn sich eine trächtige Tigerin erkältet und bei Vollmond dreimal hintereinander niest, springt eine solche kleine Katze aus ihrer Nase.«
Jahre später wurde der Mann wie durch ein Wunder geheilt. Er konnte wieder sehen. Aber das ist eine andere Geschichte. Ich wollte eigentlich von einem anderen Pechvogel und seinem Circus weitererzählen.
Die uralte Stadt Morgana hat in ihrer langen Geschichte viel erlebt. Unzählige Wunder und Merkwürdigkeiten sind in ihrem Gedächtnis eingeprägt. Und in den bescheidenen Lehmhäusern ihrer Gassen fühlt man die große Seele einer uralten Kultur. Im Herzen Arabiens liegend, war die Stadt ein Treffpunkt, an dem sich die Wege der reisenden Propheten, Eroberer, Händler und Bettler kreuzten.
Als der Himmel vor zwei Jahren roten Sand regnete, wussten die Morganier Bescheid. Alle fünfunddreißig Jahre trägt ein Sturm den Sand aus einem bestimmten Gebiet der Sahara Tausende von Kilometern weit, bis er ihn genau über Morgana wie einen roten Teppich auf Häuser und Bäume, Autos und Straßen niederfallen lässt. Kein Sandkorn gerät in Städte nördlich oder südlich von Morgana.
Die Morganier lassen den Sand drei Stunden liegen, damit kein Fluch die Stadt trifft; denn dieser rote Teppich ist mit einer Liebesgeschichte verbunden. Eine in Morgana lebende Fee muss sich und ihre Stadt alle fünfunddreißig Jahre einmal für drei Stunden vor ihrem wütenden Vater, einem rachsüchtigen Dämon, verstecken, aber das ist eine andere Geschichte.
Nach drei Stunden kehren die Morganier den Sand weg und verrichten ihre Arbeit, als ob nichts geschehen wäre.
Genauso gelassen reagierten die Bewohner der Stadt, wenn in den letzten hundert Jahren einer der vielen Propheten aufgetaucht war. Nur ein paar fromme Beamte der Regierung regten sich darüber auf. Die Mehrheit der Bewohner dachte wie mein Onkel Azar, der ruhig sagte: »Was macht das schon, wenn einer sich wie ein Prophet fühlt? Man muss ihn freundlich aufnehmen. Wer weiß, vielleicht ist er ein wahrer Prophet? Dann hat man für seine Gastfreundschaft einen sicheren Platz im Himmel. Und ist er ein Lügner, so hat man dafür ein paar schöne Geschichten oder ein Lachen.«
Morgana hat, wie gesagt, viel erlebt, und durch die Jahrtausende weise geworden, blieb es doch im Herzen ein Kind. Es ist bis heute noch kindlich genug, Neuem gegenüber Verwunderung zu empfinden. Und wer im Herzen ein Kind bleibt, wird vom Leben mit Wundern belohnt.
Noch nie in der Geschichte dieser Stadt war es passiert, dass ein Circus aus einem fernen Land nicht mehr zurückkehren konnte. Wie immer überdeckte die Presse ihre Ratlosigkeit mit dummen Kommentaren. So schrieb der Chefredakteur der »Neuen Freiheit«, einer der drei staatlich gelenkten Zeitungen des Landes, unter dem Titel »Ehrlich gesagt«, man solle sich beim nächsten Besuch eines Circus schon bei der Einreise die Rückfahrkarte der Elefanten vorzeigen lassen oder eben alle Tiere an der Grenze erschießen.
Solche Weisheiten waren keine Hilfe für die Bewohner des alten Stadtviertels, die mit den Problemen des Circus unmittelbar zu tun hatten. Aber von meinen Nachbarn lasen sowieso nicht viele die staatliche Zeitung. Sie hatten Mitleid mit den Circusleuten und ihren Tieren. Dieses Gefühl, das alle bewegte, brachte meine Mutter eines Nachmittags bei einer Kaffeerunde im Hof zum Ausdruck: »Dieser arme Circus, der nicht mehr weiß, wo vorne und wo hinten ist, das sind wir.« Keine der Nachbarinnen witzelte oder lachte, sondern alle nickten nachdenklich. Aber niemand im Viertel konnte so viel spenden, dass die Elefanten, Löwen, Tiger, Schlangen und Wölfe hätten nach Indien fahren können.
Für das Krokodil wollte sowieso keiner was zahlen. Die Leute fanden das Tier grässlich und seine Nummer sterbenslangweilig. Das Nilkrokodil trat an der Seite des Circusdirektors auf, rannte einmal in der Manege herum, sperrte seinen Rachen auf und fauchte die Zuschauer in der ersten Reihe an. Das war nicht einmal gruselig, sondern es war einfach ekelhaft; denn das Nilkrokodil war an mehreren Stellen seines Kopfes verletzt und auch sein Rücken war voller Narben. Nach zwei Runden packte der Circusdirektor das Krokodil am Schwanz, drehte es auf den Rücken, streichelte ihm den Bauch und das Krokodil erstarrte wie ein Plastiktier, und dann konnte Amal mit ihm machen, was er wollte. Kurz danach erwachte das Krokodil aus seiner Erstarrung, fauchte ein letztes Mal das Publikum an und ging breitbeinig aus der Manege, als hätte es in die Hose gemacht.