Johannes Kiersch

Die Waldorfpädagogik

Eine Einführung in die Pädagogik Rudolf Steiners

Verlag Freies Geistesleben

Inhalt

Vorwort zur Neuausgabe 2015

Vorwort zur 11. Auflage (2007)

Einleitung

Die anthroposophischen Grundlagen

Erziehen als Kunst

Unterricht nach dem Waldorf-Lehrplan

Von der Schulorganisation

Zum gegenwärtigen Stand der Waldorf-Lehrerbildung

Waldorfpädagogik im Gespräch

Waldorfpädagogik und Staatsschule

Weiterführende Literatur

Anmerkungen

Anschriften

Der Autor

Impressum

Weitere Titel

Vorwort zur Neuausgabe 2015

Die nach der Pädagogik Rudolf Steiners arbeitenden Schulen, Kindergärten und heilpädagogischen Institute haben sich seit der letzten Auflage dieses Buches weiter kräftig vermehrt. Es gibt jetzt allein in Deutschland 232 Waldorfschulen mit zusammen über 80.000 Schülerinnen und Schülern (Stand 2014). Zugleich hat sich das Angebot an einführender Literatur für die Waldorfpädagogik und ihre verschiedenen Spezialgebiete in den letzten Jahren beträchtlich erweitert. Eine bemerkenswerte Zahl wissenschaftlicher Untersuchungen zum Thema hat seit Kurzem lebhafte Diskussionen ausgelöst, die sich nur schwer überschauen lassen. Deshalb erscheint dieses Buch jetzt in einer aktualisierten Fassung. Besonders die von vielen Lesern geschätzte kommentierte Bibliografie im Anhang ist dabei einer gründlichen Revision unterzogen worden. Interessierte Eltern, Studierende und Pädagogen vom Fach können sich jetzt wieder nach neuestem Stand orientieren.

An den etablierten Hochschulen überall in der Welt führt die Waldorfpädagogik immer noch ein Schattendasein. Das wird sich in nächster Zeit ändern, nicht zuletzt durch die staatliche Anerkennung des traditionsreichen Seminars für Waldorfpädagogik in Stuttgart als Freie Hochschule und durch Neugründungen aus anthroposophischer Initiative wie die Universität Witten-Herdecke, die Alanus Hochschule in Alfter bei Bonn, die Cusanus Hochschule in Bernkastel-Kues. Alte Vorurteile und Vorbehalte, die bisher noch das freie Gespräch über Steiner und seine Pädagogik belasten, werden zurückgehen. Auch dazu will die Neuauflage dieses Buches beitragen.

Witten/​Ruhr, im September 2014 Johannes Kiersch

Vorwort zur 11. Auflage (2007)

Die anhaltende Weiterentwicklung der Waldorfpädagogik hat auch für diese Neuauflage eine Reihe von Erweiterungen und Präzisierungen notwendig gemacht.

Es wird jetzt immer deutlicher, dass die weltweite Expansion der Ideen Rudolf Steiners, ihre Einwanderung in bisher fremde Kulturen und andersartige Lebensverhältnisse, aber auch die in schneller Veränderung begriffenen Milieubedingungen in den europäischen Kernländern der Waldorfpädagogik zu neuen Varianten des ursprünglichen Konzepts führen, wie sie etwa in der islamischen Sekem-Farmschule bei Kairo in Ägypten hervorgetreten sind, in den Waldorf Inner City Charter Schools der Vereinigten Staaten von Amerika, bei der neuen Interkulturellen Waldorfschule in Mannheim, die sich um Migrantenkinder kümmert, oder bei inzwischen ausgedehnten Versuchen mit Waldorfpädagogik in staatlichen Schulen Russlands, Rumäniens und sogar Deutschlands.

Immer mehr zeigt sich auch, welches noch gar nicht voll ausgeschöpfte therapeutische Potenzial in der Pädagogik Rudolf Steiners liegt. Die Kinder unserer modernen Gegenwart werden von zwei Seiten her bei der Entfaltung ihrer Fähigkeiten massiv behindert: durch den kommerzialisierten Medienbetrieb und durch den technokratischen Zugriff einer von chaotischen Zuständen heillos überforderten staatlichen Bildungsverwaltung, die im Gefolge des PISA-Schocks meint, zentral regulieren zu müssen, was nur in Freiheit zu Gesundheit und neuer Blüte kommen kann. In der kommentierten Bibliografie dieses Buches wird auf diese neueren Entwicklungen hingewiesen. Die Waldorfpädagogik hat dazu viel zu sagen.

Witten/​Ruhr, im Dezember 2006 Johannes Kiersch

Einleitung

Auf den ersten Blick wahrgenommen, scheint die Pädagogik Rudolf Steiners1 nicht viel mehr zu sein als eine marginale Variante der allgemein bekannten «Reformpädagogik», wie sie sich aus vielerlei Impulsen einer umfassenden Lebensreform-Bewegung zu Beginn des vorigen Jahrhunderts besonders in Deutschland entwickelt hat.2 Mag Steiner auch unter die Pioniere der Koedukation, des Einheitsschul-Gedankens, des exemplarischen Lernens nach dem Prinzip des Epochenunterrichts zu rechnen sein, mag er das Lernen mit allen Sinnen, das Lernen durch Kunst und durch praktische Arbeit als einer der Ersten gegen den Widerstand der Tradition vertreten haben, das alles findet sich ähnlich auch bei seinen pädagogischen Nachbarn, bei Hermann Lietz, Maria Montessori, Célestin Freinet, in der deutschen Kunsterziehungs- und Arbeitsschulbewegung, in den sozialistischen Hamburger Lebensgemeinschaftsschulen der Weimarer Republik. Worin kann dann heute noch, nahezu hundert Jahre nach ihrer zeitbedingten Begründung, das Besondere und womöglich besonders Aktuelle der Waldorfpädagogik gesehen werden?

Die vorliegende kleine Einführungsschrift, ihrerseits nun schon ein halbes Menschenleben alt und inzwischen vielfach verändert, wie die Waldorfpädagogik selbst auch, versucht eine Antwort auf diese Frage aus der Perspektive eines Schulpraktikers zu geben. Wissenschaftliche Fragestellungen werden dabei am Rande mitberührt, sind aber hier nicht die Hauptsache. Rudolf Steiner hat seine Reformschule als den Versuch einer Antwort auf Lebensfragen gedacht. Was er im Sinn hatte, zeigt sich in der zentralen Formel des Festvortrags, den er zur Einweihung des neuen Unternehmens, einer Schule für die Arbeiterkinder der Waldorf-Astoria-Zigarettenfabrik, am 7. September 1919 im Stuttgarter Stadtgartensaal gehalten hat:

Lebendig werdende Wissenschaft!

Lebendig werdende Kunst!

Lebendig werdende Religion!

Das ist schließlich Erziehung,

das ist schließlich Unterricht.3

Was meinte er mit einer Wissenschaft, mit einer Kunst, mit einer Religion im Prozess des Werdens? Er meinte doch wohl Vorgänge, die niemals zum dauerhaften Programm, zum ein für alle Mal festgestellten «Curriculum» fixiert werden können. Sondern offene, freie Initiativprozesse, die sich aus dem gemeinsamen Suchen der beteiligten Kinder, Eltern und Lehrer fortwährend neu ergeben.

Selbstverständliche methodische Grundlagen dafür waren für Steiner seine Philosophie der Freiheit von 1894, seine Schriften über die phänomenologisch orientierte Erkenntnistheorie Goethes, dessen naturwissenschaftliche Schriften er herausgegeben hatte, und die Übungswege der von ihm etwa seit 1902 entwickelten «Anthroposophie». Inhaltlich tritt dabei die große Idee der Evolution hervor, die in Deutschland schon mehr als hundert Jahre vorher – im Werk J. G. Herders etwa oder bei den Romantikern, auch bei G. E. Lessing – eine bedeutende Rolle gespielt hatte, nun aber mit Darwin und Haeckel handfest greifbar geworden war. Die Lebewesen, die Erde, vielleicht die Welt als Ganzes entwickeln sich. Geschieht das womöglich zielgerichtet? Hat es einen tieferen Sinn? Und wenn die Welt der Lebewesen sich stufenweise verändert, geschieht etwas Ähnliches womöglich mit dem Bewusstsein des Menschen und der Menschheit? Gibt es eine Evolution der Welt und eine darauf bezogene zielgerichtete Evolution des menschlichen Seelenlebens? Und kann man eine Pädagogik betreiben, die darauf Rücksicht nimmt, die womöglich sogar mitwirkt bei dieser Evolution?

Angesichts einer staatlich sanktionierten Pädagogik, die sich – aus welchen Gründen auch immer – von solchen Sinnfragen und damit auch vom Sinn des Lernens in der Schule komplett verabschiedet hat, erscheinen solche Fragemöglichkeiten als das wichtigste Spezifikum der Waldorfpädagogik. Die Frage nach dem Sinn der Welt, des Lebens, des Lernens wird in dieser Pädagogik nicht ausgegrenzt. Sie steht vielmehr im Mittelpunkt des Interesses.

Ich erlaube mir diesen entschiedenen Hinweis, weil auch im Raum der Waldorfpädagogik, deren Anfänge inzwischen für viele ihrer jüngeren Vertreter in eine schon beinahe fremd anmutende historische Distanz gerückt erscheinen, unterrichtsmethodische, schulorganisatorische oder andere untergeordnete Fragen wichtiger geworden sind und den Ursprungsimpuls gleichgültig werden lassen. In diesem Ursprungsimpuls aber liegt der Kern der Waldorfpädagogik. Was sonst noch im Einzelnen zu sagen ist, hat hierauf Rücksicht zu nehmen.

Die anthroposophischen Grundlagen

Allem Anschein nach befinden wir uns gegenwärtig am Beginn einer neuen Phase der Steiner-Rezeption. Das lange Zeit umstrittene, zum Teil bewunderte, zum Teil mit Spott und Häme kommentierte Projekt Waldorfpädagogik beginnt, aus historischer Distanz gesehen, an die hundert Jahre nach seinem turbulenten Start in Stuttgart, sich zu klären und neu zu konfigurieren. Das betrifft auch die Person des Gründers. Wer war dieser Rudolf Steiner? Was hat den weltfremden Literaten, als welcher er sich auf den ersten Blick wahrnehmen lässt, dazu bewogen und befähigt, innerhalb weniger Jahre ein außergewöhnlicher Universalkünstler zu werden, ohne fachliche Vorbildung als Bildhauer, Maler und Architekt tätig zu sein, den Bau eines Festspielhauses zu organisieren, sogar die Schauspieler und Tänzer anzuleiten, die dort auftraten, und damit den zeitgenössischen Kulturimpuls des «Gesamtkunstwerks» exemplarisch zu realisieren? Wie konnte er dann im Alter von schon fast sechzig Jahren eine rasch expandierende Reformschule ins Leben rufen, mit beträchtlicher Breitenwirkung bis in unsere Gegenwart? Und daneben als Pionier einer umweltgerechten Landwirtschaft wirken, als Heilpädagoge, als Inaugurator einer neuen Medizin?

Die neuere Forschung hat herausgefunden, dass all dies auf ungewöhnlichen Erfahrungen der Selbst- und Welterkenntnis beruht, die schon den jugendlichen Schüler und Studenten in ein unablässiges Fragen nach der Geist-Natur des Menschen hineintreiben. Nach intensiver Auseinandersetzung mit Werken Kants, Fichtes, Schellings und weitläufigen anderen Studien vertieft Steiner sich jahrelang in die Denkweise Goethes, dessen naturwissenschaftliche Werke er als einer der Ersten erforscht und herausgibt. Nietzsche und Haeckel drängen ihn dann – was seinen Schülern bis heute zu schaffen macht – zu einer entschiedenen Ablehnung jeder Art von traditionellem Jenseits-Glauben. Mit Berufung auf den idealistischen Anarchismus Max Stirners plädiert er für die uneingeschränkte Freiheit geistiger Aktivität.4

Bis an sein Lebensende bleibt er entschiedener Monist. Die «übersinnlichen» Erfahrungen, von denen er später redet und von denen ausgehend er dann auch seine Pädagogik fundiert, erscheinen ihm als Emergenz-Phänomene in der einen, ungeteilten Wirklichkeit.5 Als er nach der Jahrhundertwende das Amt des Generalsekretärs der deutschen Theosophischen Gesellschaft übernimmt, verabschiedet er sich von seinen Weggefährten im Berliner Monisten-Bund mit der großen Idee, die Natur habe im Gang der Evolution den Menschen hervorgebracht; jetzt sei es an der Zeit, dass freie Menschen aus «Originalintuition» diese Evolution eigenverantwortlich weiterführen.6 Damit gelangt er zu der zentralen Idee einer Wissenschaft vom «Geist», die er später als seine «Anthroposophie» im Einzelnen ausarbeitet.

Was er dabei zum Vorschein bringt, wurde bisher von vielen Beobachtern als dogmatisches Lehrsystem mit absolutem Wahrheitsanspruch aufgefasst. Im Lichte neuerer Forschungen lässt es sich als ein gewaltiges Provisorium verstehen: ein Panorama von Anregungen zu individueller eigener Tätigkeit. Und damit auch dem Zentralmotiv der Waldorfpädagogik. Niemand, der sich vorurteilslos um ein fundiertes Urteil über Steiner bemüht hat, wird behaupten wollen, er habe diesen ungewöhnlichen Menschen hinreichend verstanden. Dass jetzt endlich eine unbefangene Diskussion über ihn und sein Werk in Gang kommt, darf als Fortschritt betrachtet werden.

Als Rudolf Steiner von der Brockhaus-Lexikonredaktion gebeten wurde, die von ihm vertretene Lehre kurz zu definieren, schrieb er den berühmten Satz: «Anthroposophie ist ein Erkenntnisweg, der das Geistige im Menschenwesen zum Geistigen im Weltall führen möchte.» «Das genügt», soll er dazu gesagt haben. Der Satz macht deutlich, dass Steiners Ideenwelt – entgegen einem weit verbreiteten Vorurteil – nicht als in sich geschlossenes philosophisches oder weltanschauliches Gedankensystem angemessen zu begreifen ist, sondern eher als Anleitung für gänzlich individuelle Wege einer spirituell orientierten Selbst- und Welterkenntnis verstanden werden sollte. Er geht von dem alten Gedanken aus, dass in jedem Menschen, ebenso wie im Kosmos als ganzem, «Geist» zu finden sei: eine Überzeugung, von der bis in die frühe Neuzeit hinein alle Kulturen der Menschheitsgeschichte getragen und erleuchtet waren, die vom materialistischen Positivismus des 19. Jahrhunderts vorübergehend verdunkelt war, aber inzwischen wieder neu entdeckt wird. Wer sich darauf einzulassen vermag, wird die grundlegenden anthroposophischen Werke Steiners als Wegweisungen zu eigener Erfahrung lesen können. Auf Selbsttätigkeit kommt es dabei an, nicht auf definierbare Weisheit.

Dabei geht es keineswegs nur um theoretische Gedankenwege. Jeder Mensch weiß, dass er manche wesentliche Einsicht nicht einer gedanklichen Belehrung, sondern unerwarteten Schicksalsereignissen verdankt, die ihm das Leben oft in drastischer Form, oft auch fast unmerklich und erst mit der Zeit spürbar entgegengetragen hat. Von solchen Erfahrungen kann man sich überfallen lassen; man kann sie aber auch durch eine entsprechend orientierte Lebensführung bewusst suchen. Alle Kulturkreise haben Schulungsanweisungen für eine solche Lebensführung gekannt. Bei uns sind seit einiger Zeit die Methoden Indiens und des Fernen Ostens besonders im Gespräch. Doch auch den Überlieferungen der antiken Mysterienschulen und der Meditationspraxis des christlichen Abendlandes wird Interesse entgegengebracht. Steiners Anthroposophie knüpft – bei aller Eigenständigkeit – an diese traditionellen Wege an. Sie hat mit ihnen gemeinsam, dass sie einen Erkenntnisfortschritt nicht so sehr von einer Erweiterung des unmittelbaren Wissens erwartet als vielmehr von einer umfassenden Selbsterziehung des Erkenntnissuchers. Für eine solche Selbsterziehung stellt sie zeitgemäße, der gegenwärtigen Bewusstseinslage unseres Kulturkreises angemessene Methoden bereit, und das anthroposophische Schrifttum ist ein Hilfsmittel für die individuelle Realisierung dieser Methoden. Steiners Hinweise und Anregungen auf den verschiedensten Erkenntnisfeldern, darunter dem der Pädagogik, sind keine Lehrsätze oder Dogmen, auch wenn sie gelegentlich wie solche vorgebracht werden. Sie lassen sich nur als Wegzeichen auf dem schwierigen Pfade der persönlichen Lebensgestaltung, für die verbalisiertes Wissen nur ein vorläufig benutztes Werkzeug und nicht Selbstzweck sein kann, angemessen begreifen.

Um die Ausbildung neuer Erfahrungsfähigkeiten geht es Steiner auch im Bereich des künstlerischen Schaffens. Wir können den faszinierenden Vorgang seines Forschens nach den Elementen der Gestaltungsvorgänge einer jeden Kunst, der etwa gleichzeitig mit den Versuchen des Blauen Reiters und des Bauhauses einsetzt und in der Vollendung des ersten Goetheanum-Baues seinen deutlichsten Ausdruck findet, mithilfe einer Reihe guter Publikationen inzwischen weitgehend überschauen. Die Erlebnisberichte der Dornacher Künstler und was an Skizzen, Modellen und anderen Erinnerungsstücken aus einer turbulenten Aufbauzeit im Umkreis des Goetheanums, des Zentralbaus der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft in Dornach bei Basel, studiert werden kann, machen zusammen mit diesen Darstellungen erst jetzt den ganzen Umfang der künstlerischen Genialität des Begründers der Waldorfpädagogik sichtbar. Die Waldorfschulen haben für die Gestaltung ihrer Bauten, für die Methodik der musischen Fächer, für ihre therapeutischen Bemühungen, aber auch für den theoretischen Unterricht und ihren gesamten Lebensstil viel aus dieser Quelle geschöpft, und die pädagogische Assimilation der von Steiner gefundenen Möglichkeiten künstlerischen Gestaltens hat erst begonnen.

Wiederum Ähnliches ließe sich für Steiners Entdeckungen auf dem Gebiet des sozialen Lebens sagen. Die «Dreigliederung des sozialen Organismus», für die er gegen Ende des Ersten Weltkrieges eintrat und als deren erste greifbare Wirkung sich die Waldorfpädagogik verstehen darf, ist keine Utopie, keine fertige Konstruktion, nach der die Einrichtungen des sozialen Lebens im Voraus fixiert wären; sie ist wie jede andere anthroposophische Methode ein «Erkenntnisweg», der den Einzelnen befähigen soll, die besonderen Gegebenheiten seines Lebenskreises unbefangen wahrzunehmen und entsprechend seiner frei gewonnenen Erfahrung auf eine Änderung der bestehen den Verhältnisse hinzuwirken. Wenn die Waldorfschulen sich immer deutlicher als kooperative Schulen und als Keimzellen eines befreiten Kultur- und Geisteslebens erweisen, so verdanken sie die Möglichkeit dazu der anthroposophischen Soziallehre.

Erziehen als Kunst

Wenn Steiner von der «Kunst des Erziehens» redet, so meint er nicht den verschwommenen Begriff, der die Tätigkeit des gediegenen Handwerkers oder ein freies, musisch getöntes Schöpfertum zum Inhalt hat, sondern eine sehr bestimmte, in seiner Weltanschauung tief verankerte Schlüsselidee, um die er sein Leben lang in immer neuen Versuchen gerungen hat.

Noch unter dem Einfluss seines Lehrers, des Goetheforschers Karl Julius Schröer, hält er im Jahre 1888 im Wiener Goethe-Verein einen Vortrag über «Goethe als Vater einer neuen Ästhetik».7 Kerngedanke dieses frühen Versuchs ist die in Anknüpfung an Friedrich Schillers «Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen »vorgetragene Meinung, weder in einer bloßen Nachahmung der Natur noch im Verkörpern eines Geistigen, Übersinnlichen könne das Ziel wahrer Kunst liegen, sondern allein im«Umgestalten des Sinnlich-Tatsächlichen».

«Das Wirkliche soll nicht zum Ausdrucksmittel herabsinken: nein, es soll in seiner vollen Selbstständigkeit bestehen bleiben; nur soll es eine neue Gestalt bekommen, eine Gestalt, in der es uns befriedigt. Indem wir irgendein Einzelwesen aus dem Kreise seiner Umgebung herausheben und es in dieser gesonderten Stellung vor unser Auge stellen, wird uns daran sogleich vieles unbegreiflich erscheinen. Wir können es mit dem Begriffe, mit der Idee, die wir ihm notwendig zugrunde legen müssen, nicht in Einklang bringen. Seine Bildung in der Wirklichkeit ist eben nicht nur die Folge seiner eigenen Gesetzlichkeit, sondern es ist die angrenzende Wirklichkeit unmittelbar mitbestimmend. Hätte das Ding sich unabhängig und frei, unbeeinflusst von anderen Dingen entwickeln können, dann nur lebte es seine eigene Idee dar. Diese dem Dinge zugrunde liegende, aber in der Wirklichkeit in freier Entfaltung gestörte Idee muss der Künstler ergreifen und sie zur Entwickelung bringen. Er muss in dem Objekte den Punkt finden, aus dem sich ein Gegenstand in seiner vollkommensten Gestalt entwickeln lässt, in der er sich aber in der Natur selbst nicht entwickeln kann.»8

Damit ist in keimhafter Allgemeinheit auch schon der Ansatz der anthroposophischen Erziehungskunst bezeichnet. Es geht nicht darum, empirisch oder spekulativ gewonnene Grundsätze irgendwelcher Art im Erziehungsgeschehen «anzuwenden». Jeweils ganz neu, aus dem lebendigen Miteinander der Erzieherpersönlichkeit und ihrer Zöglinge in einmaligen, unwiederholbaren Situationen soll mit schöpferischer Beobachtungsgabe pädagogisch gestaltet werden, wie es die Besonderheit der beteiligten Individualitäten und ihrer Lebensverhältnisse verlangt. Ebenso wenig – diesen Vergleich gebraucht Steiner des Öfteren – wie man durch das Studium eines Ästhetikbuches Maler werden kann, wird man durch bloße Wissenschaft zum Erzieher.

Nun hat aber Steiner in seinen anthroposophischen Schriften und Vorträgen eine Fülle von Aussagen über die menschliche Natur, über die Entwicklung des Kindes, über soziale Verhältnisse zwischen Menschen und die daraus abzuleitenden pädagogischen Konsequenzen vorgebracht 9Mein Lebensgangseelischen Erleben10