BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige E-Book-Ausgabe
der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
© 2015 by Bastei Lübbe AG, Köln
Verlagsleiter Romanhefte: Dr. Florian Marzin
Verantwortlich für den Inhalt
Titelbild: Manuel Prieto/Norma
E-Book-Produktion:
César Satz & Grafik GmbH, Köln
ISBN 978-3-7325-2502-7
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
www.bastei.de
Jagd ohne Gnade
1
Wir saßen mit unserer Mom beim Abendbrot, als unser Bruder Vance nach drei Tagen und drei Nächten aus der Stadt heimkehrte, sich grinsend zu uns an den langen Tisch setzte und aus den Schüsseln und Pfannen seinen Teller zu füllen begann. Denn unsere Mom kochte gut. Und weil wir alle hervorragende Jäger waren, mangelte es uns nie an Wild.
Wir lebten zufrieden in den Tälern von Tennessee. Und unser Geld verdienten wir mit unserem guten Whiskey, den wir nach den Rezepten unserer Vorfahren in Schottland brannten an einem Ort, den selbst die feinsten Nasen der Steuereintreiber – wenn diese sich überhaupt mal in unsere Täler wagten – nicht wittern konnten.
Nun, unser Bruder Vance grinste also, und noch bevor er zu essen begann, fragte Bruder Hoab ihn: »Warum grinst du so wie ein Wolf, der die Gans vernaschte?«
Wir beiden anderen Brüder und auch unsere Mom Sue hielten inne beim Essen, denn auch wir waren neugierig auf Vances Antwort.
Er ließ ein glucksendes Lachen hören und sagte dann: »Angus Hooker will heiraten. Er will eine gewisse Sally Ballard heiraten, die ich aus dem Krieg kenne. Wenn ich ihr sagen würde, sie soll diesen Angus lieber nicht heiraten, dann würde sie auf mich hören. Die könnte ich ihm vor dem Altar noch wegholen, eine Sekunde bevor sie das ›Ja‹ sagen würde. Hahaha, das wäre ein Spaß, nicht wahr, ihr lieben Brüderchen, ein richtiger Walker-Spaß!«
Nun, mit Walker, da meinte er uns. Denn Walker, so hießen wir.
Man nannte uns auch die »Wilden Walkers«.
Und dann gab es auch noch die »Wilden Hookers«.
Unsere Feindschaft entstand damals vor dem Krieg, als unsere Väter sich gegenseitig aus den Tälern zu vertreiben versuchten. Wir – ihre Söhne – waren damals noch zu jung, um mitkämpfen zu können. Und so ging der Streit um das Land schließlich unentschieden aus.
Die Hookers und wir Walkers steckten sozusagen unsere Grenzen ab und respektierten sie, weil wir genau wussten, dass wir uns gegenseitig vernichten würden, wenn wir gegeneinander einen Krieg beginnen sollten.
Denn wir waren gewiss gleich stark.
Aber dann begann der Krieg. Ich meine den Bruderkrieg zwischen Nord- und Südstaaten. Die Hookers und auch wir Walkers gingen zur Armee, die Hookers zur Unions-Armee, wir zu den Rebellen des Südens.
Nach dem Krieg kamen die Hookers als Sieger heim, wir Walkers als Verlierer.
Und in Bluegrasville – das war die Countystadt in unserem Land – trafen sich dann unsere Väter zufällig in einem Saloon.
Jack Hooker verhöhnte unseren Vater, weil er ja zu den Verlierern gehörte, denen die glorreiche Unions-Armee die Ohren lang gezogen hatte.
Und unser Vater erwiderte, dass Hooker ja wohl ein Hurenname sei, denn »Hookers« hießen ja wohl überall die Huren zwischen der Ost- und Westküste und zwischen der Süd- und Nordgrenze.1)
Nun hatte unser Vater zwar die Wahrheit gesagt, aber Jack Hooker zog seinen Revolver und schoss. Und bevor unser Vater starb, schoss er noch Jack Hooker von den Beinen.
Fast wäre es damals schon zum Krieg zwischen uns Söhnen gekommen, doch wir alle waren noch nicht vollzählig daheim, und als wir das endlich waren, da waren auf beiden Seiten einige von uns krank und elend und mussten erst wieder gesund werden.
Und überdies übten unsere Mütter großen Einfluss auf uns aus, obwohl sie sich gegenseitig hassten, weil sie ja ihre Männer verloren hatten und die Schuld daran jeweils der anderen Seite gaben.
Wir sahen auf unsere Mom.
Würde sie uns auch jetzt wieder sagen, dass wir keinen Streit anfangen sollten? Unsere Mom Sue Walker war immer noch eine Frau, die sich anzusehen lohnte. Sie hatte schwarze Augen, die einst zu ihrem weizengelben Haar einen wunderschönen Kontrast bildeten. Jetzt war ihr Haar weiß geworden. Und in ihrem Gesicht waren nun auch viele Linien, besonders um die Mundwinkel und die Augen.
Aber wenn sie sich bewegte und ging, da wirkte sie noch wie ein junges Mädchen und ließ erkennen, wie wunderschön sie einmal war.
Jetzt dachte sie nach, ließ ihren Blick von einem Sohn zum anderen wandern.
Ja, da war Vance. Er war unser ältester Bruder, wild verwegen, indianerhaft. Dass er den Krieg überstanden hatte, war wie ein Wunder, denn er hatte sich stets gemeldet, wenn man Freiwillige für ein Todeskommando suchte. Aber er war immer wieder davongekommen. Dreimal war er wegen außergewöhnlicher Tapferkeit und besonders verwegener Leistungen befördert worden und als Captain in Gefangenschaft geraten.
Unser zweitältester Bruder war Hoab. Er war ein ruhiger und bedächtig wirkender Typ, solange er nicht gereizt und wütend wurde. Dann war er so gefährlich wie ein Grizzly.
Der drittälteste von uns Walker-Brüdern war Kevin. Er sah aus wie ein blonder, blauäugiger Gott, der sich auf die Eide verirrt hatte. Erst wenn man in seine Augen sah, begann man zu ahnen, wie hart er war, wenn es ums Kämpfen und Durchhalten ging.
Ich wusste besser als alle anderen Brüder, wie zäh und hart er war. Denn mich hatte er einst im Krieg mehr als dreißig Meilen durch feindliches Gebiet geschleppt, als ich böse angeschossen war und fast kein Blut mehr in mir hatte – dreißig Meilen in zwei Nächten. Denn am Tag mussten wir uns verstecken.
So war Kevin.
Ich war der jüngste Walker. Mein Name ist Timothy, aber man nannte mich einfach Tim. Von unserer Mom wusste ich, dass ich unserem Vater am meisten nachgeraten war.
Nun, Mom sah uns alle der Reihe nach prüfend an. Dann senkte sie ihren Blick und starrte auf ihren Teller nieder, stocherte mit der Gabel im Essen herum, so als hätte sie plötzlich Widerwillen, auch nur noch einen einzigen Bissen zu sich zu nehmen.
Dann aber blickte sie wieder auf, und nun sahen wir die Bitterkeit in ihrem Blick. »Jungs«, begann sie, machte eine Pause und presste für einen Moment ihre sonst so vollen Lippen zusammen, sodass ihr Mund der Narbe eines Messerschnitts glich.
Dann begann sie noch einmal: »Jungs …« Aber nun sprach sie nach einem einzigen Atemzug weiter: »… eins sollte euch klar sein. Wenn ihr mit den Hookers eine Fehde beginnt – ich meine, wenn ihr ihnen einen Grund gebt, sich von euch herausgefordert zu fühlen –, dann wird dies gegenseitig eine Jagd ohne Gnade. – Lea Hooker und ich, wir konnten euch, unsere Söhne, bisher davon abhalten, die Fehde eurer Väter fortzusetzen. Aber ich sehe voraus, dass es früher oder später zu einem Ausbruch der Gewalt kommen wird. Und so habe ich beschlossen, dass wir von hier fortgehen. Wir gehen nach Westen, suchen uns jenseits des Mississippi eine neue Heimat, weit weg von den Hookers. Es ist ja nicht viel, was wir hier aufgeben. Da ihr alle im Krieg gewesen seid und ich hier allein lebte, gab es hier keinen Aufbau und Fortschritt. Im Gegenteil, ich vermochte allein nicht mal das wenige zu erhalten. Wir laden morgen alles auf unsere beiden Wagen und brechen nach Westen auf. Basta!«
Als sie verstummte, da war für uns klar, dass sie keinen Widerspruch dulden würde.
Und wir fühlten uns ihr gegenüber zu schuldig, um ihr jetzt zu widersprechen. Ja, wir waren damals in den Krieg gezogen und hatten sie allein gelassen. Und auch als wir dann heimgekommen waren, hatten wir noch nichts in Gang gebracht.
Nur Whiskey hatten wir gebrannt. Dies schien uns die leichteste Art zu sein, Dollars zu verdienen.
Selbst als wir dann wieder gesund waren und zu Kräften kamen, änderten wir unsere Lebensweise nicht.
Dabei hätte unsere Mom es verdient, dass wir ihr ein schönes Heim schafften.
Nun wollte sie fort mit uns zu einem neuen Anfang. Sie wollte uns aus der Gefahrenzone bringen. Ja, so musste man das wohl sehen.
Aus Verlierern – denn als solche kamen wir aus dem Krieg und der Gefangenschaft heim – wollte sie uns wieder zu Gewinnern machen.
Dazu gehörte, dass wir erst einmal aus der Nachbarschaft der Hookers fortkamen.
Sie sah uns wieder der Reihe nach an.
»Wir packen gleich nach dem Essen«, sagte sie. »Viel besitzen wir ja nicht, was sich zum Mitnehmen lohnt.«
»Nur zwei Dutzend Fässchen Whiskey«, grinste Vance, »die immerhin eine Menge Dollars wert sind, dort im Westen.«
Aber sie strafte ihn nur mit einem bitteren Blick.
Vor Mitternacht waren wir fertig mit dem Beladen unserer beiden Wagen. Bei Tagesanbruch brauchten wir nur noch anzuspannen und loszufahren.
»Wir werden diese jämmerlichen Hütten anzünden«, sagte Mom. »Aber erst schlafen wir noch ein paar Stunden. Ich wecke euch bei Tagesanbruch.«
Und so legten wir uns zur Ruhe in unseren Hütten. Irgendwann wurde ich wach und begriff, dass Mom mich an der Schulter rüttelte. Draußen war der graue Morgen.
Die Blockhütte, in der ich auf meinem Lager lag, teilte ich mit Vance.
Als Mom fragte: »Wo ist Vance?«, da sah ich hinüber zum anderen Bett, das eigentlich nur aus einem Kasten und einem Strohsack bestand.
Es war leer. Vance war fort.
»Ich weiß nicht, Mom«, erwiderte ich gähnend.
Sie stieß einen katzenhaft fauchenden Laut aus, und das tat sie nur, wenn sie wirklich wütend war.
Und dann sprach sie zornig: »Wenn du noch Hirn in deinem Kopfe haben solltest, Timothy, dann denke mal damit nach.«
Sie sagte immer Timothy zu mir, niemals Tim wie alle anderen.
Ich aber setzte mich auf und begann nachzudenken.
Dabei stellte ich mir unseren Vance vor, sah ihn gewissermaßen bildhaft vor mir, verwegen und indianerhaft, wie er war. Dass Mom gestern beschlossen hatte, mit uns das Land zu verlassen und vor den Hookers sozusagen das Feld zu räumen, hatte ein Mann wie Vance gewiss als Niederlage und Kapitulation empfunden.
Ich erinnerte mich wieder an gestern, wie er verspätet zum Abendbrot kam und uns dann sagte, dass er diesem Angus Hooker die Braut noch vor dem Altar wegholen könne.
Und plötzlich wusste ich, dass er genau dies versuchen wollte.
Ja, dies war seine Art, aus einer Niederlage einen Sieg zu machen.
Ich war plötzlich hellwach und sprang aus dem Bett.
Mom sagte: »Also holt ihn zurück, bevor es zu spät ist. Kommt uns nach, denn wir fahren in spätestens einer Stunde los.«
Sie ging hinaus, um Hoab und Kevin zu wecken und dann hier zum letzten Male für uns das Frühstück zu machen.
Bald würde unser Anwesen hier in Flammen aufgehen. Ja, Mom brach alles hier ab wie eine Brücke, die zum anderen Ufer führte und dann nicht mehr benötigt wurde.
Ich aber war wenige Minuten später auf meinem Pferd unterwegs.
Es war ein weiter Weg bis zu unserer Countystadt. Nur dort konnte man in einer Kirche vor einem Altar getraut werden. Ich nahm zwar einige Abkürzungen durch die Hügel, doch ich wusste, es war sehr leicht möglich, dass ich um Minuten zu spät kommen konnte – vielleicht sogar nur um Sekunden. Denn wenn Sally Ballard Angus Hooker erst einmal das Jawort verweigert hatte, weil Vance dies so wollte, dann war alles zu spät.
Ich ritt also wie der Teufel, doch die Sonne kam hoch, und es wurde ein schöner Morgen und dann ein früher Vormittag, bis ich endlich die Häuser und den Kirchturm von Bluegrasville – so hieß unsere Countystadt – in der Ferne erkennen konnte.
Ich schlug einen Bogen, um von der Seite her durch eine der Quergassen in die Stadt zu kommen. Ich hielt dies instinktiv für besser. Und wahrscheinlich war auch mein Bruder Vance so in die Stadt hineingeritten.
Vom Kirchturm läutete die Glocke.
Ich schwitzte nicht nur vom rauen Reiten. Irgendwie fühlte ich, dass es nun um Minuten oder gar Sekunden ging. Endlich erreichte ich den Platz vor der Kirche.
Ja, da stand die geschmückte Hochzeitskutsche, standen auch viele andere noble Wagen, waren Sattelpferde angebunden. Da drinnen fand nicht der übliche Gottesdienst, sondern eine Hochzeit statt.
Und von meinem Bruder war hier draußen nichts zu sehen.
Vielleicht konnte ich ihn drinnen erwischen und von seiner Absicht abbringen?
Ich ließ vor der Treppe, die hinauf zum Eingang führte, einfach die Zügel meines Pferdes fallen und sprang die fünf Stufen hinauf, öffnete einen der beiden Flügel ein wenig und schob mich hinein.
Es dauerte eine Weile, bis meine Augen sich vom hellen Sonnenlicht an das Dämmerlicht des Kircheninnern gewöhnt hatten. Ich konnte es kaum erwarten, versuchte fieberhaft, irgendwo meinen Bruder zu erkennen. Die Kirche war gut gefüllt, denn es war Sonntag. Zuvor war der sonntägliche Gottesdienst gewesen. Nun sollte die Trauung stattfinden – nein, sie fand schon statt.
Denn ich hörte jetzt nicht nur die Stimme des Predigers, sondern verstand auch seine Worte.
Er sagte in diesem Moment: »… sind wir hier versammelt, um mitzuerleben, wie Miss Sally Ballard und Mister Angus Hooker den Bund der Ehe schließen. Und so frage ich, weil das so üblich ist in unserem Lande –, ob jemand einen Grund vorbringen kann, der dieser Eheschließung entgegensteht? Wer es auch sein mag, er möge sich jetzt zu Wort melden.«
Einen Moment war es still.
Und sie alle wussten, dass diese Frage mehr oder weniger nur eine Formsache war und zum Ritual gehörte.
Aber dann tönte in die Stille die Stimme meines Bruders. Ja, es war ohne Zweifel Vances Stimme. Ich sah ihn nun auch endlich. Denn inzwischen hatten sich meine Augen an das Dämmerlicht gewöhnt, welches hier in der Kirche herrschte.
Er musste von der Seite her durch die kleine Pforte hereingekommen sein. Wahrscheinlich wusste er, dass diese schmale Tür stets offen war für den Küster.
Ich hörte Vance laut und klar sagen: »Ich bin dagegen!«
Nun raunten sie durcheinander, und fast alle wussten über die Feindschaft der Hookers und der Walkers Bescheid.
Bevor der Prediger sich von seiner Überraschung erholt hatte und Fragen stellen konnte, tönte Vances Stimme noch lauter und präziser. Er sagte: »Sally, sieh mich an! Ich bin es, ich, Vance Walker. Und ich sage dir, dieser Angus Hooker ist nicht gut genug für dich. Komm mit mir! Lass ihn einfach stehen! Du hast einen besseren Mann verdient. Komm, Sally, mein Engel, komm!«
Erst bei seinem letzten Satz klang seine Stimme weicher, wärmer.
Und nun war es so still in der Kirche, dass man die Atemzüge der Menschen hören und das Knistern im Gebälk vernehmen konnte.
Dann tönte Angus Hookers böser Fluch.
Aber der Prediger rief: »Nicht im Gotteshaus, nicht in unserer Kirche!«
Was konnte ich jetzt noch tun? Es war geschehen. Ich war zu spät gekommen. Jetzt konnte ich nur noch meinem Bruder beistehen, wenn die Hookers auf ihn loszugehen versuchten.
Und Letzteres war so sicher wie Blitze beim Gewitter.
Oder würde diese Sally Ballard gar nicht tun, was Vance von ihr erwartete, nämlich Angus Hooker einfach stehen lassen und mit Vance gehen?
Ja, das war noch meine Hoffnung.
Sie wirkte im Kerzenlicht erschrocken, völlig überrascht, verharrte einige Atemzüge wie erstarrt, plötzlich zu Stein geworden.
Dann aber rief sie – und es klang fast wie ein Jubeln – laut durch die Kirche: »Vance, Vance Walker! Bist du das wirklich? Lebst du noch? Bist du kein Geist?«
»Komm endlich, Sally«, erwiderte er. »Ich sagte dir doch soeben, dass ein Hooker nicht gut genug ist für dich. Komm her, Sally! Ich bin es wirklich!«
Ja, da stand er, dieser Vance.
Und er trug seinen Colt.
Niemand sonst trug hier in der Kirche jetzt einen Colt außer Vance und mir.
Die Hookers waren unbewaffnet zur Hochzeit gekommen, auch alle anderen Gäste und Gottesdienstteilnehmer.
Sally Ballard bewegte sich plötzlich. Sie wandte sich an Angus Hooker. Wir alle hörten sie sagen: »Angus Hooker, ich kann jetzt nicht mehr deine Frau werden. Bisher glaubte ich, Vance Walker wäre tot, gefallen im Krieg. Aber er lebt. Und wenn er will, dass ich mit ihm gehe, dann tue ich das. Verzeih mir, Angus Hooker. Aber …«
Sie wandte sich ab und lief am Altar vorbei den Gang entlang zu Vance.
Der nahm sie bei der Hand und verschwand mit ihr schon nach wenigen Schritten durch die kleine Seitentür.
Angus Hooker stand bewegungslos da, wie wenn ihm jemand etwas auf den Kopf geschlagen hätte und er dies erst überwinden musste.
Von den Kirchenbänken aber erhoben sich seine Brüder – und auch seine Mutter, dazu noch einige Freunde der Hookers.
Sie bildeten vor dem Altar eine Gruppe um ihn, und es war klar, dass sie nur auf seine Befehle warteten.
Ich aber wandte mich und glitt wieder hinaus ins Freie. Und mir war so mulmig in der Magengegend wie noch nie zuvor in meinem ganzen Leben.
Verdammt, was hatte Vance uns da eingebrockt?
2
Diese Sally Ballard musste entweder total verrückt oder unbeschreiblich dumm sein. Sonst wäre sie meinem Bruder Vance nicht gefolgt wie eine hypnotisierte Gans. O verdammt, was war da in der Kirche in ihr vorgegangen? Und wer kannte sich mit Frauen aus? Ich gewiss nicht, obwohl ich es stets leicht hatte, scheinbar unnahbare Schöne zu bekommen.
Aber verstehen konnte ich sie manchmal nicht. Diese Süßen waren zu jeder Überraschung fähig. Ein Mann vermochte gar nicht so zu denken und zu fühlen wie sie.
Deshalb versuchte ich auch nicht, Sally Ballard irgendwie zu begreifen.
Ich jagte mein Pferd aus der Stadt, und als ich die letzten Häuser hinter mir hatte, da sah ich das Paar vor mir.
Wenigstens hatte mein Bruder Vance zuvor ein zweites Pferd besorgt, sodass sie nicht auf seinem Tier mitreiten musste.
Sie ritten schnell. Diese Sally Ballard konnte reiten wie ein Cowgirl. Aber es sah dennoch sehr merkwürdig aus, denn sie trug ja noch ihr weißes Brautkleid. Allerdings hatte sie Schleier und Hut längst weggeworfen. Da sie im Herrensitz ritt, musste sie die vielen Röcke hochraffen, sodass es so schien, als hockte sie nicht im Sattel, sondern säße auf einer weißen Wolke.
Ihr Haar hatte sich aufgelöst. Es war rotgoldenes Haar. Es flatterte hinter ihr wie eine rote Fahne.
Als mein Bruder sich wieder einmal umsah, da entdeckte er mich, weil ich in diesem Moment zwischen den letzten Häusern und Hütten hervorkam und vom Wagenweg zu ihnen auf den schmalen Pfad hinüberritt, dem sie in die nahen Hügel folgten.
Vance stieß einen wilden und triumphierenden Schrei aus. Es war der alte Rebellenschrei, den wir während des Krieges hören ließen, wenn wir die Blaubäuche der Unionsarmee angriffen.
Ich erwiderte diesen Schrei. Ja, ich konnte nicht anders. Denn jetzt waren wir zuerst einmal nur die Walker-Brüder, mochte Vance noch so großen Mist gemacht haben. Jetzt mussten wir erst einmal zusammenhalten.
Eins war nämlich so sicher wie das Amen in der Kirche: Wenn die Hookers meinen Bruder erwischten, dann machten sie ihn alle. Und das konnte ich nicht zulassen.
Ich blieb etwa hundert Yard hinter Vance und Sally, aber als diese vor mir durch eine Hügellücke ritten, da blieb ich nicht auf ihrer Fährte und dem schmalen Pfad, sondern trieb mein Pferd den Hang zu meiner Rechten hinauf, erreichte eine Hügelterrasse und folgte ihr, sodass ich jetzt über dem flüchtenden Paar ritt in gleicher Richtung.
Ich kannte mich ja aus in diesem Land. Wir alle waren hier geboren und hatten all die vielen Jahre hier gejagt, zuerst als Knaben mit unserem Vater, dann als junge Burschen und schließlich als Männer.
Aus der Hügellücke wurde nun eine Schlucht, die sich nach einer Viertelmeile zu einem Tal weitete. Ich ritt rechts herum und hatte bald die Stelle erreicht, die mir am besten geeignet erschien, um meinem Bruder beistehen zu können.
Ich saß ab, ließ die Zügelenden meines Pferdes zu Boden fallen und zog das Gewehr aus dem Sattelschuh. Es war nicht irgendein Gewehr, sondern ein Remington-Rollblock-Gewehr. Dieses Gewehr wurde während des Krieges berühmt, und im Jahre 1867 – also zwei Jahre nach dem Sezessionskrieg wurde es in Paris als beste Büchse der Welt prämiert.
Solch ein Ding besaß ich also. Ich hatte es einem Blaubauch-Major weggenommen und gut versteckt, bevor ich in Gefangenschaft kam. Nach meiner Entlassung holte ich es mir.
Ich konnte damit auf dreihundert Yard noch ein galoppierendes Pferd treffen.
Und genau das hatte ich vor.
Ich musste nicht lange warten, dann sah ich die vier Hooker-Brüder kommen. In ihren Sonntagsanzügen ritten sie wie die Teufel. Inzwischen waren sie auch bewaffnet. Wenn ich sie reiten ließ, würden sie meinen Bruder mit Sally gewiss einholen. Denn obwohl diese Sally prächtig ritt, konnte sie auf die Dauer nicht mit diesen Hookers um die Wette reiten, zumal diese ihre Tiere gnadenlos vorwärtstrieben und Sallys Tier aus dem Mietstall gewiss sehr viel schlechter war.