Kathrin Lange
40 Stunden
Thriller
Kathrin Lange
40 Stunden
Thriller
1. Auflage
Originalausgabe Februar 2014 bei Blanvalet, einem Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH, München.
Copyright © 2014 by Verlagsgruppe Random House GmbH, München
Umschlaggestaltung: © Johannes Wiebel | punchdesign
HJ ∙ Herstellung: sam
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
ISBN: 978-3-641-11124-3
www.blanvalet.de
Prolog
Dunkelheit. Wie ein Tuch hüllt sie ihn ein, umschlingt seinen Oberkörper, seine Hüften, Beine und Arme. Er glaubt sogar, sie auf der nackten Haut zu spüren.
Nackte Haut?
Der Gedanke rüttelt an den Grundfesten seines Verstandes. Warum ist er nackt? Diese Frage schneidet durch die Finsternis in seinem Geist und zieht andere nach sich. Seine Arme. Warum kann er sie nicht bewegen? Und warum reagieren die Muskeln an seinen Seiten mit einem Beben, wenn er es versucht? Etwas drückt von unten gegen seine Fußsohlen. Rau fühlt es sich an, wie grob bearbeitetes Holz. Feine Splitter bohren sich in sein Fleisch.
Er hat keine Schmerzen.
Das Zittern seiner Muskeln, die Splitter in der Haut – es sind nur vage Eindrücke. Jede Empfindung ist so zweidimensional wie ein Schattentheater.
Er beendet die zwecklosen Versuche, sich zu rühren, und konzentriert sich stattdessen auf seine Augenlider. Er ist sicher, sie angehoben zu haben, aber die Finsternis will nicht weichen. Also kneift er die Lider zusammen. Und öffnet sie wieder. Seine Wimpern sind verklebt, doch er schafft es, sie voneinander zu lösen. Die Dunkelheit ist nicht fort, aber nun schimmert ein schwaches Licht in ihr auf. Ein Funke am Ende des Tunnels. Ein verschwommenes Rechteck aus Grau.
Wo bin ich?
Diese Frage irrlichtert durch seinen Geist, versinkt jedoch gleich wieder in den Tiefen seiner Verwirrung.
Er blinzelt. Einmal. Irgendetwas läuft ihm in die Augen. Er blinzelt nochmals. Seine Augäpfel fühlen sich in ihren Höhlen an wie Steine. Beim dritten Blinzeln erkennt er, dass das graue Rechteck vor ihm eine offenstehende Tür ist. Gleichzeitig setzt auch sein Gleichgewichtssinn ein. Aber das, was er nun empfindet, widerspricht allem, was er erwartet hat. Er ist doch aus einer Ohnmacht erwacht, oder nicht? Warum liegt er dann nicht, wie es normal gewesen wäre? Er befindet sich in der Senkrechten. Noch kann sein Verstand ihm keine Erklärung dafür geben.
Also wartet er.
Sein Schädel fühlt sich an, als sei er mit Watte gefüllt, trotzdem schälen sich langsam weitere Wahrnehmungen heraus. Ein stetiges Piepsen. Ein regelmäßiger Rhythmus. Er hebt den Kopf, der ihm nach vorne auf die Brust gesunken ist. Und auf einmal kommen die Schmerzen.
Zuerst sind sie dumpf und fern. Ein gleichmäßiges Brennen in Händen und Füßen, das mit nichts vergleichbar ist, was er je zuvor erlitten hat.
Ein Zittern rinnt durch seinen Körper. Ein Schluchzen hängt in seiner Kehle, als er endlich zu begreifen beginnt, was geschehen ist. Noch einmal blinzelt er. Kneift die Augen diesmal so fest zusammen, wie es geht. Reißt sie wieder auf. Und dann klärt sich sein Blick: Vor ihm ist eine Wand. Graue Fliesen, offenbar uralt. Die offene Tür. Fahles Licht strömt herein, doch er kann nicht erkennen, was sich dahinter befindet.
Er wendet den Kopf nach rechts, schaut an seinem eigenen ausgestreckten Arm entlang. Etwas Rotes erscheint in seinem Blickfeld, und er hat keine Ahnung, was es sein mag. Dann erblickt er seine Hand. Verkrümmt ragt sie in die Luft, eine Klaue, jeder Muskel angespannt.
Das Zittern seines Körpers wird stärker.
Er blickt in die andere Richtung. Dieselbe grausige Szenerie: ein lang ausgestreckter Arm, dieses rote Ding, das er jetzt undeutlich als ein Seil erkennt, das seinen Oberarm umspannt. Die gekrümmten Finger, und in der Mitte der Handfläche wie ein Schmuckstück – das Eisengrau eines Gegenstandes. Nein!, will sein Verstand kreischen, doch er hindert ihn daran.
Er wirft den Kopf zurück. Sein Schädel stößt gegen etwas Hartes. Er schaut an sich hinunter. Sein Leib ist ebenso langgestreckt wie seine Arme. Sein erster Eindruck hat ihn nicht getrogen: Er ist tatsächlich fast nackt. Nur ein Tuch ist um seine Hüften geschlungen, mehr nicht. Eine Gänsehaut bedeckt seine bloße Brust, und rote Rinnsale laufen darüber. Helle Flecken tanzen vor seinen Augen, und er hält sie für Sinnestäuschungen. Und dann entdeckt er noch etwas.
Wie gebannt klebt sein Blick an einem dritten eisengrauen Ding. Jenem, das aus seinen übereinandergelegten Füßen ragt.
Das nervenzehrende Piepsen hallt in seinen Ohren wider. Ein Tropf hängt seitlich neben seinem Gesicht, der Schlauch kitzelt ihn an der Wange. Und nun begreift er auch, was das Piepsen zu bedeuten hat. Es kommt von einem Herzmonitor. Wenn er den Hals so weit wie möglich verrenkt, kann er ihn sehen. Die hellen Flecken auf seiner Brust! Sie sind keine Sinnestäuschung. Es sind die Elektroden, mit denen seine Herzfunktionen aufgezeichnet werden.
Er legt den Kopf zurück an das Holz.
Und endlich bahnt sich die alles entscheidende Erkenntnis ihren Weg durch die Nebel seines Verstandes. Die eisengrauen Dinger: Es sind Nägel.
Er öffnet den Mund.
Und lacht.
1. Teil – Stunde 1 bis Stunde 14
Vater, vergib ihnen,
denn sie wissen nicht, was sie tun.
(Lukas 23,34)
Kapitel 1
Faris Iskanders Augen brannten. Bleierne Müdigkeit hielt ihn in ihrem Griff, seit Monaten schon. Monate, in denen er nur noch stundenweise geschlafen hatte. Monate, in denen er jedes Mal, wenn er endlich zur Ruhe gefunden hatte, mit einem panischen Schrei aus dem immer gleichen Albtraum aufschreckte.
Das verzweifelte Weinen eines Kindes. Feuer, das ihn einhüllt …
Mit Daumen und Zeigefinger rieb er sich die Nasenwurzel. Seit Stunden schon stand er mit einem Porzellanbecher in der Hand am Schlafzimmerfenster und starrte in die düstere Nacht hinaus, die langsam einem ebenso finsteren Morgen wich. Im Hintergrund lief eine alte CD von Metallica. Aus Rücksicht auf die anderen Mieter des Hauses hatte er sie leise gedreht, trotzdem konnte Faris James Hetfield Ride the lightning singen hören. Er hatte den Titel auf Dauerschleife gestellt. Er schloss die Augen, riss sie aber sofort wieder auf, weil es sich anfühlte, als seien seine Lider aus Sandpapier. Die Sonne würde erst in knapp einer Stunde aufgehen. Außer Unterhose und T-Shirt trug er nichts weiter als das Lederarmband, das ihm Laura in einem gemeinsamen Urlaub in Ägypten geschenkt hatte und das er niemals ablegte. Die darin eingebrannten arabischen Schriftzeichen – Laura und Faris – waren kaum noch zu lesen, und das schien ihm ein passendes Bild für ihre Beziehung zu sein. Laura hatte ihn verlassen, gut zwei Jahre war das nun her. Selbst die Explosion, die Faris beinahe in Stücke gerissen hätte, hatte sie nicht zur Rückkehr bewegen können.
Flash before my eyes, sang Hetfield. Now it’s time to die.
In den vergangenen Tagen war es brütend heiß gewesen in der Stadt, fast wie im Hochsommer, aber am Abend zuvor war ein Gewitter über Berlin niedergegangen, und es hatte sich merklich abgekühlt. So sehr, dass Faris in der Nacht das Fenster geschlossen hatte, weil er fror. Jetzt spiegelte sich seine Gestalt in der Scheibe. Sein Gesicht war ein bleiches Oval, das geisterhaft in der Dunkelheit schwebte, umgeben von etwas zu langen schwarzen Haaren. Der V-Ausschnitt des T-Shirts enthüllte einen Teil der dunkelroten Brandnarbe, die seinen Brustkorb und den rechten Bizeps überzog. Er konnte den Blick nicht davon abwenden. Als es draußen zu dämmern begann, verblasste sein Umriss zunehmend. Er seufzte und wurde sich wieder des Bechers in seinen Händen bewusst. Mit einem müden Grinsen prostete er sich selbst zu, setzte das Gefäß an die Lippen und trank es bis zur Neige aus.
Bitter rann ihm die Flüssigkeit die Kehle hinunter, und er zog eine Grimasse.
In dem Metallica-Song erwachte der Protagonist aus seinem Albtraum, und Faris beneidete ihn dafür. Der Karton fiel ihm ein, der auf dem oberen Regalbrett seines Schrankes stand und der gewöhnlich seine Waffe enthielt. Er stieß Luft durch die Nase. Im Moment war dieser Karton leer, da man Faris kürzlich von seinem Dienst als Beamter des Landeskriminalamts suspendiert hatte.
Reiß dich zusammen!, mahnte er sich. Nichts war schlimmer als Menschen, die in Selbstmitleid versanken. Doch in diesen Stunden kurz vor Tagesanbruch war auch er nicht davor gefeit. Dann schlichen sich die Erinnerungen an ihn heran, um ihn zu quälen, und die Bilder und Geräusche, die er seit zehn Monaten in sich trug, ließen ihn nicht mehr zur Ruhe kommen. Das Weinen des Kindes. Eine Feuerwalze, die auf ihn zurollte. Dann Blut und Leichen. Leises Stöhnen. Verzweifelte Schreie …
Faris kniff die Augen zu und rieb sich die Stirn. Wieder einmal hatte er sich in seinen Grübeleien verloren. Draußen war es inzwischen vollständig hell geworden. Im Hintergrund lief immer noch Metallica. Drei Etagen unter ihm hatten die Berliner längst ihr Tagwerk begonnen, und wie gern hätte er es ihnen gleichgetan.
Er schaute in den leeren Becher und seufzte, dann wandte er sich vom Fenster ab, verließ das Schlafzimmer. Er durchquerte den winzigen Flur, ohne einen Blick in den Spiegel an der Garderobe zu werfen. Er wusste auch so, dass seine Augen den brennenden Ausdruck von einem Junkie auf Entzug hatten. Schlafmangel war auf Dauer schlimmer als jeder Cold Turkey. In der Küche trat er an die Arbeitsplatte und griff nach der Glaskanne, um sich Nachschub einzugießen. Der Kaffee schmorte seit Stunden auf der Warmhalteplatte vor sich hin und schmeckte mittlerweile wie Altöl. Egal! Wenigstens war er heiß.
Während Faris den nächsten Schluck trank, schnitt ein zirpendes Geräusch durch seine Gedanken. Im ersten Moment hatte er keine Ahnung, woher es kam, aber als es lauter wurde, erkannte er es. Es kam von dem neuen Smartphone, das er sich am Vortag gekauft hatte.
Faris warf einen missmutigen Blick auf die Kaffeemaschine. Dann schaltete er sie aus, stellte den Becher beiseite und machte sich auf die Suche nach dem Handy. Es befand sich nicht in seiner Lederjacke und auch nicht in der Jeans, die er am Abend zuvor achtlos auf den Sessel im Schlafzimmer geworfen hatte. Schließlich entdeckte er es unter dem aufgeschlagenen Roman von Haruki Murakami auf dem Nachttisch. Er angelte es hervor, starrte verdrossen auf das in rhythmischem Blau aufblinkende Display. Unbekannter Teilnehmer stand dort. Nachdem er sich gestern zwei Stunden lang damit herumgeärgert hatte, all die unnützen Funktionen des Gerätes zu begreifen, hatte er keine Lust mehr gehabt, seine wenigen Kontakte in den Speicher einzugeben. Aber selbst wenn er es getan hätte, hätte es ihm jetzt nichts genützt: Der Anrufer hatte seine Nummer unterdrückt.
Während Faris zurück ans Schlafzimmerfenster trat und einen Blick in sein inzwischen kaum noch zu erkennendes Spiegelbild in der Scheibe warf, nahm er das Gespräch an. »Iskander?«
»As-samu alaikum, Faris.« Die Stimme war elektronisch zu einem tiefen Dröhnen verzerrt.
In Faris’ Adern gefror das Blut.
2. Kapitel
As-samu alaikum.
Diese Worte hatte Faris zum letzten Mal vor zehn Monaten gehört, und nun katapultierten sie ihn schlagartig wieder zurück in die Vergangenheit. Auf einmal stand er nicht mehr in seinem Schlafzimmer, sondern in der Eingangshalle des Klersch-Museums. Die Blaulichter unzähliger Einsatzwagen zuckten über die Wände neben ihm. Sein Magen hatte sich verkrampft, und der Kopfhörer, den die Kollegen vom Kriminaltechnischen Institut, kurz KTI, ihm gegeben hatten, drückte hinter seinem Ohr. Vor ihm, auf der anderen Seite einer mit Ornamenten versehenen doppelflügeligen Tür, hinter der der Kidnapper sich mit seinen Geiseln verschanzt hatte, weinte ein Kind. Es war das leise, hoffnungslose Geräusch, das jemand ausstieß, der ahnte, dass er sterben würde.
»Eine Frage, Faris.« Faris hörte Verzweiflung, die in der Stimme des Geiselnehmers mitklang. »Ein Mann mit dunkler Haut, ein Gürtel, zehn Kilo Sprengstoff. Was ergibt das?«
In einem vergeblichen Versuch, die innere Anspannung unter Kontrolle zu halten, ballte Faris die Rechte zur Faust. Er musste ruhig klingen, das wusste er. Langsam befeuchtete er die Lippen mit der Zunge. »Lassen Sie uns reden«, sagte er. »Ich wurde in Alexandria geboren. Ich bin Muslim, wie Sie …«
Doch der Geiselnehmer unterbrach ihn mitten im Satz. »Falsche Antwort.« Der Klang der Stimme brachte etwas in Faris’ Brust zum Erzittern.
»Hören Sie …«, rief er.
Aber es war zu spät.
»As-samu alaikum, Faris Iskander«, sagte der Geiselnehmer.
Eine Sekunde darauf explodierte die Tür in einem Regen aus Holzsplittern, eine Feuerwalze rollte auf Faris zu und hüllte ihn ein …
Die Erinnerung an die Detonation und die unbarmherzigen Schmerzen, die darauf gefolgt waren, ließ Faris jetzt in seinem Schlafzimmer aufkeuchen.
Der Anrufer am anderen Ende der Leitung lachte, aufgrund der Verzerrung der Stimme hörte es sich an wie ein Rasseln. »Du erinnerst dich.«
Faris’ Herz hämmerte. Er schloss die Augen, atmete einmal tief ein. »Hören Sie …«, begann er, und ihm wurde kalt, als er bemerkte, dass dies auch die letzten Worte gewesen waren, die er damals zu dem Bombenattentäter gesagt hatte.
»Tz, tz«, machte der Anrufer abfällig. »Man könnte meinen, du hättest dazugelernt.«
Faris biss die Zähne zusammen. »Wer sind Sie?«
Die Reaktion des Anrufers kam mit einer leichten Verzögerung. »Hast du keine Idee?«
Die Explosion im Museum … Faris sah sich durch die Luft fliegen, gegen die Mauer prallen … Er war zu schwer verletzt gewesen, um sich wieder aufzurappeln, aber bevor er das Bewusstsein verlor, hatte er einen Blick durch die Öffnung geworfen, dorthin, wo kurz zuvor noch die Tür gewesen war. Rauch hatte ihm die Sicht verwehrt, und als die Männer des Sondereinsatzkommandos die Halle stürmten, hatte ihn die Kraft verlassen. Er war zusammengebrochen. Das Letzte, was er gesehen hatte, war ein abgerissener Finger mit rot lackiertem Nagel gewesen, der direkt vor ihm auf den geschwärzten Fliesen lag und auf ihn wies, als wollte er ihn anklagen …
Faris räusperte sich. Ruhig bleiben! Dieser unbekannte Anrufer konnte nicht der Bombenleger von damals sein. Das war unmöglich! »Die Kollegen von der Spurensicherung haben uns versichert, dass niemand eine derartige Explosion überleben kann«, murmelte er. Ben Schneider, einer der Experten vom KTI, hatte es drastischer ausgedrückt: »Das Schwein hat es in Stücke gerissen«, hatte er gesagt.
Der Mann lachte abermals.
Faris schluckte schwer. »Was wollen Sie?«
»Check deine Mails!«
Faris presste die Lippen zusammen und tippte auf den kleinen Bildschirm seines Smartphones. Er startete die entsprechende App, loggte sich bei seinem E-Mail-Provider ein, und eine Eingangsliste erschien. Nur eine einzige Mail war darin. Faris öffnete sie. Sie enthielt keine Nachricht, lediglich eine Datei war angehängt. Faris klickte sie an.
Ein Film begann zu laufen.
In den ersten drei, vier Sekunden war das Bild unscharf. Nichts außer einem Haufen verwaschener Flecken in Grau und Schwarz und ein wenig Grün und Blau. Schweres Atmen war zu hören, ein Geräusch wie ein unterdrücktes Schluchzen. Dann unverständliches Gemurmel. Im nächsten Moment wurde die Darstellung scharf.
Und Faris erstarrte.
Ein Mann war zu sehen. Er lag mit ausgebreiteten Armen auf einer kreuzförmigen Balkenkonstruktion. Das Bild zoomte auf sein bleiches Gesicht, das überströmt war von Blut, das unter einer Dornenkrone hervorquoll. Die Augen waren vor Entsetzen unnatürlich weit aufgerissen. Die Kamera schwenkte am Körper des Mannes hinunter, auf dessen Brust nun helle Kreise zu erkennen waren, die auf den ersten Blick völlig fehl am Platz wirkten. Beim zweiten Hinsehen begriff Faris jedoch, dass es sich um Elektroden handelte.
Das Bild zoomte wieder auf.
Ein weiterer Mann erschien in dem Bildausschnitt, aber während man den ersten deutlich erkennen konnte, wandte dieser hier der Kamera den Rücken zu. Die Kapuze eines Sweatshirts war ihm so tief über die Stirn gezogen, dass sie sein Gesicht vollständig verbarg. In der Hand hielt er einen spannenlangen Nagel und einen schweren Hammer.
Faris zog scharf die Luft durch die Zähne. Ohnmächtig sah er mit an, wie der Mann mit der Kapuze sich neben dem anderen auf ein Knie niederließ. Wie er die Spitze des Nagels mitten auf die Handfläche des Opfers setzte.
Und mit dem Hammer ausholte.
Der Schlag war wuchtig ausgeführt, und er trieb den Nagel durch Fleisch und Knochen und tief in den Holzbalken darunter.
Voller Entsetzen riss Faris die Augen auf.
Das Opfer warf den Kopf zur Seite, aber es schrie nicht, sondern stöhnte nur leise. Blut quoll aus der Wunde. Es wirkte fast schwarz.
»Scheiße!«, murmelte Faris.
Der Täter nagelte auch die andere Hand fest. Als er sich den Füßen seines Opfers zuwandte, begann er jedoch zu zittern. Diesmal gelang ihm der Hieb nicht präzise genug, um den Nagel bis in das Holz zu treiben. Der Mann musste neu ausholen.
Der Gekreuzigte stöhnte abermals, als sich der Nagel weiter durch die Füße bohrte.
Schwer atmend legte der Täter den Hammer beiseite. Mehrere Sekunden lang kniete er einfach da. Schließlich nahm er zwei rote Seile, die sorgsam zusammengerollt neben dem Kreuz lagen. Jeweils eines schlang er um den Oberarm seines Opfers und knüpfte einen Knoten. Dann befestigte er ein ganzes Bündel Kabel an den Elektroden auf der Brust des Gekreuzigten und verband sie mit einem kleinen Kästchen, das er an dessen Lendenschurz klemmte.
Erst danach erhob er sich mit einer schwerfälligen Bewegung. Er trat zur Seite, verschwand aus dem Bild. Ein gleichmäßiges, schnelles Piepsen setzte ein, und Faris vermutete, dass ein Herzmonitor angeschaltet worden war.
Eine schwere Kette rasselte.
Das Kreuz richtete sich auf. Kurz zoomte das Bild direkt auf das Gesicht des Opfers, und Faris konnte den Blick nicht von dessen Augen wenden. Zu dem Entsetzen, das in ihnen glitzerte, war etwas anderes hinzugekommen – eine Art Abwesenheit, die darauf hindeutete, dass der Mann unter Drogen stand. Vermutlich war das der Grund dafür, dass er nicht vor Schmerzen brüllte. Das Bild weitete sich und erfasste wieder die ganze Szenerie. Als das Kreuz beinahe die Senkrechte erreicht hatte und die Schwerkraft begann, an dem Körper des Mannes zu ziehen, warf er den Kopf zurück und stieß einen Schrei aus. Das Piepsen des Herzmonitors beschleunigte sich. Faris’ Magen drehte sich um.
Einen Moment lang zeichnete die Kamera noch das Bild des Gekreuzigten auf, dann wurde das Fenster schwarz. Der Film war zu Ende.
Faris starrte auf den kleinen Bildschirm. Mit der freien Hand strich er sich die Haare aus der verschwitzten Stirn.
Langsam hob er das Smartphone wieder ans Ohr.
»Hast du dir das Video angesehen?«, erklang die Stimme des Anrufers.
Faris bejahte.
»Gut«, sagte der Mann am anderen Ende der Leitung. »Du kannst dir sicher denken, dass es echt ist.«
Darauf antwortete Faris nicht.
Der Anrufer stieß ein spöttisches Schnauben aus. »Dieser Mann am Kreuz befindet sich in meiner Gewalt. Und ich will jetzt, dass du Folgendes tust: Gehe zur U-Bahn-Station in der Bismarckstraße. Und zwar sofort!«
Faris krampfte die Finger um das Mobiltelefon. »Und dann?«
»Alles Weitere sage ich dir, wenn du da bist. Ach, und Faris: Solltest du deine Kollegen oder irgendwen sonst informieren, werde ich das erfahren!«
Faris schwieg. Einen Augenblick lang war es sehr still in der Leitung. Dann lachte der Anrufer erneut. »Widerspenstig, Faris? Denk an die Explosion im Museum!«
Die Haut in Faris’ Genick begann zu kribbeln.
»Keine Kollegen zunächst«, wiederholte der Unbekannte.
Zunächst?
Faris’ Verstand stolperte über das Wort, er hatte aber keine Gelegenheit, sich Gedanken darüber zu machen, denn nun zischte der Anrufer: »U-Bahn-Station Bismarckstraße. Du hast fünf Minuten!« Ohne ein weiteres Wort legte er auf.
Alexander
DAS BÖSE IST DER PREIS DER FREIHEIT, sagte die Stimme aus dem Licht.
Alexander ließ den Hammer sinken und blinzelte. Er wollte einen Schritt vorwärts machen, wollte sehen, wie die Gestalt aussah, die sich hinter der grellen Aureole vor ihm verbarg. Aber die Stimme hatte es ihm verboten. SCHAU MICH NICHT AN!, hatte sie gesagt.
Und Alexander gehorchte.
Statt in das Licht schaute er nun zu dem Gekreuzigten auf. Etwas Warmes kribbelte auf seinem Gesicht, und er wischte sich über die Stirn.
JA, sagte die Stimme. ES IST VOLLBRACHT.
Zitternd holte Alexander Luft. Sein Blick ruhte auf dem Mann am Kreuz. »Es ist nicht richtig«, murmelte er. Sein steinernes Herz hämmerte so heftig, dass ihm schlecht davon wurde.
ES IST ALLES, WIE ES SEIN MUSS, entgegnete die Stimme. VERTRAU MIR!
Alexander würgte, doch dann nickte er. Tränen machten ihn blind, und er spürte, wie sie ihm die Wangen hinunterrannen. Sie fühlten sich kalt an. Kalt wie der Stein in seiner Brust.
Der Gekreuzigte blickte ihn an. Alexander konnte die Schmerzen in den vertrauten Augen sehen.
ER WIRD NICHT LEIDEN, hatte die Stimme aus dem Licht ihm versichert. DAFÜR SORGE ICH.
Aber war das richtig? Alexander stöhnte unter dem Anfall von Übelkeit, der ihn packte. Ein feines Geräusch hallte in seinem Kopf wider. Ein rhythmisches, durchdringendes Piepsen. Er krümmte sich.
DU MUSST STARK SEIN!, befahl die Stimme.
Er richtete sich auf. »Ja«, flüsterte er. »Das will ich!«
DANN GEH JETZT. REINIGE DICH! DU BIST GANZ SCHMUTZIG!
Er gehorchte. Er verließ den niedrigen gekachelten Raum, in dem sich nichts befand außer dem Kreuz, dem Mann daran, dem grellen Licht. Und seinem eigenen Entsetzen. Er stellte sich vor eines der Waschbecken, die in einer Reihe vor halb erblindeten Spiegeln an der Wand aufgehängt waren. Das Licht fiel von hinten auf ihn, er konnte undeutlich sehen, dass die Stimme recht hatte. Blut war quer über sein Gesicht gespritzt, sprenkelte die blasse Haut, als hätte ein Maler mit einem Pinselquast voller Farbe nach ihm geschlagen.
Das Rot schrie seine Schuld zum Himmel.
Alexander öffnete mit zitternder Hand den Wasserhahn und reinigte sich gründlich, wie die Stimme im Licht es befohlen hatte. Als er anschließend wieder aufblickte, da wusste er endlich, dass alles gut war.
Einen Augenblick lang sah er sich selbst in die Augen.
»Ich habe meinen Vater gekreuzigt«, flüsterte er.
Und übergab sich in das Waschbecken.
3. Kapitel
Herr im Himmel! Ich bin wirklich zu alt für so was!
Schwester Xaveria vom Orden der Barmherzigen Schwestern vom heiligen Karl Borromäus war übel. Selbst schuld!, schalt sie sich. Warum hatte sie sich mit ihren fast achtzig Jahren auch auf diese Berlinreise eingelassen? Warum hockte sie hier in dieser stickigen, überfüllten U-Bahn, statt in ihrem Mutterhaus zu bleiben, wo ihr Platz war? Sie bemühte sich, ihre Übelkeit so gut es ging zu verbergen, doch trotzdem schien ihre Begleiterin, Schwester Bernadette, sie zu bemerken.
»Geht es Ihnen nicht gut?«, fragte die vierzig Jahre jüngere Nonne und beugte sich vor, um Xaveria ins Gesicht zu blicken. »Sie sind ziemlich blass um die Nase!«
Xaveria konnte sich in den Augen der anderen Frau spiegeln. Sie lächelte mühsam. »Es ist nur die Luft hier unten«, versuchte sie Schwester Bernadette zu beruhigen. »Sobald wir zurück ans Tageslicht kommen, wird es bestimmt gleich besser werden.« Im Stillen bat sie Gott um Vergebung für diese kleine Lüge, denn nicht die stickige, von Abgasen und Ölgeruch geschwängerte Luft in der U-Bahn war der Anlass dafür, dass Xaverias Magen sich bemerkbar machte. Es war die Aufregung. Die Aufregung darüber, dass sie nach zwölf Jahren ihr Mutterhaus in Trier zum ersten Mal wieder verlassen hatte. Und das auch noch für eine derartig spannende Reise.
Morgen würde sie den Papst sehen!
Wenn das kein Grund war, Schmetterlinge im Bauch zu haben, dann gäbe es wohl nichts mehr auf der Welt, das sie berührte, dachte Xaveria.
Schwester Bernadette nickte und warf zum bestimmt hundertsten Mal einen Blick auf den U-Bahn-Plan, den ihr ein fürsorglicher Mitarbeiter an der Hotelrezeption in die Hand gedrückt hatte. »An der nächsten Station müssen wir aussteigen«, sagte sie. »Dort treffen wir die anderen und müssen dann in die U2.« Auf ihrem Gesicht hatten sich hektische Flecken gebildet, und Xaveria erkannte, dass auch ihre jüngere Mitschwester nervös war. Sie hatten geplant, an einem der unzähligen Frühgottesdienste teilzunehmen, die heute überall zwischen acht und neun Uhr stattfanden. Danach wollten sie sich den Olympiapark und ein paar Sehenswürdigkeiten ansehen. Wie ganz gewöhnliche Touristen würden sie sich einen schönen Tag in Berlin machen.
Die U-Bahn ruckelte. Dann, mitten in dem pechschwarzen Tunnel, hielt sie plötzlich an. Ein Graffito fiel Xaveria ins Auge, ein verschlungenes grafisches Gebilde, das sie nicht entziffern konnte. Das Licht im Inneren der Bahn riss es aus der ewigen Finsternis, und spontan stellte Xaveria sich die Frage, wer wohl in diese dunklen Tiefen des Berliner Untergrunds hinabstieg, um die Wände zu verzieren.
Andere Mitfahrer hegten offenbar weitaus düsterere Gedanken. »Hoffentlich keine Bombendrohung!«, sagte ein junger Mann neben Xaveria. »Dann kann es nämlich dauern, bis wir weiterfahren können.« Aber bevor sie etwas darauf erwidern konnte, fuhr die Bahn bereits weiter.
Der junge Mann wirkte erleichtert.
Schwester Bernadette tastete nach dem fingerdicken Leuchtstab, den sie sich vorhin bei einem Souvenirhändler gekauft hatte und den sie morgen beim Papstgottesdienst in die Höhe recken wollte. An einem regenbogenfarbenen Band hing er um ihren Hals, und sie spielte nervös damit.
Xaveria griff nach ihrer Hand und hielt sie fest. »Wenn wir wieder zu Hause sind, werde ich das Mutterhaus im Leben nicht mehr verlassen!«, behauptete sie.
Schwester Bernadette schwieg respektvoll.
Ein weiteres Mal strich Xaveria über den Handrücken der jüngeren Nonne, dann ließ sie sie los. »Ich meine: der Papst! Was gibt es denn danach noch zu erleben für eine alte Nonne wie mich?«
Schwester Bernadette lachte. »Was Sie immer reden! Dabei werden Sie wahrscheinlich den halben Konvent überleben, so fit, wie Sie sind.«
Xaveria war drauf und dran, ihr zu erzählen, wie sehr ihr Rücken schmerzte nach den zwei Nächten, die sie jetzt in diesem elend weichen Hotelbett geschlafen hatte. Aber sie entschied sich dagegen. Sie würde das für sich behalten. Dass ihr Herz schon vor ein paar Wochen angefangen hatte zu stolpern, hatte sie – außer ihrem Beichtvater – auch niemandem erzählt.
Weil es unwichtig war.
Gott in seiner unendlichen Weisheit würde entscheiden, wann er sie zu sich rief. Das Einzige, um das Xaveria ihn inständig bat, war, dass sie die kommenden knapp anderthalb Tage überstand. Morgen im Stadion würde sie versuchen, einen Platz in den vordersten Reihen zu erhaschen. Vielleicht konnte sie dem Papst am Ende ja sogar die Hand schütteln! Danach würde sie getrost und freudig vor ihren Schöpfer treten, wann immer er dies für richtig hielt.
Sie ertappte sich dabei, dass sie lächelte.
Die U-Bahn verzögerte merklich ihre Geschwindigkeit und fuhr in einen der unzähligen unterirdischen Bahnhöfe Berlins ein. »Wir sind da.« Schwester Bernadette erhob sich von dem unbequemen Plastiksitz und reckte den Hals. »Da sind die Kinder und Pfarrer Groß.« Sie deutete nach draußen auf den Bahnsteig, wo eine Gruppe von zwölf Teenagern und ein Mann in schwarzem Anzug mit Priesterkragen auf sie warteten. Über ihren Köpfen hing ein weißes Schild.
Bismarckstraße stand in schwarzen Buchstaben darauf.
***
Der U-Bahnhof Bismarckstraße hatte drei verschiedene Eingänge. Faris erreichte jenen gegenüber der Commerzbank, blieb schwer atmend stehen und schaute auf die Uhr. Erleichtert stellte er fest, dass er es geschafft hatte, die Zeitvorgabe einzuhalten. Die fünf Minuten waren noch nicht um. Er ignorierte die wartende Kabine des gläsernen Aufzugs und hastete stattdessen den Treppenabgang hinab, der ihn auf die erste Ebene der unterirdischen Station brachte. Hier unten war die Luft noch stickig von der Hitze der letzten Tage, und der allgegenwärtige ekelhafte Geruch des U-Bahn-Systems hüllte Faris ein. Direkt neben einem Kiosk, an dem man Kaffee und Croissants kaufen konnte, hielt er an. Auf dem Weg hierher hatte er mit dem Gedanken gespielt, seine Kollegen vom LKA 1 anzurufen, sich dann jedoch dagegen entschieden. Es erschien ihm zum jetzigen Zeitpunkt einfach zu gefährlich. Solange er nicht wusste, was der Kerl am anderen Ende der Leitung vorhatte und ob das Video, das dieser ihm geschickt hatte, wirklich echt war, sollte er besser davon ausgehen, dass irgendwo dort draußen ein fanatischer Spinner einen Mann in seiner Gewalt hatte. Er würde lieber vorsichtig sein und tun, was der Kerl verlangte.
Während Faris in der U-Bahn-Station stand und überlegte, was er nun tun sollte, zirpte das Telefon in der Innentasche seiner Sweatshirtjacke. Er zog es hervor und ging ran.
»Was nun?«, erkundigte er sich und zwang seinen vom Laufen beschleunigten Atem zur Ruhe. Adrenalin kribbelte durch seine Adern, er spürte eine Spannung in allen Muskeln, den Nervenkitzel der Jagd. Zehn Monate lang hatte er das vermisst, aber jetzt erst wurde ihm bewusst wie sehr.
»Außer Atem?«, höhnte die verzerrte Stimme des Anrufers an seinem Ohr.
Faris beschloss, nicht darauf einzugehen. »Wie geht es nun weiter?« In einigen Metern Entfernung gingen zwei uniformierte Kollegen der Bundespolizei vorbei. Sie unterhielten sich, und Faris spielte mit dem Gedanken, die beiden unauffällig auf sich aufmerksam zu machen.
»Denk nicht mal daran! Wenn du ihnen irgendein Zeichen gibst, wird das Konsequenzen haben!«
Faris’ Schultern verkrampften sich. Rasch drehte er sich einmal um die eigene Achse, suchte Wände und Decke ab. Als er eine Kamera entdeckte, deren Linse direkt auf ihn gerichtet war, hielt er inne.
»Ja«, hörte er den Anrufer sagen. »Ich kann dich sehen, mein Lieber. Winke, winke!«
Faris biss die Zähne zusammen. Die uniformierten Kollegen schlenderten keine drei Schritte entfernt an ihm vorbei. Faris schnappte ein paar Worte von ihrem Gespräch auf. Offenbar unterhielten sie sich über den Kirchentag, der zurzeit in Berlin stattfand. Einer der Polizisten warf Faris einen Blick zu, und ihm war bewusst, dass er einen Moment länger und intensiver gemustert wurde als die anderen Reisenden. Er war es gewöhnt. Obwohl seine ägyptischen Vorfahren Berberblut in den Adern gehabt hatten und er aus diesem Grund eine eher helle Hautfarbe besaß, sah man ihm mit seinen dunkelbraunen Augen, den schwarzen Haaren und der markanten Nase die arabische Herkunft deutlich an. Dass er schon als Kleinkind nach Deutschland gekommen war, die deutsche Staatsbürgerschaft besaß und darüber hinaus als Polizeibeamte bei einem Sonderdezernat des LKA arbeitete – solange er nicht suspendiert war jedenfalls –, stand ihm hingegen nicht ins Gesicht geschrieben.
»Die Rolltreppe runter!«, befahl der Anrufer. »Auf den Bahnsteig Richtung Ruhleben.«
Um das bezeichnete Gleis zu erreichen, musste Faris eine Treppe nach unten nehmen, den Bahnsteig der Linie 7 überqueren und über eine Rolltreppe wieder nach oben fahren.
»Was, wenn ich mich weigere?«, fragte er.
»Willst du das Risiko wirklich eingehen? Du erinnerst dich doch sicher, was beim letzten Mal passiert ist, als du versagt hast.« Der Unbekannte machte eine Pause, dann fügte er hinzu: »Bumm!«
Gequält schloss Faris die Augen. Kurz meinte er, die Explosion im Museum zu hören, glaubte, in sengendes Feuer gehüllt zu werden. Mit Mühe nur riss er sich aus der Erinnerung, die über ihn hinwegbrandete. Er öffnete wieder die Augen und gehorchte dem Befehl des Anrufers. Mit steifen Schritten ging er auf die Treppe zu. Ein Mann im Anzug und mit Aktenkoffer in der Hand überholte ihn und rempelte ihn unsanft an. Faris hörte seine hastig gemurmelte Entschuldigung kaum.
»Gut!«, kommentierte der Mann am Telefon, als Faris auf dem Weg in die Tiefe war.
Auf dem unteren Bahnsteig schlängelte er sich durch die Menge und stieg die Rolltreppe wieder nach oben. Dort angekommen, fiel sein Blick auf die Betonmauer, die früher mit einer grellbunten Dschungelszene bemalt gewesen war, jetzt jedoch von der fast comicartig anmutenden Darstellung eines Kirchenchores geziert wurde. Die in hellen Violetttönen gehaltene Gestaltung des neuen Gemäldes passte so überhaupt nicht zu der gelblich-grünen Farbe des restlichen Bahnhofs.
Dutzende von Menschen standen auf dem Bahnsteig herum und warteten darauf, dass der nächste Zug kam. Etliche Büroangestellte auf dem Weg zur Arbeit waren darunter, aber mindestens ebenso viele Kirchentagsbesucher, die gut an ihren regenbogenfarbigen Schals zu erkennen waren. Zwei etwa dreißigjährige Frauen fielen Faris auf. Sie drängten sich dicht aneinander und wirkten verunsichert. Der Grund dafür schienen fünf junge Männer zu sein, deren Aussehen auf eine durchzechte Nacht deutete. Sie drückten sich vor einem düsteren Plakat herum, das ein Death-Metal-Festival bewarb, und warfen immer wieder schräge Blicke auf die Frauen. Faris registrierte die Basecaps der fünf, ihre in den Kniekehlen hängenden Hosen und vor allem die Tatsache, dass sie allesamt ihre Hände in den Taschen verbargen.
Bevor Faris sich über die Absichten der Kerle klar werden konnte, begannen auf dem Bahnsteig gegenüber ein paar Menschen ein Kirchenlied zu singen. »Jesus, meine Zuversicht«, hörte Faris. Den Rest bekam er nicht mit, denn nun meldete sich der Anrufer wieder zu Wort.
»Wusstest du«, sagte seine verzerrte Stimme versonnen, »dass dies nicht der erste ökumenische Kirchentag ist? Zwei hat es schon gegeben, einen davon sogar in Berlin. Aber dieser hier ist etwas Besonderes, nicht wahr? Zum ersten Mal dürfen Katholiken und Protestanten gemeinsam das Abendmahl abhalten. Was für ein Wunder, Faris, findest du nicht?«
»Wenn Sie es sagen.« Faris’ Blick fiel auf eines der ebenfalls regenbogenfarbenen Kirchentagsplakate, mit denen seit Wochen ganz Berlin gepflastert war. Den Bibelspruch darauf kannte er inzwischen auswendig – wie vermutlich jeder Stadtbewohner, der des Lesens mächtig war.
»Das Plakat«, sagte der Anrufer und bewies damit, dass er Faris immer noch sehen konnte. »Findest du nicht auch, dass das Motto ein wenig sperrig ist?«
Faris zwang sich zu einem Nicken. Möglichst unauffällig suchte er nach der Kamera und entdeckte sie rechts von sich in einer Nische unter der Decke. Sie hing direkt neben der auf alt getrimmten Bahnhofsuhr, deren Zifferblatt bläulich-weiß beleuchtet war. Es war eine gewöhnliche Überwachungskamera, wie sie in Berliner U-Bahnhöfen zu Dutzenden angebracht waren. Faris biss die Zähne zusammen. Der Mistkerl hatte das System der Verkehrsbetriebe gehackt.
»Lies es!«, befahl der Mann.
»Was?«, murmelte Faris verwirrt. Für einen Moment war er abgelenkt gewesen.
»Das Plakat. Du sollst es vorlesen! Laut!«
Faris’ Hand krampfte sich um das Mobiltelefon, doch er gehorchte auch diesmal. Mit flacher Stimme las er: »Das Wort Gottes mit Freimut reden.«
Eine junge Frau im Businesskostüm, die soeben den Bahnsteig betreten hatte, starrte ihn misstrauisch an, aber als sie sah, dass er telefonierte, entspannte sie sich und lächelte ihm zu. Einer ihrer Schneidezähne stand ein wenig schief. Schöne neue Welt, dachte Faris. Niemand stört sich mehr daran, wenn die Menschen unsinniges Zeug vor sich hinmurmeln. Er blickte der Frau hinterher und fragte sich, wie er sie und all die anderen unauffällig dazu bringen konnte, die Station zu verlassen.
»Kümmere dich nicht um sie!«, befahl der Anrufer. »Sie ist unwichtig. Weißt du, auf welchen Spruch aus der Bibel sich dieses Motto bezieht?«
Faris lockerte seine verkrampften Muskeln. »Ich bin Muslim.«
»Oh. Ich weiß, mein Lieber! Und ich weiß auch, dass du es nur noch auf dem Papier bist.« Ein leises Lachen drang aus dem Hörer. Durch die elektronische Verzerrung klang es wie das Summen eines Insekts. Eines sehr aggressiven Insekts. »Nun, ich werde es dir sagen. Der Spruch stammt aus der Apostelgeschichte. Kapitel vier, Vers einunddreißig, um genau zu sein: Und sie wurden alle vom Heiligen Geist erfüllt und redeten das Wort Gottes mit Freimut. Ich schätze, du hast auch keine Ahnung, wie dieser Vers beginnt.«
Faris kam nicht dazu zu antworten, denn in diesem Moment ertönte Gelächter, und eine Gruppe von Menschen kam die Rolltreppe von Linie 7 herauf. Er sah zwei Nonnen in hellblauer Tracht, einen Mann mit Priesterkragen und ungefähr ein Dutzend Jugendliche. Sie alle wirkten aufgekratzt und fröhlich. Sie schwatzten und lachten und gingen so dicht an Faris vorbei, dass er ihnen Platz machen musste. Eine der Nonnen, eine bestimmt achtzigjährige Frau mit sehr hellen Augen, musterte ihn kurz und lächelte ihn dann freundlich an. Ihre jüngere Begleiterin hatte einen dieser Leuchtstäbe um den Hals hängen, die man in diesen Tagen für wenig Geld überall kaufen konnte. Faris nickte den beiden Nonnen zu und konzentrierte sich wieder auf sein Gespräch. »Nein«, murmelte er. »Weiß ich nicht.«
Während er das sagte, heftete der Anführer der Basecap-Gang, ein junger Mann mit weißem ärmellosen Shirt und einem Tiger-Tattoo auf den aufgepumpten Muskeln des rechten Oberarms, seinen Blick auf den Priester. Gleich darauf löste er sich von der gefliesten Wand und trat einen Schritt vor.
Faris sah ihn an.
»Scheiße!«, hörte er den Anrufer sagen.
»Guten Morgen, Herr Pfarrer«, sagte Tigerboy grinsend und baute sich provozierend vor dem Priester auf. »Mal wieder auf einem kleinen Pädophilenausflug?« Zwei seiner Kumpane folgten ihm, die beiden anderen blieben, wo sie waren.
Der Priester zog es vor, nicht auf die Provokation zu reagieren. Er sagte etwas zu der älteren Nonne, die sich daraufhin ein Stück zurückzog.
Tigerboys Miene verfinsterte sich. Ihm war anzusehen, dass er nicht gern ignoriert wurde. Faris biss die Zähne zusammen. Wenn er jetzt nicht handelte, das wurde ihm schlagartig klar, würde es Ärger geben. Ohne darüber nachzudenken, ob es klug war, was er tat, steckte Faris sein Smartphone in die Jackentasche und trat vor.
»Hey!«, rief er und machte Tigerboy dadurch auf sich aufmerksam. Aus den Augenwinkeln bemerkte er, dass die beiden Typen, die bisher noch gezögert hatten, sich Tigerboy anzuschließen, sich in Bewegung setzten. Faris hob den Zeigefinger in ihre Richtung und schüttelte knapp den Kopf. Die beiden kuschten und blieben stehen. Auch die meisten anderen Fahrgäste zogen sich in sichere Entfernung zurück.
Tigerboy jedoch richtete den Blick auf Faris. »Was willst du, Kaffer?«
Faris zwang sich zu einem Lächeln und überhörte die Beleidigung. »Wenn ihr euch jetzt verzieht«, meinte er freundlich, »gibt es keinen Stress.«
Tigerboy warf den Kopf in den Nacken und lachte schallend. Der Anrufer auf seinem Handy kam Faris in den Sinn, aber er hatte jetzt keine Zeit, sich Sorgen um den Kerl zu machen. »Verzieht euch einfach!«, riet er Tigerboy. »Und lasst diese Leute in Ruhe.«
»Sagt wer?« Der junge Mann trat vor.
Faris rührte sich nicht. Unauffällig schob er die rechte Schulter ein wenig nach vorn, suchte festen Stand.
Zwei der Gangmitglieder bauten sich breitbeinig neben ihrem Anführer auf, die beiden anderen traten noch immer unschlüssig von einem Bein auf das andere.
»Ich glaube, wir sollten …«, begann der Priester, aber Faris brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen.
»Treten Sie zurück!«, befahl er ihm, ohne die Gang dabei aus den Augen zu lassen.
An den Geräuschen hinter seinem Rücken erkannte er, dass der Priester gehorchte. »Kommt«, hörte er den Mann flüstern. »Tun wir besser, was er sagt.« Dann entfernten sich Schritte. Das Gemurmel der Gruppe verriet Faris, dass sie sich am Fuß der Treppe zusammendrängten, die nach oben auf die Wilmersdorfer Straße führte. Ihm wäre es lieber gewesen, sie hätten den Bahnhof verlassen, aber wenigstens gingen die restlichen Fahrgäste auf Abstand. Willentlich entspannte er sich. Die Erinnerung an eine ganz ähnliche Situation, in der er sich vor Kurzem erst befunden hatte, verdrängte er in den hintersten Winkel seines Bewusstseins.
Der Ganganführer machte einen schnellen Ausfallschritt, um ihn vor die Brust zu stoßen, aber mit einer blitzartigen Bewegung packte Faris seine Hand. Mit einem Ruck brachte er den Mann aus der Balance. Gleichzeitig tauchte er unter dem muskelbepackten Arm hindurch und befand sich im nächsten Moment hinter Tigerboys Rücken. »Ich sagte, ihr sollt euch verziehen!«, zischte er ihm ins Ohr.
Tigerboy versuchte, sich zur Wehr zu setzen, doch Faris hielt dagegen. Ohne viel Kraftaufwand verdrehte er dem Kerl das Handgelenk. Jaulend ging der junge Mann auf die Zehenspitzen. Die Brandnarbe an Faris’ Brustkorb meldete sich mit einem dumpfen Ziehen, aber er war daran gewöhnt. Der Schmerz behinderte ihn nicht weiter.
»Lass ihn los, Kaffer!«
Das Geräusch eines aufklappenden Springmessers klang laut in der Stille, die diesem Befehl folgte. Einer der beiden anderen Gangmitglieder trat ein wenig vor.
Faris blickte ihm direkt in die Augen. »Bevor du dich gerührt hast«, sagte er ruhig, »habe ich deinem Kumpel hier nicht nur das Handgelenk, sondern auch den Ellenbogen gebrochen.« Provozierend zog er Luft durch die Zähne. »Uh! Das ist äußerst schmerzhaft.« Zur Bekräftigung seiner Worte verstärkte er den Druck auf das Handgelenk noch ein wenig. Tigerboy stieß einen unterdrückten Schmerzensschrei aus.
Die Spitze des Messers senkte sich.
»So ist es gut«, sagte Faris. »Und jetzt verschwindet ihr Pappnasen, dann lasse ich den hier los!«
Die jungen Männer gehorchten ohne weitere Widerworte. Sie wandten sich in Richtung Ausgang und kamen dabei an den Nonnen und den Jugendlichen vorbei, die ängstlich von ihnen fortdrängten. Nur der Priester blieb stehen. Finster schaute er die vier an, und es schien, als wollte er sich wenigstens in diesem Moment als mutig erweisen.
Faris wartete, bis die Kerle außer Sicht waren. Als aus dem Tunnel hinter seinem Rücken das Geräusch einer sich nähernden U-Bahn erklang, stieß er Tigerboy von sich fort. Der fuhr herum, aber statt sich ebenfalls davonzumachen, sprang er Faris an. Sein Hieb war mit der vollen Wucht der Frustration auf den Kopf seines Gegenübers gezielt, doch Faris hatte nicht nur damit gerechnet – er hatte es erhofft. Geschickt wich er aus, rammte die Rechte in Tigerboys Magen. Der junge Mann klappte vornüber. Faris schickte einen Uppercut hinterher und hätte fast ein drittes Mal zugeschlagen. Gerade noch rechtzeitig riss er sich zusammen und trat zurück.
Ein weiterer Schlag wäre auch nicht nötig gewesen.
Tigerboy landete auf den Knien und presste beide Hände auf den Leib. Blut strömte aus seiner Nase und besudelte sein ärmelloses Shirt. Benommen schwankte er hin und her, während ein warmer, nach Öl und Metall riechender Luftschwall den nahenden Zug ankündigte.
Faris’ Haare flatterten. Er packte Tigerboy und zog ihn unsanft auf die Füße. Dann drehte er ihn um und stieß ihn in Richtung Rolltreppe. »Hau ab!«, sagte er kühl. »Sonst setzt es noch mehr.« Die Hälfte seiner Worte ging in dem Lärm des einfahrenden Zuges unter.
Diesmal hatte Tigerboy genug. Auf unsicheren Beinen torkelte er Richtung Rolltreppe.
Der Zug hielt, die Abteiltüren öffneten sich mit einem Zischen und spien Menschen auf den Bahnsteig. Der Priester kam auf Faris zugeeilt, und auch die ältere der beiden Nonnen. »Vielen, vielen Dank!«, rief sie. Ihre hellen Augen wirkten besorgt. »Sind Sie verletzt?«
Faris rieb sich die schmerzende Faust und drängte die Befriedigung zurück, die das kurze Gefecht in ihm ausgelöst hatte. »Nein.« Er wehrte die Bemühungen der Nonne ab, die nun nach seiner Hand greifen wollte, um sie sich anzusehen. Mit dem Kopf wies er auf den Zug. »Sie sollten einsteigen, sonst müssen Sie auf die nächste Bahn warten.«
Der Priester nickte. »Danke«, sagte auch er. Mit weit ausholenden Gesten scheuchte er seine Schäfchen in das Abteil. »Kommen Sie, Schwester Xaveria!«, rief er der achtzigjährigen Nonne zu. Sie folgte ihm als Letzte, und bevor sie den Zug betrat, schenkte sie Faris ein zaghaftes und auch ein wenig bewunderndes Lächeln.
Noch während sich die Türen hinter ihr schlossen, angelte Faris das Smartphone aus seiner Jackentasche. »Sind Sie noch …«
»Selbstverständlich«, fiel der Anrufer ihm ins Wort. »Das war wirklich überaus beeindruckend, Faris! Besonders der Moment, in dem du dich beherrscht und nicht nochmal zugeschlagen hast.«
Faris schaute auf die Kamera, deren schwarzes Auge ihn zu verspotten schien. Er wusste nicht, was er erwidern sollte, also schwieg er einfach.
Die U-Bahn fuhr an. Wieder zauste der Luftzug an Faris’ Haaren, dann verschwand der Zug in dem Tunnel.
Faris blieb auf dem Bahnsteig zurück.
»Bumm!«, sagte der Anrufer.
Im nächsten Moment riss die Druckwelle einer Explosion Faris von den Füßen und schleuderte ihn gegen die Wand.